Die Nazis regierten das Deutsche Reich von 1933 bis 1945. In dieser Zeit stürzten sie die Welt in den verheerendsten Krieg der Geschichte, der schätzungsweise 70 Millionen Menschen das Leben kostete, brachten gezielt über 6 Millionen Menschen in Vernichtungslagern um und unterdrückten weite Teile der eigenen Bevölkerung. Als die Schreckensherrschaft endete, wollte man sie zur Rechenschaft ziehen. Viele ranghohe Nazis erlebten das Kriegsende nicht: SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich (1904 – 1942), einer der Köpfe hinter dem Holocaust, kam bei einem Attentat ums Leben; Adolf Hitler (1889 – 1945) und Joseph Goebbels (1897 – 1945) nahmen sich im Führerbunker kurz vor Kriegsende das Leben. Auch der Reichsführer SS Heinrich Himmler (1900 – 1945) beging Suizid, als er von den Alliierten identifiziert wurde. Reichsmarschall Hermann Göring (1893 – 1946) wurde wie andere ranghohe Nazis in Nürnberg vor Gericht gestellt. Auch er beging Selbstmord – in der Nacht vor seiner geplanten Hinrichtung. Andere Nazis wurden aber rechtskräftig verurteilt und bestraft: Albert Speer (1905 – 1981), Hans Frank (1900 – 1946) oder Rudolf Heß (1894 – 1987). Viele, die das Regime ermöglicht hatten, gingen aber auch straffrei aus, wurden in den neuen Staat eingegliedert oder von den US-Amerikanern als zu wertvoll für den Kalten Krieg eingestuft. Wernher Freiherr von Braun (1912-1977), der für Hitler die V2 entwickelt hatte, etwa durfte nach Kriegsende für die Amerikaner Menschen zum Mond schießen.
Aber dann gab es noch jene, die aus Europa flohen wie Ratten, die das sinkende Schiff verlassen. Die genutzten Fluchtrouten tauften die US-Amerikaner daher auch „rat lines“, zu Deutsch: „Rattenlinien“. Auch die Bezeichnung „Klosterrouten“ war eine Zeit lang geläufig, da unter anderem die römisch-katholische Kirche in die Fluchten der Nazis verstrickt war. Wobei auch die Amerikaner selbst von den Rattenlinien Gebrauch machten, wenn sie einen NS-Kriegsverbrecher für ihre Zwecke einspannen wollten, es aber offiziell und öffentlich nicht zu verkaufen gewesen wäre. Um zu verstehen, wie die Rattenlinien funktionierten, muss man die entscheidenden Schlüsselfiguren kennen:
Schlüsselfigur Nr. 1: Benito Mussolini (1883 – 1945)
Italien war die Geburtsstätte des Faschismus. Begründet wurde dieser von Benito Mussolini, der dabei die Künstlerbewegung der Futuristen als Vorbild gehabt hatte. Am 20. Februar 1909 hatte Filippo Tommaso Marinetti (1876 – 1944) das „Futuristische Manifest“ publiziert, in dem es etwa heißt: „Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.“ Auch wenn Mussolini nicht direkt an irgendwelchen Fluchten beteiligt war, war die faschistische Bewegung in Italien doch ein entscheidender Faktor.
Schlüsselfigur Nr. 2: Ante Pavelić (1889 – 1959)
Pavelić war von 1941 bis 1945 der faschistische Diktator des Unabhängigen Staates Kroatien. Angefangen hatte seine Ustascha 1930 als Geheimbund im Königreich Italien, entwickelte sich von dort aber zur faschistischen Bewegung. Als die Achsenmächte Jugoslawien einnahmen, setzten sie den bis dahin im Exil befindlichen Pavelić als Diktator ein. Pavelić selbst floh nach 1945 über die Rattenlinien nach Südamerika.
Schlüsselfigur Nr. 3: Krunoslav Draganović (1903 – 1983)
Jetzt kommt die römisch-katholische Kirche ins Spiel, denn Krunoslav Draganović war nicht nur ein Funktionär der Ustascha, der für Pavelić Juden und Serben deportieren ließ, sondern auch Priester des katholischen Franziskanerordens. Überdies war er als Agent für Nachrichtendienste Jugoslawiens, des Vereinigten Königreichs, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika tätig. 1943 baute der von den flüchtigen Kriegsverbrechern „Goldener Priester“ getaufte Ustascha-Funktionär vom Vatikan aus die Rattenlinien auf.
