Teil I: Russlands „Sieg“ im Zweiten Weltkrieg – ein Selbstbetrug
1. Einführung
Alle Frühjahre wieder überfluten Russlands Mächtige und Medien die Öffentlichkeit mit einem Tsunami von wehrhistorischem Eigenlob. Zwar haben Sowjetunion (Russland) kaum jemals irgendwo gesiegt, aber das hielt sie nie ab, zu jedem 9. Mai ihren „Großen Sieg“ im „Großen Vaterländischen Krieg“ mit riesigen Militärparaden zu würdigen. Vor allem wenn Jahrestage Symbolik verheißen, etwa 1995, als man das „goldene Jubiläum des Sieges“ feierte, den 50. Jahrestag des Kriegsendes. Unter den Augen von Präsident El’cin, der den (fortan obligatorischen) Prunkstil der Aufmärsche prägte, verlief die Parade mit 15.000 Teilnehmern: Aufmarsch von 4.980 „Veteranen“ aus Russland und anderen Sowjetrepubliken, dann die Parade „der Armee und der Kriegstechnik der Moskauer Garnison“. Zuschauer durften Gedenkmünzen zu exklusiven Sowjet-Verdiensten erwerben: „Befreiung Europas vom Faschismus“, „Bedingungslose Kapitulation Japans“, „Zerschlagung des deutsch-faschistischen Deutschlands“ (Razgrom nemecko-faṧistickoj Germanii), Befreiung Belgrads etc. Nach den „El’cin-Paraden“ (el’cinskie parady) folgten „Putin-Paraden“ – seit 2012 ohne Veteranen, deren Aufmarsch als „misslungenes Experiment“ galt.
Kurz vor den Siegesfeiern von 1995 verfasste der russische Autor Georgi Watschnadse zwei Russland-Bücher (vgl. die Auswahlbibl. am Schluss, Verweis künftig AB), deren Fundamentalkritik erstaunt. Bereits zu Beginn sagte der Autor, wie es um die Sowjetunion im fünften Jahrzehnt ihres „Sieges“ steht: „desolater Zustand der Umwelt“, „hoffnungslos vernachlässigter Sozialbereich“, „Verelendung der Bevölkerung“. Stark war allein die Armee: Laut dem Putin-Erlass Nr. 555 vom 17. November 2017 soll die Gesamtstärke der „Streitkräfte der Russischen Föderation“ (VS RF) knapp 2 Mio. Mann betragen, davon gut eine Mio. Wehrpflichtige. Da der Wehrdienst traditionell ein schlechtes Image hat, will Moskau künftig mehr Berufssoldaten (kontraktniki) als Einberufene (prizyvniki) berufen, was 2015 mit 352.000 „Profis“ erstmals gelang.
Besonders laut ertönte der Siegesjubel 2020, zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Früher lautete die offizielle Doktrin – 2010 verbreitet in der „Sieges-Enzyklopädie“, einem in Moskau erschienenen Lehrbuch für die Geschichte des „Großen Vaterländischen Kriegs“ -, allein das „Sowjetvolk“ habe im „Großen Vaterländische Krieg“ einen „Großen Sieg“ errungen. Seit dem 21. Dezember 1991 bestehen weder Sowjetunion noch Sowjetvolk, seither verlautet, allein Russland, „damals noch Sowjetunion“ (k Rossii, imenuemoj togda Sovetskim Sojuzom), habe ohne Sowjetvölker oder internationaler Anti-Hitler-Koalition den „Faschismus besiegt“.
Am Zweiten Weltkrieg waren weltweit 62 Staaten (von 73 bestehenden) beteiligt, aber gesiegt hat allein das „Heilige Russland“ (Svjataja Rossija). Details illustrierte die im Frühjahr 2020 eingeweihte „Orthodoxe Hauptkirche der Streitkräfte Russlands“, wobei ihr exotischstes Detail wieder getilgt war: Die Riesen-Ikone, auf der Heroen wie Stalin, Putin, Verteidigungsminister Šojgu u.a. auftauchten (Bild). Man hätte sie ruhig behalten sollen – sofern man Stalins Dank an West-Alliierte hinzufügte, generell eine der wenigen, die historische Wahrheit enthält (weswegen sie als Titel dieser Darstellung dient).
Die Stalin-Äußerung fiel bei der Teheran-Konferenz (28. November bis 1. Dezember 1943), als die „Großen Drei“ Stalin, Roosevelt und Churchill mit einem Festessen den 69. Geburtstag von Churchill würdigten. Sie fehlt im russischen Teil des Konferenzprotokolls, was in Kenntnis Moskauer „Wahrheitsliebe“ für ihre Authentizität spricht: „Without the use of those machines, through Lend-Lease, we would lose this war“. Weiter unten wird auf Aussage und Kontext detailliert einzugehen sein, hier nur so viel: Stalins Eingeständnis sowjetischer Schwäche und Unfähigkeit hat Folgen bis zur Gegenwart: Auf heutige Preise umgerechnet bekamen die Russen Güter im Wert von über 160 Mrd. Dollar, was stets das „Sieger“-Image der Roten Armee schmälerte. Noch 1963 rügte Marschall Žukov (in einem Privatgespräch, das der KGB mitschnitt): „Es heißt derzeit, die Verbündeten hätten uns gar nicht geholfen. Aber man kann nicht bestreiten, dass wir von den Amerikanern sehr viele Güter bekommen haben, ohne die wir den Krieg nicht hätten fortführen können“. Žukov, „Sieges-Marschall“, musste es wissen, zumal er die Hauptrede bei der „Siegesparade“ 1945 hielt.
Über Russland im Zweiten Weltkrieg sind viele Bücher verfasst worden, eines der besten hat die britische Historikerin Catherine Merridale (*1959) verfasst. Wo russische Kriegsliteratur ständig „Sieges-Bilder“ malt, unbekümmert um den Wahrheitsgehalt, da hat C. Merridale den Krieg vorwiegend aus der Sicht des einfachen Infanteristen geschildert, der leiden und hungern musste. Die Rote Armee erschien ihren Soldaten als „Fleischwolf“, in dem bereits in den ersten sechs Kriegsmonaten 4,5 Mio. Soldaten fielen oder in Gefangenschaft gerieten. „Die Rote Armee brach in den ersten Kriegswochen zusammen“, sagt die Autorin und lastet das nicht den Soldaten an, sondern den vorherrschenden Bürokratie, Zwang, Desorganisation etc. – es fehlte an Waffen, Fahrzeugen, Funkausrüstung, Sanitätsversorgung etc. Das alles hat die Autorin in ihrem akribischen Wunderwerk beschrieben, dabei aber übergangen, dass die Sowjets alles Fehlende überreichlich von den westlichen Alliierten bekamen. Warum Catherine Merridale Stalins entsprechendes Diktum verschweigt, bleibt ihr Geheimnis – es ist eine unverzeihliche Auslassung, welche den Wert ihres Buchs deutlich mindert.
2. Russlands nostalgischer Dominanzanspruch
Die neuerliche „Tarnung“ hinter der Kirche hat früherer „Sieges“-Propaganda neuen Schwung verschafft, zumal sie sich immer mehr als schiere Realitätsverweigerung entpuppte. Mit „russischen Siegen“ ist es wie mit „russischen Erfindungen“: Beide hat es nie gegeben! 1960 veröffentlichte Werner Keller (1909-1980) mit „Ost minus West = Null“ eine gnadenlose Entlarvung, die der „Spiegel“ (48/1960) genüsslich resümierte. Danach „ist das russische Reich ein Gigant mit tönernem Kopf, eine Macht, deren Aufstieg nur mit Hilfe gekauften, gestohlenen und erbeuteten westlichen Wissens möglich war“. Ein knappes halbes Jahrhundert später wiederholte die (lesenswerte) Wochenzeitung „Argumenty i fakty“ (AiF 28/2005) alte Behauptungen: Russen haben alle technischen Großtaten erfunden – Flugzeug, Radio, Filmkamera, Dampfmaschine etc. -, die das Ausland sich per „gestohlenem Vorrang“ (kradenoe pervenstvo) unter den Nagel riss. Solche Behauptungen waren eine dauernde Inspiration für Kabarettisten, von denen der Ost-Berliner Peter Ensikat (1941-2013), früher meistgespielter Kabarettautor der DDR, die wohl bissigste prägte: „Offiziell waren die Russen unsere Befreier. Privat wusste man natürlich: Die Russen klauten uns erst die Fahrräder und hinterher behaupteten sie, sie hätten sie erfunden“.
