„Das ist’s.“
Das ist’s, was dir im Leben Stärke und Zuversicht und Kühnheit gibt: Dass du’s allein nicht bist, der Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit liebt;
dass Tausende von Menschen kämpfen
für das Ziel, das auch du erstrebst,
dass Tausende von Menschen starben für das,
wofür du kämpfend lebst.
Das ist es, was an schweren Tagen erneut dir Kraft und Mut verleiht: Dass andere gelitten haben in unvergleichlich härt’rer Zeit;
dass keine Macht sie hindern konnte
und keine Opfer und Gefahr,
den schweren Kampf ums Recht zu führen
der manchmal dann erfolgreich war.
Hilde Meisel
Hilde Meisel, geboren 1914, Jüdin, arbeitete v.a. im Pariser und Londoner Exil für den ISK. 1945 wurde sie in Österreich von einer SS-Patrouille erschossen.
Sophie Scholl, Georg Elser, Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Pater Rupert Mayer, dies alles sind Namen, die uns bekannt und geläufig sind. Wir wissen von diesen Menschen, dass sie ihr Leben geopfert haben, um sich den Gräueltaten des NS-Regimes zu widersetzen. Wir bewundern sie für ihren unvergleichlichen Mut, sie dienen uns als Vorbilder. Nichts wissen dagegen die meisten von uns von Willi Eichler, Hellmut von Rauschenplat, Minna Specht oder Willi Ohlendorf und vielen anderen, obwohl auch diese ihr Leben riskiert haben, um für ihre Überzeugungen und gegen Gewalt und Unterdrückung zu kämpfen. Diese mutigen Männer und Frauen waren allesamt Mitglieder des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK), einer Organisation, die uns heutzutage weitgehend unbekannt ist, obwohl der ISK im In- und Ausland massiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus leistete, und viele Mitstreiter dabei ihr Leben ließen. Daher hoffe ich, durch diese Arbeit dazu beizutragen, dass uns die bewundernswerten Taten dieser Menschen in Erinnerung bleiben.
Die Vorgeschichte zur Gründung des ISK
Die theoretisch-philosophischen Grundlagen des ISK
Obwohl es bei dieser Erörterung vor allem um den Widerstand des ISK gegen den Nationalsozialismus geht, ist es dennoch unerlässlich, wenigstens einen kurzen Überblick über die Entstehungsgeschichte dieser Organisation und deren theoretisch-philosophischen Grundlagen zu geben.
Gegründet wurden der ISK, wie auch dessen Vorläuferorganisation, der Internationale Jugendbund (IJB), durch den Göttinger Philosophieprofessor Leonard Nelson (* 1882, t 1927). Nelson knüpft in seinen Werken hauptsächlich an die Lehren von Jakob Friedrich Fries und Immanuel Kant an. Die wissenschaftliche Ethik Nelsons basiert auf dessen uneingeschränktem Vertrauen in die menschliche Vernunft, die allerdings durch Bildung gefördert und gestärkt werden muss, weswegen er der Pädagogik ein hohes Maß an Bedeutung beimisst. Darüber hinaus ist Nelson ein konsequenter Verfechter des Sozialismus, da seiner Meinung nach nur durch ihn der „Rechtszustand der gleichen Freiheit“ realisiert werden könne. Laut Nelson müsse der Staat für den Schutz des Rechts jedes Einzelnen Sorge tragen; die Demokratie lehnt er jedoch ab, da der Staat dadurch von der Meinung einer verführbaren Masse abhängig würde. Vielmehr schwebt Nelson das „platonische Ideal einer Herrschaft der Weisen“ vor, wobei er jede Art von Kontrolle oder Gewaltenteilung für unnötig hält, es genüge einzig und allein das Vertrauen in die Vernunft der Herrschenden.
Die Geschichte des Internationalen Jugendbundes (IJB) zwischen 1919 und 1925
1917 rief Leonard Nelson zusammen mit der Pädagogin Minna Specht den Internationalen Jugendbund (IJB) ins Leben, der es sich zur Aufgabe machte, seine Mitglieder im Sinne der Nelsonschen Philosophie zu schulen und zu disziplinierten und geistig gefestigten „Berufsrevolutionären“ zu erziehen. Diese Organisation war gemäß der Theorie Nelsons nach dem Führerschaftsprinzip aufgebaut mit Nelson selbst an der Spitze. Von Anfang an stand jedoch fest, dass der IJB nie zu einer Massenorganisation anwachsen, sondern ein kleiner Zirkel von Intellektuellen bleiben würde, da die an die Mitglieder gestellten Ansprüche äußerst hoch waren und von jedem Einzelnen ein großes Maß an Opferbereitschaft forderten. Hierzu gehörten u.a. „Kirchenaustritt, Vegetarismus, Alkoholabstinenz (…) und eine rigorose Parteisteuer“, wie sich das ehemalige ISK-Mitglied Susanne Miller erinnert.
Die ersten Ortsgruppen des IJB bildeten sich zunächst in Berlin, München, Frankfurt am Main, Magdeburg und Kassel, und auch im weiteren Verlauf blieb die Verbreitung des IJB im Wesentlichen auf Deutschland beschränkt. Darüber hinaus waren die IJB-Anhänger größtenteils auch in anderen sozialistischen Organisationen tätig, v.a. in der SPD und bei den Jungsozialisten, dem Jugendbund der Sozialdemokraten. Allerdings kam es aufgrund der Radikalität des IJB häufig zu Spannungen zwischen seinen Mitgliedern und den gemäßigten Sozialdemokraten, die schließlich eskalierten, als die SPD anlässlich der Reichspräsidentenwahl 1925 den Zentrums-Kandidaten Wilhelm Marx unterstützte. Verständlicherweise war diese Entscheidung für den IJB, der den Katholizismus ja geradezu verdammte, untragbar, weswegen die IJB-Anhänger dazu aufgerufen wurden, Marx ihre Stimmen zu verweigern. Dieses Abweichen des IJB von der Parteilinie der SPD führte schließlich zum Ausschluss seiner Funktionäre aus der Partei, wodurch der IJB seiner politischen Plattform beraubt wurde. Infolgedessen wandelten Nelson und andere Führungsköpfe des IJB ihre Organisation im November des Jahres 1925 in eine eigene politische Partei um, nämlich in den Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK).
