I) Vorbemerkung
Mit 75 Jahren ist das Grundgesetz die mit Abstand älteste (geschriebene) Verfassung, die in Deutschland gültig und wirksam gewesen ist. Weder die sog. Bundesakte von 1815, noch die Verfassung des „Norddeutschen Bundes“ bzw. Deutschen Reiches von 1867/71 und erst Recht nicht dieWeimarer Reichsverfassung wurden auch nur annähernd so alt (auch die Landesverfassungen, die Mitte des 19. Jahrhunderts infolge der Ereignisse von 1848/49 erlassen wurden, konnten allenfalls knapp 70 Jahre alt werden).
Nun ist bei Menschen das Alter an sich noch keine Auszeichnung, allenfalls Grund zur Rücksichtnahme oder Milde.
Bei Gesetzen, auch Verfassungsgesetzen, als Ausdruck geistiger, immaterieller Schöpfung, müssen allerdings andere Maßstäbe angelegt werden: „Alter“ im Sinne von Geltungsdauer kann in diesem Kontext schon ein Qualitätsmerkmal sein; besonders wenn jüngere Gesetzestexte bei weitem nichtan die Qualität der älteren Ausgaben und Fassungen herankommen.
Allein schon unter diesem Aspekt wird man die Arbeit des Parlamentarischen Rates von 1949 als Erfolg bewerten dürfen, ja in bestimmten Teilen sogar als wirklich gelungen: Ein Gesichtspunkt, der daher im Folgenden näher betrachtet werden soll.
Allerdings dürfen auch die „Vorbedingungen“ für die Schaffung des Grundgesetzes nicht außer Betracht bleiben; gerade in einer sehr schnelllebigen Zeit geraten Ereignisse, die viele Jahrzehnte zurückliegen, rasch in Vergessenheit, wenn sie nicht umfassend gewürdigt werden.
Daher kann nicht nur der Zeitraum, der direkt im Zusammenhang mit der Schaffung des Grundgesetzes steht, also 1948 und 1949, berücksichtigt werden, sondern auch schon die Jahre vorher – spätestens ab 1943 mit der Häufung deutscher Niederlagen im Zweiten Weltkrieg und dem damitverbundenen Machtzerfall des NS-Staates.
Und noch ein Aspekt darf nicht völlig übergangen werden: 1949 wurde noch eine zweite Verfassung auf deutschem Boden erlassen bzw. ein weiterer „Teilstaat“ gegründet, nämlich die DDR als staatliches Produkt der sowjetisch besetzten Zone. Auch wenn die letzte DDR-Verfassung (Stand 1974) seitfast 34 Jahren nicht mehr in Kraft ist, so bleibt diese dennoch Teil der deutsch-deutschen (Verfassungs-) Geschichte.
Denn die über vierzig Jahre währende Zweistaatlichkeit sollte nicht nur die Deutschen in Ost und West teilen bzw. separieren (vor allem in ökonomischen Belangen), sondern auch die gesamte politische Entwicklung Europas beeinflussen.
Mit diesen wenigen Sätzen soll die grundsätzliche Problematik zumindest in Ansätzen aufgezeigt werden: Ereignisse wie das Jubiläum zum Grundgesetz lassen sich in weiten Teilen nicht von geopolitischen Entwicklungen abkoppeln.
Die folgenden Ausführungen sollen daher nicht nur einen allgemeinen historischen Überblick vermitteln, sondern auch einen Beitrag zum Verständnis der jüngeren deutschen Verfassungsgeschichte leisten und stellen eine Ergänzung bzw. eine Art Fortsetzung zu den Ausführungen über Hugo Preußund zur Entstehung der Weimarer Reichsverfassung dar. (1)
II) Einleitung
Als im Mai 1949 im Parlamentarischen Rat die Abstimmung über die neue Verfassung, bewusst als „Grundgesetz“ bezeichnet, um den Charakter eines Provisoriums zu unterstreichen, erfolgte, konnte keiner der in Bonn anwesenden Politiker (einschließlich der vier Politikerinnen) auch nur ahnen, dass das von ihnen (teils mühsam) erarbeitete Verfassungswerk auch noch 75 Jahre später in Geltung sein würde; und zwar nicht nur im ursprünglichen Geltungsbereich der „alten“ Bundesrepublik, sondern auch vollumfänglich für die ehemalige „Ostzone“ und immer noch unter der ursprünglichen Bezeichnung.
Denn zum einen galt damals den maßgeblichen politischen Parteien der drei „Westzonen“, die sich zur alten Bundesrepublik konstituieren wollten, die rasche Wiedervereinigung mit dem „Osten“ als höchste, zumindest als eine sehr hohe politische Priorität (auch wenn sich dies ab den frühen1950er Jahren in der „Adenauer-CDU“ schnell abkühlte); doch sollte sich dies ja bekanntlich dann doch noch bis 1989/90 hinziehen.
Zum anderen lagen die schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und der Nazi-Diktatur erst wenige Jahre zurück. Viele Deutsche in Ost und West waren auch 1949 entweder noch traumatisiert oder aber immer noch vom faschistischen Bazillus infiziert.
Wie konnte bei solch fragilen Bedingungen überhaupt eine dauerhafte und politisch kluge Verfassungsordnung entstehen?
Und bedenkt man des Weiteren, dass die Weimarer Republik deutlich bessere Startbedingungen (trotz der ebenfalls aus einer Weltkriegsniederlage resultierenden Ausgangssituation) und Grundlagen in geistiger wie materieller Hinsicht hatte und trotzdem gescheitert war, wird das Risiko des (erneuten) Scheiterns bewusst.
Hier kommt nun die überragende Bedeutung der Siegermächte für die weitere politische Entwicklung in der Mitte Europas zum Tragen (in positiver wie – leider auch – in negativer Hinsicht).
Diese standen vor der Aufgabe, ein völlig zerstörtes Land und eine in Teilen extrem verblendete Bevölkerung erst zu befrieden und dann auch den Wiederaufbau zu übernehmen bzw. die entscheidenden Impulse zu setzen.
Denn nicht nur beim „Marshallplan“ (offiziell: Europäisches Wiederaufbauprogramm) ab 1947, sondern auch in vielen anderen Belangen haben besonders die westlichen Alliierten wichtige „Anschubhilfe“ geleistet. Ohne das Engagement der Siegermächte wäre eine nachhaltige Lösung der „Deutschlandfrage“ höchst wahrscheinlich nicht möglich gewesen, auch um den Preis, dass Europa fast 45 Jahre geteilt gewesen ist.
Überspitzt formuliert: Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges mussten 1945 und in den Folgejahren das nachholen, was vor 1939 sträflich vernachlässigt worden war, nämlich eine völkerrechtlich verbindliche Form der politischen Eingrenzung deutscher machtpolitischer Ambitionen – oder wenigstens den Versuch hierzu.
III) Zur Situation 1943 bis zum Kriegsende
Es war kein Zufall, dass die ersten Überlegungen auf Seiten der Alliierten im Hinblick auf eine künftige „Deutschlandpolitik“ mit den Niederlagen der Wehrmacht zunächst in Nordafrika, dann besonders vor Stalingrad begannen: Kern der sog. Erklärung von Casablanca (Januar 1943) war die Bestimmung des wichtigsten Kriegsziels der Alliierten gegenüber den Achsenmächten und ganz besonders gegenüber Hitler- Deutschland, nämlich die bedingungslose Kapitulation: „unconditional surrender“, besonders von Winston Churchill geprägt. (2)
Mit diesem Kriegsziel steckten die politisch Verantwortlichen Großbritanniens, der Sowjetunion und der USA (die nunmehr als „Anti-Hitler-Koalition“ agierten) den Rahmen ab, der dann von den militärischen Befehlshabern der Alliierten umgesetzt werden sollte.
Parallel zu den rein militärischen Operationen hielt die Anti-Hitler-Koalition 1943 bis 1945 zahlreiche weitere Konferenzen bzw. Treffen ab, auf denen auch über das weitere politische Vorgehen beraten wurde. Denn mit zunehmenden militärischen Erfolgen (wie im Sommer/Herbst 1943 in Italien) wurde aber auch die Frage nach der politischen Zukunft Europas insgesamt und der des Deutschen Reiches im Besonderen immer drängender.
Eine Konsequenz hieraus zogen die Alliierten mit der Gründung der „European Advisory Commission“ (EAC), die ab Dezember 1943 mit ihrer Planungsarbeit begonnen hatte. (3)
Ein besonders wichtiges und die weitere Entwicklung prägendes Resultat der Tätigkeit der EAC waren die sog. Zonenprotokolle. (4)
Zu dieser Zeit (ab etwa Herbst 1943 und das gesamte Jahr 1944) hat es ganz unterschiedliche Ideen und Planungsansätze zur Gestaltung eines künftigen deutschen Staates gegeben; von einer Zerstückelung („dismembratio“), die völkerrechtlich zum Untergang der deutschen Staatlichkeit geführt hätte, über eine Aufteilung in einen Nord- und einen Südstaat (sog. Donaukonföderation, die von Churchill in die Diskussion eingebracht wurde und neben Süddeutschland auch Österreich und Teile Ungarns oder der späteren CSSR umfasst hätte), bis zu einer lediglich militärischen Besetzung, besonders mit dem Ziel wirtschaftlicher Wiedergutmachung (also möglichst hoher Reparationen) zugunsten der siegreichen Alliierten.
Als im Januar 1945 die sowjetische Offensive an der deutschen „Ostfront“ begann, wollte sich Stalin mit Blick auf die für Februar 1945 geplante „Konferenz von Jalta“ in eine vorteilhafte Verhandlungsposition bringen. Denn bis dahin hatte es zwar zahlreiche bi- und auch trilaterale Konferenzender Anti-Hitler-Koalition gegeben, aber erst mit dem Vormarsch der Roten Armee, was auch bei Briten und manchen US- Amerikanern nicht nur positive Gefühle auslöste, ergab sich die Notwendigkeit, greifbare und verbindliche Vorgaben für ein gemeinsames Handeln festzulegen.
Spätestens in Jalta wurden aber auch die unterschiedlichen Auffassungen und politischen Ziele innerhalb der Anti-Hitler-Koalition offensichtlich. (5)
Die teils sogar frostige Atmosphäre auf der Krim ist z. B. besonders augenscheinlich auf den vorhandenen Fotografien der drei Staatsmänner festgehalten, auf denen der damalige US-Präsident Roosevelt stets als eine Art Prellbock zwischen Churchill und Stalin agieren musste. (6)
Auf dieser sicher wichtigsten Konferenz vor dem Kriegsende (in Europa) erfolgten dann auch die formalen Festlegungen sowohl für die Aufteilung Deutschlands als auch die gesamte Machtverteilung in Mittel- und Osteuropa. Auch wenn dabei zumindest teilweise die (vorläufigen) Ergebnisse derArbeit der EAC mit einflossen, als dann am 7./8. Mai 1945 die endgültigen Beschlüsse gefasst wurden, nämlich die Urkunden über die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht, blieben die Vorschläge der EAC merkwürdigerweise außer Betracht: Da im französischen Reims und in Berlin-Karlshorst ausschließlich Militärs präsent waren, schien man das Fehlen der zivilen Berater gar nicht zu bemerken bzw. als unwichtig zu werten.
„Die Urkunden, die in Reims und in Karlshorst, im Text fast identisch, zur Unterschrift vorgelegt wurden, regelten in knappen Sätzen lediglich das militärisch Notwendige. Die Kapitulationsdokumente, mit deren Ausarbeitung sich die European Advisory Commission in London monatelang beschäftigt hatte, waren im entscheidenden Augenblick in Reims nicht zur Hand gewesen, aber den militärischen Bedürfnissen genügte der in Eisenhowers Hauptquartier entworfene Text vollauf, und über die Konsequenzen bestanden auch auf deutscher Seite keine Illusionen mehr.“ (7)
Hauptsache, die Kapitulationsbedingungen waren in den militärischen Punkten kurz und eindeutig, die ungelösten politischen Komplikationen wurden zunächst ausgeblendet.
Allerdings sollten einige der ungeklärten Fragen auch noch lange Zeit danach Kopfzerbrechen bereiten. Solches Kopfzerbrechen, zumindest aber heftiges Stirnrunzeln sollte z. B. bereits die Existenz der „geschäftsführenden Reichsregierung Dönitz“ bereiten, die auch noch über den Zeitpunkt derbedingungs- losen Kapitulation bis zum 23. Mai 1945 (auf dem Gebiet einer Großmacht der Marineschule von Flensburg-Mürwik) amtierte, zumindest den Anschein einer rechtmäßigen „Reichsregierung“ aufrechterhalten wollte. Zwar hat das die Siegermächte nicht besonders interessiert, dennoch hat es zumindest in einem Punkt eine bleibende Folge bzw. Auswirkung gegeben:
Der Pseudo-Innenminister Wilhelm Stuckart und dann auch Dönitz selbst, der sich auf Stuckart berufen hat, haben die These entwickelt, wonach das „Deutsche Reich“ in seiner Staatsgewalt nicht untergegangen sei, sondern die Siegermächte hätten lediglich die „Regierungsgewalt“ temporär übernommen, da Deutschland aufgrund der kriegsbedingten Umstände handlungsunfähig geworden sei.
Dieser Fragenkomplex wurde seitdem in der Literatur unter dem Thema „Rechtslage Deutschlands nach 1945“ diskutiert; jetzt lässt sich natürlich einwenden, dass, egal welcher Meinung bzw. Argumentation man seinerzeit gefolgt ist, spätestens mit der Wiedervereinigung 1990 derartige Fragendoch obsolet sein sollten. Vordergründig mag dies auch zutreffen (davon abgesehen, dass auch das Bundesverfassungsgericht zu diesen Fragen umfangreich Stellung nehmen musste), doch wie reagiert die seriöse Politik- und Rechtswissenschaft auf das Phänomen der sog. Reichsbürger, die ja – in unterschiedlicher Konstellation – vom Fort- und Weiterbestand des Deutschen Reiches ausgehen?
Der im Prinzip nur dilatorische Umgang mit diesem Thema, siehe hierzu noch weiter unten, hat bestimmten Spinnern bis heute (im April und Mai 2024 starteten an drei Oberlandesgerichten umfangreiche Strafprozesse gegen sog. Reichsbürger) doch erst die Grundlage für teils wirklich abstruse Vorstellungen geliefert („Großadmiral“ Dönitz kann bis heute Stolz auf seinen Beitrag zur Geschichtsfälschung sein).
Von der zumindest verfassungsrechtlich bedeutsamen Frage nach dem Fortbestand des Deutschen Reiches nach Kriegsende einmal abgesehen, gab es natürlich noch ganz andere Punkte, die nach dem 8. Mai 1945 geklärt werden mussten. Dies soll in einem kurzen Überblick dargestellt werden.
IV) Deutschland in der unmittelbaren Nachkriegszeit
Nachdem auch die letzten versprengten Einheiten der Wehrmacht, so besonders im Alpenraum, nach dem 8. Mai 1945 die Kriegshandlungen endgültig eingestellt hatten, die Witzfiguren im Pseudo-Kabinett der „Reichsregierung Dönitz“ in Flensburg-Mürwik am 23. Mai 1945 aufgelöst, entkleidet undvorläufig verhaftet worden waren, sofern einzelne keinen Suizid verübten, konnten auch die verantwortlichen Repräsentanten der alliierten Sieger sich einige Gedanken über die politische Zukunft in Mitteleuropa machen.
1) Erstes greifbares Resultat war die „Berliner Erklärung“ vom 5. Juni 1945.
Die wichtigste Regelung betraf die Übernahme der Staatsgewalt durch die Alliierten; jedoch gibt es bereits bei der Übersetzung/Interpretation eines Merkmals in dieser Erklärung einen beachtlichen Dissens:
Im englischen Original wird der Begriff „supreme authority“ verwendet. (8)
Bedeutet dies nun höchste Regierungs- oder aber „Staatsgewalt“? „Regierung“ bedeutet in der anglo-amerikanischen Politik die Administration, also reine Exekutive. „Staatsgewalt“ bedeutet – zumindest in der deutschen Staatsrechtswissenschaft – die ungeteilte Souveränität, also die umfassende Herrschaftsmacht. Eine für den Laien unbedeutend scheinende Lappalie (besonders für die Millionen Menschen, die eben erst die Grauen des Krieges hinter sich hatten) und auch die Alliierten machten sich um derartige Details Anfang Juni 1945 keine größeren Gedanken, denn sie sahen sichanderen Problemen, besonders im Bereich der Versorgung und des täglichen Lebens auf kommunaler Ebene, gegenüber.
