Wunderwaffen sollten es richten am Ende. Dass Adolf Hitler (1889 – 1945) unter Größenwahn litt, dürfte den meisten Menschen bekannt sein. Dennoch sollte man sich noch einmal bewusst machen, dass er mit dem Angriff auf Polen eine Kriegserklärung des Vereinigten Königreichs und Frankreichs ausgelöst hatte und danach trotzdem noch einen Krieg mit der Sowjetunion begann in dem Glauben, ihm würde gelingen, woran selbst Napoléon Bonaparte (1769 – 1821) gescheitert war: die Eroberung Russlands. Das Deutsche Reich führte mit drei von fünf Weltmächten Krieg – die verbleibenden zwei waren es selbst und die USA. Von den Verbündeten verfügte einzig Japan über eine ernst zu nehmende militärische Schlagkraft. Spätestens als auch die USA in den Krieg eintraten, wurde auch der NS-Führung klar, dass sie ein Problem hatte. Die Niederlage bei Stalingrad im Winter 1942/43 ließ auch in der deutschen Bevölkerung den Glauben an den „Endsieg“ schwinden.
Die NS-Propaganda zauberte daraufhin eine Reihe „Wunderwaffen“ aus dem Hut und meinte damit keineswegs Excalibur, Mjölnir, Gungnir oder die Bundeslade, sondern von Menschenhand geschaffene technologische Schreckgespenster, die zwar neu und innovativ, aber aus eben diesem Grund auch wenig ausgereift waren. Bei der Messerschmitt ME 262 haperte es an der Bewaffnung, beim Panzerkampfwagen VI, auch Tiger II genannt, konnte die Treibstoffversorgung nicht sichergestellt werden. Die Reichsflugscheiben und die Geheimfestung Neuschwabenland blieben Fiktion. Die Hoffnung der Nazis ruhte daher auf den sogenannten „Vergeltungswaffen“, insbesondere der V1 und der V2. Beide Waffen waren die ersten ihrer Art, der Anbeginn eines neuen Zeitalters der Kriegsführung. Nicht nur als „Wunderwaffen“, sondern auch als „Vergeltungswaffen“ wurden sie bezeichnet, weil die Nazis ihrem Narrativ nach Vergeltung für die Angriffe auf deutsche Städte üben wollten. Zwar waren die Bombenangriffe auf nicht militärische Ziele im Deutschen Reich nach heutiger Lesart Kriegsverbrechen, doch stellten sie selbst einen Akt der Vergeltung für die Angriffe der Nazis auf Städte der Alliierten dar – etwa den Blitzkrieg gegen London.
Raketen und Marschflugkörper
Die V1 oder Fieseler Fi 103 war der erste militärische Marschflugkörper der Geschichte. Während Bomben zuvor von Flugzeugen abgeworfen werden mussten, die dazu direkt über das im Falle militärischer Ziele recht wehrhafte Zielgebiet fliegen mussten, ermöglichte ein Marschflugkörper, eine Sprengladung unbemannt und eigenständig ins Zielgebiet zu tragen und dort zu detonieren, wobei es zu dieser Zeit keine automatischen Zielsuchverfahren gab und man die Flugkörper anhand eher vager Anhaltspunkte fernlenken musste. Die Sprengladung machte bei der V1 auch fast die Hälfte ihres Gewichts von 2,16 t aus, bei einer Länge von 7,742 m. Entwickelt wurde die Waffe von den Ingenieuren Robert Lusser (1899-1969) und Fritz Gosslau (1898-1965). Erste Tests für die Fieseler Fi 103 fanden schon im Dezember des Jahres 1942 in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde auf Usedom statt. Zum Einsatz kam sie aber erst am 13. Juni 1944, nach der Landung der Westalliierten in der Normandie. Der bis zu 576 km/h schnelle Flugkörper hatte eine Reichweite von 286 km. Von einer von der „Organisation Todt“ in Département Pas-de-Calais errichteten Abschussbasis aus wurden zehn Flugkörper auf London abgefeuert, von denen jedoch nur vier ihr Ziel erreichten. Die Übrigen gingen über der Nordsee verloren. Zwar waren spätere Abschüsse an sich erfolgreicher, doch waren die Briten nun auch auf die Waffe vorbereitet: 8.892 V1 starteten vom Boden aus, davon waren 1.404 nicht erfolgreich. Von den 7.488 verbleibenden schossen die Briten 3.957 ab (mehr als die Hälfte). Bei den 1.600 Starts in der Luft von He 111 H-22 aus kamen 77 deutsche Soldaten ums Leben. Am Ende erreichten 2.419 ihr Ziel und detonierten – das ist nicht einmal ein Viertel.