Die Entwicklung des ISK während der Weimarer Republik von 1926 bis 1933
Die Organisation des ISK
Am 1. Januar 1926 wurde eine Mitgliederversammlung des IJB einberufen, die einstimmig die Satzung der neu gegründeten Partei „Internationaler Sozialistischer Kampfbund“ annahm. Im Großen und Ganzen wurden dabei die Vorschriften des IJB übernommen, wie z.B. der Aufbau der Partei nach dem Führerschaftsprinzip oder die Anforderungen an die einzelnen Aktivisten Vegetarismus, Kirchenaustritt, etc. Auch das 1924 gegründete Landeserziehungsheim Walkemühle wurde weitergeführt, dessen Leiterin Minna Specht war, und in dem die zukünftigen Kader des ISK in drei Jahre dauernden Kursen geschult wurden. Zudem unterhielt der ISK auch einen eigenen Verlag namens „Öffentliches Leben“, der neben den Werken Nelsons ab 1926 auch die monatliche Zeitschrift „isk“ herausgab, was für eine relativ kleine Organisation wie den ISK, dem zu diesem Zeitpunkt schätzungsweise 200 bis 300 Aktivisten angehörten, eine beachtliche Leistung war! Allerdings hatte sich um diesen Kern des ISK ein wesentlich größerer Kreis von Freunden und Sympathisanten gebildet, die zwar nicht ordentliche Mitglieder des ISK waren, ihn aber nach Kräften unterstützten. Was die Zusammensetzung der Mitglieder der 32 Ortsgruppen betraf, so ergab sich nach der Analyse von Werner Link lediglich ein Arbeiteranteil von knapp 30%; paradoxerweise verstanden sich die überwiegend mittelständischen ISKler dennoch als „Sozialisten, [die] auf der Seite der Arbeiterklasse [kämpften]“.
Der Kampf des ISK gegen den Aufstieg der NSDAP
Die theoretische Auseinandersetzung des ISK mit dem Faschismus
Sowohl der ISK als auch die Faschisten lehnten die Demokratie grundsätzlich ab und befürworteten dagegen die Lenkung des Staates durch einen einzigen „Führer“. Dennoch widersetzte sich der ISK von Anfang an entschieden der Gewaltherrschaft Mussolinis und verachtete die Nationalsozialisten, die in den Augen der ISK-Funktionäre nur die Handlanger des Kapitalismus waren. Des Weiteren warnte die Parteiführung des ISK jedoch vor der Annahme, der braune Spuk werde ein rasches Ende haben, da sie erkannt hatte, dass vor allem die wirtschaftliche Misere der Weimarer Zeit zum Aufstieg der NSDAP geführt hatte.
Die Einheitsfrontpolitik des ISK (1930 bis 1933)
Ab der Mitte des Jahres 1930 setzte sich innerhalb des ISK, der seit dem Tode Nelsons im Jahre 1927 von Willi Eichler geführt wurde, nach und nach die Auffassung durch, dass der ISK allein zu schwach sei, um einen wirksamen Kampf gegen den Aufstieg der NSDAP zu betreiben. Demzufolge blieb ihm nichts anderes übrig als der Versuch, mit den „ungeliebten Brüdern“ SPD und KPD zusammenzuarbeiten. Als Basis für diese sog. „Einheitsfront“ aller Sozialisten sollte der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) dienen, da ihm der Großteil der Arbeiterschaft angehörte, was sich jedoch als äußerst schwierig erweisen sollte, da der ADGB eng mit der SPD verknüpft war, und weder die Sozialdemokraten noch die Kommunisten zu einer gegenseitigen Einigung bereit waren. Um seine Ziele dennoch zu erreichen und seinen Forderungen Gehör zu verschaffen, gab der ISK ab dem 1. Januar 1932 in Berlin die Tageszeitung „Der Funke“ heraus, was für diese Gruppierung einen gewaltigen finanziellen Aufwand darstellte. Im weiteren Verlauf nutzte der ISK die bevorstehende Reichspräsidentenwahl im Frühjahr 1932, um erstmals konkret für seine Einheitsfrontpläne zu werben, indem der Bundesvorstand des ISK am 27. Januar 1932 einen offiziellen Brief an alle Arbeiterparteien und Organisationen versandte mit der Aufforderung, einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten aufzustellen. Diese Aktion des ISK wurde jedoch von Seiten der großen Arbeiterparteien gänzlich ignoriert, woraufhin Hindenburg mit Unterstützung der SPD im April 1932 wiedergewählt wurde. Die Mitglieder des ISK ließen sich von dieser Niederlage jedoch nicht entmutigen und starteten bereits im Juni 1932 ein neues groß angelegtes Projekt. Diesmal handelte es sich um ein „Volksbegehren der Arbeiterschaft“ mit dem Ziel, einen einheitlichen Wahlblock aller Arbeiterparteien für die Reichstagswahlen im Juli 1932 zu schaffen. Um seine Forderungen zu unterstreichen organisierte der ISK im Vorfeld der Wahlen „77 öffentliche Veranstaltungen in fast allen Großstädten Deutschlands“, eine beachtliche Leistung für eine so kleine Gruppe! Außerdem wurde im Juni 1932 ein sog. „Dringender Appell“ an alle Arbeiterorganisationen im „Funken“ veröffentlicht, der von zahlreichen Prominenten, wie z.B. Albert Einstein, Erich Kästner oder Heinrich Mann unterzeichnet worden war. Trotzdem waren die Bemühungen des ISK auch diesmal nicht von Erfolg gekrönt, da sowohl der ADGB als auch die SPD und KPD seinem Aufruf nicht Folge leisteten. Das gleiche Procedere ereignete sich auch vor den Reichstagswahlen im November 1932, wieder mit demselben Resultat. Obwohl die ISK-Mitglieder von der Reaktion der SPD und der KPD zutiefst enttäuscht waren, unternahmen sie auch in den Monaten bis zur Machtübertragung an die Nationalsozialisten und sogar noch danach zahlreiche Anstrengungen, um eine schlagkräftige Arbeiterfront zu schaffen; leider verliefen aber auch diese letzten Versuche im Sande.
Die Widerstandstätigkeit des ISK innerhalb Deutschlands im Dritten Reich zwischen 1933 und 1938
Der Weg des ISK in den Untergrund (1933/34)
Wesentlich früher als die meisten anderen Arbeiterorganisationen hatte der ISK die fundamentale Bedrohung durch den Nationalsozialismus erkannt, weswegen schon im November 1931 mit der Vernichtung der Mitgliederkarteien begonnen wurde. Die Tatsache, dass der ISK besonders für die illegale Untergrundstätigkeit geeignet war, lag jedoch nicht nur in der gut organisierten Vorbereitung begründet, sondern auch in der Struktur dieser Gruppierung. Zum einen handelte es sich um eine relativ kleine Organisation, deren Mitglieder sich gegenseitig sehr gut kannten, die aber dennoch im gesamten Reich verbreitet war. Zum anderen waren die Aktivisten seit jeher äußerst streng ausgewählt worden und hatten bereits durch die unermüdliche Arbeit für den ISK in der Endphase der Weimarer Republik wichtige Erfahrungen sammeln können. Aus diesen Gründen war den ISKlern ein relativ problemloses Abtauchen in den Untergrund möglich, die Zahl der aufgrund ihrer Aktivitäten Verhafteten war zumindest in den ersten Jahren gering, und im Gegensatz zu anderen Widerständlern konnten sie ihre Arbeit ununterbrochen bis zu fünf Jahre lang fortsetzen.