Aber für künftige „kalte Krieger“ in der westdeutschen Politik stellten solche Nuancen die Rechtsgrundlage z. B. für den Alleinvertretungsanspruch der (alten) BRD dar. Und auch bei den späteren Beratungen einer künftigen westdeutschen Verfassung auf Herrenchiemsee und zumindest nochtheoretisch im Parlamentarischen Rat kam der Frage nach dem „Souverän“ schon eine gewisse Bedeutung zu.
Zumindest war mit der Berliner Erklärung unstreitig, wer nach Kriegsende bis auf Weiteres die Hoheitsgewalt innehatte, nämlich uneingeschränkt die Siegermächte.
Diese wurden – so auch die wesentlichen Ergebnisse der Konferenz von Jalta – in ihre künftigen Besatzungszonen eingewiesen; alles Weitere wurde dann auf der Konferenz von Potsdam Mitte Juli bis Anfang August 1945 geklärt. Bis dahin wurde auch der „Alliierte Kontrollrat“ eingerichtet, der Ende Juli 1945 offiziell seine Tätigkeit aufnahm.
2) Potsdamer Abkommen („Dreimächte-Konferenz“), Anfang August 1945
Auf dem von den Sowjets eigens hierfür herausgeputzten „Cecilienhof“ trafen sich dann erstmals die „Großen Drei“ nach Kriegsende in Europa (Frankreich war nach wie vor nicht eingeladen), um dann besonders die Zonenverwaltungen zu besprechen und die maßgeblichen politischenEntscheidungsebenen zu organisieren bzw. neu auszurichten.
Die nächsten Jahre sollten drei unterschiedliche „Institutionen“ bzw. Organe die Politik in und für Deutschland bestimmen: Der alliierte Kontrollrat, die Militärgouverneure und der Rat der Außenminister.
Um es vorwegzunehmen, bis 1949 sollten es die nunmehr vier Alliierten (unter Einschluss Frankreichs) schaffen, die ursprünglich hoffnungsvoll gestartete Arbeitsatmosphäre nachhaltig zu vergiften (der „Kalte Krieg“ nebst „Ost-West-Konflikt“ schlugen voll durch) und es sollte eine gigantische Bürokratie entstehen, die auf allen erdenklichen Ebenen agierte und vieles im Leben unserer Vorfahren blockierte und erschwerte.
Aber auf der Potsdamer Konferenz war davon noch wenig zu spüren: Zu diesem Zeitpunkt war das inner- alliierte Bestreben noch auf die Umsetzung der Konferenzergebnisse von Jalta gerichtet.
Offiziell hatte man auf Jalta beschlossen, dass die Einteilung in verschiedene Besatzungszonen hauptsächlich zur Lösung der Reparationsfrage dienen sollte.
Auch wenn bereits im März 1945 erste Stimmen in Großbritannien laut wurden, die ein zu starkes Nachgeben bei Reparationsfragen zu Gunsten der Sowjetunion anzweifelten (so der damalige Schatzkanzler Anderson, der zumindest insgeheim Unterstützung von Churchill erhielt), blieb die offizielle Linie, die besonders vom damaligen US-Präsidenten Roosevelt bestimmt worden war (pro Sowjetunion), bestehen. Allerdings setzte beim neuen US-Präsidenten Truman langsam ein Prozess der Neugewichtung außenpolitischer Fragen bzw. eines Umdenkens insgesamt ein (nicht zuletzt sollte auch der Einsatz der beiden Atombomben gegen Japan Anfang August 1945 eine indirekte Warnung an Stalin darstellen).
Von den Reparationsfragen abgesehen, wurde Anfang August 1945 als Ergebnis der Verhandlungen in Potsdam das sog . Potsdamer Abkommen geschlossen. Wichtige Punkte darin waren, soweit es um Deutschland ging:
- a) Einrichtung eines besonderen Rates der Außenminister
- b) Vorbereitung eines Gerichtsprozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher
- c) Aufstellung künftiger politischer und wirtschaftlicher Grundsätze
Zu den politischen Grundsätzen zählten z. B. die Entmilitarisierung Deutschlands, die Entnazifizierung, eine Demokratisierung der politischen Verhältnisse, so auch eine Reorganisierung der Justiz nach demokratischen (rechtsstaatlichen) Grundsätzen, und auch die Wiederzulassung demokratischerParteien (neben den „klassischen“ liberalen, konservativen oder sozialdemokratischen Parteien auch Kommunisten, selbst in den Westzonen – die antikommunistische Ära in den USA unter McCarthy sollte erst ab 1950 beginnen). In Potsdam wurde außerdem festgelegt, dass bis auf Weiteres keine deutsche Zentralregierung errichtet werden sollte – vielmehr sollten zunächst die Landesverwaltungen eingeführt werden.
Neben den Reparationsfragen ging es bei den wirtschaftlichen Grundsätzen, die im Potsdamer Abkommen geregelt wurden, um die Ausübung der alliierten Kontrolle über die Volkswirtschaft: einerseits sollte das deutsche Wirtschaftsleben (soweit noch vorhanden) dezentralisiert werden, andererseits aber Deutschland während der Besatzungszeit als „wirtschaftliche Einheit“ betrachtet werden; dabei hätten sich die Sowjets auch anteilig Zugriff auf Vermögenswerte in den Westzonen gesichert – ein Knackpunkt, der die künftige Entwicklung in Richtung Spaltung der Wirtschaftspolitik derAlliierten prägen sollte.
Um die wirtschaftliche Kontrolle vor Ort zu gewährleisten, musste natürlich auch ein eigener Verwaltungsapparat geschaffen werden. (9)
Zu den drängenden Aufgaben der Besatzungsmächte vor Ort zählte somit zunächst ein Wiederaufrichten kommunaler Verwaltungsstrukturen, also Stadt-, Gemeinde- und Kreisverwaltungen.
Dazu brauchte es vor allem vertrauenswürdige „Funktionsträger“, die – soweit als möglich – ohne Nazi-Vergangenheit sein sollten; schwierig genug für alle vier Besatzungsmächte, geeignete Personen zu finden. Und wie das Beispiel des Kölner Oberbürgermeisters zeigen sollte, gab es dort zwar mitKonrad Adenauer einen durchaus honorigen Mann (mit sehr viel Verwaltungserfahrung), dessen Person aber von den Amerikanern (pro Adenauer) und den Briten (contra Adenauer) höchst unterschiedlich beurteilt wurde (vielleicht war er den Engländern auch einfach zu katholisch).
Bei der Auswahl geeigneter Personen für die Posten von Bürgermeistern oder Landräten, aber auch allgemein im Umgang mit der deutschen Zivilbevölkerung gab es – zumindest zu Beginn der Besatzungszeit – einen weiteren Aspekt zu beachten, nämlich die Anweisung besonders der US-Amerikaner, jegliche Form der „Fraternisierung“ zu vermeiden: Im April 1945, noch vor der Kapitulation, wurde vom amerikanischen Oberbefehlshaber bzw. der US-Militärverwaltung die Direktive „JCS 1067“ erlassen, die sich an die US- Streitkräfte richtete und verbindliche Vorgaben für den Umgang mit der deutschen Bevölkerung enthielt.
Diese Dienstanweisung benannte in über 50 Paragraphen politische, wirtschaftliche und militärische Hintergründe, Ziele und Pflichten der Oberbefehlshaber der US-Truppen hinsichtlich ihrer Verantwortung für die Verwaltung und die militärische Besetzung im Allgemeinen.
Deutschland galt danach als „Feindstaat“, dessen Besetzung der Verwirklichung alliierter Kriegsziele diente und daher eine Verbrüderung mit der Bevölkerung unbedingt vermieden werden sollte (sogar herkömmliche Begrüßungsrituale, wie einfaches Händeschütteln, wären danach unzulässig gewesen).
Dass aber eine strikte, buchstabengetreue Umsetzung der Direktive JCS 1067 jede Annäherung und somit das Alltagsleben im ohnehin stark zerstörten Deutschland extrem erschwert hätte, leuchtet eigentlich sofort ein (auch ohne den bereits ab Herbst 1945 einsetzenden Ost-West-Konflikt bzw. „kalten Krieg“), so dass die betreffenden US-Militärbefehlshaber in Deutschland, Eisenhower bis Clay, dazu übergingen, diese Anweisung immer mehr zu ignorieren; die einfachen Soldaten sowieso.
Anders formuliert:
Im Prinzip stellte die alltägliche Befehlsverweigerung der in Deutschland als Besatzungsmacht stationierten US-Truppen (volkstümlich „GIs“) die Grundlage für die spätere Herausbildung des westlichen Lebensstils der künftigen „bundesdeutschen“ Bevölkerung dar (und die diversen zwischenmenschlichen Beziehungen der „German Fräuleins“ hauptsächlich zu US-Soldaten; frei nach Brecht: erst kamen Bohnenkaffee, Ami- Zigaretten und Seidenstrümpfe, dann die Moral – wobei natürlich der Begriff „Moral“ zwischen 1933 und 1945 ohnehin entkernt worden war, so dass man den jungen Frauen in den West-Zonen keine Vorwürfe machen darf; die in der „Ost-Zone“ lebenden Frauen waren ohnehin ganz anderen sexuellen Übergriffen ausgesetzt – übrigens auch noch zu „DDR-Zeiten“). Spätestens mit der sog. Truman-Doktrin wurde dann auch die Direktive JCS 1067 ad acta gelegt.
3) Fortgang der Ereignisse nach der Potsdamer Konferenz
Die ursprüngliche Anti-Hitler-Koalition war allein schon in personeller Hinsicht gesprengt; US-Präsident Roosevelt, noch im April 1945 nach langer Krankheit verstorben, durch den in außenpolitischen Fragen eher unerfahrenen Truman ersetzt, Englands Kriegs-Premier Churchill im Sommer 1945 abgewählt und von einem Nobody im Amt verdrängt. Die einzige Konstante war ausgerechnet Sowjet-Diktator Stalin, der zwar keine innenpolitische Opposition zu fürchten hatte, aber unbedingt seine eigene Agenda, die er bereits zwanzig Jahre zuvor entworfen hatte, durchsetzen wollte: die Sowjetunion als „global player“.
Dazu mussten die – eigentlich erst kurz zuvor „befreiten“ – Länder Ost- und Südosteuropas in den sowjetischen Machtbereich ohne jede Rücksicht oder Mitsprache fest eingegliedert werden. Der Beginn des fast fünfzigjährigen Ost-West-Konfliktes, der – blickt man etwas genauer hin – nach einigenJahren scheinbarer Ruhe eigentlich schon seit 2014 (Besetzung der Krim durch das post-kommunistische Russland) wieder aufgeflammt ist.
a) Teilung Deutschlands als Reparationsgebiet
Auch wenn in der Anfangszeit der Alliierte Kontrollrat seine Tätigkeit effizient und einvernehmlich ausüben konnte, so wurden in über 80 Sitzungen eine große Zahl an Gesetzen, Verordnungen etc. erlassen, wie die Vorschriften, die z. B. typisches NS-Unrecht aufheben oder Nazi-Organisationen auflösen sollten, kam es bereits zur Jahreswende 1945/46 besonders beim Thema der von der Sowjetunion beanspruchten Reparationen zu deutlich abweichenden Positionen zwischen Großbritannien und den USA einerseits und den Vertretern der UdSSR andererseits; die französische Seite war in dieser Frage nicht eindeutig festgelegt: Natürlich wollte Paris materiellen Ersatz für die immensen Kriegsschäden, doch wussten zumindest die umsichtigeren unter den französischen Politikern aus den Erfahrungen mit dem Versailler Vertrag, wie schwierig die Umsetzung bzw. „Beitreibung“ von Forderungen sein kann, die vom Schuldner als Knechtung empfunden wurden.
Ein weiterer Punkt, der ab Ende 1945 zu Unstimmigkeiten unter den Alliierten führte, war die intransigente und obstruktive „Personalpolitik“, die die russische Militärverwaltung in ihrer Zone praktizierte.
Ab Sommer 1946 nahmen die Differenzen hinsichtlich der Wirtschaftsfragen zwischen den Westmächten und der Sowjetunion immer mehr zu, so dass im Prinzip ein Jahr nach Kriegsende sich die Spaltung des Staatsgebietes des „Deutschen Reiches in den Grenzen vom 31.12.1937“ in vier teilsabgeschottete Zonen verfestigt hatte; man spricht daher auch von der Spaltung des Okkupationsgebiets in eine SBZ (sowjetisch besetzte Zone) und in die Westzonen. (10)
Am 6. September 1946 hielt der US-amerikanische Außenminister Byrnes in Stuttgart eine wichtige Rede, diese enthielt die Vorgaben zu einer neuen Besatzungspolitik:
„Das amerikanische Volk wünscht, dem deutschen Volk die Regierung zurückzugeben. Das amerikanische Volk will dem deutschen Volk helfen, seinen Weg zurückzufinden zu einem ehrenvollen Platz unter den freien und friedlichen Nationen der Welt.“ (11)
Diese Rede eines hohen US-Regierungsmitglieds, keine sechzehn Monate nach Kriegsende und obwohl noch zwei Jahre zuvor in weiten Teilen des politischen Washingtons der „Morgenthau-Plan“ vorherrschte, war nicht nur eine großherzige Geste der Versöhnung, sondern eine (welt-)politische Sensation.
Die Rede von Byrnes weckte Hoffnungen und gab auch den Briten einen Anstoß, über eine Neuausrichtung ihrer bisherigen Besatzungspolitik nachzudenken:
„Die Amerikaner erweckten wegen ihres Reichtums, ihrer Prinzipientreue, ihrer Generosität und Naivität bald die Bewunderung und Sympathie der Deutschen, die Briten und Franzosen traten dagegen eher wie Kolonialtruppen auf. Politisch allerdings gaben die Amerikaner, schon wegen ihrerwirtschaftlichen Potenz, im Westen den Ton an. Die Rote Armee hatte bei der deutschen Bevölkerung den schlechtesten Ruf und war besonders wegen der Willkür ihrer Besatzungsherrschaft gefürchtet.
Die französischen Sonderwünsche und die auf die Durchsetzung ihrer Reparationsforderungen konzentrierte sowjetische Politik hatten sich im ersten Besatzungsjahr als die stärksten Hindernisse für eine Verwirklichung der Beschlüsse der Konferenz von Potsdam erwiesen.“ (12)
Bereits Ende April 1946 hatte US-Außenminister Byrnes auf der Pariser Außenministerkonferenz nachdrücklich versucht, auf seine Kollegen dahingehend einzuwirken, dass auch die politischen Grundsätze des Potsdamer Abkommens realisiert würden (z. B. auch in der Frage des Beginns regulärer Friedensverhandlungen). Insbesondere der sowjetische Außenminister Molotow blockte solche Initiativen ab; die Pariser Konferenz zog sich hin wie Kaugummi und drohte, ergebnislos im Sande zu verlaufen.
„Am vorletzten Tag der Pariser Konferenz, dem 11. Juli 1946, lud Byrnes die drei anderen Besatzungsmächte ein, ihre Zonen mit der amerikanischen wirtschaftlich zu verschmelzen. In Paris und Moskau wurde das amerikanische Angebot abgelehnt; London stimmte erwartungsgemäß zu. Als Minimallösung ergab sich daraus die Fusion des amerikanischen und britischen Besatzungsgebiets zur „Bizone“. Maßgeblichen Anteil an dem Projekt hatte General Lucius D. Clay (…), der entscheidende Mann in der US-Zone.“ (13)
b) Errichtung der Bi-Zone
Nachdem auch im Kontrollrat, dessen Zuständigkeit und Binnenorganisation ja eigenständig vom Rat der Außenminister konzipiert gewesen ist, die Initiative der US-Amerikaner wiederholt worden war, trafen sich ab Herbst 1946 Vertreter der amerikanischen und britischen Zone, um zunächst über die Bildung verschiedener Verwaltungsräte zu beraten. Die damit einhergehende Herausbildung von Behörden (die an unterschiedlichen Standorten, wie Frankfurt/M. oder in Stuttgart, angesiedelt wurden) waren der erste Schritt zur Bildung gesamtstaatlicher Strukturen – wegen der dezentralisierten Lage auch im föderalistischen Sinne.
Es war daher auch kein Zufall, dass z. B. in der amerikanischen Besatzungszone bereits Ende 1946 die ersten Landtagswahlen (wie in Hessen oder in Bayern) abgehalten wurden. Damit sollte eine weitere Ebene staatlicher Strukturen nebst separater Organisationsgewalt eingeführt und auch eingeübt werden.