Spät wurden russische Erfindungs-Ansprüche auch von Russen selber ironisiert. So fragte AiF (38/2019) höhnisch: „Womit kann sich unser Land brüsten, ausgenommen Weizen, Wodka und Kalaṧnikov?“ Das bislang schärfste Geschoss der ironischen Selbstkritik sind lakonische Verdikte wie: „Tramp russkij“ (US-Präsident Trump ist ein Russe). Wenn in der russischen Ökonomie einmal wieder nichts klappt, spricht man anzüglich von „Tramponomika“.
Dieser Umgang mit russischen „Errungenschaften“ ist kabarettistisch und wird bereits von zwei weiteren „Anschlägen“ übertroffen. Das sind souveräne Wissenschaftler wie die Ethnografin Izabella Šangina, die neben ihren freundlichen Studien über Leben, Sitten und Alltag der Russen wenig Gutes an deren Charakter findet. Oder ist es etwa ein Kompliment, wenn sie ihren Landsleuten bescheinigt, „sie schätzen brutale Herrscher“? Eine Selbsteinschätzung nahe am Selbstzweifel.
Die dritte Art russischer Distanzierung von „Sieges“-Propaganda ist deren Konfrontation mit sozioökonomischer Misere: Was war das wohl für ein „Sieg“, der uns Inflation in der Wirtschaft, Korruption in der Politik, Niedergang der Landwirtschaft, Zerfall der Infrastruktur und wachsendes Elend in der Bevölkerung brachte? Warum ist Russlands Bevölkerungsrückgang zehnmal höher als prognostiziert (2019/20 353.000 zu 32.000) und wird bis 2024 auf 1,2 Mio. steigen? Warum wird die Aufsplitterung unserer „Siegernation“ in wenige superreiche „Oligarchen“ und ungezählte Bitterarme so ausgeprägt, dass wir uns fast nach Stalin zurücksehnen, unter dem es ausnahmslos allen schlecht ging? Warum bekamen zu Sowjetzeiten (nach achtjähriger Wartezeit) bis zu 1,5 Mio. bedürftige Familien kostenlose Wohnungen, während später 120.000 Arme 20 Jahre auf so etwas warten müssen? Warum weist Russland seit acht Jahren eine explodierende Arbeitslosigkeit auf? Warum verbreiten Moskauer Führer Opferzahlen zum Zweiten Weltkrieg – Stalin 1947 7 Mio., Chruṧčëv 1957 über 20 Mio, Putin 2006 50 Mio. -, die niemand glauben kann? Warum hat das „siegreiche“ Russland im „postsowjetischen Raum“ die niedrigste Zuwachsrate des BIP (1990-2019 24%), vier- bis fünfzehnmal weniger als andere Ex-Sowjetrepubliken? Warum wird in vielen russischen Regionen immer noch Schulunterricht in drei „Schichten“ (smeny) erteilt, was doch schon die Sowjetunion abzuschaffen versprach? Sterben Russen aus, die 1992 mit 148,7 Mio. Menschen ihren „historischen Gipfel“ erreichten, seither aber pro Jahr um mindestens 158.000 „schrumpfen“?
Im Jahre 2005, vermutlich sogar viel früher, komponierte und textete der Sänger Oleg Gazmanov (*1951) das Lied „Sdelan v SSSR“ (Gemacht in der UdSSR), das ein Riesenerfolg wurde: Ein Text, der allen „Patrioten“ und Sowjet-Nostalgikern zu Herzen geht, dazu eine schmissige Melodie – wenn Gazmanov, begleitet vom „Gesangs- und Tanzensemble der Russischen Armee“, im übervollen Kreml-Palast loslegt, weiß keiner, ob die Uniformierten auf der Bühne oder die Zivilisten im Saale begeisterter mitsingen. Der Text artikuliert Territorialansprüche: „Ukraine und Krim, Belarus und Moldawien/ Das ist mein Land (…)/ Kasachstan und Kaukasus, das ganze Baltikum/ Ich bin in der Sowjetunion geboren,/ gemacht in der UdSSR“. Von der zerbrochenen Sowjetunion tauchen in Gazmanovs Lied sieben (der 15) Nachfolgestaaten auf, alle mit „ėto moja strana“ (das ist mein Land) als Besitz vereinnahmt.
Danach folgt eine russisch-sowjetische Ahnengalerie in kühnen Reimen, „pobedy“ (Siege) auf „torpedy“ (Torpedos). Das Zarengeschlecht der Romanovs im Verein mit Lenin und Stalin/ KGB und „große Wissenschaft“/ „Wodka, Kaviar und Eremitage, dazu die schönsten Frauen der Welt, unsere Opas haben im Bund mit Europa den Zweiten Weltkrieg gewonnen“/ „sagt selber, wo ist etwas, das es bei uns nicht gibt“.
Man warf Gazmanov häufig vor, er habe eine „Hymne der Sowjet-Nostalgie“ verfasst, aber Nostalgie braucht Gazmanov nicht, allgegenwärtig ist der „Mythos vom kommunistischen Paradies“, wie das Nachrichtenportal „Lenta.RU“ noch Ende Oktober 2020 konstatierte: „Nostalgie ist eine typisch russische Eigenschaft. Russen träumen von der Widergeburt der UdSSR“ – „75 von 100 Russen bezeichnen die Sowjetepoche als beste Zeit der Landesgeschichte, nur 18 Prozent empfanden anders“. Hauptvorzüge der Sowjetunion waren laut soziologischen Untersuchungen: „erträgliche Preise, Stabilität, Sicherheit und Ordnung, Arbeitsplätze, kostenlose Bildung und Medizin, schmackhaftes Essen, grüne Städte, Völkerfreundschaft, mietfreies Wohnen“.
Laut Befund des „Allrussischen Zentrums zur Erforschung der Öffentlichen Meinung“ (VCIOM) werden Figur und Herrschaft von Leonid Brežnev (1906-1982) von vielen Menschen längst „in Bronze gegossen“. Obwohl sein Wirken als „zastoj-Periode“ (Stagnation) in Erinnerung ist, würden 37 Prozent der Russen gern in dieser Zeit leben – 40 Prozent ziehen die Gegenwart vor. Generell haben Russen unbegreifliche Vorstellungen von „Epochen mit den besten Lebensbedingungen“: Platz 1 „Sowjetzeit“ (1950-1970), Platz 2 „Zukunft“, Platz 3 17./18. Jahrhundert, Platz 4 „Perestrojka“ (1980-1990), Platz 5 19. Jahrhundert, Platz 6 „Mittelalter“.