An einer anderen Waffe tüftelte seit seinem Studium in den 1920er-Jahren Wernher Freiherr von Braun (1912-1977). Anfangs ging es bei den Flüssigkeitsraketen noch darum, den Weltraum zu erreichen, doch noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten hegte das Militär reges Interesse an von Brauns Forschung. Die Erfolge mit den drei Vorläufermodellen der Aggregat 4 (A4), die später als V2 „Wunderwaffe“ in die Geschichte eingehen sollte, sicherten von Braun ab 1937 das Vertrauen der NS-Führung. Mit einem Team von 20.000 Mitarbeitern sollte er eine militärisch nutzbare, funktionsfähige Großrakete mit Flüssigkeitstriebwerk entwickeln – in dieser Form wie die V1 die erste ihrer Art.
Am 3. Oktober 1942 gelang der Durchbruch mit dem ersten erfolgreichen Start einer A4, die in 58 Sekunden 190 km weit flog. Im Juni 1943, also nach dem Debakel bei Stalingrad, ließ Hitler sich auf der Wolfsschanze von von Braun über den Entwicklungsstand der A4 in Kenntnis setzen. Hitler befürwortete die Forschung angesichts der militärischen Misserfolge, die sich zu häufen begannen. Von Braun plante zu dieser Zeit schon die Modelle A9 und A10, die mit 4.000 km/h den Atlantik überqueren und Ziele in den Vereinigten Staaten erreichen können sollten. Die V2 war wie die V1 mit etwa 1 t Sprengstoff bestückt. Sie hatte eine Reichweite von 400 km und erreichte eine Geschwindigkeit von 5.000 km/h. Den 320 Sekunden währenden Flug nach London legte sie großteils in einer Flughöhe von 90 km zurück. So war sie mit dem Radar nicht zu orten. Über 3.000 Mal ereilte die Menschen der Tod schnell, lautlos, ohne Vorwarnung. Man schätzt, dass zwischen 8.000 und 12.000 Menschen bei den Angriffen auf Ziele in England, Frankreich und Belgien starben – primär in London und Antwerpen.
Vergeltungswaffen in Zwangsarbeit produziert
Das ist allerdings nicht einmal der erschreckendste Aspekt an der V2. Denn das Grauen ging bereits bei ihrer Herstellung los. Nach einem Luftangriff der Royal Air Force auf Peenemünde im August 1943 verlegten die Nazis die Fertigung ihrer „Wunderwaffe“ in ein Bergwergstollensystem bei Nordhausen im Harz. Wenige Tage später erreichten die ersten Häftlinge aus dem KZ Buchenwald das hier nun neu gegründete KZ Dora-Mittelbau. 15.000 Häftlinge bauten hier unter den denkbar schlimmsten Bedingungen die Fabrikanlage, welche zuvor als Treibstofflager fungiert hatte, in etwas über vier Monaten um und bauten danach für die Nazis Raketen. Sollten diese sich als Blindgänger erweisen, wurden willkürlich Häftlinge hingerichtet. Viele, wohl etwa ein Drittel aller Häftlinge, starb schlicht an Erschöpfung.
Die V1 und die V2 dienen nicht nur bis heute als Urvorlage für moderne Kampfmittel, nein, die V2 sollte sich als Vorläufer jener Raketen erweisen, die Menschen ins All tragen.
Weiterführende Informationen
Stefan Brauburger: Wernher von Braun – Ein deutsches Genie zwischen Untergangswahn und Raketenträumen. Pendo, München 2009.
Joachim Engelmann: Geheime Waffenschmiede Peenemünde. V2 – „Wasserfall“ – „Schmetterling“. Podzun-Pallas-Verlag, Friedberg.
Heinz-Dieter Hölsken: Die V-Waffen: Entstehung, Propaganda, Kriegseinsatz. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1984.
Dieter Hölsken: V-Waffen, Wunderwaffen: Entwicklung und Einsatz im II. Weltkrieg. Flugbombe Fi 103 und Rakete A4. Motorbuch, Stuttgart 2001.
Michael J. Neufeld: Die Rakete und das Reich. Wernher von Braun, Wunderwaffen, Peenemünde und der Beginn des Raketenzeitalters. Henschel, Berlin 1999, (416 S., amerikanisches Englisch: The Rocket and the Reich: Peenemünde and the Coming of the Ballistic Missile Era New York. Erstausgabe: Free Press, 1995).
Karsten Porezag: Geheime Kommandosache. Geschichte der „V-Waffen“, „Wunderwaffen“ und geheime Militäraktionen des Zweiten Weltkrieges an Lahn, Dill und Westerwald, Dokumentation. 2. überarbeitete Auflage. Verlag Wetzlardruck, Wetzlar 2003.
ZDF Beitrag: Hitlers Wunderwaffen.