Gleichsam im Vorgriff auf die künftige Bildung eines „Deutschen Länderrates“ (zunächst beschränkt auf die beiden Besatzungszonen der Amerikaner und Briten).
Anfang Dezember 1946 unterzeichneten die beiden zuständigen Außenminister der USA und Großbritanniens die entsprechenden Abkommen zur Fusion ihrer Besatzungszonen; mit Wirkung zum 1 Januar 1947 entstand das „Vereinigte Wirtschaftsgebiet“ – die Bizone war am Verhandlungstisch kreiert worden.
„Die beiden Besatzungsmächte waren sehr darauf bedacht, das Provisorische des Zonenzusammenschlusses und seine ausschließlich wirtschaftlichen und administrativen Zwecke zu betonen. Ziel war es, bis Ende 1949 die ökonomische Unabhängigkeit der Doppelzone herzustellen. DieVereinbarung sollte jährlich überprüft werden und gelten, bis eine Einigung der Alliierten über die Behandlung ganz Deutschlands als Wirtschaftseinheit zustande käme. Tatsächlich erwies sich der Zusammenschluss der amerikanischen und der britischen Zone jedoch als der erste Schritt zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland: Die Bizone entwickelte sich (…) zum Modell des künftigen Weststaats.“ (14)
Hierzu kann auch die organisatorische Ausgestaltung der „Bizone“ gerechnet werden: Institutionell im Sinne einer „Exekutive“ wurde zunächst ein „Direktorium für den Ersten Wirtschaftsrat“ (Juli 1947 bis März 1948), danach ein „Verwaltungsrat des Zweiten Wirtschaftsrats“ (dieser blieb formellsogar bis September 1949 im Amt) gebildet. Zu den Aufgaben des Wirtschaftsrates zählte auch der Erlass von Gesetzen, daher kann man auch von einem „Wirtschaftsparlament“ (mit Sitz in der alten Reichsstadt Frankfurt/M.) sprechen.
Allerdings war die konkrete Arbeit dieses Wirtschaftsparlaments in der Praxis durch den Genehmigungsvorbehalt, ausgeübt in einem sog. Zweizonenkontrollamt, das den stellvertretenden Militärgouverneuren unterstand, limitiert. In diesem „BICO“ sollen bis zu 900 britische und amerikanischeExperten die Aktivitäten der Bizonen-Organe überwacht haben. (15)
Auch wenn – zumindest nach außen hin – Amerikaner und Briten bemüht waren, die Bildung des „Vereinigten Wirtschaftsgebiets“ als einen lediglich administrativen Akt der ökonomischen Vernunft darzustellen, stimmten ihre längerfristigen Ziele und wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen (im Sinne des kapitalistischen Systems) mit den Hoffnungen und Erwartungen der langsam wiedererstarkenden (west-) deutschen Eliten durchaus überein. Daher handelte es sich nicht nur um ökonomische Fragen bzw. Notwendigkeiten, die zur Bildung der Bizone geführt hatten; zumindest konnten auch bestimmte politische Konsequenzen abgeschätzt werden. So hat auch das Frankfurter Wirtschaftsparlament in den knapp zwei Jahren seines Wirkens Spuren hinterlassen, die auch noch weitere zwei Jahrzehnte in der Bundesrepublik Auswirkungen haben sollten. (16)
In personeller Hinsicht können z.B. Ludwig Erhard, nach Gründung der BRD zunächst Bundeswirtschaftsminister, ab 1963 Nachfolger Adenauers als Bundeskanzler oder ein (damals noch junger) Franz Josef Strauß, der trotz zahlreicher Skandale ab Ende der 1960er Jahre „ungekrönter König“ in Bayern wurde, genannt werden.
Wenn man etwas beckmesserhaft sein möchte, könnte man die Grundvoraussetzung des Entstehungsprozesses der künftigen Bundesrepublik im Bestreben der US-Amerikaner nach guten Geschäften sehen, denn das Vereinigte Wirtschaftsgebiet sollte zumindest als Nebeneffekt Rechtssicherheitfür Industrie und
Handel etc. bieten. Sofern es sich nicht um Hauptkriegsverbrecher handelte, wurden auch die „Stahlbarone“ an Rhein und Ruhr schnell wieder hofiert und in ihre alten Wirkungsstätten eingesetzt.
Die politische Komponente wurde mit der Erwartung nach lukrativen Absatzmärkten verknüpft; die Bizone als eine Art Konjunkturprogramm für die US-Wirtschaft – und ganz böse Zungen würden auch sagen für eine künftige Wiederbewaffnung (die „junge“ Bundeswehr wurde ab 1955 massiv von der US-Army aufgepäppelt; auch Dank der ausgezeichneten Kontakte von Strauß, was man auch positiv beurteilen kann).
Exkurs: Winterkrise (Hungerwinter) 1946/47
Diese (bewusst pointierte) kapitalismuskritische Bewertung der ökonomischen Hintergründe zur Einrichtung der Bizone lässt sich aber schnell relativieren, akzeptiert man die realen Umstände in der Nachkriegs- zeit. Hierzu zählen besonders die extremen Härten, die der eiskalte Hungerwinter 1946/47 verursachte.
„In einem Brief, geschrieben im Februar 1947 in Hamburg an einen sozialistischen deutschen Emigranten in New York, der als Organisator eines Solidaritätsfonds für Deutsche mit Paketaktionen die Not zu lindern suchte, findet sich eine symptomatische Situationsbeschreibung: »In Hamburg starben im Monat Januar 1947 224 Personen an Lungenentzündung. … Die Säuglingssterblichkeit ist im Januar 1947 auf 15 Prozent gestiegen. Am 15. Februar gab es in Hamburg allein 5200 arbeitsunfähige Grippekranke. 5 Grad Minus ist die normale Temperatur in den Wohnungen. … Und keine Kohlen! Und zwei Stunden am Tag elektrischer Strom! Und die Menschen halb verhungert und ausgemergelt!«“ (17)
Ein anderer Indikator für die bedrückende Situation der durchschnittlichen Bevölkerung im besetzten Deutschland (Ost wie West) war der Kalorienverbrauch, der sich binnen zehn Jahren (1936 zu 1946) teils mehr als halbiert hatte (von über 3000 auf unter 1500 Kalorien im Tagesschnitt). Eine aufDauer nicht zu stemmende Belastung: Ernährungskrise und Energiekrise (besonders bei der Kohle) stürzten ein ganzes Land in die Katastrophe; ein letzter unheilvoller Gruß des „böhmischen Gefreiten“!
Unter diesem Gesichtspunkt darf man das beherzte Eingreifen der Amerikaner (und auch der Briten) als Rettung in höchster Not charakterisieren – auch das gehört zur Wirkungsgeschichte der Bizone. (18)
Zumindest indirekt zählen hierzu auch die zahlreichen privaten Spenden in Gestalt der sog. CARE-Pakete, die von einfachen US-Bürgern stammten, die damit oft den entscheidenden Beitrag für das Überleben der hungernden Bevölkerung in der US-Zone leisteten (und teils an die Verwandtschaft inder Ost-Zone weitergegeben wurden); später auch in den beiden anderen Westzonen. Nur zur Erinnerung: knapp drei Jahre vorher (Juni 1944) waren es ebenfalls hauptsächlich junge US-Soldaten, die in der Normandie (und darüber hinaus) ihr Leben opferten! Die Initiatoren der CARE-Pakete haben daher wahrhafte Größe gezeigt. (19)
c) Truman-Doktrin
Nach den Erfahrungen auf der Außenminister-Konferenz in Paris Mitte 1946 und während der Ratskonferenz Ende 1946 in New York machte sich der inzwischen in die Materie eingearbeitete US-Präsident Truman umfangreiche Gedanken über die politische Zukunft „des Westens“ bzw. auch, was seit Februar 1945 (Konferenz von Jalta) alles in die falsche Richtung gelaufen war und sich noch weiter zu verschlimmern drohte.
Es war daher auch keine Überraschung, dass die Siegermächte auf der nächsten Außenminister-Konferenz im Frühjahr 1947 in Moskau zu keinem Durchbruch bei der Deutschland-Frage kamen; insbesondere beharrten die Sowjets auf ihre ursprünglich zugesagten Reparationsforderungen.
Zu Beginn dieser Konferenz machte nun auch US-Präsident Truman den entscheidenden Schritt, sich gegen die als destruktiv empfundene Einstellung der UdSSR zu wenden:
„Am 11. März 1947 verkündete Präsident Truman in einer Botschaft an den amerikanischen Kongress eine nach ihm benannte »Doktrin«, in der die Eindämmung des Kommunismus und der Sowjetunion zum Grundprinzip amerikanischer Außenpolitik erhoben wurde; zur praktischen Umsetzung der Doktrin bot er sämtlichen nichtkommunistischen Ländern, die um ihre wirtschaftliche Erholung und politische Stabilisierung kämpften, auch gleich großzügige amerikanische Unterstützung an. Mit seiner Botschaft (…) ging das Engagement der Vereinigten Staaten sofort weit über finanzielle Hilfe hinaus. (…) Bereits im späten Frühjahr 1947 wurde die amerikanische Offerte auch für Westeuropa konkretisiert, als der neue Außenminister George C. Marshall (…) am 5. Juni ein European Recovery Program (Marshall-Plan) ankündigte, das den nicht unter sowjetischer Fuchtel stehenden Ländern Europas massive amerikanische Finanzhilfe bei ihrem wirtschaftlichen Wiederaufbau verhieß; gewiss sollte der Marshall-Plan den USA auch nützliche Handelspartner heranziehen, aber sein Hauptzweck war doch politischer Natur und bestand darin, die Staaten Nord-, West- und Südeuropas über die wirtschaftliche Kräftigung hinaus politisch zu konsolidieren und so zunächst einmal gegen eine sowjetisch gesteuerte kommunistische Subversion zu immunisieren.
(…) Im Kreml ist deshalb fraglos auch eine auf politische Mittel und auf eine defensive Strategie beschränkte Feindschaft der Westmächte als Gefährdung, sind die in den USA gerade zur Fundierung der Containment-Politik jetzt anhebenden antikommunistischen und antisowjetischenPropagandakampagnen als bedrohlich empfunden worden (…). Daß die amerikanisch-britische Eindämmungspolitik bald auch zum Abschluss von Militärallianzen führte.“ (20)
Die hieraus resultierende „NATO“ (1949 gegründet) ist ein bis heute wichtiges Bündnis der freien Welt, das unmittelbar seine Entstehung der Situation im Nachkriegs-Europa verdankt.
Die eben in aller Kürze vorgestellte „Truman-Doktrin“ hatte somit gleich mehrere Stoßrichtungen und Konsequenzen. Sie diente einerseits gleichsam zur Abrundung der mehr innerdeutschen Problematik zunächst einer wirtschaftspolitischen Stoßrichtung, die dem ökonomischen WachstumWesteuropas dienen sollte (und im Ergebnis auch die erhofften Impulse setzen konnte). Andererseits setzten sich die USA als künftige Weltmacht im militärischen Sinne unangefochten an die Spitze des „Westens“, um unmissverständlich auf antikommunistischen und antisowjetischen Kurs zu gehen(im Prinzip bis heute) – mit allen unvorhersehbaren und auch höchst negativen Folgen (wie z. B. dem Vietnamkrieg).
Parallel zur „großen Weltpolitik“ erfolgten im zweiten Halbjahr 1947 in der Bizone verschiedene organisatorische Maßnahmen und Ausgestaltungen, die besonders auf ökonomische Stabilisierung gerichtet waren und die beginnenden politischen Strukturen festigten.
Bereits im Juni trafen sich in München die damaligen Ministerpräsidenten (die Delegierten der „Ost-Zone“ reisten erwartungsgemäß früh und im Streit wieder ab).
Noch Ende Juni konstituierte sich der „Wirtschaftsrat“ in Frankfurt/M.; kurz danach wurden die zuständigen Direktoren (eine Art Fachminister) gewählt und in der Folgezeit sog. Industriepläne für die Bizone erstellt (damit wurde auch das Thema „Demontage“ auf dem Verwaltungsweg geregelt).
Mit solchen administrativen Maßnahmen ging das erste Jahr der Bizone und fast das dritte Besatzungsjahr in Deutschland zu Ende.
Außenpolitisch ist noch die 5. Außenministerkonferenz in London, Ende November bis Mitte Dezember 1947, zu erwähnen, die – beinahe erwartungsgemäß – ein Fehlschlag werden sollte und sogar abgebrochen werden musste, weil eine Einigung der Vier Mächte über die deutsche Frage unmöglich geworden war.
Exkurs: Die Entstehung der Länder und ihrer Verfassungen
Wie bereits oben kurz ausgeführt, stand einer engeren Zusammenarbeit zwischen den (westlichen) Militärbehörden und deutschen Stellen zunächst der „Non-Fraternization-Befehl“ (JCS 1067) im Wege.
Um die drängendsten Probleme angehen zu können, waren es besonders die Amerikaner, die pragmatische Lösungen vornahmen, damit überhaupt die Bizone, die noch 1949 um die französische Besatzungszone zur „Trizone“ ausgeweitet wurde, entstehen konnte.
Hierfür musste zunächst eine (provisorische) Staatlichkeit auf Länderebene eingeführt werden. Bereits ab Mitte 1945 wurden in den verschiedenen Besatzungszonen die ersten Ministerpräsidenten vorläufig von den Militärverwaltungen eingesetzt (also nicht gewählt).
„Schon Anfang November 1945 trat ein Länderrat der US-Zone in Stuttgart zusammen, dessen Aufgabe es war, die Einheitlichkeit der Gesetzgebung sicherzustellen. Zwischen Januar und Mai 1946 fanden die ersten Kommunalwahlen mit hoher Wahlbeteiligung statt.“ (21)
Die ersten Wahlen in der amerikanischen Zone, die über den kommunalen Bereich hinausgingen, erfolgten dann Ende 1946:
„Die Verfassungsgebung in den westdeutschen Ländern wurde zunächst vor allem von dem amerikanischen Militärgouverneur Clay vorangetrieben (…). Im Frühjahr 1946 gab der General den Ministerpräsidenten den Auftrag, Landesverfassungen ausarbeiten zu lassen. Ende November und Anfang Dezember desselben Jahres wurden diese Verfassungstexte in Volksabstimmungen mit hohen Wahlbeteiligungen und Zustimmungsquoten angenommen. Die Amerikaner sahen das Problem, wie sich ein fortdauerndes Besatzungsregime mit einer auf das Prinzip der Volkssouveränität gestützten Landesregierung vertragen sollte. Clay betrachtete jedoch die demokratische Legitimation der deutschen Regierungen als Voraussetzung für die Übertragung von Zuständigkeiten durch die Militärregierung. (…) In den beiden anderen westlichen Besatzungszonen entwickelten sich die Dinge langsamer. Erst im Mai 1947 fanden in den drei Ländern der französischen Zone Volksentscheide über die neuen Verfassungen und zugleich erste Landtagswahlen statt. In den spät gebildeten Ländern der britischen Zone kamen die Verfassungsberatungen überwiegend vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht zum Abschluss.“ (22)
An dieser Stelle sollen zwei Aspekte hervorgehoben werden: Es war mit General Clay ein hoher Militär, der sich stark für die politische Entwicklung in seiner Zone, aber auch darüber hinaus einsetzte und sich damit auch in den USA nicht nur Freunde machte (es war sein Vorgänger Eisenhower,nicht Clay, der später sogar US-Präsident werden sollte – als eine Art Anerkennung/Belohnung für militärische Verdienste).
Zweitens: Durch die unterschiedlichen Geschwindigkeiten gab es eine Form von Ungleichzeitigkeit bzw. Gefälle im „Demokratisierungsprozess“ der Westzonen.
Dies führte auch dazu, dass die Entwicklung in den Verfassungsgebungsprozessen keine einheitliche Legitimation der Ergebnisse zugelassen hat (wenn es teilweise „Länder“ gab, die erst verspätet eigene Landesverfassungen/Organe herausbildeten, das spätere Bundesland „Baden-Württemberg“ erst 1951/52 gegründet wurde oder das „Saarland“ völlig außen vor blieb, wird es schwierig, von einem einheitlichen Willensbildungsprozess bei den betroffenen Bürgern zu sprechen).