Woher kommt diese Sowjet-Nostalgie? Darauf hat der Finanzökonom Sergej Dubinin (*1950) eine schlüssige Antwort gegeben (AB): Die Staaten Europas und darüber hinaus waren das Resultat von Revolutionen – in Westeuropa urbane „von oben“, in Osteuropa und in Asien rurale, in Südamerika Mischformen aus beiden. Russland startete seine neuzeitliche Entwicklung zu Jahresbeginn 1917 mit einer urbanen Revolution, die aber noch im selben Jahr Lenin Bolschewiken durch einen chaotischen „Aufruhr“ ablösten, danach herrschte die konservative rurale Revolution, verschärft durch diktatorischen Kollektivismus. Damit war jegliche urbane Revolution mit ihrem Streben nach Modernisierung, liberaler Demokratie und Marktwirtschaft unmöglich geworden. Schlimmer noch, wie Dubinin sagt, glauben die meisten Russen nicht, dass dieses „Modell“ in ihrem Land funktionieren könnte, wo es doch „auch im Ausland versagt, sogar in den höchstentwickelten Ländern“. Ergo: „Russische Bürger sind mehrheitlich konservativ geprägt. Aber ihre traditionellen Werte sucht sie eher im Sowjetmodell als in der vorrevolutionären Vergangenheit.“
Andere interpretieren die postsowjetische Nostalgie als eine Art Nostalgie minus Sowjetisches. Zu ihnen gehört die „Gesellschaftliche Bewegung Patrioten des Großen Vaterlandes“ (PVO), die der Publizist Nikolaj Starikov (*1970) Anfang 2018 gründete. Starikov mag ein Narr sein – „Hitler war ein britischer Agent“, „Engländer haben den Wundermönch Rasputin ermordet“ etc. -, das Programm seiner Bewegung könnte auch von Brežnev u.a. stammen, woher Starikov wohl diese Prinzipien übernahm:
„Wiederherstellung der Einheit des Russischen Volks, das jetzt durch Staatsgrenzen gespalten ist. – Vereinfachte Erlangung der russischen Staatsbürgerschaft. -Stärkung der Streitkräfte und der sozialen Dienste als Garanten der Unabhängigkeit des Landes. – Die Staatsinteressen Russlands als einzige Leitlinie von Innen- und Außenpolitik. – Alleinverfügungsrecht des Staates über Naturressourcen. – Rückkehr zur Staatskontrolle der Wirtschaft. – Formung und Propagierung einer patriotischen Ideologie. – Beschränkung der Übernahme ausländischer Bildungsstandards. – Staatliche Förderung aller traditionellen Religionen Russlands. – Unser Ziel ist Russland als einer der stärksten Staaten der Welt, die die Entwicklung der Menschheit bestimmen“.
Starikov vertritt nicht unbedingt die modische Nostalgie, die auch und gerade Junge beseelt, die wenig von der Vergangenheit wissen, Aber die „wahre Umbewertung dieser Zeit hat bereits eingesetzt“, befindet der TV-Journalist und Medienwissenschaftler Nikolaj Svanidze, wobei er auf eine wahrheitsgemäße Bewertung der jüngeren Vergangenheit setzt. Umbewertung wohin?
„Die 1990-er Jahre waren voller Freiheit, ein Frühlingswind wehte, in der Luft lag die Befreiung von allen Lasten, die die Sowjetmacht verfügt hatte. Die Ladentheken füllten sich, erstmals gab es Läden übervoll an Waren. Ich verstehe, wenn eine Nostalgie danach aufkommt“.
3. „Pobeda“ (Sieg) – leerer Allzweckbegriff
„Pobeda“ ist das russische Wort für „Sieg“, weswegen ab dem späten 18. Jahrhundert gern Kriegsschiffe so benannt wurden. Die Sowjets nutzten „Pobeda“ anfänglich für Lokomotiven, später für alles und jedes – Billigfluglinien, Kinos, Reklameblätter für Gebrauchtwaren, Dörfer etc. Weithin bekannt wurde „Pobeda“ als Name des „ersten sowjetischen“ PKW, entworfen und gebaut von dem Russland-Deutschen Andrej Lipgart (1898 – 1980) und laut Stalin höchst gelungen „Gebe Gott jedem ein solches Auto“ (Daj bog každomu takuju maṧinu) soll er bei der ersten Probefahrt am 16. März 1936 gesagt haben. Im Dezember 1941 bekam das Fahrzeug die offizielle Zulassung unter dem Namen „Rodina“ (Heimat). Im weiteren Kriegsverlauf ersuchte Lipgart Stalin, den Wagen auf „Pobeda“ umzutaufen. Stalin willigte ein – mit der Einschränkung: „Na ja, so groß war der Sieg nicht“ (Nu, nevelika Pobeda, in: Avtosojuz 18.06.2018)
Im vorhergehenden Abschnitt sind die bitteren Fragen aufgelistet, die Russen seit langem an ihr „siegreiches Vaterland“ stellen. Eines der besten deutschen Russland-Bücher war 1967 Nikolaus Ehlerts boshaft-brillante „Große Grusinische Nr. 17“. Als Buchtitel diente die Moskauer Adresse der deutschen Botschaft, wo Ehlert von Juni 1956 bis Februar 1963 als Dolmetscher wirkte. Er hat Russland Jahre nach Kriegsende (oder „Großem Sieg“) erlebt und mitleidlos geschildert: Charakteristisch für Leute und System ist die „Gleichförmigkeit des Elends, die sich nicht mehr unterbieten lässt“. Erschreckend ist die „Knappheit und Dürftigkeit des Lebensmittelangebots“. Abstoßend sind „pathologische Großmannssucht, Armut, Wegelosigkeit, zivilisatorische Zurückgebliebenheit, nationale Sucht nach Schönfärbereit“ – die ständige Bereitschaft, uns bei jeder Gelegenheit zu überzeugen versuchen, „dass in ihrem Land alles besser sei als bei uns“.
Inzwischen hat sich die materielle Lage Russlands gebessert, auch sind die „schikanöse Beschattung und ihre beleidigend plumpe Ausführung“ fast geschwunden. Geblieben aber ist, was Ehlert „Neopotemkismus“ nannte. Damit spielte er auf die legendären „potemkinischen Dörfer“ an, die angeblich Graf Grigorij Potëmkin (1739-1791), Geliebter Katherinas der Großen, aufstellte, um die Zarin über die öde Landschaft zu täuschen. Die Kulissen-Dörfer hat es nie gegeben, aber der Name besteht als Inbegriff für die Vorspiegelung falscher Tatsachen. Den Hang dazu hat Ehlert „bei anderen Völkern der Sowjetunion nie erlebt“, und erst nach dem Ende der UdSSR kann man feststellen, dass hier eine typisch russische Eigenheit vorliegt. Ehlert benannte sie russischen „Fassadnost“ (Fassadenschmuck). Ähnlich treffend sind „očkovtiratel’stvo“ (Augenwischerei), „pokazucha“ (Angeberei), die mitunter groteske Ausmaße annehmen.
In Ausgabe 39/2020 publizierte AiF einen ellenlangen Bericht über Kirill I. Ščëlkin (1911-1960), „einer von denen, die die Sowjetunion zum mächtigsten Staat der Welt machten“. In Wahrheit war Ščëlkin ein wenig bekannter und wenig bedeutender Verbrennungstechniker, wissenschaftlicher Laufbursche von Igor‘ V. Kurčatov (1903-1960), dem „Vater der sowjetischen Atombombe“. Kernwaffen wurden von der Sowjetführung erst nach Kriegsende gefördert, als sie die enorme Effizienz amerikanischer Atombomben erkannte. Zuvor hat man sie übersehen – als Spielerei von Juden, mit denen seriöse Russen nichts gemein hatten. Die Juden mochten begabt, ja genial sein, weswegen man sie nicht einsperrte, aber sie hatten oft Verwandte in Westeuropa und USA, was sie zu einem „Nest potentieller Spione und Verräter“ machte (AiF 25/2020). Nun drängte Stalin auf Eile, bis am 29. August 1949 die erste Atombombe gezündet wurde. Unter Stabführung seines Innenministers L. Berija hatte das Projekt rasch Profil gewonnen – dank Uranerz aus Nordböhmen und dem sächsischen Erzgebirge, 300 deutschen „Atom-Spezialisten“ und einigen qualifizierten Spionen, die an britischen und amerikanischen Anlagen mitgearbeitet hatten. Den Sowjet-Anteil an der „sowjetischen Atombombe“ lieferten 460.000 Zwangsarbeiter, die in Bergwerken, Fabriken, Labors etc. schufteten.