Schon 1933 erfolgte eine Aufteilung der Widerstandsarbeit. Während ein Teil der ISK-Mitglieder unter der Führung von Willi Eichler nach Paris emigrierte, übernahm Hellmuth von Rauschenplat, alias Fritz Eberhard, die Inlandsleitung des ISK. Die Vorschriften für die in Deutschland verbliebenen Aktivisten wurden nochmals verschärft, z.B. wurde ihnen, abgesehen von einem absoluten Minimum, jeglicher Privatbesitz untersagt; Ziel war es eine Art „Orden, wenigstens für die Funktionäre“ zu bilden. Um die Gefahr einer Aufdeckung der gesamten Organisation durch die Gestapo möglichst gering zu halten, wurden die ISK-Mitglieder zusammen mit anderen zur Mitarbeit bereiten Antifaschisten in Fünfer-Gruppen eingeteilt, die sich „Unabhängige Sozialistische GewerkschaftsGruppen“, kurz „USG-Gruppen“ nannten. Deren Aufgabe war es zunächst, Informationen über die Machenschaften des NS-Regimes zu sammeln und zu verbreiten und die von den ISK-Genossen in der Emigration publizierten Schriften, v.a. die sog. „Reinhart-Briefe“ und die „Sozialistische Warte“ innerhalb Deutschlands zu verteilen. Um den intensiven Kontakt zwischen der Auslandsleitung des ISK und den innerdeutschen Aktivisten nicht abreißen zu lassen, fanden außerdem alljährlich Treffen, zunächst in Amsterdam und Dänemark, später dann in Paris statt. Zur Finanzierung dieser Aktivitäten unterhielt der ISK eine Brotgroßhandlung und vegetarische Restaurants in fünf deutschen Großstädten, wie sich Hellmut von Rauschenplat später erinnerte.
Die Hauptphase des illegalen Widerstands (1935/36)
Gegen Ende des Jahres 1934 war der Aufbau der USG-Gruppen nahezu abgeschlossen; fortan begann die Hauptphase der illegalen Widerstandsaktionen, die v.a. darauf ausgerichtet waren, in der Öffentlichkeit Aufsehen zu erregen. Die sog. „Vertrauensratswahlen“ der nationalsozialistischen Pseudo-Gewerkschaft „Deutsche Arbeitsfront“ (DAF) im April 1935 boten den ersten konkreten Anlass zu einer breit angelegten Aktion gegen das Regime. Im „Reinhart-Brief“ dieses Monats wurde dazu aufgerufen „alle Stimmzettel völlig durchzustreichen“, um somit den Widerstand der Arbeiterschaft gegen die NS-Herrschaft auszudrücken. Tatsächlich erbrachte diese „Wahl“ in den Augen der Nationalsozialisten nicht das gewünschte Ergebnis, da sich mehr als ein Viertel der Arbeiter enthielten oder sogar mit nein stimmten. Wahrscheinlich wurde die für 1936 anberaumte Vertrauensratswahl deswegen abgesagt, weil die NS-Obrigkeit eine erneute Niederlage befürchtete. Ermutigt von diesem Erfolg ergriffen die ISK-Aktivisten weiterhin jede Gelegenheit, die sich bot, um ihren Protest gegen die Nazi-Diktatur zum Ausdruck zu bringen. Dabei gingen sie mit sehr viel Phantasie, aber auch mit großer Umsicht vor, so dass es den Schergen der Gestapo in dieser Zeit nur ein einziges Mal gelang, eine Verhaftung größeren Ausmaßes im Raum Göttingen durchzuführen. Ein besonders spektakulärer Coup gelang den ISK-Aktivisten anlässlich der Eröffnung des ersten Autobahnabschnitts von Frankfurt nach Darmstadt. Im „Reinhart-Brief“ vom Juni 1935 wurde bekannt gegeben, dass ISK-Mitglieder es geschafft hatten, mit Chemikalien, die erst durch Lichteinwirkung sichtbar wurden, „Nieder mit Hitler“ auf die Straße zu schreiben – für die Nationalsozialisten eine gewaltige Schlappe! Des Weiteren berichtet Hellmut von Rauschenplat von einer Aktion in Berlin, bei der auf einer Müllhalde neben den Gleisen der Stadtbahn mit Kunstdünger „Nieder mit Hitler“ geschrieben wurde, sodass dank intensiven Graswuchses die Parole von der Bahn aus bald gut zu sehen war. Hauptsächlich beschränkte sich die ISK-Arbeit jedoch auf das Verteilen von Flugblättern und das Anbringen von antifaschistischen Parolen an Hauswänden, wie beispielsweise von Dr. Gerhard Hetzer in seiner Abhandlung über die ISK-Arbeit in Augsburg beschrieben. Sicherlich waren all diese Aktionen nur ein Tropfen auf den heißen Stein – was konnte eine Hand voll mutiger Antifaschisten auch ausrichten gegenüber der Übermacht der Nationalsozialisten. Trotzdem war dieses Aufbegehren ein Stachel im Fleisch des NS-Apparats, und es genügte, um die Gestapo nervös zu machen, die in einem Schreiben vom 3. Dezember 1937 bekundete, dass „seit Anfang 1936 (…) in Berlin und auch in anderen Stapobezirken Hetzblätter auf [tauchten], die bei der Prüfung des Inhalts keinen Schluss zuließen, von welcher politischen Richtung sie stammen könnten (…)“ Somit gelang es den ISKlern, den verbrecherischen Machthabern zu signalisieren, dass es trotz der Verfolgungen von Regime-Gegnern immer noch Widerstand in Deutschland gab. Sie und zahlreiche andere Frauen und Männer waren das Gewissen des deutschen Volkes.
Die sukzessive Aufdeckung der ISK-Gruppen in Deutschland
Leider aber war es auch den ISK-Mitgliedern nicht vergönnt, bis zum Untergang des Dritten Reichs unentdeckt zu bleiben. Durch ein Missgeschick eines Hamburger Aktivisten wurde eine Verhaftungswelle ausgelöst, die sich zunächst in Norddeutschland ausbreitete und sich dann Richtung Süden fortpflanzte. Die ersten Verhaftungen ereigneten sich im Dezember 1936 in Hamburg; nach und nach wurden die ISK-Zellen in Mitteldeutschland erfasst, bis schließlich im Sommer 1938 die letzten verbliebenen Gruppen in Süddeutschland, genauer gesagt in München, Augsburg und Stuttgart aufgerollt wurden. Dennoch fanden in der Zwischenzeit immer noch antifaschistische Aktionen statt, wie z.B. in Magdeburg, wo anlässlich der Feiern zum 1. Mai 1937 in einem Starenkasten ein Banner mit der Aufschrift „Nieder mit Hitler“ versteckt wurde, das sich durch einen speziellen Mechanismus bei der Eröffnung der Feierlichkeiten entrollte. Die Tatsache, dass trotz der unmittelbar drohenden Gefahr der Entdeckung durch die Gestapo noch Widerstandsarbeit geleistet wurde, beweist ein ums andere Mal den enormen Mut und die Opferbereitschaft der ISK-Mitglieder. Leider gelang es nur wenigen von ihnen, den Häschern der Nazis zu entrinnen; die meisten der innerdeutschen Aktivisten wurden verhaftet, und der Großteil von ihnen in den Konzentrationslagern ermordet. Lediglich ein verschwindend kleiner Kreis von ISKlern im Rhein-Ruhr-Gebiet blieb unentdeckt, allerdings wagten diese verbliebenen ISKler verständlicherweise keine Aufsehen erregenden Aktionen mehr.