Für die Frage der Legitimation des Grundgesetzes hat dies (zumindest in der Theorie) insofern Bedeutung, als es nicht nur um die formelle Beteiligung des (Wahl-)Volkes, sondern auch um die Akzeptanz der neuen Verfassung gehen wird, hierzu weiter unten.
Aus nachvollziehbaren Gründen setzten die Militärgouverneure andere Schwerpunkte:
„Die Alliierten haben im Allgemeinen den Gang der Verhandlungen in den verfassunggebenden Körperschaften nur hier und da und eher mittelbar beeinflusst. Nach dem Willen Clays sollten die Deutschen „in an atmosphere of freedom“ beraten. Der Erfolgsdruck, unter den sich die amerikanische Militärregierung mit ihrer Verfassungspolitik gesetzt hatte, kam den deutschen Vorschlägen zugute; gegenüber misstrauischen Beamten in Washington setzte sich Clay durch. Mit den größten Bedenken betrachteten die Amerikaner, aber nicht nur sie, die deutsche Tradition des Berufsbeamtentums und gar dessen Teilnahme an der Parteipolitik, was den Grundsatz der Gewaltenteilung zu verletzen schien. Kaum ein anderes Thema ist so zäh verhandelt worden, am Ende erfolgreich für die deutsche Seite, aber mit Nachwirkungen bis in die Zeit der Bundesrepublik hinein.“ (23)
Zumindest in einem Punkt hatte die Herausbildung der ersten Landesverfassungen einen überaus positiven Effekt: Die maßgeblichen „Weltanschauungsparteien“, deren Akteure, sofern sie die NS-Zeit überlebt hatten und im künftigen Staatsgebiet der (alten) Bundesrepublik lebten, sich oft noch aus der politischen Arbeit während der Weimarer Republik kannten und wertschätzten, sollten schon früh lernen, zusammenzuarbeiten und sich über die künftigen Strukturmerkmale eines Verfassungsstaates im westlichen Sinne (Demokratie, Rechtsstaat und Verankerung individueller Freiheits-/Grundrechte) einig zu werden.
V) Deutschlandpolitik ab 1948
Die beiden Außenministerkonferenzen in Moskau und besonders die in London von 1947 waren erfolglos geblieben, gleichzeitig hatte sich der Ost-West-Konflikt immer weiter zugespitzt.
1) Auftrag zur Staatsgründung
Unter dem Aspekt der „Deutschlandpolitik“ führte dies dazu, dass die drei westlichen Besatzungsmächte – trotz aller Unterschiede im Detail – die Einigung erzielten, dass die Bizone um die französische Zone erweitert und zu einem politischen „Gesamtgebilde“ zusammengefasst werden musste.
Im Februar 1948 wurde der Frankfurter Wirtschaftsrat (das Wirtschaftsparlament) personell aufgestockt und erhielt weitere Kompetenzen; es wurde sowohl ein „Obergericht“ (Art Vorläufer des späteren Bundesgerichtshofs) als auch kurz danach die „Bank deutscher Länder“ gegründet:
Unter dem Gesichtspunkt der „Staatsorganisation“ standen die klassischen „Gewalten“ zumindest am Ende des ersten Halbjahres 1948 in den Startlöchern; es gab vorläufige Institutionen im Bereich der Legislative, Exekutive und auch für das Gerichtswesen – und mit der Vorläuferin der späteren Bundesbank auch ein Organ der Währungspolitik (für ein kapitalistisches Wirtschaftssystem unabdingbar).
Nebenbei hatten sich unter Aufsicht der Militärverwaltungen auch die klassischen politischen Parteien (wieder) gründen dürfen, die – auch wenn teils unter neuer Bezeichnung – nahezu alle an die weltanschaulichen Programmparteien während der Weimarer Republik anknüpften (nur die CDU/CSUgingen insoweit über das alte „Zentrum“ hinaus, als auch das protestantische Milieu ausdrücklich angesprochen wurde).
Für die weitere Entwicklung musste wiederum eine außenpolitische Veranstaltung die maßgeblichen Impulse setzen:
„Als am 2. Juni 1948 die Londoner Sechs-Mächte-Konferenz zu Ende ging, waren die Weichen gestellt, um die westlichen Besatzungszonen Deutschlands langfristig in die Gemeinschaft der demokratischen Staaten Europas und Nordamerikas zu integrieren. Das antagonistische System der Nachkriegszeit, das für die Weltpolitik der nächsten zwanzig Jahre bestimmend werden sollte, hatte nach dem Prager Umsturz und dem Auszug der Sowjetunion aus dem Alliierten Kontrollrat scharfe, nicht länger zu ignorierende Konturen angenommen.“ (24)
Dies hatte dann weitreichende Konsequenzen:
Der bis dahin drei Jahre lang verfolgte Anspruch, „Deutschland als Ganzes“ zu behandeln, wurde aufgegeben, die deutsche Einheit im staatlichen Sinn war dahin (bis zum 3. Oktober 1990); damit verbunden war auch ein Aufschub der Frage nach Abschluss eines „herkömmlichen“ Friedensvertrags (nach herrschender Meinung erfolgte dies dann in Gestalt des „Zwei-plus-Vier-Vertrags“ im September 1990, mit dem daher auch das formelle Ende der Nachkriegszeit markiert werden kann). Völlig offen blieb das Binnenverhältnis zwischen den zusammengefassten Westzonen und der separaten Ostzone (auch SBZ, sowjetisch besetzte Zone genannt), die dann ab Oktober 1949 als Deutsche Demokratische Republik ein eigenständiges Völkerrechtssubjekt werden sollte (was vielen westdeutschen Konservativen überhaupt nicht ins Weltbild passte).
Als unmittelbare wirtschaftspolitische Maßnahme erfolgte in den Westzonen die „Währungsreform“, auf die die Sowjets mit der „Berliner Blockade“ reagierten.
Gleichzeitig markierte der Abschluss der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz den Beginn der (endgültigen) Einbindung des künftigen Westdeutschlands in ein europäisch-atlantisches System; damit direkt verbunden erging seitens der Westalliierten unmissverständlich der Auftrag an die westdeutschen Politiker zur Staatsgründung:
„Am 1. Juli 1948 empfingen die deutschen Länderchefs in Frankfurt aus der Hand der drei Militärgouverneure die Quintessenz der Londoner Empfehlungen in Gestalt der drei ›Frankfurter Dokumente‹. Bei der Zeremonie im IG-Farbenhaus verlas General Clay das erste Schriftstück, das die verfassungsrechtlichen Bestimmungen enthielt und dessen wichtigster Satz lautete: »Die verfassunggebende Versammlung wird eine demokratische Verfassung ausarbeiten, die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit schließlich wieder herzustellen (…) und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält«. (…)
General Koenig machte, als er das dritte Dokument – Grundzüge eines Besatzungsstatuts – verlas, klar, wie eng der deutsche Spielraum auch im Rahmen der neuen Verfassung, die sich die Deutschen geben sollten, bleiben würde: Die Militärgouverneure stellten zwar einige Befugnisse in der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung in Aussicht, behielten sich aber u.a. die Wahrnehmung der Außenbeziehungen des zu gründenden Weststaats vor (…). Der alliierte Auftrag, wie er in den drei Dokumenten fixiert war, sah eine beschränkte und kontrollierte Selbstverwaltung der Deutschen im Rahmen eines Weststaats vor und zwar auf Probe und unter Kuratel“. (25)
Nach der Entgegennahme (für manche war es auch zunächst bloß eine Kenntnisnahme) der „Frankfurter Dokumente“ begannen die Diskussionen unter den westdeutschen Politikern – sowohl auf Ebene der Ministerpräsidenten als auch rein parteipolitisch; manch einer war von der forschen Gangart der Militärverwaltungen nicht unbedingt positiv angetan (besonders einige „Föderalisten“, aber auch auf dem „linken Flügel“ fühlten sich welche von den Besatzungsmächten bevormundet).
Daher erfolgten auf der Koblenzer Konferenz der Ministerpräsidenten („Hotel Rittersturtz“) hitzige Diskussionen nebst Bedingungen, die aber von den Militärgouverneuren in der von den Deutschen gewünschten Form so nicht akzeptiert wurden:
Da die Mehrheit der involvierten Ministerpräsidenten betonten, dass alles zu unterlassen sei, „was dem zu schaffenden Gebilde den Charakter eines Staates verleihen würde“, zielte die von ihnen vorgelegte „Mantelnote“ darauf ab, lediglich ein „Provisorium“ errichten zu wollen.
„Die nicht geringen Auffassungsunterschiede zwischen den Ministerpräsidenten und den drei westlichen Militärgouverneuren konnten erst nach intensiven Beratungen durch folgenden Kompromiss überwunden werden: Statt einer „verfassunggebenden Versammlung“ sollte ein „Parlamentarischer Rat“ einberufen werden, der aufgrund von Beschlüssen der Landtage bestellt werden sollte; statt einer „Verfassung“ sollte ein „Grundgesetz“ geschaffen werden und dessen Ratifizierung sollte „auf breiter demokratischer Grundlage“ – „auf direktem oder indirektem Wege“ erfolgen. (…) Angesichtsder kurzen Frist bis zum 1.9.1948, an welchem der Rat in Bonn zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentreten sollte, kam nur ein indirektes Wahlverfahren in Betracht. Die Anzahl der Abgeordneten eines jeden Landes errechnete sich aus dem Anteil seiner Einwohner an der Gesamtbevölkerung Westdeutschlands. Die Auswahl erfolgte nach dem politischen Proporz des jeweiligen Landesparlaments; die Benennung der Kandidaten blieb den einzelnen Fraktionen überlassen. Zu den so bestellten 65 Abgeordneten der westdeutschen Länder traten fünf Berliner Abgeordnete, die auf Geheiß der westlichen Militärgouverneure indessen nicht stimmberechtigt sein durften.“ (26)
Wie so oft mussten somit Kompromissformeln herhalten, so dass am 26. Juli 1948 die drei westlichen Militärgouverneure einen verbindlichen Ablauf vorgaben, wobei ein relativ enger zeitlicher Fahrplan auch zu einer Disziplinierung beitragen sollte. (27)
Da bis dahin keine zentrale Ministerialorganisation (die mit Institutionen zu Beginn der Weimarer Republik vergleichbar gewesen wäre, also auch keine Gestalt vom Schlage eines Hugo Preuß) vorhanden gewesen ist, aber die Notwendigkeit für Vorarbeiten im Hinblick auf den verabredeten Parlamentarischen Rat erkannt worden war, einigten sich die Ministerpräsidenten darauf, einen „Sachverständigen-Ausschuss für Verfassungsfragen“ einzusetzen, der mit Richtlinien ausgestattet einen Entwurf ausarbeiten sollte – gleichsam als Arbeitsgrundlage für den Parlamentarischen Rat, siehe hierzu weiter unten.
2) Zwischenfazit
Die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs mussten unmittelbar nach der militärischen Kapitulation des Deutschen Reiches erst einmal eine halbwegs tragfähige politische Konzeption erarbeiten (Berliner Erklärung Anfang Juni, Potsdamer Abkommen Anfang August 1945). Hierbei erfolgten erste Risse in der ursprünglich geplanten Reparationsfrage. Die ab 1946 eintretenden wirtschaftlichen Gesamtumstände zwangen dann zu einer Neubewertung der Voraussetzungen und Indikatoren und damit auch zu einer Neuausrichtung der Besatzungspolitik (zumindest war dies die Erkenntnis der USAund Großbritanniens).
Die Gründung der Bizone ist somit, zumindest ex post betrachtet, der erste Schritt zur Spaltung des ursprünglichen deutschen Staatsgebiets bzw. (und somit positiv gewendet) zu einer Integration der künftigen Bundesbürger in das „westliche Lager“.
Flankiert wurde diese Entwicklung einerseits durch die Truman-Doktrin und den Marshall-Plan, andererseits durch ein Auseinanderbrechen der innerdeutschen politischen Vorstellungen, wie dies auf der Münchner Ministerpräsidentenkonferenz Mitte 1947 überdeutlich geworden ist: die massiven Versorgungsprobleme (Hunger, Wohnungsnot, Millionen Deutscher als „Vertriebene“ auf der Flucht) konnten durch ein derartiges Sich-gegenseitig-Blockieren, wie es im Alliierten Kontrollrat Usus geworden war, keineswegs gelöst werden.
Bedauerlich und auch beschämend für die späteren DDR-Bürger: Konnten die Bewohner der Bi- und dann auch der Trizone (also die künftige BRD) zumindest langsam Hoffnung schöpfen (Motto: „Hurra, wir leben noch“), stand Ostdeutschland noch lange unter stalinistischer bzw. sowjetkommunistischer Fuchtel.
Insgesamt sollte sich die Erfahrung (im Sinne einer Binsenweisheit) wiederholen, dass die verfassungspolitischen Vorstellungen für Deutschland nicht – ausschließlich und autonom – Sache der Deutschen selbst sein sollten: Wie 1918/19, als zunächst der damalige US-Präsident einen Wechsel der Staats-/Regierungs- form in Deutschland (zumindest eine Absage an die Monarchie bzw. Abdankung der Hohenzollern) zur Voraussetzung für einen Waffenstillstand machte (dritte Wilson-Note v. 23.10.1918) und die unmittelbare Einflussnahme der Friedensverhandlungen von Versailles ab Januar 1919 und des endgültigen Versailler Vertrages auf die Innenpolitik der Weimarer Republik signifikant waren, so beeinflussten auch 1948/49 außenpolitische Implikationen und auch Komplikationen die Prozesse zur Verfassungsgebung.
VI) Entstehung des Grundgesetzes und die Gründung der Bundesrepublik 1949
Vieles im vorstehenden Überblick konnte nur kurz gestreift oder aber, wie die „Rechtsstellung Berlins“, gar nicht berücksichtigt werden, damit ein vertretbarer Umfang für diesen Beitrag nicht überschritten wird.
Auch die folgenden Punkte können daher meist nur zusammengefasst behandelt werden.
1) Verfassungskonvent von Herrenchiemsee
Die Regierungen der elf westdeutschen Länder verständigten sich Ende Juli 1948 darauf, einen vorbereitenden Verfassungskonvent einzuberufen. Zumindest spätestens am 4. August 1948 stand auch der genaue Tagungsort und der Zeitraum fest: Das Schloss der Herreninsel im Chiemsee, 10. bis 23.August 1948.
Innerhalb von weniger als zwei Wochen entwarfen die Bevollmächtigten, die nicht nach Parteizugehörigkeit, sondern nach ihrer Sachkompetenz ausgewählt worden waren, Richtlinien für das Grundgesetz eines „Bundes Deutscher Länder“ auf föderalistischer und liberaler Grundlage. IhrAbschlussbericht wurde zur Arbeitsgrundlage des kurz danach einberufenen Parlamentarischen Rates (mit Sitz in Bonn).
Dieser „Sachverständigen-Ausschuss“ (Sachverstand im wahrsten Sinne des Wortes), der auf der abgeschieden gelegenen Insel im Chiemsee keine zwei Wochen intensiver Beratungen brauchte, wozu andere Gremien viele Monate in Anspruch genommen hätten (man nehme bloß die heutigen Untersuchungsausschüsse oder Enquetekommissionen), kommt in den üblichen Überblicksdarstellungen meist zu kurz.
Die auf Herrenchiemsee versammelten Sachverständigen waren von mehreren Grundgedanken geprägt und gemeinsamen Grundsätzen verpflichtet (auch wenn sie untereinander in der politischen Grundausrichtung abwichen). Ihnen ging es besonders darum, bestimmte strukturelle Schwächen derWeimarer Verfassung zu vermeiden (auch wenn, wie im Artikel zu Hugo Preuß nachgezeichnet, die meisten Probleme weniger in der Verfassungstheorie, sondern in der praktischen Anwendung bzw. in der spätestens ab 1930 höchst problematischen Verfassungswirklichkeit der Weimarer Republik begründet waren).
Unmittelbar nach 1945 galt in der deutschen Rechtswissenschaft eine Art Renaissance des „Naturrechts“ (besonders auf dem Gebiet des Strafrechts), eine verstärkte Besinnung auf christliche Traditionen und das sog. allgemeine Sittengesetz. (28)
Diese Rückbesinnung, letztlich auf die Werte der europäischen Aufklärung, sollte natürlich auch (positive) Wirkungen für die Arbeit der Sachverständigen und dann auch der Delegierten des Parlamentarischen Rates haben. Jedoch mussten zunächst einige grundsätzliche Fragen geklärt werden:
„Am Beginn der Verhandlungen stand eine lange und ausführliche Generaldebatte im Plenum. Schmid, welcher in dieser Sitzung den Vorsitz innehatte, eröffnete die Aussprache mit einem Fragenkatalog, welcher den Leitfaden für die folgenden Verhandlungen bilden sollte und welcher auch tatsachlich diejenigen Fragen ansprach, welche den Konvent während seiner gesamten Arbeit begleiteten; – insonderheit: Welche Aufgabe kommt dem Verfassungskonvent zu? Was will der Verfassungskonvent unter dem Grundgesetz verstehen? Entsteht hier ein Staat oder ein Staatsfragment?