Diese Dinge sind längst bekannt, allerdings nicht aus sowjetischen oder russischen Quellen, die sich ausschließlich mit eigenen „Errungenschaften“ brüsten, welche im Ausland gar nicht, im Inland immer weniger ernstgenommen werden. Um so lauter tönen und trommeln Medien und Propaganda. Beispielsweise ist die erwähnte Armee-Kathedrale die drittgrößte Kirche in Russland und heißt halboffiziell „Siegeskathedrale“. Überhaupt ist „Sieg-̎ (pobeda) inflationär in Gebrauch: Der T-34 als „Siegespanzer“, ein „Sieges-Museum“ wurde im Westen Moskaus (wieder)eröffnet, eine neue „Sieges-Agentur der Russischen Föderation“ ist aktiv, „Sieges-Walzer“ (Val’c pobedy) heißt ein Gesangsfestival, das Kinder in historischen Uniformen bestreiten etc. Peinlichkeit prägt stets Stil und Inhalt, wenn der Zweite Weltkrieg in eigener Wahrnehmung erscheint. 2010 hörte sich das so an:
„Der Große Vaterländische Krieg 1941-1945 endete mit dem vollständigen Sieg des Sowjetvolks über Hitler-Deutschland.(…) Indem es die Stoßtrupps der Weltreaktion zerschlug, vollbrachte die Sowjetunion mit ihren Streitkräften eine historische Befreiungsmission in Europa und Asien und leistete den entscheidenden Beitrag zur Rettung der europäischen und Weltzivilisation. (…) Die Rote Armee war stärker als alle anderen“.
Das Jahr 2020 avancierte zum „Jahr des Gedenkens und des Ruhms“ (god pamjati i slavy), woran bis Jahresende das „gesamtrussische Projekt Heldengedenken“ mit zahllosen Veranstaltungen erinnern sollte, etwa am 20. November in Moskau die wissenschaftliche Konferenz „Die Lehren von Nürnberg“. Und monoton strich man immer wieder Russlands weltweite Befreierrolle heraus:
„Der Große Vaterländische Krieg endete vor 75 Jahren. Dieser Krieg änderte den Lauf der Weltgeschichte, das Geschick der Menschen und die Landkarte der Welt. Unser Volk hatte es mit dem machtvollen Druck seitens eines hoch organisierten und gut bewaffneten Gegner zu tun, Nazi-Deutschland und seine Verbündeten. Wir widerstanden und haben gesiegt“.
Wer hat „gesiegt“? Der Romancier Viktor Astaf’ev (1918-2008) höhnte, dass die parteilichen „Politruks“ (Führer) die Soldaten nur behinderten, und ihretwegen „hätten wir den Krieg schon nach sechs Wochen verloren“. Darum sind „Sieges“-Parolen Selbstbetrug, aus den „Sieges“-Paraden“ wurden Sieges-„Maskeraden“ (Maskarad Pobedy), auf denen sich „Kostüm-Veteranen“ (rjaženye veterany) mit Orden brüsten, für deren reguläre Erlangung sie heute 90 Jahre sein müssten. Der russische „Sieg“ wird international zum Ärger der Russen mit „molčok“ (Schweigen) übergangen, weil kaum jemand ihn glaubt. Die Russen kennen jüngere Umfragen nach den „Siegern im Zweiten Weltkrieg“, die in den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland gemacht wurden und die die USA weit vorn sehen, Russland hinten (AiF 20/2020).
Russland hat nicht „gesiegt“, die von Stalin nahezu auf Führungslosigkeit dezimierte Rote Armee hat nichts und niemanden „befreit“, weil sie stets Tage oder Wochen zu spät am kriegerischen Ort auftauchte: Auschwitz war längst von SS frei und in der Hand der Häftlings-Selbstverwaltung, als es von Russen „befreit“ wurde. Sachsen und Thüringen waren in der Hand von US-Truppen, als sie Mitte Juni 1945 den Sowjettruppen überlassen wurden – vor denen die Deutschen flohen. Aus Prag waren die Deutschen schon abgezogen, als Rotarmisten eintrafen, und so war es überall: Die deutschen Streitkräfte hatten bereits in Reims kapituliert, als sie am 9. Mai 1945 in Karlshorst eine Repetition unter russischer Regie liefern mussten.
Das Haus steht noch, Zentrum einer Show russischer Brachialtechnik – „Kalaschnikow“, „Stalinorgel“, Panzer „T-34“ etc. Grundelement rotarmistischer Mobilität waren „primitive Panjewagen“, wie sich selbst SED-Chef Erich Honecker in seiner Autobiographie erinnerte. Auch wussten die Osteuropäer, dass ihre sog. „Befreiung“ nur der Wechsel von der deutschen Okkupation zur sowjetischen war.
4. Russland – Verfall und Verarmung als Tradition
„Superreiche und Bettler/ Gewalt und Zerrüttung“ (oligarchi i niṧčie, moṧč‘ i razrucha) prangerte Gazmanov in seinem UdSSR-Lied auch an, womit er Recht hatte. Im November 1935, dem Höhepunkt von Stalins Terror und Tiefpunkt seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik, behauptete der „Vater der Völker“ vor einem Arbeiterkongress: „Das Leben wurde besser, das Leben wurde fröhlicher“ (žit‘ stalo lučṧe, žit‘ stalo veselej). Dieses zynische Diktum Stalins kennen heute noch (fast) alle Russen, die nach wie vor nur wenig „besser“ oder „fröhlicher“ leben. Der russische Ökonom Solov’ëv hat es vorgerechnet (AiF 24/2020):
„Unter Stalin mussten alle jahrzehntelang von Hungerlöhnen leben. Die Kolchoz-Bauern bekamen keine Renten, der Unterricht in Ober- und Hochschulen war kostenpflichtig. Gut nur, dass es allen gleich schlecht ging (…) Unter Brežnev hörte der Massenterror auf (…), das Leben war ruhiger, die Löhn stiegen rascher als die Preise. Dafür wurden Waren und Güter knapper (…), unsere Gesellschaft wurde ungleicher (…) Ein Pluspunkt der Brežnev-Zeit erhellt sich, wenn man sie mit den heutigen Problemen von Rentnern und sehr armen Familien vergleicht. (…) 1990 erkrankte die Wirtschaft unter El’cin – der Staat war faktisch bankrott, das Leben verschlechterte sich in jeder Hinsicht. Später wuchs die russische Wirtschaft rascher als die Weltwirtschaft, was anfänglich die Reformen von Vladimir Putin bewirkten und die hohen Preise unserer Rohstoffexporte. Seit 2008 durchlebt Russland schon seine dritte Krise, was natürlich den allgemeinen Optimismus senkt“.