Die Arbeit des ISK in der Emigration
Die Aktivitäten der ISK-Auslandszentrale in Paris
Wie bereits erwähnt war schon 1933 ein Teil der ISK-Aktivisten unter der Führung von Willi Eichler nach Paris emigriert, von wo aus sie die Auslandsarbeit der Organisation leiteten und die ISK-Schriften „Reinhart-Briefe“ und „Sozialistische Warte“ nach Deutschland verschickten. Darüber hinaus bemühte sich der ISK auch hier darum, die ebenfalls in die französische Hauptstadt ausgewanderten Anhänger von SPD, KPD und anderen sozialistischen, bzw. kommunistischen Gruppen zu einer einheitlichen Arbeiterfront zusammenzuschweißen. Diese Absicht drückte er beispielsweise durch den Artikel „Volksfront im Werden“ in der „Sozialistischen Warte“ aus, in dem es heißt: „Den Faschismus zu schlagen, kann sich zunächst keine Organisation für sich vornehmen, also muss man versuchen, die Gleichgerichteten zu gemeinsamer Aktion zusammenzubringen.“ Allerdings erreichte der ISK auch diesmal nicht sein Ziel. Zwar kam es am 26. September 1935 zu einer Tagung aller emigrierten Widerständler im Pariser Hotel Lutetia unter der Leitung von Heinrich Mann; dieser Versuch scheiterte jedoch bald an der heterogenen Zusammensetzung der Teilnehmer. Trotz aller Not und Verfolgung schien vor allem die Kluft zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten unüberwindbar.
Die Weiterführung des antifaschistischen Widerstands in London
Als schließlich im Mai 1940 die deutsche Armee ihre Westoffensive eröffnete, und die französischen Truppen innerhalb kürzester Zeit kapitulierten, blieb den ISK-Mitgliedern und zahlreichen anderen Widerständlern nur die Flucht vor den heranrückenden Nationalsozialisten. Für die meisten war es naheliegend, nach Großbritannien auszuwandern, das letzte verbliebene Bollwerk gegen den Faschismus in Europa. Dort kam es am 19. März 1941 endlich zur Gründung der „Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien“ durch die SPD, die SAP (Sozialistische Arbeiterpartei), den ISK und die Widerstandsgruppe „Neu Beginnen“, womit jedoch die Option, auch die Kommunisten in eine gemeinsame Arbeiterfront miteinzubeziehen, endgültig vertan war. Die Möglichkeiten des ISK zur aktiven Widerstandsarbeit erwiesen sich jedoch nur noch als gering. Zum einen war es seit der Aufdeckung der innerdeutschen Gruppen nicht mehr möglich, Schriften ins Reich einzuschleusen, zum anderen war die Rest-Gruppe des ISK deutlich dezimiert; dennoch gelang es Willi Eichler den vierzehntägigen Informationsdienst „Europe speaks“ herauszugeben. Auch wollten die ISK-Mitglieder in England den Kontakt zu den Genossen, die in Deutschland noch auf freiem Fuß waren, nicht endgültig abreißen lassen, weswegen die Aktivistin Anne Kappius im April 1944 illegal ins Reich einreiste. Ihr Gatte, Jupp Kappius, wagte es sogar im September 1944 mit dem Fallschirm über dem Ruhrgebiet abzuspringen und arbeitete dort bis Kriegsende im Untergrund. Zwar war es diesen beiden Aktivisten kaum möglich, eine flächendeckende Widerstandsarbeit zu organisieren, dennoch beweist ihr Einsatz, dass der Wille der ISK-Funktionäre bis zum Schluss ungebrochen war.
Die Auflösung des ISK nach Kriegsende und die Eingliederung der verbliebenen Funktionäre in die SPD
Nach der Kapitulation des Deutschen Reiches am 7./8. Mai 1945 sahen viele ISK-Mitglieder endlich den Zeitpunkt gekommen, um ihre Visionen zu verwirklichen. Das NS-Regime war untergegangen, die Zeit war reif für den Aufbau des Sozialismus, zumindest in den Augen der Anhänger des ISK. Um die Gunst der Stunde zu nutzen, reiste Willi Eichler von August bis Oktober 1945 durch Deutschland, um Funktionäre, die den Krieg und Terror überlebt hatten, aufzusuchen. So kam es im August 1945 nahe Hannover zu einem Treffen von ca. 30 ISKlern, auf dem die Entscheidung getroffen wurde, geschlossen der SPD beizutreten. Man hatte erkannt, dass der ISK allein zu sehr geschwächt war, um sich in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen, und hoffte durch diesen Schritt, „sich einen gewissen Einfluss in der Sozialdemokratie zu sichern“. Am 10. Dezember 1945 verkündete Willi Eichler schließlich in einem Rundbrief an alle ISK-Mitglieder und Sympathisanten, „dass der ISK in seiner bisherigen Form aufgelöst ist“.
Porträt des Widerstandskämpfers und ISK-Mitglieds Willi Ohlendorf
Vorgehen bei der Recherche
Von der Existenz des ISK-Mitglieds Willi Ohlendorf erfuhr ich zum ersten Mal bei der Lektüre des Kapitels „Der Weg in das 20. Jahrhundert“ des Buches „Bobingen und seine Geschichte“, in dem über Willi Ohlendorf als Mitglied der Arbeiteropposition im Dritten Reich berichtet wird. Da ich selbst aus Bobingen stamme, erregte die Tatsache, dass es sogar in meiner Heimatstadt Anhänger des ISK gegeben hatte, mein besonderes Interesse. Bei meinen weiteren Nachforschungen stieß ich auf die Dissertations-Arbeit „Widerstand und Verfolgung in Augsburg 1933-1945“ von Dr. Gerhard Hetzer, in der Ohlendorf ebenfalls als Aktivist der Augsburger ISK-Gruppe erwähnt wird. Außerdem setzte ich mich mit Herrn Lenski, dem Leiter des Kulturamts der Stadt Bobingen, in Verbindung, der mir bei der Recherche zum Leben Willi Ohlendorfs tatkräftig zur Seite stand, und der mich an Herrn Wilfried Ohlendorf, einen Sohn Willi Ohlendorfs, verwies. Demzufolge interviewte ich Herrn Ohlendorf am 3. Oktober 2004, wobei dieser mir die Broschüre „Zum Gedächtnis Willi Ohlendorfs“, herausgegeben von den Angehörigen Ohlendorfs, als Leihgabe überließ. Des Weiteren ermöglichte Herr Lenski mir den Einblick in zahlreiche Akten Willi Ohlendorfs, die er zuvor von Herrn Arne Ohlendorf, einem weiteren Sohn Willi Ohlendorfs, erhalten hatte. Als wichtigste Dokumente gelten hierbei die Briefe, die Willi Ohlendorf während seiner Haftzeit in verschiedenen Gefängnissen und Konzentrationslagern an seine Frau Hanna Ohlendorf sandte. Natürlich enthalten sie nur wenige Informationen über den Alltag im Gefängnis und den Terror, dem die Häftlinge ausgesetzt waren, da sie die Zensur der Gestapo durchliefen. Dennoch sind sie ein erschütterndes Zeugnis von den Ängsten und Qualen, die Willi Ohlendorf durchlitt; sie geben aber auch die Gefühle eines Menschen wieder, der bis zuletzt die Hoffnung nicht aufgab und allezeit in Liebe mit seinen Angehörigen verbunden war. Leider war es mir aufgrund der Vielzahl von Briefen nicht möglich, die gesamte Korrespondenz Ohlendorfs auszuwerten, weswegen ich eine Auswahl der aufschlussreichsten Schriftstücke treffen musste. Besonders aussagekräftig waren neben diesen persönlichen Briefen Willi Ohlendorfs zwei Zeitungsberichte vom 25. bzw. 26. April 1939 über den Prozess gegen Ohiendorf und acht weitere ISK-Mitglieder. Aus diesen Artikeln geht jedoch nicht hervor, aus welchen Blättern sie stammen, einzig feststellbar ist, dass es sich eindeutig um Exemplare der NS-Presse handeln muss. Daher blieb mir nichts anderes übrig, als diese Berichte mit „Zeitungsartikel vom 25., bzw. 26. April 1939“ zu betiteln.