Welchen Namen soll das neue Staatsgebilde tragen? Hat das Deutsche Reich Fortbestand, oder ist es spätestens mit der bedingungslosen Kapitulation untergegangen? Wo liegt die originäre Staatsgewalt? Soll ein Grundrechtskatalog in die Verfassung aufgenommen werden? Inwieweit sollenGrundrechte einklagbar sein? Welche Staatsorgane sollen eingerichtet werden?“ (29)
Bedenkt man, dass auf Herrenchiemsee nahezu all diese Fragen in weniger als zwei Wochen nicht nur angesprochen, sondern vielfach auch einer tragfähigen Lösung zugeführt worden sind, die auch die Arbeit im Parlamentarischen Rat günstig beeinflusste, dürfte die eigentliche Bedeutung von Herrenchiemsee einleuchten.
Zu den grundsätzlichen Beratungsergebnissen von Herrenchiemsee gehören z.B. die mehr passive Rolle des künftigen Staatsoberhauptes („Bundespräsidenten“), Stärkung der Regierung gegenüber dem Parlament, indem nur „konstruktive“ Misstrauensvoten zum Sturz einer Regierung führen, genauere Zuständigkeitsabgrenzung „Bund – Länder“ oder auch die Einrichtung eines Bundesverfassungsgerichts.
Eine Besonderheit, die dem Charakter eines „Sachverständigen-Ausschusses“ geschuldet war, ist die Aufnahme von Alternativlösungen bzw. alternativen Vorschlägen.
Dies soll an folgendem Punkt des „Chiemseer Entwurfs“ exemplarisch gezeigt werden:
a) Vorschläge für eine Präambel
Der Verfassungsausschuss stellte zur Einleitung des Grundgesetzes für einen „Bund deutscher Länder“ zwei Formulierungen zur Auswahl:
aa) Mehrheitsvorschlag:
„Das deutsche Volk in den Ländern Baden, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein- Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern durch seine verfassungsmäßigen und gesetzlichen Organe handelnd, erfüllt von dem Willen, alle Teile Deutschlands in einer Bundesrepublik wiederzuvereinigen und seine Freiheitsrechte zu schützen und bestrebt, vorläufig in dem Teile Deutschlands, der durch die Gebiete dieser Länder begrenzt wird, eine den Aufgaben der Übergangszeit dienende Ordnung der Hoheitsbefugnisse zu schaffen, erlässt kraft seines unverzichtbaren Rechtes auf Gestaltung seines nationalen Lebens dieses GG für einen Bund deutscher Länder, die allen anderen Teilen Deutschlands offensteht.“
bb) Minderheitsvorschlag:
„Die Länder Baden, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland- Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern bilden zur Wahrung der gemeinsamen Angelegenheiten des deutschen Volkes eine bundesstaatliche Gemeinschaft, der beizutreten allen übrigen deutschen Ländern offensteht. Diese Gemeinschaft hat die Aufgabe, bis zur Wiederherstellung der deutschen Einheit die Bundesgewalt auszuüben und die Freiheitsrechte der Bevölkerung zu schützen. Die Gemeinschaft führt den Namen „Bund deutscherLänder“. Für den Bund gilt diese vorläufige Verfassung.“
Der Minderheitsvorschlag ging besonders auf die Initiative der Sachverständigen, die das Land Bayern entsandt hatte, zurück; betonte einerseits stärker die föderalistische Struktur und andererseits den Umstand, dass es die Länder aufgrund ihrer spezifischen Staatsgewalt waren, die das provisorische Staatsgebilde errichteten, nicht das Volk als der eigentliche Souverän (an dieser Stelle ging es darum zu betonen, dass zahlreiche Deutsche gar nicht von dem neuen Bund umfasst wurden und somit als „Souverän“ zunächst gar nicht auftreten konnten, aber auch die „völkerrechtliche“ Frage nicht vorweggenommen werden sollte, was eigentlich mit „Deutschland als Ganzes“ zu geschehen habe).
Die Frage nach dem Fortbestand des Deutschen Reiches und damit auch die Thematik „Deutschland als Ganzes“ trieb die meisten der auf Herrenchiemsee versammelten Delegierten um:
„Bereits die erste Sitzung des Unterausschusses offenbarte die Gegensätze ebenso wie den wissenschaftlichen Scharfsinn, welche die Diskussionen prägten. Es ging zunächst um den Fortbestand des Deutschen Reiches – ein Thema, welches zum Ausgangspunkt vieler Grundsatzdebatten wurde. Wortführer waren Carlo Schmid, Hans Nawiasky und Hermann Louis Brill. Zu Beginn erklärte Schmid eingehend, warum diese Frage von erheblicher Bedeutung sei, denn von ihr hänge ab, wie der neue Staat entstehen und von wem er konstituiert würde – kurz: es ging um die Frage nach der verfassunggebenden Gewalt.“ (30)
Im Ergebnis konnte Carlo Schmid mit seiner pragmatischen Sicht durchdringen, wonach Deutschland als Staat bestehen geblieben sei, aber unbedingt neu organisiert werden müsse.
Die Mehrheit der Herrenchiemseer Sachverständigen scheute somit eine weitergehendere Auseinandersetzung mit der Frage nach der Rechtsnatur eines künftigen Weststaates und damit auch bezüglich der „Kardinalfrage“, ob das „Deutsche Reich“ (wenn auch in geänderter Form) über den 8. Mai 1945 hinaus fortbestand. Auch der Parlamentarische Rat war an diesem Punkt nicht besonders diskussionsfreudig, so dass im endgültigen Entwurf des späteren Grundgesetzes die Präambel sehr nah am Mehrheitsvorschlag orientiert gewesen ist.
Hierbei soll auch nicht der pragmatische Ansatz, der in Anbetracht der Gesamtsituation zu Beginn des
„Kalten Krieges“ zum Handeln zwang, unnötig kritisiert werden.
Das eigentliche Problem, das durch ein zumindest implizites Anerkenntnis des Fortbestands des Deutschen Reichs entstehen sollte, liegt in den „Fernwirkungen“.
Dabei geht es nicht nur um das (eventuell) ungelöste Problem von Kriegsreparationen (Polen und Griechenland), sondern mehr darum, dass viele Jahrzehnte nach Gründung der (alten) Bundesrepublik auf einmal sog. „Reichsbürger“ auftreten, die ja letztlich behaupten, dass für sie die heutige Staatsform nicht gelte, weil ja immer noch das alte Deutsche Reich weiterbestehe.
Zur Argumentation des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1973 siehe weiter unten.
b) Artikel 1 des Herrenchiemseer Entwurfs
Neben der Bedeutung der Präambel hat auch die Einleitung zu den Grundrechten im Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee eine große Brisanz.
Auch wenn dieser Entwurfsvorschlag später im Grundgesetz keine unmittelbare Entsprechung gefunden hat, entfaltete folgende Formulierung, die gleich zu Beginn des Abschnitts über die Grundrechte aufgenommen wurde, nachhaltige Bedeutung:
„Artikel 1. (1) Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“
Diese, eine künftige freiheitliche Verfassungsordnung einleitende, verbindliche Feststellung stellte eine radikale Abkehr vom bis 1945 dominierenden „Staatsverständnis“ in Deutschland dar.
Denn bis dahin schwang entweder offen oder zumindest insgeheim bei allen „Gelehrten“ das von dem Philosophen Hegel vorgegebene Verständnis: „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (so in
257 seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts aus dem Jahr 1820) mit.
Selbst die „marxistische“ Auffassung, wonach die gesamte politische Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen sei und der Staat lediglich ein Instrument der Klassenherrschaft darstellen würde (stark vereinfacht), ist noch von dem Hegelschen Diktum geprägt (bekanntlich gelten Marx und seine frühen kommunistischen Mitstreiter, auch der Nichtakademiker Engels, als Junghegelianer, die stark vom preußischen „Staatsphilosophen“ Hegel beeinflusst worden seien.
Von derlei antiquiert wirkenden „Theorien“ abgesehen, liegt die – auch heute noch nachwirkende – Brisanz des vom Konvent vorgeschlagenen Entwurfs zu Artikel 1 darin, dass jede Form eines „Staatsabsolutismus“ unzulässig werden sollte, also die „alte Rangordnung“, erst der Staat, dann dieGesellschaft (als Summe der Individuen) umgekehrt werden sollte (auf die wiederum hiermit verbundenen Fragen und Folgeprobleme kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden).
Zumindest war klar, dass die Delegierten des Herrenchiemseer Konvents mit dieser eindeutigen Formulierung sich ganz klar gegen den NS-Unrechtsstaat stellen wollten.
Auch wenn dieser Absatz im endgültigen Verfassungstext nicht ausdrücklich aufgenommen wurde, gibt es doch direkte Auswirkungen z. B. beim „Rechtsstaatsbegriff“ des Grundgesetzes (s.u.).
c) Besonderheiten bei der Zusammensetzung des Herrenchiemseer Konvents
Gerade weil auf Herrenchiemsee unbestritten Fachleute versammelt waren, die von den Ministerpräsidenten der beteiligten Westzonen-Länder im Prinzip handverlesen bestellt worden waren, lohnt ein näherer Blick auf die knapp über 30 Herren (Frauen waren als offizielle Teilnehmer nicht vorhanden).
Diese unterschieden sich zwischen den amtlich bestellten „Bevollmächtigten“ der Länder (bekannte Namen sind Brill, Pfeiffer und Schmid oder auch Süsterhenn), die zum Teil prominente „Mitarbeiter“ hinzugezogen haben (wie die Bayern mit Th. Maunz), dann gab es noch eine Handvoll „juristischer Sachverständiger“ (der bekannteste Name: Hans Nawiasky) und mit dem Berliner Otto Suhr einen Beobachter ohne Stimmrecht.
Obwohl in der Sache inhaltlich kontrovers, aber lösungsorientiert diskutiert wurde und trotzdem das zeitliche Limit von knapp zwei Wochen eingehalten werden konnte, darf nicht übersehen werden, dass etliche der Teilnehmer von Herrenchiemsee völlig unterschiedliche Erfahrungen in der NS-Zeit gemacht hatten. Manche standen sich 1933/45 sogar unversöhnlich gegenüber (ähnlich wie in der übrigen Gesellschaft im Nachkriegsdeutschland prallten ganz gegensätzliche Lebensläufe aufeinander).
Zu denjenigen, die unstreitig zu den Verfolgten des NS-Regimes oder zumindest nachweislich in Opposition zu den Nazis standen, gehörten u.a. Hermann Louis Brill (amtlich Bevollmächtigter für Hessen, SPD, Staatssekretär und Chef der Staatskanzlei), der u.a. im Konzentrationslager Buchenwald inhaftiert gewesen ist und am „Buchenwalder Manifest“ mitgewirkt hat.
Dann natürlich ein Hans Nawiasky (in den 1920ern Mitarbeiter des noch berühmteren Juristen Hans Kelsen), der von den Nazis „vertrieben“ wurde und lange Jahre im Schweizer Exil lebte, dessen Ruf als ausgezeichneter Verfassungsrechtler dazu führte, dass er 1946 auf persönliche Fürsprache des damaligen Ministerpräsidenten an die Münchner Uni wechselte und für Bayern am Chiemsee gleichsam ein Heimspiel bestreiten durfte; nicht verwunderlich, dass es besonders Nawiasky war, der, in inhaltlicher wie methodischer Übereinstimmung mit Kelsen, die Theorie vom „Untergang des Deutschen Reiches“ als „Völkerrechtssubjekt“ vertrat und sich bei der Frage nach der Präambel für den o.g. „Minderheitenvorschlag“ einsetzte, besonders weil er eine dezidiert föderale Grundhaltung einnahm.
Die „SPD-Ikone“ Carlo Schmid (zu einer Zeit, als es noch echte sozialdemokratische Vorbilder gegeben hat) musste zwar nicht nach 1933 das Land verlassen (wie Brandt oder Wehner), aber zählte unbenommen zur damaligen Opposition gegen den NS-Staat; auch Otto Suhr war teilweiseVerfolgungsmaßnahmen /Repressionen ausgesetzt.
Dann gab es etliche Unterstützer, Mitläufer und Profiteure des NS-Regimes, die aber ebenfalls auf Herrenchiemsee, sowohl unter den „Mitarbeitern“, aber auch als „Bevollmächtigte“ versammelt waren:
Hier sind zu nennen: G. Feine, Th. Kordt, Fr. Edding und ganz besonders Justus Danckwerts – für alle diese Herren gibt es entsprechende Nachweise ihrer Verstrickung, die natürlich auch den anderen Sachverständigen auf Herrenchiemsee bekannt waren.
Und schließlich – wie so oft – existierten verschiedene „Graustufen“, wo es unterschiedliche Nähe/Distanz zum Regime gegeben hat, je nach den zeitlichen, persönlichen und beruflichen Umständen.
Bekanntestes Beispiel war der Staatsrechtler Theodor Maunz, der – trotz seiner Nähe als Uni-Professor zum Regime – auch nach 1945/49 in Amt und Würden blieb und noch etliche Generationen an Jurastudenten (seinerzeit noch eher eine Männerdomäne) unterrichtete (unbestritten mit einem sehr reichen Erfahrungsschatz, den er in Lehrbüchern und Kommentaren auch kommerziell nutzte).
Wie kamen diese ganz unterschiedlichen Männer auf der kleiner Insel im Chiemsee miteinander aus? Viele der SPD-nahen Vertreter schluckten die ihnen vorgesetzten Kröten und blieben höchst professionell, für manche der CDU-nahen Teilnehmer stellte die Veranstaltung einen Vorgriff auf die besonders von Adenauer dann praktizierte Mentalität des „Schluss-Strich-Ziehens“ dar.
Eine richtige Aufarbeitung konnte daher (auch in Anbetracht des engen Zeitfensters) nicht erfolgen.
2) Parlamentarischer Rat
Knapp eine Woche nach Ende des Verfassungskonvents in der bayrischen Provinz ging es in das nicht minder schöne Rheinland. (31)
„Am 1.9.1948 trat der Parlamentarische Rat zu seiner konstituierenden Sitzung in Bonn zusammen und wählte Konrad Adenauer (CDU) zu seinem Vorsitzenden, Adolph Schönfelder (SPD) und Hermann Schäfer (FDP) zu stellvertretenden Vorsitzenden. Von den 65 stimmberechtigten Abgeordneten gehörten je 27 der CDU/CSU und der SPD an, fünf der FDP und je zwei der Deutschen Partei, dem Zentrum und der KPD. Die meisten von ihnen waren langjährige Politiker, die bereits in der Weimarer Republik ihre Erfahrungen sammeln konnten; zwei Drittel von ihnen waren Akademiker,überwiegend Juristen. Ihre Interessenbindungen waren gering; das breite Spektrum gesellschaftlicher Interessen war im Parlamentarischen Rat nicht vertreten. Der relativ homogen zusammengesetzte, überschaubare Kreis der Abgeordneten trug viel dazu bei, dass die Verfassungsberatungen in verhältnismäßig kurzer Zeit bis zum Mai 1949 erfolgreich abgeschlossen werden konnten.“ (32)
Festzuhalten bleibt, dass die 61 „Väter“ und vier „Mütter“ des späteren Grundgesetzes, die als stimmberechtigte Abgeordnete in den Parlamentarischen Rat entsandt worden waren, keine Nationalversammlung wie 1919 in Weimar bildeten; auch wenn sie im Ergebnis die gleiche Aufgabe zu erfüllen hatten.
Es wurden mehrere Ausschüsse (Haupt- und Fachausschüsse) gebildet, die – orientiert an der Vorarbeit des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee – die strittigen Fragen in einer meist sachlichen Atmosphäre ausdiskutierten und nach Lösungen suchten (selbst wenn es mal hitziger wurde, z. B. wenn Theodor Heuss einen der beiden Kommunisten anblaffte, wurde dies nicht aufgebauscht; Heuss hatte ja Autorität und sogar ein Anschiss von ihm auf Schwäbisch hatte seinen eigenen Charme und konnte zu keiner echten Verstimmung führen – so ein großer Unterschied zu heute).