Als Fazit bleibt: Einen wirklich guten Herrscher haben die Russen in den letzten 100 Jahren nicht gehabt, weswegen man selbst Stalin zugute hält, dass er alle seine Untertanen gleich schlecht behandelte, alle Zwangsmaßnahmen mit dem Krieg rechtfertigte. Im Krieg bürdete er der Landbevölkerung so erbarmungslose Naturalabgaben auf, dass sogar seine engsten Mitarbeiter, Mikojan und Molotov, ihn zur Mäßigung mahnten – vergebens! In der ersten Nachkriegszeit wurde das Land 1946/ 47 von einer schrecklichen Hungersnot heimgesucht, die besonders in den südlichen Agrargebieten, Ukraine und Moldova, unermessliche Opfer forderte. Die ganze Sowjetunion musste mit Konsumverzicht Stalins forcierte Schwerindustrie bezahlen, für die ungezählte Menschen in Straflagern des GULAG schufteten. Daneben startete Stalin 1948-1952 ständig neue Terroraktionen – „Leningrader Sache“, „Ärzte-Verschwörung“ etc. -, so dass gerade die politischen Führer aufatmeten, als der Anfang März 1953 nach längerer Agonie starb. Kurze Zeit bestand die Chance, mit dem Stalinismus endgültig aufzuräumen, hätte sich Innenminister Lavrentij Berija (1899-1953) durchgesetzt. Berija hat bis heute zu Unrecht ein negatives Image, wofür Verleumdungen der Stalinisten um Molotov, Chruṧčëv etc. gesorgt hatten. Der russische Historiker Rudol’f Pichoja (*1947) hat die Dinge zurechtgerückt. Berija war der einzige Spitzenfunktionär mit abgeschlossenem Studium (Architektur), er stoppte Stalins „Großbauten des Kommunismus“, milderte die Agrarpolitik, verfügte Massen-Amnestien etc. Seine beste Idee war, in der DDR „den Aufbau des Sozialismus aufzugeben“, Ost- und West-Deutschland zu einem friedlichen, neutralen Staat zu vereinen. Was Gorbačëv erst Jahrzehnte später erfolgreich unternahm, wäre (mit einigen Abstrichen) bereits 1953 unter Berija möglich gewesen. Das wussten die Stalinisten genau, die Berija zum Tode verurteilten und Ende 1953 erschießen ließen.
Berija hätte mehr verdient, Stalin fielen „Verdienste“ in den Schoß. Seine Sozialpolitik war im Grunde eine Massenverelendung – was kaum jemand mitbekam, weil alle benachteiligt waren. So erklären sich manche Publizisten und Wissenschaftler die neuerliche Stalin-Nostalgie. Laut Umfragen verwerfen 48% der Russen die „perestrojka“ des „verfluchten Gorbačëv“, und 24% wünschen, „dass alles wie früher würde“: Wir fordern wieder die „wunderbare Sowjetunion“ unter dem „gütig lächelnden Stalin“ (dessen Terror 46% „billigen“). Hits sind alte Stalin-Lieder oder neue wie „Bringt Stalin zurück“ (Vernite Stalina), getextet, komponiert und bei Senioren stets erfolgreich vorgetragen von Sergej Kuročkin (*1959), einem Feuerwehrmann aus Sevastopol‘.
Es ist nur halbwahr, dass Stalin Verarmungsstrategie alle Sowjetbürger im gleichen Maß betraf. In der Sowjetunion bestanden, wie auch anderswo in Osteuropa, genug Möglichkeiten, schmale Einkünfte aufzubessern. Da gab es Tausende Orden, Ehrenzeichen, Diplome, Titel etc., die zumeist mit stolzen Prämien und Privilegien verbunden waren. Catherine Merridale hat das in einen boshaften Vergleich verpackt: Die US-Armee hat nur 1,4 Mio. Militärauszeichnungen vergeben, nach langer detaillierter Prüfung – die Rote Armee vergab über 11 Mio. Orden. Die DDR verlieh 8.000 Auszeichnungen, deren höchste, der „Nationalpreis“, mit 60.000 (Ost)-Mark versilbert war, der „Karl-Marx-Orden“ mit 20.000 etc. Bis 1973 kam noch ein jährliches „Ehrengeld“ hinzu, faktisch eine (willkommene) „Gehaltsaufbesserung“. Noch abenteuerlicher war es in der Sowjetunion, wo die Brustpartien von Uniformen verstärkt waren, um die Menge der Auszeichnungen zu tragen. Dazu unfreiwillig komische Titel wie „Heldenmutter“ (für zehn und mehr Kinder), „Volks-Architekt“, „Verdienter Landarbeiter“ etc. Da Orden und Titel oft mehrfach verliehen wurden, wuchsen die pekuniären Zulagen heftig an. Darum befahl das Präsidium des Obersten Sowjets am 10. September 1947, dass „ab 1 Januar 1948 Geldprämien für Orden und Medaillen (l’goty i denežnye vyplaty), die Gewährung kostenloser Fahrten mit der Eisenbahn und dem Schiff, Freifahrten auf Nahverkehrsmitteln und Zahlungen für Wohnungsmieten einzustellen“. 1958 wurden die Bestimmungen für Auszeichnungen verschärft, dito 1974 und 1979/80, Ende August 1989 stiftete man eine „Auszeichnung für Opfer der Repressionen der 30-er und 40-er Jahre und für postum Rehabilitierte“.
5. Oligarchen und Arme
Dmitrij Zuravlev, Direktor des russischen „Instituts für Regionalprobleme“, gab Auskunft: „Vor 30 Jahren gab es in Russland nur den Staat, sonst gar nichts. Und die ganze Wirtschaft ging vom Staat aus“ (Ria Novosti 11.6.2020). Inzwischen ist es umgekehrt, weiß der Wirtschaftspublizist Anatolij Saludskij: „Wir erleben ein kolossales Anwachsen der sozialen Aufsplitterung. Das Gros der Bevölkerung (146,6 Mio. Menschen) disponiert über nur 18 Mrd. Dollar (AiF 3/2020), aber laut Statistik liegen 71 Prozent des nationalen Reichtums (2019 27 Mrd. Dollar), in den Händen von einem Prozent der Bevölkerung“ (AiF 3/2020). Nach anderen Zahlen (Lenta.RU 01.10.2019) besitzen die 23 reichsten Russen 30,6 Mrd. Dollar. Von solchen „Oligarchen“ bekam Putin, der den Begriff nicht mag, da er ihn mit politischem Ehrgeiz assoziiert, bei den Wahlen 2018 77 Prozent der Stimmen. Russland, so der Wirtschaftswissenschaftler (und Wirtschaftsberater Gorbačëvs) Abel Aganbegjan (*1932), bleibt ein „Land reich an armen Leuten“ (Rossija – bogataja strana bednych ljudej). Das ist wörtlich zu nehmen – bezeugten (fast) unisono die Statistik-Ämter „Eurostat“ und „Rosstat“, als sie 2019 ermittelten, dass die Hälfte aller Russen an oder unter der „Armutsgrenze“ leben (AiF 39/2019). Mit (umgerechnet) 137 €/ Monat hat Russland den zweitniedrigsten Mindestlohn Europas, unterboten nur von Belarus (104 €), aber deutlich überboten von Ex-Sowjetrepubliken wie Lettland (430 €), Estland (584 €) und Litauen (607 €), selbst arme Länder wie Moldova (150 €) und Ukraine (154 €) sind besser dran.
Russlands Situation verschlimmert sich: Bis 2030 will Putin „per Präsidial-Ukaz die Armut um das Zweifache“ kürzen, aber über solche Prognosen können Experten wie Aganbegjan nur bitter lachen: Die Rate der Menschen mit „Einkommen unter dem Existenzminimum“ (s dochodami niže prožitočnogo minimuma) lag 2019 bei 12,3%, wird 2020 aber auf 13,3% steigen. Im Lande darben 12,5 Mio. Menschen an der Armutsgrenze – oder 19 Mio oder mehr. Allen Ernstes wurde im Sommer 2020 überlegt, ob man nicht zum System der Lebensmittelkarten und Bezugsscheine zurückkehren solle – wie schon mehrfach zu Sowjetzeiten, mag diese Regelung bei den Leuten auch „Erinnerungen an Mangel, Hunger und Not“ wecken (AiF 39/2020).
Als Putin 1999 Präsident Russlands wurde, war das Land mit rund 150 Mrd. Dollar im Ausland verschuldet. Aber „zum Glück“ (k sčast’ju) stiegen die Preise für Öl und Gas so stürmisch an, dass Russland binnen zehn Jahren 540 Mrd. Dollar Plus machte.