Schließlich überließ Herr Lenski mir noch Kopien der Dokumente Ohlendorfs, die ihm Frau Sabine Stein vom Archiv der Gedenkstätte Buchenwald zugesandt hatte. Für all diese Bemühungen möchte ich mich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich bei Herrn Lenski bedanken.
Bei all diesen Nachforschungen gewann ich einen immer tieferen Einblick in das Leben und Denken Willi Ohlendorfs, eines Mannes, der sich durch Scharfsinn, ethisches Bewusstsein, Gerechtigkeitssinn und außerordentliche Standfestigkeit auszeichnete. Ihm gehört mein Respekt und meine Hochachtung vor seinem mutigen Widerstand gegen den Terror des NS-Regimes. Deshalb möchte ich durch diese Ausführungen meinen Anteil dazu leisten, dass das Schicksal dieses Menschen nicht in Vergessenheit gerät, und er vielleicht posthum die Würdigung für seine Taten erfährt, die ihm zu Lebzeiten nicht vergönnt war.
Willi Ohlendorfs Lebensweg bis zum Eintritt in die Augsburger ISK-Gruppe 1936
Willi Ohlendorf wurde am 23. April 1901 in Braunschweig geboren. Nachdem er eine Lehre als Maschinenschlosser abgeschlossen hatte, besuchte er die Gewerbeschule und das Technikum Hildburghausen, um schließlich im August 1926 die Prüfung als Maschineningenieur mit „Auszeichnung“ zu bestehen. Ab dem 1. August 1928 arbeitete er als Betriebs und Versuchsingenieur im Werk der I.G. Farben in Bobingen, wo er auch mit seiner Frau Hanna und seinen Kindern Wilfried, Linde und Arne wohnte. Willi Ohlendorf war ein hoch begabter und zutiefst idealistischer Mensch, der sich in seiner Freizeit mit Philosophie und Literatur beschäftigte, wobei er besonders die Lehren Albert Schweizers und Leonard Nelsons studierte. Aufgrund dessen war Willi Ohlendorf Vegetarier und verzichtete weitestgehend auf Alkohol, auch „hatte er mit der Kirche nicht viel am Hut“. Zudem war er ein bekennender Pazifist und Naturliebhaber, wie sich sein Sohn Wilfried Ohlendorf erinnert. In der Fabrik, wo er einen Werkschor und ein Laienorchester leitete, erfreute sich Willi Ohlendorf großer Beliebtheit, zu seinem Vorgesetzten, dem Direktor Dr. Kämpf pflegte er sogar ein freundschaftliches Verhältnis. Willi Ohlendorf studierte auch die Doktrinen des aufkommenden Nationalsozialismus und besuchte sogar eine Kundgebung Hitlers im Jahre 1930. Ihm war jedoch von Anfang an klar, dass sich die rassistischen und antidemokratischen Parolen dieser Bewegung kaum mit seinen eigenen Grundsätzen vereinbaren ließen, weshalb er zu einem entschiedenen Gegner des Nationalsozialismus wurde. Hinzu kam, dass er es von je her gewohnt war, seine Meinung frei und rund heraus zu äußern, womit er sich nach der Machtübernahme Hitlers natürlich in höchste Gefahr brachte.
Die Tätigkeit Willi Ohlendorfs innerhalb des ISK
Da sich Willi Ohlendorf schon frühzeitig mit der Philosophie Leonard Nelsons auseinandergesetzt hatte und darüber hinaus mit dem Rechtsanwalt Hans Lehnert, dem Leiter der illegalen Münchener ISK-Gruppe befreundet war, war es für ihn naheliegend, selbst im Rahmen des ISK Widerstand gegen das NS-Regime zu leisten. Im Herbst des Jahres 1936 brachte Lehnert Ohlendorf schließlich mit der seit 1934 im Untergrund aktiven Augsburger ISK-Gruppe in Kontakt, der er bis zu seiner Verhaftung im Sommer 1938 angehörte. Da Ohlendorf in den Lehren Nelsons besonders bewandert war, übernahm er fortan die politischen Schulungen in der Gruppe. Darüber hinaus verbreitete Willi Ohlendorf auch innerhalb seines Freundeskreises ISK-Schriften, zudem spendeten seine Bekannten für von den Nationalsozialisten Verfolgte oder für die sozialistischen Kämpfer im Spanischen Bürgerkrieg. Es ist bisher nichts darüber bekannt, dass Willi Ohlendorf sich auch an der Verteilung von Flugblättern o.a. beteiligt hätte, ihm oblagen allem Anschein nach nur geistige Aufgaben.
Leider existieren über die genaue Tätigkeit Ohlendorfs in der Augsburger ISK-Gruppe keine ausführlichen Unterlagen, und auch Herr Wilfried Ohlendorf konnte mir zu diesem Punkt keine präzise Auskunft geben. Deswegen konnte ich diesen Abschnitt seines Lebens nur anhand der Informationen in „Widerstand und Verfolgung in Augsburg 1933-1945“ rekonstruieren, wobei mir die Hinweise in den Zeitungsartikeln vom 25., bzw. 26. April 1939 als Ergänzung dienten.
Willi Ohlendorfs Verhaftung und Verurteilung (1938/39)
Wie bereits erwähnt, gelang es der Gestapo in den Jahren 1937 und 1938, die ISK-Zellen in Deutschland allmählich von Norden nach Süden aufzurollen. Im Juli 1938 war die Münchner ISK-Gruppe aufgedeckt worden, was auch zum Einbruch der Gestapo in deren Ableger in Augsburg im selben Monat führte. Allerdings waren die Augsburger Aktivisten an dieser Tragödie ganz und gar unschuldig, was u.a. dadurch bewiesen wird, dass Hugo Gold, der Chef der Augsburger Gestapo noch im Mai 1938 bekannt gab „Über… eine… Tätigkeit des „ISK“ wurden hier während der Berichtszeit keine Wahrnehmungen gemacht“.
