
Ankunft von Deportierten im Vernichtungslager Sobibor. Undatierte Aufnahme. Quelle: Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz.
Wenn wir heute an den systematischen Massenmord durch die Nazis denken, denken wir vor allem an die größte Opfergruppe, die Juden. Es gab aber Menschen, die in den Augen der Nazis noch weniger wert waren und im Zuge der „Aktion T4“ als Testsubjekte für die folgende Ermordung der Juden Europas im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ und durch das Schutzstaffel Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt (SS-WVHA) dienten. Bei der „Euthanasie“ oder „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ probierten die Nazis an geistig, psychisch und körperlich Behinderten aus, welche Tötungsmethoden die effektivsten wären. Man holte chronisch-kranke und behinderte Menschen aus Pflegeeinrichtungen, um sie zu töten oder zu zwangssterilisieren. Das betraf geistig Behinderte, Menschen mit Enzephalitis oder Chorea Huntington, Schizophrene, Epileptiker und Demente. Auch Hans Asperger (1906 – 1980), der neben Leo Kanner (1894 – 1980) einer der beiden Erstbeschreiber der Autismus-Spektrum-Störung gilt, gehörte zu einer Kommission, die behinderte Kinder als „aussichtslose Fälle“ einstufte.
Einer der aktiven Täter der „Euthanasie“ war Johann Niemann (1913 – 1943), Unterscharführer der Leibstandarte SS Adolf Hitler. Niemann sammelte bei der „Aktion T4“ Erfahrungen, die ihm zugutekommen sollten, als er 1942 im Zuge der „Aktion Reinhardt“ in das neu errichtete Vernichtungslager Sobibor versetzt wurde. Die Ironie der Geschichte ist dabei folgende: Die Nazis vernichteten nach einem Aufstand im Oktober 1943, bei dem der Häftling Arkadij Schubajew Niemann während einer Uniformanprobe mit zwei Axthieben tötete, alle Beweise für ihre Verbrechen im Wald nahe dem ostpolnischen Dörfchen Sobibór. Nur ein Beweisstück überdauerte die Jahrzehnte und trat ab 2020 zunehmend in den Fokus von Historikern und Öffentlichkeit: Niemanns persönliches Fotoalbum. Hierin inszenierte der Schlächter nicht nur sich selbst, einem Reiterdenkmal gleich hoch zu Ross, nein, Niemann dokumentierte auch, wie es im Vernichtungslager Sobibor aussah.
Auch wenn SS-Obersturmführer Franz Stangl (1908 – 1971) der Kommandant des Lagers war, trug es die Handschrift des stellvertretenden und zumeist diensthabenden Lagerkommandanten Niemann, Stangls rechter Hand. Als Niemann zusammen mit anderen SS-Männern von der „Aktion T4“ zur „Aktion Reinhardt“ versetzt wurde, soll er gesagt haben, auch in Sobibor käme demnächst „Salat“ an, womit er die Menschen meinte, die hier umgebracht werden sollten. Von Heinrich Himmler (1900 – 1945) mit der Vernichtung der Juden in Lublin beauftragt worden war SS- und Polizeiführer des Distrikts im „Generalgouvernement“ Odilo Globocnik (1904-1945). Dieser ließ zunächst Belzec, dann Sobibor errichten. SS-Hauptsturmführer Richard Thomalla (1903 – 1957), der auch den Bau von Treblinka und Belzec beaufsichtigt hatte, war neben Niemann federführend beim Aufbau Sobibors, das sich in der Tat stark von anderen Vernichtungslagern unterschied:
Das untere und erste Lager, das Kommandantenvilla, Unterkünfte für etwa 30 deutsche SS-Leute und noch einmal um die 100 „Trawniki-Männer“ (im SS-Ausbildungslager Trawniki zwangsweise ausgebildete ukrainische Wachleute), Unterkünfte und Werkstätten der jüdischen Zwangsarbeiter, die dem Wachpersonal zu Diensten sein mussten, das Waffenarsenal und Versorgungseinrichtungen beherbergte, lag direkt an den Bahngleisen. Hier kamen die deportierten Menschen an und ihnen bot sich zunächst ein freundlicher Anblick – mehr wie in einem Ferienlager und so gar nicht wie in einer Tötungsfabrik. Dies führte vermutlich bei vielen Gefangenen zum Aufkeimen trügerischer Hoffnung, was einerseits die Gefügigkeit der Deportierten gewährleistete und andererseits wohl eine besonders sadistische Note Niemanns war, der im Rahmen der „Aktion T4“ ähnlich verfahren war.