Selbst die Differenzen mit den westlichen Militärgouverneuren (und es waren tatsächlich solche vorhanden, so z. B. beim Thema der Bundeszuständigkeiten) konnten zu keiner Zeit zu einem Abbruch der Verfassungsberatungen führen.
„Trotz großer weltanschaulicher Auffassungsunterschiede war die Mehrzahl der Mitglieder des Parlamentarischen Rates in den Grundsatzfragen des zu beratenden Grundgesetzes einer Meinung. Es bestand Einigkeit unter ihnen, eine demokratische Ordnung auf bundesstaatlicher Grundlage mit rechtstaatlichen Gewährleistungen zu schaffen. Insoweit bedurfte es im Grunde der Richtlinien der westlichen Militärgouverneure nicht, die im Frankfurter Dokument Nr. 1 enthalten waren. Das Grundgesetz wurde ein genuin deutsches Werk, auf das die Besatzungsmächte nur in Einzelfragen Einfluss zu nehmen versuchten. (…)
So sehr sich die Abgeordneten über den provisorischen Charakter der neuen Ordnung einig waren, so wenig war zu übersehen, dass dank deutscher Grundsatztreue und deutscher Gründlichkeit eine Verfassung entstand, deren Vollständigkeit und Perfektion den demokratischen Verfassungen desWestens kaum nachstehen sollten. Je länger die Verfassungsberatungen dauerten, desto mehr trat die Hervorhebung des Provisorischen in den Hintergrund. (…)
Für den zu schaffenden westdeutschen Teilstaat hatte der Herrenchiemseer Verfassungskonvent die Bezeichnung „Bund deutscher Länder“ vorgeschlagen, die vom Parlamentarischen Rat indessen als zu wenig aussagekräftig verworfen wurde. Der Abgeordnete Theodor Heuss (FDP) regte an, denTerminus „Bundesrepublik Deutschland“ zu übernehmen (…). Dieser Vorschlag fand breite Zustimmung.“ (33)
Zu den wesentlichen Inhalten des Grundgesetzes sollten (in Stichpunkten) gehören:
Zunächst die räumliche Beschränkung auf die bisherigen drei Westzonen (elf Länder) unter Anerkennung der Sonderstellung Berlins. „Demokratie“ als Grundprinzip mit folgenden Modifikationen: Zum einen weitestgehender Verzicht auf plebiszitäre Elemente (wegen der negativen Erfahrungenaus der Weimarer Zeit), zum anderen eine repräsentative parlamentarische Demokratie unter besonderer Mitwirkung der politischen Parteien (in Abgrenzung zu den „Volksrepubliken“ des Ostblocks oder auch als Gegensatz zu einem „Sowjet-System“/“Räte-Demokratie“). Andere Strukturmerkmale entsprachen bereits den Beratungsergebnissen von Herrenchiemsee, siehe oben.
Im Gegensatz zur Weimarer Verfassung wurde auf eine ausdrückliche Normierung „sozialer Grundrechte“ und über die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung weitestgehend verzichtet (Ausnahme: Artikel 15 des Grundgesetzes, der als Ermessensvorschrift eine Vergesellschaftung bestimmterProduktionsmittel erlauben würde; aus dem Konjunktiv wurde auf Bundesebene noch nie ein Ernstfall).
Der von allen gewünschte „Rechtsstaat“ wurde ausdrücklich als „sozialer“ definiert (Artikel 28 Abs. 1), was in Verbindung mit Artikel 1 (Menschenwürde) und Artikel 20 Abs. 1 (sozialer Bundesstaat) zu einem echten Novum führen sollte (siehe unten).
Hinsichtlich der Zuständigkeiten des geplanten Bundesverfassungsgerichts, das weit mehr sein sollte als der bisherige „Staatsgerichtshof“, gab es unter den Abgeordneten des Parlamentarischen Rates keine größeren Abweichungen im Vergleich zu den Vorschlägen des Herrenchiemseer Konvents – dieses klare Bekenntnis der Parlamentarier stärkte natürlich auch die Autorität des künftigen obersten (Verfassungs-) Gerichts.
Weitaus mehr Diskussionsbedarf gab es bei Fragen der Organisation des geplanten „Bundesstaates“, insbesondere bei den grundsätzlichen Strukturen und Kompetenzen: Ein verfassungsrechtlicher Themenkomplex, der bereits während der gesamten Zeit der Weimarer Republik für gehörig Zündstoff gesorgt hatte.
„Wochenlang stagnierten die Beratungen, bis man sich auf die Einrichtung eines Bundesrates, bestehend aus Mitgliedern der Regierungen der Länder, verständigte. (…) Nachhaltiger dauerte der Streit über die Mitwirkungsbefugnisse des Bundesrates an. Erst im Februar 1949 gelang es demFünferausschuß, einen Kompromiss vorzuschlagen.“ (34)
Seitdem gibt es die Kanonisierung nach „Zustimmungs“- und „Einspruchsgesetzen“, was insbesondere bei Verwaltungsorganisations- und Finanzfragen bis heute große Bedeutung hat.
Nachdem alle Streitfragen, auch die wenigen, die es mit den Besatzungsmächten noch im März 1949 tatsächlich gegeben hat, ausgeräumt werden konnten und auch der letzte redaktionelle „Feinschliff“ erfolgt war, ging es dann Anfang Mai 1949 zu Abstimmung über die Annahme der neuen Verfassung:
„Der Hauptausschuss legte letzte Hand an den Entwurf des Grundgesetzes, der im Plenum in dritter Lesung am 8.5.1949 mit 53 gegen 12 Stimmen angenommen wurde. Die Abgeordneten der Deutschen Partei, des Zentrums und der KPD sowie sechs Abgeordnete der CSU votierten gegen das Grundgesetz.
Am 12.5.1949 genehmigten die drei westlichen Militärgouverneure das beschlossene Grundgesetz, erhoben jedoch einige Vorbehalte, die indessen den Text des Grundgesetzes nicht änderten. [Anm.: Dabei ging es besonders um die Stellung Berlins bzw. in welchem Umfang Vertreter Berlins an den Gesetzgebungskörperschaften beteiligt sein sollten] Insoweit wurden der Anwendung des Grundgesetzes Grenzen gesetzt. Im Übrigen stimmten die Militärgouverneure zu, dass das Grundgesetz dem deutschen Volk zur Ratifizierung gemäß Art. 144 I GG unterbreitet wurde. Sie verzichteten damit auf die im Frankfurter Dokument Nr. 1 geforderten Volksabstimmungen in den Ländern und gaben sich mit der Annahme des Grundgesetzes durch die Länderparlamente zufrieden.
In zehn Ländern ergaben die Abstimmungen deutliche Mehrheiten für die Annahme des Grundgesetzes. Lediglich der bayrische Landtag lehnte das Verfassungswerk mehrheitlich ab, sprach sich jedoch dafür aus, das Grundgesetz auch in Bayern verbindlich anzuerkennen. Nachdem mehr als zweiDrittel der Länderparlamente das Grundgesetz gutgeheißen hatten, stand seiner Ausfertigung und Verkündung in der feierlichen Schlußsitzung am 23.5.1949 nichts mehr im Wege. Tags drauf trat das neue Verfassungswerk in Kraft.
Der Parlamentarische Rat entschied sich am 10.5.1949 mit knapper Mehrheit für Bonn als vorläufigen Parlaments- und Regierungssitz und verabschiedete am gleichen Tag das Wahlgesetz zum Ersten Deutschen Bundestag und zur ersten Bundesversammlung.“ (35)
Somit sind die grundsätzlichen Wegmarken bei den Beratungen zum Grundgesetz und der Gründung der (alten) Bundesrepublik nachgezeichnet. Auf „technische“ Verfassungsfragen soll in diesem Überblick nicht weiter eingegangen werden. Interessant sind aber ganz bestimmte Entwicklungen, die nach Inkrafttreten des Grundgesetzes stattgefunden haben.
3) Entwicklung in der Ostzone, Entstehung/Untergang der DDR-Verfassungen
Die Gründung der Bundesrepublik 1949 setzte automatisch auch einen politischen Prozess in der „sowjetisch besetzten Zone“ (Ostdeutschland) in Gang, der im Oktober 1949 zur Gründung der „Deutschen Demokratischen Republik“ führte.
Vom Ende her betrachtet, ist die DDR als Völkerrechtssubjekt mit dem Beitritt zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 (womit der vorher relativ zügig ausgehandelte „Einigungsvertrag“ in Kraft gesetzt wurde) untergegangen. Verfassungsrechtlich – ausdrücklich nicht politisch, worauf an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann – sind folgende Punkte von besonderen Interesse:
a) Beitritt nach Artikel 23 Grundgesetz
Die von der damaligen Bundesregierung Kohl favorisierte Lösung über Art. 23 Satz 2 GG in der alten Fassung hatte zumindest den Vorteil, dass viel Zeit gespart werden konnte. Doch eigentlich war nach Artikel 146 GG (alte Fassung) ein anderer Weg vorgezeichnet.
Die 1949 angestrebte Wiedervereinigung sollte mit einer neuen Verfassungsentscheidung, die dann vom gesamten deutschen Volk ausgehen sollte, begleitet werden; das war mit dem Topos „Provisorium“ ursprünglich gemeint und von allen im Parlamentarischen Rat vertretenen Abgeordneten auch genau so verstanden worden.
Die allgemeine politische Entwicklung hatte dann knapp 41 Jahre später eine andere Lösung als opportun erscheinen lassen bzw. die Sachzwänge führten dann zu den im Einigungsvertrag skizzierten Weg.
Es sollte sich der besonders im Völkerrecht entwickelte Rechtssatz von der normativen Kraft des Faktischen bloß bestätigen; die an den „Zwei-plus-Vier-Verhandlungen“ beteiligten Nationen hatten im Übrigen auch keine Bedenken gegen den von der Kohl-Regierung favorisierten Weg zur Wiedervereinigung.
Theoretisch hätte der im Herbst 1990 gewählte Weg zur Verwirklichung der deutschen Einheit eigentlich auch knapp 34 Jahre später überhaupt keine allgemein-politische Relevanz mehr haben sollen, würde es in
„Ostdeutschland“ nicht spätestens seit Herbst 2015 (Stichwort „Massenzuwanderung“ und „Pegida“) eine Strömung geben, die grundsätzlich die gesamte politische Entwicklung Deutschlands in Frage stellt.
Auf Einzelheiten, die natürlich individuell wie regional auch ganz verschieden sein können, soll hier nicht eingegangen werden. Aber wenn die, zum Glück noch vorhandenen, umsichtigen Politiker vor Ort darauf hinweisen, dass in den Schulen etc. das Wissen und Verständnis um die DDR und die damaligen Verhältnisse immer mehr schwindet, zeigt dies, wie wichtig die Überlieferung der eigenen Geschichte der Ost- deutschen ist. Nur so können neue Gräben zwischen Ost und West vermieden werden.
b) Die drei DDR-Verfassungen
Auch wenn die Bedingungen für den Verfassungsgebungsprozess in der damaligen Ostzone ganz andere als in den Westzonen gewesen sind, hat es dennoch auch Zusammenhänge gegeben, zumindest nach Beendigung der Blockade Westberlins im Mai 1949.
Bereits 1947/48 hat es im Rahmen der sog. Volkskongreßbewegung eine bewusste Steuerung politischer Kräfte gegeben, die besonders von der künftigen Staatspartei „SED“, die selbst bereits im Jahr 1946 aus dem zwangsweise erfolgten Zusammenschluss von Kommunistischer Partei und derOst-SPD hervorgegangen war, beeinflusst bzw. gelenkt worden waren.
Ein im Mai 1949 „gewählter“ Volksrat hatte den Auftrag, eine provisorische Volkskammer zu bilden, die eine eigene DDR-Verfassung zu verabschieden hatte. Allerdings handelte es sich bei der Mai-Wahl mehr um eine Abstimmung, ob man den „Volkskongreß“ bejahte oder nicht (selbständigeParteien standen nicht zur Wahl, so dass es auch keinen „Wettbewerb“ geben konnte).
Auch die von der Volkskammer ausgearbeitete (erste) DDR-Verfassung wurde nicht im Rahmen einer üblichen Wahl durch die Bevölkerung angenommen, sondern am 7. Oktober 1949 von der Volkskammer verabschiedet. Zuvor – im September 1949 – hatte es zwecks Abstimmung (Entgegennahmevon Anweisungen) ein separates Treffen der SED-Führung mit der politischen Spitze der UdSSR gegeben.
Auf den ersten Blick könnte man sagen, dass auch in der Ostzone die Wähler lediglich mittelbar am Entstehungsprozess der neuen Verfassung beteiligt waren; doch im Gegensatz zu den Westzonen, in denen die 65 Abgeordneten des Parlamentarischen Rates von den zuvor bereits demokratisch gewählten Landtagen entsandt worden waren, wurden die damals vorhandenen fünf Landtage der Sowjetzone erst am 10. Oktober 1949 in den verfassungspolitischen Prozess eingeschaltet (sie durften eine „Länderkammer“ bestücken).
War die „demokratische“ Legitimation des Grundgesetzes durch den eigentlichen Souverän (dem Volk) in den drei Westzonen schon relativ gering, ging diese in der Ostzone bei der Verabschiedung der ersten DDR- Verfassung gegen Null.
Durften die Westdeutschen den ersten Bundestag immerhin schon im August 1949 wählen, wurden die Ost- deutschen auf Oktober 1950 vertröstet, bis zur ersten offiziellen Wahl einer DDR-Volkskammer.
Zu den Besonderheiten der 1949er-DDR-Verfassung ist rasch festzustellen, dass diese – ebenfalls auf den ersten Blick – erstaunlich nah an vielen Formulierungen des Grundgesetzes herankommt, ja geradezu liberal und „pluralistisch“ anmutet.
Wesentliche Strukturmerkmale sind mit denen des Grundgesetzes nahezu identisch: „Demokratie“, besonders Volkssouveränität und Mitwirkungsrechte der Bevölkerung, „Republik“ und sogar ein Großteil der
„bürgerlich“ geprägten Grundrechte wurden (formal) in diese Verfassung aufgenommen und theoretisch gewährleistet. Ein realistischer Blick in die damalige „Verfassungswirklichkeit“ und dem tatsächlichen politischen Leben in der DDR der 1950er Jahre förderten ein ganz anderes Ergebnis zutage.
Hierzu zählt auch die unbestreitbare Tatsache, dass bis zum Mauerbau 1961 ca. drei Millionen DDR-Bewohner dieses Land durch „Flucht“ verlassen haben, eigentlich eine staatspolitische Bankrotterklärung. Hierauf musste die poststalinistische SED-Führung (alles noch unter Ulbricht) reagieren: zunächst im August 1961 der Mauerbau, dann 1967 ein neues „Staatsbürgerrecht“ der DDR, mit dem der Erlass der zweiten DDR-Verfassung von 1968 eingeleitet werden sollte. Darin wurde nicht nur die bis dahin vertretene These von einer einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit aufgegeben, sondern – ganz im Zeitgeist der 1960er Jahre – ein genuin sozialistisches Weltbild kreiert: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat“, so der neuformulierte Artikel 1 der DDR-Verfassung von 1968.
In der ersten DDR-Verfassung von 1949 wurde in Art. 1 noch ein unteilbares Deutschland beschworen; so änderten sich die Zeiten bzw. das politische Bewusstsein: die DDR war ihrem Selbstverständnis nach nicht mehr Bestandteil der alten deutschen Nation – für die DDR-Obrigkeit war spätestens mit 68er Verfassung auch das Deutsche Reich untergegangen.
Die dritte und letzte DDR-Verfassung von 1974 stellte dafür den sozialistischen Internationalismus und die unwiderrufliche Verbindung mit der UdSSR in den Mittelpunkt.
Der nunmehr starke Mann der DDR, Genosse Honecker, wollte sich mit einer eigenen Verfassung in die Galerie der großen Staatsmänner einreihen, immerhin hatte es die DDR unter seiner Führung 1973 geschafft, in die Vereinten Nationen aufgenommen zu werden.
Die letzten knapp 15 Jahre bis zum Spätherbst 1989 sollten dann von einem florierenden „Gefangenenfreikauf“ zwischen BRD und DDR gekennzeichnet sein (für Nachschub, damit dieses „Geschäftsmodell“ nicht zum Erliegen kam, sorgte schon die Staatssicherheit zur vollsten Zufriedenheit der SED).