Auch Willi Ohlendorf wurde am 28. Juli 1938 in seinem eigenen Heim vor den Augen seiner Familie festgenommen, wobei die Gestapo nicht nur ihn selbst verhaftete, sondern auch eine beträchtliche Menge an „verdächtiger Literatur“ konfiszierte. Willi Ohlendorf wurde zunächst im Gefängnis in der Corneliusstraße 33 in München inhaftiert, nach 14 Tagen wurde er jedoch in die Justizvollzugsanstalt Stadelheim überstellt, wo er bis April 1939 in Untersuchungshaft blieb.
Am 25.-26. April 1939 wurde schließlich ihm und acht weiteren Mitgliedern des ISK aus Augsburg, München und Allensbach vom Zweiten Senat des Volksgerichtshofes in München der Prozess gemacht. Von vornherein stand dabei jedoch fest, dass die Angeklagten keinesfalls auf eine faire Verhandlung hoffen durften, stand die Justiz doch schon längst unter der Knute des NS-Regimes. Den ISK-Mitgliedern wurde demzufolge vorgeworfen, „ein hochverräterisches Unternehmen vorbereitet zu haben“, was u.a. damit begründet wurde, dass sie Flugschriften verbreitet hätten, die „schamlose Verdrehungen und eine unglaubliche Beschmutzung des deutschen Vaterlandes und ihres eigenen Volkes sind“. Des Weiteren hätten sie den „Feinden des neuen Deutschland Handlangerdienste [geleistet]“ und „sich (…) gegen ihr Volk gestellt, sind ihm in schwersten Augenblicken seines Ringens um den Platz an der Sonne in den Rücken gefallen“. Angesichts dieser Anklage, die von nationalsozialistischer Propaganda nur so strotzte, durften sie wirklich keine Gerechtigkeit erwarten. Allerdings wurden die ISKler von Seiten des Gerichts als „Opfer jüdischer Hetzer“ dargestellt, sie seien dem „jüdische[n] Rechtsanwalt Lehnen (…) ins Garn gegangen“. Damit wollte die Justiz wohl verschleiern, dass „Menschen von einer gewissen Intelligenz“ sich aufgrund ihrer Überzeugungen gegen den NS-Terror zur Wehr setzten, hätte dies doch in der Öffentlichkeit ein schlechtes Bild ergeben. Was Willi Ohlendorf betrifft, über dessen Schicksal am 26. April 1939 entschieden wurde, so stellte der Staatsanwalt auch in seinem Fall fest, dass er „ein Mensch von guter Bildung“ sei, „der aber der jüdischen Demagogie des Lehnert so verfallen war, dass er die kristallklaren Wahrheiten des nationalsozialistischen Parteiprogramms und der nationalsozialistischen Weltanschauung nicht begreifen könnte.“ Auch ihm wurden „Bestrebungen gegen den Nationalsozialismus und gegen das Dritte Reich, also (…) Hochverrat“ vorgeworfen, wogegen Ohlendorf sich entschieden wehrte. „In seinem „letzten Wort“ hat Willi dem Gericht ins Gesicht gerufen: Hochverrat bedeute nach dem Gesetz die Absicht, eine Verfassung mit Gewalt ändern zu wollen. Er aber habe in seinem ganzen Leben nie an Gewalt gedacht, da er immer die Gewalt als etwas Negatives angesehen habe.“
Obwohl Willi Ohlendorf nach der Meinung des Gerichts „gegen die Gemeinschaft gesündigt“ hatte, sollte er zunächst nur zu drei Monaten Haft verurteilt werden, wohl auch deshalb, weil er in der Fabrik eine nur schwer ersetzbare Arbeitskraft darstellte. Allerdings war diese „milde Strafe“ abhängig von einem „klare[n] Bekenntnis des Angeklagten zum Nationalsozialismus und seinem Führer“, das sich Ohlendorf weigerte abzugeben. Wenn man sich vor Augen hält, dass Willi Ohlendorf nach fast einem Jahr Untersuchungshaft und trotz aller Nachteile für sich und seine Familie noch in der Lage war, solch erbitterten Widerstand zu leisten, so zeugt sein Verhalten von fast übermenschlicher Aufrichtigkeit und Charakterfestigkeit. Um den Willen dieses außerordentlichen Menschen zu brechen, wurde er von der NS-Justiz zu „6 Jahre[n] Zuchthaus und 6 Jahre[n] Ehrverlust“ verurteilt.
Die Haftzeit Willi Ohlendorfs bis zu seinem Tod (1939 bis 1944)
Die Haft im Strafgefängnis München-Stadelheim (April 1939 bis Juni 1939)
Nach seiner Verurteilung, über die laut Dr. Gerhard Hetzer sogar „Zeitungen in Paris und Kopenhagen, sowie Radio Moskau“ berichteten, blieb der nun „Strafgefangene“ Willi Ohlendorf zunächst im Gefängnis München-Stadelheim. In dem Brief, den er kurz nach dem Prozess an seine Gattin sandte, gestand er ihr, dass er sich selbst schwere Vorwürfe machte, da er, wie er es ausdrückte „Not in Euer Leben (gemeint sind seine Frau und Kinder) brachte“. Er betonte aber auch, dass sein Leben immer im Dienste der Wahrheit stand, dass es ihm also trotz aller Sorgen nicht möglich war, sich zu den Lügen und Verbrechen des Nationalsozialismus zu bekennen. Sicherlich war diese Entscheidung und die damit verbundene Verurteilung Ohlendorfs für seine Familie ein harter Schlag, er selbst war seinen ethischen Idealen jedoch treu geblieben. Auch seine Frau musste diese Auffassung geteilt haben, hielt sie doch bis zu seinem Tod unerschütterlich zu ihm, schickte ihm regelmäßig Briefe und Pakete und besuchte ihren „Willi“ sogar im Gefängnis.
Die Zeit im Zuchthaus Amberg (Juni 1939 bis April 1941)
Im Juni 1939 wurde Willi Ohlendorf in das Gefängnis Amberg (Oberpfalz, Bayern) verlegt, wo er als „Gefangener der Stufe I“ eingestuft wurde. Für ihn galten demnach besonders verschärfte Bedingungen, so durfte er beispielsweise nur alle acht Wochen Post von nächsten Angehörigen empfangen und an diese versenden; Besuche waren sogar nur alle drei Monate erlaubt. In den Briefen, die Willi Ohlendorf aus Amberg an seine Frau sandte, berichtete er u.a. von regelmäßigen Kirchgängen, die ihm Trost spendeten. Anscheinend hatte er seinen Frieden mit der Kirche geschlossen, gegen die er früher eher kritisch eingestellt war, oder aber der Gottesdienst stellte für ihn einfach eine willkommene Abwechslung im monotonen Gefängnisalltag dar. Um sich von den bedrückenden Verhältnissen im Zuchthaus abzulenken, bat er zudem seine Frau, ihm wissenschaftliche Fachliteratur zukommen zu lassen. Wahrscheinlich wollte Ohlendorf sich auch fachlich auf dem Laufenden halten, hoffte er doch, nach seiner Entlassung wieder in seinem alten Beruf als Ingenieur arbeiten zu können.