Schlüsselfigur Nr. 4: Alois Hudal (1885 – 1963)
Alois Hudal war ein österreichischer Bischof und Mitglied des antisemitischen Geheimbundes Deutsche Gemeinschaft. Hudal war Draganovićs wichtigster Komplize, denn er beschaffte von einer österreichischen Vertretung in Rom aus die gefälschten Ausweiskarten und über das Italienische Rote Kreuz Pässe, zudem Visa – samt Beglaubigung von Papst Pius XII. (1876 – 1958), der ja auch stets ein entspanntes Verhältnis zum NS-Regime hatte, hatte er doch an die Kirche gerichtete Hilferufe bezüglich des Holocausts gänzlich ignoriert. Als wäre das nicht alles schon widerlich genug, gaben viele der gefälschten Ausweispapiere die NS-Verbrecher als Holocaustüberlebende aus.
Schlüsselfigur Nr. 5: Francisco Franco (1892 – 1975)
Francisco Paulino Hermenegildo Teódulo Franco Salgado y Bahamonde Pardo wie er mit vollem Namen hieß, war der faschistische Diktator Spaniens. Anders als Hitler, Mussolini, Pavelić oder Ioannis Metaxas (1871 – 1941) konnte Franco seine Macht auch nach Kriegsende behalten. Spanien blieb also auch nach 1945 noch für dreißig Jahre faschistisch.
Schlüsselfigur Nr. 6: Juan Perón (1895 – 1974)
Juan Domingo Perón Sosa war ein argentinischer General, dem vor seiner Wahl zum Präsidenten Argentiniens 1946 schon enge Verbindungen zum Deutschen Reich nachgesagt wurden. Dieses Narrativ bedienten vor allem die USA und versuchten damit die Wahl zu beeinflussen. Der Schuss ging nach hinten los, denn viele Argentinier sahen das Gerücht, das sich allerdings als wahr herausstellen sollte, als einen Versuch der USA, sich in argentinische Angelegenheiten einzumischen. In der Tat pflegten die USA dergleichen damals schon. Letztlich führte der Versuch der Diskreditierung Peróns dazu, dass weit mehr Argentinier für ihn stimmten, als es sonst getan hätten. Ein weiterer Faktor für Peróns Erfolg war seine neue Ehefrau María Eva Duarte de Perón (1919 – 1952), die als „Evita“ in die Geschichte einging. Andrew Lloyd Webber (*1948) kreierte sogar ein Musical über sie.
Jetzt muss man im Grunde nur noch die Schlüsselfiguren verknüpfen: Die Nazis flohen aus dem untergehenden Deutschen Reich zu ihren Verbündeten nach Italien oder Spanien und wurden dort mit falschen Ausweispapieren versorgt. Von da ging es dann in die befreundete Militärdiktatur in Argentinien, in seltenen Fällen nach Chile, wo die USA 1973 selbst aktiv für die Errichtung einer Militärdiktatur sorgten. Wie gesagt schleusten die US-Geheimdienste selbst aktiv etliche NS-Verbrecher außer Landes.
Dass nach Südamerika geflohen zu sein, für die NS-Verbrecher nicht bedeutete, in Sicherheit zu sein, zeigt der Fall Adolf Eichmann (1906 – 1962). Der Architekt des Holocaust wurde nämlich vom israelischen Geheimdienst Mossad aufgespürt und nach Israel verschleppt, wo er vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt wurde.
Weitere Informationen
Bundeszentrale für politische Bildung: Argentinien: Ein begehrtes Fluchtziel von NS-Verbrechern
Deutschlandfunk Kultur: Fluchthilfe für NS-Verbrecher. Die „Rattenlinie“ nach Argentinien
Ernst Klee: Persilscheine und falsche Pässe. Wie die Kirchen den Nazis halfen. Fischer, Frankfurt 1991. ISBN 3-596-10956-6 u. ö. (siehe auch Filme)
Rena und Thomas Giefer: Die Rattenlinie. Fluchtwege der Nazis. Beltz, Weinheim 1992. ISBN 3-89547-855-5 (s. Filme).
Uki Goñi: Odessa: Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher. Assoziation A, Berlin 2006, ISBN 3-935936-40-0 (auf der Verlagsseite: Link zu einem ausführlichen Interview mit dem Autor in Englisch).
in Spanisch: La auténtica „Odessa“: la fuga nazi a la Argentina de Perón Verlag Paidós, Barcelona-Buenos Aires-México 2002. ISBN 84-493-1329-5.
Philippe Sands: Die Rattenlinie. Ein Nazi auf der Flucht. Lügen, Liebe und die Suche nach der Wahrheit. (übersetzt aus dem Englischen von Thomas Bertram); S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020, ISBN 978-3-10-397443-0.
Gerald Steinacher: Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen StudienVerlag, Innsbruck-Wien-Bozen 2008, ISBN 978-3-7065-4026-1.
Heinz Schneppen: Odessa und das Vierte Reich. Mythen der Zeitgeschichte Metropol, Berlin 2007, ISBN 978-3-938690-52-9.
Guy Walters: Hunting Evil. How the Nazi war criminals escaped and the hunt to bring them to justice. Bantam Press, London 2009. ISBN 978-0-593-05991-3.