Was bleibt von dem zweiten Staat auf deutschem Boden nach 1949, von drei Verfassungen abgesehen? Leider – immer noch – bei vielen Ostdeutschen ein Gefühl, nur zweiter Sieger geworden zu sein; „blühende Landschaften“ nur für westliche Geschäftemacher. Und der ehemals sozialistischeBruderstaat, angebliches Vorbild und Heimstätte für alle Werktätigen? Moskau: Thank you for nothing!
Ohne die zahlreichen Opfer der Roten Armee bei den verlustreichen Kämpfen gegen Hitlers Wehrmacht (von der Waffen-SS ganz zu schweigen) herabsetzen zu wollen, doch spätestens unter Stalin hatte sich die Sowjetunion selbst nicht nur zu einer Diktatur, sondern auch zu einem zweitenUnrechtsstaat entwickelt – eine Beschreibung, die zumindest abgewandelt, auch für die DDR gilt (nicht nur in Bautzen wurden die Menschenrechte mit Füßen getreten). Der Zustand des postkommunistischen Russland des Jahres 2024 spricht daher auch Bände. (36)
Zumindest für die außenpolitische Betrachtung beider deutscher Teilstaaten ab 1949 gilt der Befund, dass BRD wie DDR noch längere Zeit unter einem Besatzungsregime standen, das durch entsprechende Statuten gekennzeichnet gewesen ist.
Für die (alte) Bundesrepublik gab es zumindest 1955 eine erste außenpolitische Bewegungsfreiheit, als mit der Aufnahme ins westliche Verteidigungsbündnis eine Normalisierung auch in den diplomatischen Beziehungen eintreten konnte (Bundespräsident Heuss war danach gern gesehener Gast auf dem internationalen Parkett).
VII) Ausgewählte Schwerpunkte des Grundgesetzes
Obwohl es sicher zahlreiche theoretisch interessante und verfassungspolitisch wichtige Merkmale in unserer Verfassung gibt und das Grundgesetz viele wichtige Entwicklungen angestoßen hat (oft unter maßgeblicher Mitwirkung des Bundesverfassungsgerichts – manchmal auch mit wenigerpositiven Auswirkungen, siehe nur die Peinlichkeiten bei der „Grundsteuerreform“), können an dieser Stelle die allgemeinen Strukturmerkmale: Demokratie, Rechtsstaat oder Föderalismus nicht näher vertieft werden (hierfür gibt es auch besondere Fachliteratur). Aber folgende Punkte verdienen dennoch eine nähere Betrachtung.
1) Sozialstaatsprinzip als Anspruchsgrundlage
Ähnlich wie bei der in Artikel 1 Absatz 1 GG garantierten Unantastbarkeit der Menschenwürde, gibt es auch bei anderen „Tatbestandsmerkmalen“ Probleme, wenn nicht gar Schwierigkeiten, diese konsensfähig zu definieren und dann auch verbindlich auszulegen bzw. in der Rechtspraxis anzuwenden.
Zusätzliche Brisanz erhalten solche Rechtsfragen, wenn sie Merkmale/Grundsätze berühren, die über Art. 79 Abs. 3 GG (sog. Ewigkeitsklausel) einer Verfassungsänderung entzogen sind.
Hierzu zählt auch der in Artikel 20 Abs. 1 GG normierte Begriff „sozialer Bundesstaat“.
Lässt sich anhand der deutschen Tradition noch relativ schnell (zumindest im Grundsätzlichen) Einverständnis über die Frage erzielen, wie sich ein Bundesstaat von einem Einheitsstaat (wie z.B. Frankreich) abgrenzen lässt, also Föderalismus versus Zentralismus, wird dies beim Begriff des „Sozialstaates“ ungleich schwerer.
Vor allem geht es um die Problematik, ob aus dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes konkrete Ansprüche des einzelnen Bürgers hergeleitet werden können (und lassen sich solche auch – in „Mark und Pfennig“ – quantifizieren)?
Diese Frage wurde bereits früh aufgeworfen und insbesondere in der sog. Forsthoff-Abendroth-Debatte kontrovers diskutiert (und im Prinzip bis heute nicht verbindlich gelöst, siehe nur die Diskussionen in der aktuellen „Ampelkoalition“ bei bestimmten Leistungen, wie der Kindergrundsicherung).
Ernst Forsthoff und Wolfgang Abendroth haben sich bereits in den 1950er Jahren gestritten, ob „Sozialstaat“ ein echter Rechtsbegriff ist, der als solcher geeignet sei, den Staat verbindlich zu verpflichten.
An dieser Stelle kann auf Einzelheiten dieser Kontroverse nicht eingegangen werden; doch allein schon die beiden Personen machen deutlich, dass es bei dem Diskussionsgegenstand ans „Eingemachte“ gegangen ist:
Forsthoff, ein konservativer Vertreter des Rechtspositivismus, hatte während der NS-Zeit als Staatsrechtslehrer aus der Schmitt-Schule Karriere gemacht, nach 1945/49 seine eher rückwärtsgewandte Position beibehalten können – im Gegensatz zu Abendroth, der im „Dritten Reich“ zum Widerstandzählte und auch Verhaftungen etc. ausgesetzt war, und einen deutlich „politischeren“ Ansatz wählte. (37)
Forsthoff und Abendroth repräsentieren somit zwei völlig konträre Lager, sowohl auf die rechtswissenschaftliche Methodik bezogen als auch hinsichtlich der Parteipolitik.
Wer mit Forsthoff dem Begriff vom Sozialstaat einen selbständigen Rechtscharakter abspricht, lehnt dann natürlich auch viel eher „Sozialleistungen“ ab oder vertritt die Auffassung, wonach Sozialleistungen nur nach „Kassenlage“ gezahlt werden dürften.
Die andere Auffassung zielt darauf ab, dass das Grundgesetzt insgesamt eine Werteordnung postulieren möchte, in der die wesentlichen Merkmale aufeinander bezogen sind.
Wenn man die Gewährleistung der Menschenwürde an einen nicht bloß formalen Rechtsstaatsbegriff anknüpft, sondern „Rechtsstaat“ als humanitäre Werteordnung betrachtet, ergeben sich nahezu zwangsläufig entsprechende Aufgaben, die über ein antiquiert rechtspositivistisches Denken weit hinausgehen.
Insoweit hat ein Wandel im Wesen der Staatlichkeit stattgefunden, der sich ja bereits in den Vorarbeiten des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee angekündigt hatte.
Mit dem (zumindest Juristen) bekannten Verfassungsrechtler Konrad Hesse kann das im Grundgesetz normierte Prinzip des „sozialen Rechtsstaats“ beschrieben werden,
„daß die Aufgaben des Staates sich nicht mehr im Schützenden, Bewahrenden, nur gelegentlich Intervenierenden erschöpfen. Der Staat des Grundgesetzes ist planender, lenkender, leistender, verteilender, individuelles wie soziales Leben erst ermöglichender Staat, und dies ist ihm durch die Formel vom sozialen Rechtsstaat von Verfassungswegen als Aufgabe gestellt.“ (38)
Um diese besonderen Aufgaben erfüllen zu können, stellt Hesse auf eine Art doppelte „Sozialpflichtigkeit“ ab: des Gemeinwesens gegenüber den Individuen, aber auch auf „Sozialpflichtigkeiten der Glieder des Gemeinwesens untereinander sowie gegenüber dem Gemeinwesen“, wodurch der Staaterst befähigt werde, seine zahlreichen Sozialaufgaben zu erfüllen. (39)
Allerdings bleibt zumindest für die Praktiker sowohl unter den Sozial- wie den Finanzpolitikern ein großes Problem: Die humanistischen Grundsätze, die die Werteordnung des Grundgesetzes repräsentieren möchte und auch im Kern des Sozialsstaatsprinzips enthalten sind, geraten dann insWanken, wenn diese auf ein völlig übersteigertes Anspruchsdenken stoßen, nach dem Motto: Die soziale Hängematte als Füllhorn für jede individualistische Marotte.
Das führt nicht nur zu verhärteten Fronten zwischen Antragstellern für bestimmte Leistungen, die grundsätzlich notwendig sind, und anderen, die lediglich Mitnahmeeffekte generieren wollen; und auf der anderen Seite bleibt das grundsätzliche Problem der Finanzierbarkeit zumindest der existentiellen Ansprüche.
2) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur staatsrechtlichen Fundierung
Wie bereits an anderer Stelle angesprochen, blieb auch noch weit über den 8. Mai 1945 hinaus die Frage nach der Rechtslage bzw. dem Fortbestand des Deutschen Reiches unklar.
Schon zu Beginn der „Potsdamer Konferenz“ Mitte Juli 1945 konnten sich die „Großen Drei“ nur auf eine Kompromissformel einigen: „Deutschland in den Grenzen vom 31.12.1937“.
Alles weitere blieb im Prinzip dem faktischen Ablauf der Geschehnisse überlassen:
Fragen zum genauen Grenzverlauf, der völkerrechtlichen Vertretung (soweit beide deutschen Teilstaaten überhaupt in der Nachkriegszeit in internationalen Gremien vertreten waren), dann natürlich zur Staatsangehörigkeit und vieles mehr.
Solange aber aufgrund der geopolitischen „Großwetterlage“ auch keine Friedensverhandlungen wenigstens vorbereitet worden sind, bei denen auch heikle Punkte, wie Regress- bzw. Wiedergutmachungsansprüche, hätten verhandelt werden können, brauchte sich auch niemand von den vier Siegermächten um diesen Themenkomplex kümmern. Insoweit konnte auch offen bleiben, wer derartige Friedensverhandlungen von deutscher Seite hätte wirksam führen sollen; es bestand keine Veranlassung, nach einer Antwort zu suchen. Als dann 1955 sowohl die BRD in die Nato und die DDR in den Warschauer Pakt aufgenommen wurden, hatte dies lediglich innerhalb dieser Bündnisse Folgen gehabt; den jeweiligen Partnerländern waren Rechtsfragen zum Schicksal „Gesamtdeutschlands“ als Völkerrechtssubjekt gleichgültig (egal ob eine Zweistaatentheorie, wie von der DDR bevorzugt, oder die Lehre vom Fortbestand des Reiches, wie die führenden Vertreter der BRD proklamierten und dabei auf ihrem Alleinvertretungsanspruch beharrten).
Erst mit dem Regierungsantritt von Bundeskanzler Brandt und dem Beginn der „neuen Ostpolitik“ kam ab 1970 Bewegung in diese Frage. Beide deutschen Teilstaaten sahen die Notwendigkeit, ihre Beziehungen auf einer internationalen Ebene zu regeln – die realistischen Aussichten, nach über 20Jahren der faktischen Teilung (Zweistaatlichkeit) zeitnah die Wiedervereinigung zu erreichen, lagen um 1970 bei Null.
Daher wurde im sog. Grundlagenvertrag von 1972 festgelegt, dass beide deutschen Staaten „gutnachbarliche“ Beziehungen auf Grundlage der Gleichberechtigung anstrebten (was letztlich auch die Voraussetzung für die Aufnahme in die Vereinten Nationen war).
Die damalige Opposition im Bundestag klagte gegen diesen Grundlagenvertrag vor dem Bundesverfassungsgericht, so dass das höchste westdeutsche Gericht (auch nicht zum ersten Mal) zu grundsätzlichen Fragen deutscher Staatlichkeit Stellung nehmen musste.
In seinem berühmten Urteil vom 31. Juli 1973 (in der amtlichen Sammlung in Band 36 ab S. 1 abgedruckt) führte das Bundesverfassungsgericht folgendes aus:
„Das Grundgesetz – nicht nur eine These der Völkerrechtslehre und der Staatsrechtslehre – geht davon aus, daß das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist; das ergibt sich aus der Präambel, aus Art. 16, Art. 23, Art. 116 und Art. 146 GG. Das entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des BverfG, an der der Senat festhält. Das Deutsche Reich existiert fort (…), besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit, ist allerdings als Gesamtstaat mangels Organisation, insbesondere mangels institutionalisierter Organe selbst nicht handlungsfähig. Im Grundgesetz ist auch die Auffassung vom gesamtdeutschen Staatsvolk und von der gesamtdeutschen Staatsgewalt `verankert´ (…). Verantwortung für „Deutschland als Ganzes“ tragen – auch – die vier Mächte (…).
Mit der Errichtung der Bundesrepublik Deutschland wurde nicht ein neuer westdeutscher Staat gegründet, sondern ein Teil Deutschlands neu organisiert … Die Bundesrepublik Deutschland ist also nicht `Rechtsnachfolger´ des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat `Deutsches Reich´, – in Bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings `teilidentisch´, so dass insoweit die Identität keine Ausschließlichkeit beansprucht.“
Nach höchstrichterlicher Auffassung war also (zumindest in den frühen 1970er Jahren) das Deutsche Reich als „staatliches Subjekt“ immer noch existent, wenn auch handlungsunfähig, die BRD bezogen auf Staatsgebiet und Staatsvolk „teilidentisch“ mit dem Reich, aber insbesondere keine Rechtsnachfolgerin.
Hieraus folgte dann u.a.:
„Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verpflichtete die Staatsorgane der Bundesrepublik, am Fortbestehen des Deutschen Reiches und an dem Gebot der Wiedervereinigung festzuhalten.“ (40)
Letzteres dürfte wohl auch die (noch heute) maßgebliche Begründung bzw. Legitimierung für das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sein: Es waren Gründe der Staatsräson, die im Ergebnis für das konkrete Urteil des höchsten deutschen Gerichts sprachen.
Wenn sich nunmehr 50 Jahre später sog. Reichsbürger auf eben den Fortbestand des „Deutschen Reiches“ glauben berufen zu können, um ihre Ablehnung der aktuellen Staatlichkeit Deutschlands zu rechtfertigen, ist dies natürlich reine Augenwischerei: Die meisten dieser Witzblattfiguren wollen nur ihre Geschäfte betreiben, indem sie eigens gedruckte Dokumente (Ausweise, Führerscheine etc.) an den Mann und die Frau bringen wollen oder um sich vor Steuernachforderugen und Bußgeldern zu drücken.
Selbst wenn die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts vor über 50 Jahren heute etwas irritieren
mögen, weder die höchsten Richter noch verantwortliche Repräsentanten des heutigen Staates werden auch nur im Geringsten Anlass zu Zweifeln an der grundsätzlichen Legitimation der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Verfassung geben wollen.
VIII) Fazit
Als am 8. Mai 1949, genau vier Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht und dem Untergang des NS-Unrechtsstaates (was nicht gleichzusetzen ist mit der Ideologie des Faschismus, die durchaus bis heute fortbesteht), im Parlamentarischen Rat in Bonn in der entscheidendenAbstimmung der Entwurf zum Grundgesetz angenommen wurde, so dass dieses am 23. Mai in Kraft treten konnte, hatten viele der daran beteiligten Abgeordneten zum einen das Gefühl, etwas Besonderes erreicht zu haben, zum anderen auch eine gewisse Unsicherheit, wie es denn nun weitergehen sollte.
Die Damen und Herren konnten relativ schnell beruhigt werden, der „westdeutsche“ Michel hatte – auch dank der wirtschaftlichen Vorteile, die mit der Westbindung einhergingen -, wenig zu meckern und konnte sich auch schnell mit der neuen Situation arrangieren; wie die Dinge sich hätten entwickeln können, wäre das „Wirtschaftswunder“ der 1950er Jahre ausgeblieben oder hätte sich die DDR als attraktivere Alternative entpuppt ? Man wird es niemals erfahren und aus Sicht der ehemaligen DDR-Bürger wird sich auch niemand einen alternativen Kausalverlauf wünschen.
Das Grundgesetz selbst stellt – entgegen manch fadenscheiniger Behauptung des Gegenteils – eine vollwertige Verfassung dar, die aber durchaus in ihrer Entwicklung bzw. an manchen Stellen gewisse Legitimationsprobleme aufweist. Im Gegensatz zur Theorie oder auch der westlichenVerfassungstradition wurde zu Beginn der Beratungen zum Grundgesetz auf Wahlen zu einer „Verfassunggebenden Versammlung“ (so wie im Januar 1919) verzichtet; einerseits hatte dies zeitliche Gründe, andererseits sollte ja „bloß“ ein Provisorium ausgearbeitet werden, so dass man durchaus davon ausgehen konnte, auf einen Wahlkampf, der ja mit der Wahl zu einer Art „Nationalversammlung“ unweigerlich verbunden gewesen wäre, verzichten zu können. Auf der anderen Seite gestattete die im August 1949 erfolgte erste Bundestagswahl ohne Weiteres eine nachgeholte „Abstimmung“ über das erst kurz vorher in Kraft getretene Grundgesetz.