Wie seine Frau in der Broschüre „Zum Gedächtnis Willi Ohlendorf erwähnte, klagte Willi Ohlendorf selten über sein eigenes hartes Los, seine Sorge galt v. a. dem Wohlergehen seiner Frau und seiner Kinder. Obwohl er mit Sicherheit viel Ungemach erdulden musste, war Willi Ohlendorf noch in der Lage, Anteil am Leben anderer Menschen zu nehmen und sich beispielsweise an dem Schauspiel der Natur zu erfreuen; er bewahrte sich seinen Optimismus.
Der Aufenthalt im Gefängnis Kassel Wehlheiden und die Zwangsarbeit in der Lokomotiv-Fabrik Henschel (April 1941 bis August 1944)
Da die nationalsozialistische Obrigkeit das Wissen und Können eines „kriegswichtigen Arbeiters“, wie es Willi Ohlendorf als Ingenieur zweifellos war, auf Dauer nicht ungenutzt lassen wollte, wurde er im April 1941 in ein Gefängnis in Kassel-Wehlheiden verschickt. Dort leistete er in der nahegelegenen Lokomotivfabrik Henschel als Zeichner und Konstrukteur Zwangsarbeit, quasi als „Gefangener in leitender Position“, wie es sein Sohn Wilfried ausdrückte. Obwohl die Arbeit anstrengend war, versicherte Ohlendorf seiner Hanna: „Ich arbeite mit Freuden in meiner neuen Tätigkeit und nehme diese Veränderung als ein gütiges Geschenk einer weisen Vorsehung.“ Zudem berichtete er, dass „die äußeren Verhältnisse weitaus bessere sind (als in Amberg)“, was wohl wiederum darauf zurückzuführen ist, dass der NS-Staat Wert darauflegte, den Ingenieur Ohlendorf zu schonen. Schließlich sollte er durch seine Arbeit, wenn auch unfreiwillig, zum angeblich bevorstehenden „Endsieg des Nationalsozialismus“ beitragen! Ein weiterer Beweis für diese These ist die Tatsache, dass Ohlendorf, der in den folgenden Jahren zunehmend über Magenbeschwerden klagt, eine ärztliche Behandlung gestattet und er sogar geröntgt wurde!
Willi Ohlendorf befand sich insgesamt über drei Jahre in Kassel-Wehlheiden, was vermutlich trotz aller Mühen der erträglichste Abschnitt seiner Haftzeit war. Immerhin hatte er auch den 22. August 1944 als hoffnungsvolles Ziel vor Augen, den Tag, an dem der Volksgerichtshof in München über sein weiteres Schicksal entscheiden sollte. Mit dieser Gerichtsverhandlung verband Willi Ohlendorf all seine Hoffnungen, konnte sie doch für ihn die lang ersehnte Entlassung in die Freiheit und die Rückkehr zu seiner Familie bedeuten. Allerdings war dieses für ihn erfreuliche Ergebnis keinesfalls sicher, war es doch denkbar, dass er in „politischer Schutzhaft“ in einem Konzentrationslager verbleiben musste. Aus diesem Grund setzte seine Frau Hanna alle Hebel in Bewegung, um diese Katastrophe zu verhindern, würde doch auch die Gesundheit ihres Mannes kaum noch den furchtbaren Bedingungen in einem KZ gewachsen sein. Schon in den vergangenen Jahren hatte sie sich regelmäßig darum bemüht, beim Oberreichsanwalt am Volksgerichtshof eine Haftverkürzung für ihren Gatten zu bewirken, wenn auch ohne Erfolg. Des Weiteren stellte ihm sein ehemaliger Vorgesetzter Dr. Kämpf eine schriftliche Erklärung aus, wonach er Ohlendorf als „einsatzbereiten, eifrig bemühten und fähigen Mann“ schilderte, und er sogar in Aussicht stellte, ihn nach seiner Entlassung „an geeigneter Stelle wieder einzusetzen“. Darüber hinaus ging der Kaufmann und Dipl. Textiltechniker Kurt Hofmann, ein „langjähriger Freund der Familie Ohlendorf“ sogar soweit, sich bei der Münchener Gestapo für Willi Ohlendorf „in jeder Beziehung [zu verbürgen]“. Bevor Willi Ohlendorf nach München transportiert wurde, hatte er am 6. August 1944 noch die Gelegenheit, seiner Familie aus Kassel-Wehlheiden nicht nur zu schreiben sondern sogar ein Paket zu senden. Darin schickte er seiner Frau und seinen Kindern „alles mögliche, was [er] ersparen konnte und was [er] hin und wieder geschenkt bekam“, u.a. Bücher, Bleistifte, Garn, „ein Stück [Seife], was Du (Hanna Ohlendorf) mir vor sechs Jahren nach Stadelheim geschickt hast (…)“. Er, der selbst nicht viel mehr als die eigenen Kleider besaß, schenkte diese Habseligkeiten seiner Frau „in dem Gefühl, dass ich dir auch einmal ein paar Kleinigkeiten schicken kann.“ Was für ein Liebesbeweis!
Die „Schutzhaft“ Ohlendorfs im Konzentrationslager Dachau (August bis Oktober 1944)
Alle Hoffnungen Willi Ohlendorfs und seiner Familie hatten sich als nichtig erwiesen, er wurde nach der Verhandlung vor dem Volksgerichtshof am 22. August 1944 als „Schutzhaftgefangene[r]“ in das Konzentrationslager Dachau eingeliefert. Hanna Ohlendorf, die extra nach München gereist war, wurde es nicht einmal gestattet, ihren Mann nach so langer Zeit noch einmal zu sehen.
Im KZ Dachau wurde es Willi Ohlendorf nur noch zweimal gewährt, Post nach Hause zu senden. In diesen Briefen bat er seine Frau vor allem darum, ihm Lebensmittel, Geschirr und Winterkleidung zu schicken, aber nur „das zu senden, was ihr wirklich übrig habt, denn sonst habe ich ein schlechtes Gewissen“.
Die letzten Tage Willi Qhlendorfs im Außenlager des KZs Buchenwald in Bad Gandersheim (Oktober/ November 1944)
Das Schicksal meinte es nicht gut mit dem „Schutzhäftling“ Willi Ohlendorf: Er wurde von Dachau in ein Außenlager des KZs Buchenwald in Bad Gandersheim verschickt, wo er am 27. Oktober 1944 eintraf. Diese Außenstelle war erst Anfang Oktober 1944 gegründet worden als Lager für Zwangsarbeiter der ,Bruns Apparatebau GmbH, Zweigwerk der HeinkelWerke“. Hier sollte Willi Ohlendorf wieder „in [s]einem Beruf [arbeiten],“ wofür er „sehr dankbar“ war, denn „arbeiten heißt einen Inhalt haben.“, wie er Hanna Ohlendorf in seinem letzten Brief vom 11. November 1944 mitteilte. Zusätzlich bat er sie noch einmal um Geschirr, Hygieneartikel, warme Wäsche und Lebensmittel, obwohl laut der Lagerordnung „im Lager alles gekauft werden kann“. Diese Behauptung muss wie Hohn in den Ohren der Gefangenen geklungen haben!