Ganze 2% beträgt Russlands Anteil an der Weltwirtschaft (USA 24%, China 16%). Von 2011 bis 2018 gingen in Russland 5 Mio. Arbeitsplätze verloren. Russlands Gesundheitsreform, 2006 und 2011/12 von Putin (Ukaz 597) gestartet, „verlief im Sand“. 27,8% der Russen leben ohne Toilette – Europarekord! Preise steigen, Renten fallen, Menschen verzweifeln und verlieren die Orientierung.
Wo steht Russland international? Vor 150 Jahren unkte Zar Aleksandr III. (1845-1894): „Wir haben nur zwei zuverlässige Freunde, die russische Armee und die russische Flotte“. Derzeit kriegt Russland Gegner wie den Präsidenten der Türkei Erdogan, der Ende Oktober 2020 die Rückgabe der Krim verlangte, 1783 dem Osmanischen Imperium abgenommen. Moskau hat als Freund nur noch Kuba, dem Putin im Juli 2014 knapp 40 Mrd. $ Schulden erließ. In Ost und West hält man es mit Ex-Präsident Obama, der 2014 Russland eine „Regionalmacht“ nannte, „die ihre Nachbarn nicht aus Stärke, sondern aus Schwäche bedroht“. Russen sehen, dass einstige Bruder- und Sowjetvölker sie als „Feind“ (Georgien), als „übelsten Feind“ (Polen), als Geschichtsfälscher (Ukraine), als Landräuber (Rumänien), als Betrüger (Bulgarien) etc. ansehen. In Russland regt sich chauvinistische Propaganda, geäußert von neuen Bünden wie der „Russisch-Nationalen Linie“ oder von Einzeltätern wie dem Publizist Georgij Zotov, ein intelligenter Zyniker, der massive Vorwürfe verbreitet: Rumänien, Bulgarien, Finnland und Ungarn waren „Diener Hitlers“, Litauen, Ukraine und Polen bekamen von Russland „zehntausende Quadratkilometer rein deutsches Land als Geschenk“. Aber nie hat jemand „Danke“ gesagt. „Europa ist undankbar“, wir Russen haben nur „verfluchte Freunde“ und finden nie einen „Draht zu Verbündeten“.
In Zotovs Hausorgan „AiF“ publizieren auch seriösere Autoren. Die bündigste Selbstkritik äußerte Anfang 2020 (AiF 6/20) der russische Historiker (und Spezialist für zwischenstaatliche Beziehungen) Aleksandr Čubarjan (*1931): Russland, im Zweiten Weltkrieg Teil einer „machtvollen Einheit mit den USA und Großbritannien“, gilt seit Jahren im Westen als „Feind“ (vrag) und „Vogelscheuche“ (pugalo). Aber, so Čubarjan, die „russische Bedrohung“, welche die “zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts“ bestimmte, gibt es nicht mehr, weil Russland zu Drohungen kaum noch fähig ist. US-Medien berichten zu 50% „äußerst negativ“ über russische Politik und Militär. Wenn ganze zwei Prozent positiv schreiben, dann meinen sie russische Kultur.
6. Russisches Landleben – eine Strafe!
Urquell russischer Ruhmrederei sind die „Byliny“, im 11. Jahrhundert aufgekommene Heldensagen, die in Inhalt, Stil und Textgestaltung wunderschön sind, aber historiographisch noch weniger ernst zu nehmen als etwa das deutsche „Nibelungenlied“. Hauptakteur der Russen ist Fürst Vladimir, „Thronhalter von Kiew“ – Haupthelden sind die „Recken vom Heiligen Russland“ (bogatyr‘ svjatorusskij) Il‘ja Muromec, Alëṧa Popovič etc., die im Alleingang ihre Heldentaten gegen alle “schwarzen Raben“ (čërnyj voron) ausfechten – Türken, Tataren und andere Feinde. Ortsnamen werden in den Byliny nur selten genannt (Kiew, Murom, Novgorod, Černigov), Dorfnamen noch seltener. Relativ häufig erscheinen „mužiki“, wörtlich „Männlein“, gebraucht im abwertenden Sinne von „Dorftrottel, Primitivling“.
„Mužiki“ sind vorwiegend Wehrpflichtige und Dorfbewohner. Letztere sind sprichwörtlicher arm. „Die Armut in Russland hat ein dörfliches Gesicht“, kommentierte AiF-Redakteurin Nina Zemljanskaja (8/2019). Und das konnte sie sich nicht erklären:
“Warum leben die Dorfbewohner in solcher Armut, da sie nicht nur das Land ernähren, sondern für dieses auch noch Milliarden verdienen? 2018 erbrachte der Export von Agrarprodukten und Nahrungsmitteln 25,1 Mrd. Dollar. Warum fliehen die Menschen aus dem Dorf? Und welche Aktivitäten plant die Regierung, um das Landleben zu verbessern?“
Die Regierung plant gewaltige „Komplex-Programme“, die nicht nur keinerlei Effekt haben, sondern an dem ländlichen Niedergang nichts ändern. 1990 lagen die dörflichen Löhne bei 95,5% des gesamtrussischen Durchschnitts, 2019 bei 57%. Die Arbeitslosigkeit beträgt auf dem Land 8 – 10% (eventuell 14%), in der Stadt 4,3%. In Russland, gibt es 20 Mio. „Arme“, d.h. Menschen mit Einkommen unterhalb des Existenzminimums, wovon die „Mehrheit“ (bol‘ṧinstvo) Landbewohner sind. Die amtliche Statistik nennt 306.000 ländliche Arbeitslose, real sind es mindestens zwei Millionen.
Die ländliche Geburtenziffer fiel unter die städtische. Seit 1995 haben 2,5 Mio. Menschen das Land verlassen, weitere 4,6 Mio. erwartet Rosstat bis 2036. 1990 lag das nächste Krankenhaus im Durchschnitt 36 km vom Dorf entfernt, derzeit sind es 81 km. Überlange Wege braucht man zur Polyklinik (39), zur Schule (16), zum Kindergarten (22), zum Kulturhaus (14).
7. Verkehrswesen aus grauer Vorzeit
Etorufu (3.184 km²), Kunashiri (1.498,8 km²), Schikotan (253,3 km²) und Chabomai-Gruppe (99,9 km²) sind die vier Inseln der japanischen Süd-Kurilen, welche die Sowjetunion im Februar 1946 annektierte. Sie und ihr Nachfolger Russland betrachten das als rechtmäßig, Japan ist anderer Meinung, weswegen seit 75 Jahren kein Friedensvertrag zwischen beiden Staaten besteht. Die Lebensbedingungen auf den Süd-Kurilen sind schlecht, die Lebenserwartung fast ein Jahrzehnt kürzer als in Zentralrussland, Straßen hat es bis vor wenigen Jahren nicht gegeben. (AiF 41/2020). Denselben Eindruck hatten vor langer Zeit USA-Bergbau-Experten, die von Russen im Land herumgefahren wurden. Ihre Eindrücke formulierten sie nachdrücklich: „Wir dachten, Sie hätten schlechte Straßen, aber Sie haben gar keine Straßen!“
Nikolaus Ehlert sprach in seinem Russland-Buch süffisant von der „bekannten Wegelosigkeit“ des Landes, die er zwei Umständen anlastete: Erstens der schwerfälligen Bürokratie, zweitens dem hypertrophen Sicherheitsdenken russischer Politiker, die schlechten Straßen noch Pluspunkte abgewinnen: Über sie können Einheimische schwerer flüchten und auswärtige „Feinde“ schwerer eindringen. Rührt von daher das geringe Interesse, welches Ex-Spionageoffizier Putin für das Verkehrsnetz erübrigt? Immerhin will er bis 2024 umgerechnet 130 Mrd. Dollar aufwenden, um die Wege-Infrastruktur zu verbessern. Die Straßen gehören der Föderation oder den Regionen, was im russischen Klartext nur heißen kann, dass sich divergierende Bürokratien behindern und wenig vorankommt. Zum Weltwirtschaftsforum in Davos wurde 2019 eine Rangliste der weltweiten Straßenqualität erstellt, auf der Russland unter 141 Staaten Platz 99 belegte. Daheim betrieb man Ursachenforschung: Liegt die Misere an „Geldmangel oder Unfähigkeit zu bauen“? Aber es muss etwas getan werden, nachdem schon seit Jahren zwei Drittel aller Investitionen im Straßenbau für Reparaturen draufgehen und es noch erheblich mehr wären, würden russische LKWs nicht halb so schnell wie westliche fahren und das mit geringerer Ladung. Russische Chauffeure haben ihre eigene „Sprache“ für eigene Nöte: Winterstraße (fest zugefrorenes Flussbett), Winterasphalt (Löcher voll mit festgefahrenem Schnee).