Hinter einem Zaun folgte auf die Ankunft in Lager I das Lager II, in das man die deportierten Häftlinge durch eine schmale Schleuse trieb. Lager II war das Arbeitslager mit Ställen und Gemüseanbauflächen, die von den ebenfalls hier untergebrachten 400 Häftlingen bewirtschaftet wurden. Beaufsichtigt wurden sie dabei von gerade einmal 18 SS-Männern, geleitet von SS-Untersturmführer Paul Rost (1904 – 1984). Wenn Deportierte hier ankamen, mussten sie all ihren Besitz abgeben, den man einsammelte und vor Ort einlagerte – sortiert von den jüdischen Zwangsarbeitern.
Danach trieb man die deportierten Juden die sogenannte „Himmelsstraße“ entlang, ein drei bis vier Meter breiter mit Stacheldraht, in den Tannenzweige eingeflochten worden waren, gesäumten Gang oder „Schlauch“, wie man den Pfad auch nannte. Nach 150 m erreichten sie so Lager III. Hier befand sich ein Steingebäude mit Gaskammern, die mit „Bad“ beschriftet waren. Anders als in Auschwitz-Birkenau wurden die Opfer nicht mit Zyklon B vergiftet, sondern mit umgeleiteten Motorabgasen, also Kohlenstoffmonoxid erstickt. Die Leichen mussten Zwangsarbeiter dann nach versteckten Wertsachen untersuchen. Goldzähne etwa mussten sie aus den Mündern der Leichen herausbrechen. Anschließend mussten sie die Toten in einer 60 m mal 20 m großen Grube verscharren. Als später jedoch der Befehl erging, alle Spuren des industriellen Massenmords zu vernichten, wurden die Leichen exhumiert und verbrannt. Die dazu herangezogenen Zwangsarbeiter landeten als letzte selbst auf dem Scheiterhaufen.
Ausschlaggebender Faktor, wenn wohl auch nicht der eigentliche Grund, denn der war das Herannahen der Roten Armee, für die Vernichtung des Lagers und aller Beweise war wohl der Gefangenenaufstand am 14. Oktober 1943. Auch hierbei spielte die Rote Armee eine Rolle, denn die treibende Kraft hinter der Revolte waren nicht die deportierten polnischen Juden unter den Zwangsarbeitern, sondern jüdische sowjetische Kriegsgefangene aus Belarus, die von Lieutenant Alexander Petscherski (1909 – 1990) und dem Zivilgefangenen Leon Feldhendler (1910 – 1945) angeführt wurden. Die Aufständischen töteten zwölf SS-Leute, auch Niemann, und zwei der Trawnikï, hatten aber ihrerseits hohe Verluste: Sie starben entweder im Kugelhagel der Wachmannschaft oder aber in dem Minenfeld, das den Stacheldraht als äußere Begrenzung des Lagers verstärken sollte. Dennoch erreichten 200 der 365 flüchtigen Gefangenen den Wald von Sobibor. Hiervon erlebten jedoch nur 47 untergetaucht oder als Mitglieder von Partisanengruppen das Kriegsende.
Die Gefangenen, denen keine Flucht gelungen war, wurden an Ort und Stelle erschossen. Sobibor wurde danach dem Erdboden gleichgemacht. Alles, was zu diesem Zeitpunkt noch vom Lager existiert hatte, wurde zerstört und das Gelände aufgeforstet.
Wie viele Menschen letztlich in Sobibor den Tod fanden, weiß niemand. Nach einer „Probevergasung“ von 250 Juden im April 1942 sollen in den Folgemonaten bis Juli 1942 schätzungsweise 90.000 Juden vergast worden sein. Da später die Gaskammern erweitert wurden, was die „Kapazität“ erhöhte, müssten danach eigentlich mehr Menschen auf einmal getötet worden sein – 1.200 nämlich. Dennoch gehen die meisten Schätzungen von knapp 200.000 Opfern insgesamt aus.
Autorin: Martina Meier
Literatur
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Benz, Wigbert / Bernd Bredemeyer / Klaus Fieberg: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. Beiträge, Materialien Dokumente. CD-Rom, Braunschweig 2004.
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Herbert, Ulrich / Karin Orth / Christoph Dieckmann: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Frankfurt/M 2002.
Kammer, Hilde / Elisabet Bartsch / Manon Eppenstein-Baukhage: Lexikon Nationalsozialismus, Berlin 1999.
Novitch, Miriam (Hrsg): Sobibor – Martyrdom and Revolt. Documents and Testimonies. Holocaust Library, New York 1980.
Schelvis, Jules: Vernichtungslager Sobibór. Hamburg/Münster 2004.