Wo und wie Willi Ohlendorf am 26. November 1944 verstorben ist, ist nicht genau bekannt. Im Schreiben des Standortarztes der Waffen-SS vom 10. Februar 1945 ist als Todesursache „beiderseitige Lungenentzündung und Magenkatarrh“ angegeben. Zwar litt Willi Ohlendorf, wie bereits erwähnt, schon seit langem unter Magenbeschwerden, doch wurde gerade Lungenentzündung oftmals pauschal als Todesursache angeführt, um den Mord an einem Häftling zu vertuschen. Daher ist es fragwürdig, ob Willi Ohlendorf tatsächlicher dieser Krankheit erlag. Genauso zweifelhaft sind die Aussagen, die „Behandlung [Willi Ohlendorfs] [wurde] mit allen verfügbaren Heilmitteln vorgenommen“ und er hätte „sorgfältige Pflege“ erhalten.
Da sein Leichnam „am 2. Dezember 1944 zur Einäscherung in das Krematorium des Lagers überführt“ wurde, war Willi Ohlendorf nicht einmal ein eigenes Grab vergönnt. Was für ein trauriger Tod für einen so großartigen Mann.
Abschließende Würdigung des Widerstands des ISK gegen das NS-Regime
Sie stampfen daher in dumpfem Schritt beim dröhnenden Klang der Fanfaren. Sie haben die Freiheit umgebracht und versprachen, sie zu bewahren. Das Recht des Volkes wir riefen es oft – es drang nicht ins Ohr der Massen. Die Freiheit haben sie umgebracht, dumpf dröhnt ihr Schritt in den Gassen. Der Wahrheit Worte zerbrachen sie frech, sie haben sie uns höhnend genommen, sie haben die Freiheit umgebracht, die Wahrheit wird nie wieder kommen. Die Wahrheit sie ist das große Band, das in Frieden die Völker verbindet. Wann wird die Menschheit für Wahrheit und Recht im Kampf für die Freiheit sich finden. Willi Ohlendorf |
Gedicht entnommen aus: „Zum Gedächtnis Willi Ohlendorfs“, S. 3 |
Im Nachhinein stellt sich die Frage, ob der Traum, für den Willi Ohlendorf und viele andere Mitglieder des ISK Zeit ihres Lebens gekämpft haben, in Erfüllung gegangen ist. Haben sich all die Mühe und das Leid gelohnt?
Man könnte dies verneinen, immerhin ist Deutschland heutzutage kein sozialistischer Staat, der von einem „Rat der Weisen“ regiert wird. Genauso wenig hat sich das kapitalistische Wirtschaftssystem verändert, und auch das friedliche Zusammenleben aller Völker ist nach wie vor nicht viel mehr als eine schöne Illusion.
Trotzdem, so glaube ich, war der Kampf des ISK gegen das Unrechtsregime der Nationalsozialisten nicht vergebens. Dank ihres unermüdlichen Eintretens für Gerechtigkeit und Freiheit und dem Einsatz vieler anderer Widerstandskämpfer im In- und Ausland ist die Bundesrepublik Deutschland heute wieder ein Staat, in dem es sich lohnt zu leben. In unserem wiedervereinigten Deutschland werden die Rechte jedes Einzelnen durch das Grundgesetz geschützt, und das Volk selbst bestimmt, wem es die Regierungsmacht überträgt. Zudem lassen sich auch, was das internationale Staatensystem betrifft, Fortschritte verzeichnen. Hierzu gehört beispielsweise die Gründung und Erweiterung der Europäischen Union, deren Mitgliedsstaaten sich der Demokratie, der Rechtsgleichheit aller Bürger und der sozialen Marktwirtschaft verpflichtet haben. Dennoch brauchen wir auch heute noch Menschen, die für Gerechtigkeit und Wahrheit eintreten; die verhindern, dass diese Errungenschaften wieder zunichte gemacht werden. Schließlich ist unsere pluralistische Gesellschaft nach wie vor den Angriffen von Extremisten aus dem rechten wie linken Lager ausgesetzt, ganz zu schweigen von der Bedrohung durch religiös motivierten Terrorismus. Daher dienen uns die aufrechten Kämpfer von einst auch in unseren Tagen noch als Vorbilder; wir können uns an ihrem Mut, ihrer Aufrichtigkeit und ihren Idealen ein Beispiel nehmen.
Autorin: Alexandra Herz, Facharbeit aus dem Leistungskurs Geschichte. Abiturprüfung 2005 Kollegiatenjahrgang 03/05, Peutinger Gymnasium Augsburg
Literatur
Fröhlich, Claudia: Widerstand von Frauen, aus: Peter Steinbach, Johannes Tuchel (Hrsg.): Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933-1945, Bonn 2004.
Hetzer, Gerhard: Widerstand und Verfolgung in Augsburg 1933-1945, Wien / München 1981.
Le Goupil, Paul / Gigi Texier / Pierre Texier: Bad Gandersheim. Autopsie d’un Kommando de Buchenwald, Herausgeber: o.O, oJ.
Lemke-Müller, Sabine: Ethik des Widerstands Der Kampf des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes(ISK) gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1996.
Lemke-Müller, Sabine: Ethischer Sozialismus und soziale Demokratie. Der politische Weg Willi Eichlers vom ISK zur SPD, Bonn 1988.
Linde, Wilfried / Arae Ohlendorf (Hrsg.): Zum Gedächtnis Willi Ohlendorf, o.O. 1974.
Link, Werner: Die Geschichte des Internationalen JugendBundes (IJB) und des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK). (Band l der Marburger Abhandlungen zur Politischen Wissenschaft), Meisenheim am Glan 1964.
Lenski, Reinhold: Der Weg in das 20. Jahrhundert, aus: Walter Plötzl, Wolfgang Wüst (Hrsg.): Bobingen und seine Geschichte, Augsburg 1994.
Mehringer, Hartmut: Sozialdemokratischer und sozialistischer Widerstand, aus: Peter Steinbach, Johannes Tuchel (Hrsg.): Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933-1945, Bonn 2004.
Thamer, Hans-Ulrich: Nationalsozialismus, Führerstaat und Vernichtungskrieg, Informationen zur politischen Bildung, Bonn 2004.
Persönliche Dokumente und Briefe aus dem Nachlass Willi Ohlendorfs, zur Verfügung gestellt von Herrn Arne Ohlendorf.
Interview mit Herrn Wilfried Ohlendorf am 3. Oktober 2004 in Burgwalden.