Russlands Straßennetz (1.28 Mio. km Ende 2012) rangiert im Weltvergleich auf Platz 114 (Schweiz Platz 3), eine Bestätigung von Gogols legendärer Sottise: „Russlands Übel sind die Dummköpfe und die Straßen“ (duraki i dorogi). In Russland bestehen zehn „Föderations-Subjekte“, in denen man „gut lebt“, und zahlreiche andere, wo die Lebensqualität „nicht weit her“ ist. Zu den zehn „lidery“ zählen Moskau, Sankt Petersburg, Moskauer Umland und weiter bis Kaliningrad, dem früher deutschen Königsberg (meiner Geburtsstadt). Ob dieses nur auf Platz zehn gehört, ist fraglich, da es über Vorzüge verfügt, die andere nicht haben, beispielsweise ganzjährig intakte und befahrbare Straßen, die laut Putin „deutsches Erbe“ sind. Davon kann man anderswo nur träumen, am sehnlichsten in der fernöstlichen Jüdischen Autonomen Region Birobidshan (36.266 km², 160.000 Einwohner), der drittschlechtesten Region.
Laut Weltbank und anderen internationalen Institutionen steckt Russland seit Jahrzehnten in einer Zwickmühle: Weil es schlechte Straßen hat, kommt es ökonomisch auf keinen grünen Zweig – weil die Wirtschaft ständig kränkelt, verfällt vor allem das Straßennetz. Von diesem Netz waren 2012 927.000 km befestigt, 355.900 unbefestigt – ganz 5 Prozent des Straßennetzes sind laut heimischen und internationalen Experten von „good quality“. Zum Netzt gehört die Autobahn Sankt Petersburg – Vladivostok, die mit ca. 9.200 Kilometern die weltweit längste ist. Russische Touristikmanager haben dafür eine Planungshilfe ersonnen: „Wenn Sie die Strecke mit dem Fahrrad bewältigen, benötigen Sie 447 Stunden. Zu Fuß (peṧkom) sind Sie zwei Monate unterwegs. Ihr Hund schafft es in einem Monat“.
8. Putins „katastrophales“ Eigentor 2005
Ein kritischer Umgang mit eigener Geschichte und sowjetischer Vergangenheit fällt Russen überaus schwer, ihren heutigen Herrschern und deren Herolden gefällt hohles Eigenlob besser. Russen lieben wohl den schönen Selbstbetrug, besonders wenn er von angeblichen „Siegen“ im Weltkrieg bestätigt erscheint. 2010 war in der „Sieges-Enzyklopädie“ zu lesen:
„Den ganzen Krieg über demonstrierte der sowjetische Soldat im Unterschied zum deutschen die besten Züge seines Nationalcharakters: Selbstaufopferung, moralischen Adel, Furchtlosigkeit, Heldenmut“.
Über so viel Eigenlob können Fachleute wie Izabella Šangina nur den Kopf schütteln (AiF 11/ 2020). Für sie sind ihre Russen „die größten Säufer auf dem Planeten“, „Finsterlinge“, „Faulpelze“, „Sklaven im Geiste“ etc. Am 12. August 2020 ermittelte eine „allrussische Repräsentativumfrage“ (N = 1.600) die positiven und die negativen Eigenschaften „des russischen Menschen“. Als positiv wurden genannt (in Prozent): Güte (32), Zielstrebigkeit (23), Duldsamkeit (18), Kameradschaftlichkeit (14), Patriotismus (13), Arbeitsliebe (7) etc. Negative Eigenschaften wurden in Gruppen zusammengefasst und bewertet: Alkoholismus, Drogensucht (21), Faulheit, Initiativlosigkeit, Trägheit (17), Unterwürfigkeit, Stumpfheit (8).
Solche abträglichen Befunde bestritt Putin Ende Oktober 2020 rundheraus. Vor dem „Diskussionsklub Valdaj“ äußerte er einen konträren Lobeshymnus: „Ich glaube, das Hauptsächliche blеibt unverändert, die besten Eigenschaften unsres Volks – Patriotismus, Willensstärke, Kreativität und Arbeitsfähigkeit, gegenseitige Solidarität und die Fähigkeit, die Welt in Erstaunen zu versetzen, indem es schwierigste, beinahe unlösbare Aufgaben löst“. Was er mit so viel Komplimenten beabsichtigte, deutete sein wichtigster Politberater an, Aleksej Česnakov (*1970), Chef des seit 2000 für Putin aktiven „Zentrums für politische Konjunktur“ (CPK): „Der Russe hat Angst vor einem Rücktritt Vladimir Putins als Präsident des Landes, das könnte verschärfte Machtkämpfe und internationalen Autoritätsverlust des Landes auslösen“.
Sind russische Politiker wie Putin immer ernst zu nehmen? Er schickte am 25. April 2005 eine „Botschaft“ (poslanie) an die „Föderal-Versammlung“, das russische Parlament, bestehend aus der oberen Kammer „Föderationsrat“ (170 Mitglieder) und der unteren Kammer „Duma“ (450 Mitglieder). Vor den 620 Abgeordneten des höchsten legislativen Gremiums seines Staats nannte Präsident Putin den „Zerfall der UdSSR die schwerwiegendste (krupnejṧaja) geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“ Das gefiel notorischen Moskau-Hassern wie den Polen. Der Pole Donald Tusk, 2014 bis 2019 Präsident des „Europäischen Rats“, war im Juli 2019 auf einer internationalen Tagung in Georgien, für die er Klartext publizierte:
„Der Zerfall der Sowjetunion WAR KEINE schwerwiegendste geopolitische Katastrophe. Heute möchte ich in Georgien laut und deutlich sagen: Der Zerfall der UdSSR war ein Segen für Georgier, Polen, Ukrainer, für ganz Zentral- und Osteuropa. Und für die Russen auch“.
Putin versuchte er noch am 27. Juni 2019 in einem Interview mit der „Financial Times“, zerschlagenes Porzellan zu kitten:
„Ich hatte vor allem die humanitäre Komponente im Blick, als sich 25 Millionen ethnische Russen im Ausland wiederfanden und erst aus Fernsehen und Radio erfuhren, dass die Sowjetunion nicht mehr existiert. Hören Sie, ist das etwa keine Tragödie? Und was für eine es ist!“
9. Sowjetmonumente – „scheußlicher Scheißdreck“
Russische Kommunikation verläuft oft nach dem Grundsatz „Nicht auf die Braue, gleich aufs Auge“ (Ne na brov‘, no na glaz). Ein Virtuose solcher Interaktion ist der populäre Designer (und Blogger) Artemij Lebedev (*1975), der Mitschuld daran trägt, dass in der Presse Russlands „russophob“ gleich „liberal“ gebraucht wird.
Lebedev provozierte im August 2020 einen großen Krawall. Angeblich hatten „die Einwohner der Heldenstadt (gorod-geroj) Volgograd“ gefordert, die frühere Nachtbeleuchtung des riesigen Denkmals „Mutter Heimat ruft“ (Rodina-mat‘ zovët) zu reaktivieren. Volgograd ist das frühere Stalingrad, wie nur noch eine Station der Pariser Metro trägt (Linie 2, 5 und 7). Die „Mutter Heimat“ verachtete Lebedev zutiefst:
„Sie ist scheußlich (urodskaja), das schrecklichste Produkt der sowjetischen Monumentalkultur, die man leider nirgendwo entsorgen kann. Das ist so ein Scheißdreck (chren‘), den man einmal aufrichtete, wo er Symbol wurde, aber wegräumen kann man ihn nicht mehr, nichts zu machen (ničego)“.
Die „Mutter“ wurde von dem ethnischen Serben Evgenij Vučetić (1908-1974) gestaltet. Das dauerte von 1959 bis 1967 und wurde in echt sowjetischem „brak“ (Pfusch) ausgeführt, der 1972 und 1986 umfangreiche Restaurierungen erforderte.
„Mutter Heimat“ ist nicht scheußlich, trotz ihrer Höhe (52 m) und ihrer Massigkeit (5.500 t Beton) ist sie attraktiv (linkes Bild). Vučetić postierte die schöne Georgierin Nina Dumbadze (1919-1983, rechtes Bild), jahrelang Weltrekordhalterin im Diskuswurf und 1952 Olympiasiegerin, aufs Podest seines „Denkmals-Ensembles“ des Volgograder Mamaev Kurgan. Für den Denkmals-Kopf stand seine Frau Vera Modell, der nur der weit geöffnete Mund der Mutter missfiel.
Vučetić hat in Berlin (Ost) ein wirklich scheußliches „Werk“ geschaffen, „Voin-osvoboditel‘“ (Soldat-Befreier), 1946 bis 1949 im Park Berlin Treptow in Höchst-Tempo errichtet, als die Abgrenzungen der einzelnen „Sektoren“ der Siegermächte noch nicht feststanden. Am 25. April 1991 sagte das wiedervereinigte Deutschland den (damaligen) Sowjets vertraglich Denkmalsschutz zu: „Die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet sich, sowjetische Denkmäler für die Opfer des Krieges und der Gewaltherrschaft und Kriegsgräber in Deutschland zu erhalten und zu pflegen“. Darum blieb Deutschland der Ärger erspart, den Tschechen, Polen, Ungarn und andere mit Moskau haben, wenn sie die Denkmäler sowjetischer „Befreier“ wegräumen, die in Wahrheit Henker und Schlächter waren. Immerhin vermieden Deutsche, Vučetićs „Befreier“ als Vereinsabzeichen sowjetischer Ex-Besatzer zu präsentieren.
Da schaut man lieber auf das eine von Vučetićs Werken, das sein Geniestreich war. 1957 bekam er den Auftrag, für das UN-Gebäude in New York ein repräsentatives Monument zu schaffen. Er wählte aus dem Alten Testament (Mich 4,3) den passenden Vers: „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen“. Das hat Vučetič in beeindruckender Weise umgesetzt, wozu auch die sprachliche Gestalt gehörte: Statt des langweiligen „machen“ wählte er das Verb „perekovat‘“ (umschmieden, neu fassen), was weltweit Eindruck machte, gar auf sowjetische Briefmarken kam (Bild). Nur in der DDR, wo Vučetićs Monument Symbol der regimefeindlichen Opposition war, konnte es gefährlich werden, Vučetićs „Umschmieder“ am Revers zu tragen.
10. Ausblick: „Hasst“ alle Welt die Russen?
Im obigen Kapitel über „Nostalgie“ war die Rede von dem neochauvinistischen Krakeeler Starikov. Er demonstrierte 2018/19 Flachsinn mit seinem neuen Buch „Hass. Chroniken der Russophobie“ (Nenavist‘. Chroniki rusofobii), das in einem umwerfenden Befund gipfelt: „Wir waren imperial, wir waren kommunistisch, wir waren demokratisch – doch zu jeder Zeit vom Westen gehasst“. Warum? Weil der Westen in Russland den überlegenen Rivalen fürchtet. Und darum „wird im Westen der Russlandhass intensiv gefördert“, der seit jeher zu “unzähligen Verbrechen“ inspirierte.
Dem Westen ist Russland weithin gleichgültig, Osteuropa meist zuwider. Wofür Zahlen sprechen (AiF 49/2019): In den 1990-er Jahren haben 74,6 Mio. Menschen im Ausland Russisch gelernt, 2018 waren es noch 38,2 Mio. Dieser Rückgang verlief besonders krass in Osteuropa, wo die Zahl der Russisch-Sprecher von 38 Mio. (1990) auf 8 Mio. abstürzte, im ex-sowjetischen Raum von 119,5 Mio. auf 82,5 Mio.
Das intellektuelle und soziopolitische Gegenstück zu Starikov & Gen. ist die Philologin Valerija Novodvorskaja (1950-2014, Bild), die in Deutschland 1971 durch Rolf Winters kritisch-faktenreiches Russlandbuch (AB) bekannt wurde. Winter machte ihren infernalischen „Dank“ an die KP zum Motto seiner Ausführungen zum Widerstand. Und bei Novodvorskaja wurde „Hass“ absichtsvoll artikuliert „Dank Dir, Partei,/ für alles was Du tust; /um unseren Hass auf Dich zu nähren. Dank Dir, Partei“. In Russland wurde sie bekannt durch ihren Appell „Nieder mit der Sowjetmacht“ (Doloj sovetskuju vlast‘). 1988 war sie Mitbegründerin der systemkritischen „Demokratischen Union“, nach 1991 stritt sie unermüdlich für die „Welt-Werteskala“, die sich ihr höchst einfach darstellte, auch wenn sie damit viele ihrer („sowjetisch“ sozialisierten) Mitstreiter, überforderte: „Freiheiten und Menschenrechte können nur auf einem System basieren, welches Kapitalismus heißt“.
Wenn der Politologe und Ökonom Sergej Karaganov (*1952) Recht hat, wird es ein solches System in Russland kaum jemals geben (AB): „Russland wählte den Kurs der Aufrüstung“, obwohl Russen wissen, dass „in der heutigen und kommenden Welt Militärpotential keine entscheidende Bedeutung in der Politik mehr haben wird“. Aber dem widersteht „der Appetit des verbleibenden Militärisch-Industriellen Komplexes, der (…) korrumpiert ist, wie fast alles bei uns“. Man betreibt eine „dumme Hochrüstung über jedes vernünftige Maß hinaus, sucht nicht vorhandene Feinde“ und plündert alle Entwicklungsbudgets für Militärausgaben, wo doch eine „nachhaltige Erhöhung der Aufwendungen für die Bildung“ nötig wäre. Wenn Russland so fortfährt, dann fehlen ihm in Bälde nicht nur Mittel „für Modernisierung und Diversifizierung der Wirtschaft, selbst für die Stärkung der Militärmacht wird es nicht mehr reichen“. Zur Bestätigung seines giftigen Urteils zitierte Karaganov den „ehemaligen BRD-Kanzler“ Helmut Schmidt, der die UdSSR „Obervolta mit Atom-Raketen“ nannte. Wann er das genau gesagt hat, ist unbekannt, aber russische Hochachtung für Schmidt hat sein Vergleich von Russland als „Verchnaja Vol’ta s raketami“ nie geschmälert.
>>Hier geht es zu Teil 2: Teil 2 Russlands „Siege“ – vermiedene Niederlagen
Autor: Wolf Oschlies
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