Wie der Ausgang der ersten Bundestagswahl auch jedem Gehirnprothesenträger von rechts außen zeigen dürfte, waren die westdeutschen Bürger mit der vorgefundenen Situation im Ergebnis einverstanden (ein Blick auf die damals zur Wahl stehenden Parteien zeigt im Übrigen auch ein sehrheterogenes „Weltbild“).
Gewisse Abstriche waren damals dennoch angezeigt:
Zum einen stand der gesamte Verfassungsgebungsprozess in den Westzonen unter Genehmigungsvorbehalt der drei Militärgouverneure (auch wenn dies unterm Strich keine wirkliche Beeinflussung darstellte).
Aufgrund der geopolitischen Umstände waren bei der Konstituierung des Grundgesetzes nicht unerhebliche Teile des „Souveräns“ ausgeschlossen: Millionen späterer DDR-Bürger schauten wortwörtlich in die Röhre. Die Frage, welche der beiden „Teilidentitäten“ völkerrechtlich verbindlich waren, blieb viele Jahrzehnte offen und wurde erst mit der gleichzeitigen Aufnahme von BRD und DDR in die Vereinten Nationen indirekt gelöst. Davon abgesehen, war „Deutschland als Ganzes“ auch 1973 immer noch „Feindstaat“.
Dann kam die „Wendezeit“ 1989/90; für einige, besonders aus der Szene der Bürgerrechtsbewegung in der DDR, Zeichen der Hoffnung auf eine neue, vielleicht gesamtdeutsche Verfassung (so wie ursprünglich 1949 in Artikel 146 GG angedacht).
Auch hier waren es geopolitische Umstände, die eine umfassendere Auseinandersetzung mit dem Thema Neugestaltung einer deutschen Verfassung verhinderten; besonders mal wieder ein enges Zeitfenster (bereits im Sommer 1991 gab es mit der Auflösung der Sowjetunion eine völlig veränderte Weltlage).
Wenn es um die Akzeptanz der heutigen Verfassungsordnung geht, gilt nach wie vor das bereits seit vielen Jahrzehnten bekannte Böckenförde-Theorem: Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann (Ernst-Wolfgang Böckenförde, u.a. ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht).
Somit gehört es zu den „staatsbürgerlichen Obliegenheiten“ der (insbesondere wahlberechtigten) Bevölkerung Deutschlands, die für eine freiheitliche (pluralistische) Demokratie nötigen Grundbedingungen selbst einzuhalten – seit der Epoche der „Aufklärung“ hilfreich: Kants „kategorischerImperativ“, der wenigstens als Richtschnur bzw. eine Art Kompass dienen könnte.
Oder zugespitzt formuliert: Eine Staatsgewalt, die insgesamt nicht akzeptiert wird, kann auch nicht auf Dauer bestehen; ebenfalls eine Erkenntnis aus der Zeit der frühen Aufklärung, vergleiche sinngemäß u.a. Spinoza. (41)
Denn wenn die Kluft zwischen denjenigen, die den Staat, genauer gesagt die institutionalisierten Organe des Staatswesens, repräsentieren (sollen) und den rechtlich Unterworfenen („das Volk“) immer größer wird – oft auch nur gefühlt, gar nicht realiter –, dann schwindet die nötige Akzeptanz. Dies führt dann zu einem immer größeren Vertrauensverlust, ein Zustand von Desintegration kann sich einstellen.
Vor allem, wenn vielen Zeitgenossen eine „Verfassung“ nur als ein Stück Papier erscheint, das ohnehin jederzeit problemlos ignoriert werden kann: Zumindest eine der Lehren aus der Zeit nach 1933.
Nicht ohne Hintergedanken hat die Mehrheit im Parlamentarischen Rat 1949 in Artikel 79 Abs. 3 des Grundgesetzes die sog. Ewigkeitsklausel für bestimmte Verfassungsgrundsätze aufgenommen. (42)
Ein Beitrag zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes kann nicht ohne kurzen Blick in die Zukunft beendet werden; natürlich besitzt niemand die „berühmte Glaskugel“ – so lässt sich auch nur schwer abschätzen, ob in 75 Jahren immer noch die heutige Verfassungsordnung Bestand haben wird.
Leider bleibt auch unklar, wo die (frühere) „Schutzmacht“ und das (ehemals) strahlende Vorbild, die Vereinigten Staaten von Amerika, hinsteuern.
Selbst die – besonders in deutschem Interesse liegende – Europäische Union hat bisher nicht die in sie gesetzten Hoffnungen erfüllen können – was auch an der fehlenden Information/Kenntnis der EU-Bürger über die tatsächlich geltenden verfassungsrechtlichen Grundlagen der EU liegen dürfte. (43)
Thomas Fuchs, Assessor iur., Rechtshistoriker
Anmerkungen:
1) Hier abgedruckt: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/hugo-preuss/
2) Hierzu näher: Willoweit, S. 364.
3) Zur EAC, ihrer Gründung im Oktober 1943 und Tätigkeit danach bis weit ins Jahr 1945 siehe ausführliche Darstellung bei Kowalski, VfZ 1971, S. 261 ff.
4) Zu den wichtigen „Zonenprotokollen“ der EAC im Überblick bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Zonenprotokoll
5) Zur Konferenz von Jalta: https://de.wikipedia.org/wiki/Konferenz_von_Jalta
6) Winston Churchill, der erzkonservative Royalist, einerseits und Josef Stalin, machtversessener Bolschewiki, dessen Ideologie, deren Grundlage auf Lenins Avantgarde-Konzept von 1902/03 zurückgeht, eine eigentümliche Nähe zum faschistischen Gesellschaftsmodell (Unterdrückung demokratischer Strukturen, Verleugnung individueller Freiheitsrechte, dafür eine extreme Überbetonung der „Staatsmacht“) hatte, andererseits hätten unter „normalen“ Umständen keinen größeren Gegensatz bilden können. Lediglich die (erst ab Sommer 1941) gemeinsame Kriegsgegnerschaft zu Hitlerdeutschland führte zu einem reinen Zweckbündnis. Beide Männer waren sicher keine „Menschenfreunde“; Churchill jedoch wird man wenigstens zwei Umstände („Pluspunkte“) anrechnen dürfen: Er hat mit einer gehörigen Portion Coolness den Briten 1940 einen beinahe unerschütterlichen Durchhaltewillen eingeimpft, damit diese den Bomenterror der deutschen Luftwaffe durchstehen konnten. Und dank seiner Abneigung bzw. seines tiefsitzenden Misstrauens Stalin gegenüber war Churchill einer der ersten, die vor der künftigen Unterdrückungspolitik der Sowjetunion in Osteuropa warnten (bereits am 12. Mai 1945 verwendete er in einem Telegramm an den neuen US-Präsidenten Truman die später allgemein gebräuchliche Formulierung vom „eisernen Vorhang“). Dass unsere britischen Freunde einen typisch insulanen Sinn für Humor haben, bewiesen die damaligen Wähler, als sie im Sommer 1945 einen politischen Gegner Churchills zu dessen Nachfolger als Premierminister wählten (auch so kann Demokratie funktionieren). Dieser hegte aber keinen echten Groll, sondern startete ein erfolgreiches Comeback; auch in der Welt der Literatur (Nobelpreis) reüssierte Churchill. Und Josef Stalin? Zumindest die gesamte freie Welt war froh, als dieser 1953 verstarb.
7) So bei Benz, Potsdam 1945, S. 64.
8) Siehe hierzu Frotscher/Pieroth, Rn. 694f.
9) Das gesamte „Potsdamer Abkommen“ findet sich u.a. bei Benz, Potsdam 1945, S. 207 – 225. Zur Potsdamer Konferenz: Potsdamer Konferenz – Wikipedia
10) Siehe hierzu z.B. bei Graml, S. 120 – 128.
11) Zitiert nach Benz, Deutschland 1945 – 1949, IzpB 259, S. 40; weite Teile dieser Rede sind dort auf S. 41 abgedruckt, mit weiteren Nachweisen.
12) Benz, a.a.O., S. 40f.
13) Benz, a.a.O., S. 42. General Clay war auch für den sog. Demontagestopp während einer längeren Unterbrechung der Pariser Außenministerkonferenz verantwortlich, womit er die Sowjets bewusst verärgerte und vor allem eine neue politische Dynamik in die „Deutschlandpolitik“ derAlliierten brachte.
14) Dito.
15) Vgl. Benz, Gründung der Bundesrepublik, S. 64f.
16) Vgl. Benz, a.a.O., S. 51, 65.
17) Zitiert nach Benz, Gründung der Bundesrepublik, S. 58f.
18) Im Überblick bei Benz, Deutschland 1945 – 1949, IzpB 259, S. 17.
19) CARE steht für Cooperative for American Remittances to Europe, also eine private Hilfsorganisation für Europa insgesamt, soweit wegen des Ost-West-Konflikts möglich, also nicht auf Deutschland begrenzt. Bis 1960 sollen allein für Deutschland Waren im Wert von 300 Millionen DM gespendet worden sein, davon gingen nur nach (West-)Berlin Hilfssendungen im Wert von 80 Millionen DM. Hinzu kamen dann noch 1948/49 Tausende sog. „Rosinenbomber“, die Berlin per Luft zu versorgen hatten: Vergleicht man dies aktuell mit der Rhetorik eines Herrn Trump dürfte klar sein, dass dieses besondere Kapitel in den deutsch-amerikanischen Beziehungen geschlossen zu sein scheint.
20) Graml, S. 187f.
21) Willoweit, S. 370 (geht ausführlicher auf die Länderebene ein).
22) Willoweit, S. 373.
23) Willoweit, a.a.O. Soweit es um die „deutsche Tradition des Berufsbeamtentums“ geht, die den Alliierten aus verständlichen Gründen suspekt vorkommen musste, kann als Nachweis für den eigenartigen Einfluss, den diese „spezielle Berufsgruppe“ auszuüben imstande war, ein Schreiben desBeamtenbundes (Landesverband NRW) an den parlamentarischen Rat v. 29.10.1948 in Auszügen zitiert werden:
„Für den Neuaufbau einer demokratischen Verwaltung ist die verfassungsmäßige Verankerung des Berufsbeamtentums, das sich allezeit als sicherste Stütze des Staates erwiesen hat, unentbehrlich.
Die Gewerkschaft Deutscher Beamtenbund hält es deshalb für erforderlich, in dem zur Beratung stehenden Grundgesetz die Erhaltung und Sicherung des Berufsbeamtentums (…) verbindlich für Bund, Länder und Selbstverwaltungen zu garantieren“, siehe Frotscher/Pieroth, Rn. 789 mit weiteren Nachweisen.
Der Beamtenbund forderte unter Berufung auf die „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ auch in der neuen Verfassungs- und Gesellschaftsordnung eine Sonderstellung (so in Artikel 33 V GG) und eine klare Abgrenzung zur Gruppe der „Angestellten“ (im Sinne von Mitarbeitern niederen Ranges).
Soviel zum Thema „Lobbyarbeit“ der lieben Beamten in den politischen Gremien sogar noch vor Gründung der BRD – und seitdem hat die ständige Einflussnahme der Beamten auf politische Entscheidungen keinen Deut nachgelassen; warum gibt es noch heute die „private“ Krankenversicherungoder unterschiedliche Besteuerung der Alterseinkünfte von Rentnern und Pensionären?
„Auch wenn sich die Berufsbeamten gerade nicht als `sicherste Stütze´ der Weimarer Republik erwiesen hatten, gelang ihnen doch allein wegen der Herkunft der meisten Mitglieder des Parlamentarischen Rates eine Festigung ihrer Position über Art. 33 Abs. 5 GG mit der Garantie desBerufsbeamtentums und seiner hergebrachten Grundsätze“, Frotscher/Pieroth, Rn. 790.
24) Grabbe, S. 393
25) Benz, Gründung der Bundesrepublik, S. 108f.
26) Kröger, S. 19f.
27) Ironisch gewendet: Die verantwortlichen Politiker und Militärs auf der Londoner Konferenz dürften bemerkt haben, dass auch in den westdeutschen Politikern immer noch ein kleiner preußischer Beamter steckte, den man mit ordentlich Schmiss und Befehlsgewalt zum subalternen Gehorsam bringen konnte. Dies erklärt den Ablauf der Verhandlungen im Juli 1948 zwischen den Besatzungsmächten und den westdeutschen Politgrößen; natürlich waren weder Adenauer, Heuss oder Kurt Schumacher bzw. Carlo Schmid dumme Schuljungen oder kleine Flakhelfer, die man stramm stehen lassen konnte (im Gegenteil, die genannten Herren haben großen Respekt verdient), doch war erst einmal die schroffe Aufforderung der Besatzungsmächte an diese Männer (und ihre Mitstreiter und auch Mitstreiterinnen) ergangen, gefälligst einen Staat zu gründen, wurde diese Art Dienstanweisung freudig entgegengenommen und mit deutsch-preußischer Gründlichkeit erledigt. Das Grundgesetz legt hiervon Zeugnis ab.
28) Insoweit liegen schon erhebliche Unterschiede zu den Protagonisten des hauptsächlich militärischen Widerstandes gegen Hitler und das NS-Regime vor: Die (wenigen) Herren, die 1943/44 eine halbwegs Ernst zu nehmende Opposition bildeten, stammten bekanntlich meist aus den Kreisen des Offizierskorps; den dort vertretenen Adelsfamilien ging es weniger um das allgemeine Sittengesetz oder humanitäre Grundsätze als um das Ansehen der preußischen Armee bzw. besonders um die Ehre ihres „Berufsstandes“. Erst nach dem Desaster bei Stalingrad setzte in diesen Kreisen ein gewisses Umdenken ein; aber selbst wenn das Attentat vom 20. Juli 1944 insgesamt erfolgreich gewesen wäre, ein demokratischer Rechtsstaat schwebte den wenigsten der am Umsturzversuch Beteiligten vor.
29) Bauer-Kirsch, S. 92f. (in dieser Dissertation wird ausführlich auf die Details von Herrenchiemsee eingegangen).
30) Bauer-Kirsch, S. 93f.
31) Zur Arbeit des Parlamentarischen Rates: https://de.wikipedia.org/wiki/Parlamentarischer_Rat
32) Kröger, S. 21.
33) Kröger, S. 22.
34) Kröger, S. 28.
35) Kröger, S. 30f.
36) Ein Zufall, dass der aktuelle Herrscher im Kreml den Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 als eine staatspolitische Notwendigkeit für die Sowjetunion bezeichnet?
37) Würde man Wolfgang Abendroth unreflektiert als „Marxisten“ bezeichnen, bekäme dies schnell einen negativen Beigeschmack (vor allem wenn man Abendroths kritische Haltung gegenüber der Sowjetunion kennt). Nicht zuletzt war es seine Abneigung gegen die abzusehende antidemokratische Politik der SED, die ihn 1948 zur Abwanderung aus Berlin und Übersiedlung nach Westdeutschland veranlasste. Sein Schüler, der über die Grenzen Deutschlands bekannte Philosoph Jürgen Habermas, hatte für seinen akademischen Lehrer eine treffende Charakterisierung gefunden: „Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer“. Bekanntlich stammt von J. Habermas auch die Forderung nach einem„Verfassungspatriotismus“.
38) Hesse, Rn. 212.
39) Vgl. Hesse, Rn. 213.
40) Kröger, S. 73.
41) „Oboedentia facit imperantem“, ein Grundsatz, der vielen politischen Akteuren auf der linken Seite des parteipolitischen Spektrums eher schwerfällt; insbesondere wenn viele, die aus dem 68er-Milieu stammen, seit nunmehr einem halben Jahrhundert eine spürbare antiamerikanische Grundhaltung einnehmen, und dabei bewusst oder aus Unkenntnis übersehen, wer nach 1945 in (West-) Deutschland die Demokratie vorgelebt hat (ganz gleich, wer heute in den USA um das Präsidentenamt buhlt).
42) Als hätten die „Mütter und Väter“ des Grundgesetzes antizipiert, dass 2024 (zumindest regional) eine verfahrene Situation eingetreten ist, wo bei verhärteten politischen Fronten wohl kaum die Voraussetzungen für einen wirklich pluralistischen und fairen Diskussionsprozess erwartet werden können.
43) So vor allem der „Vertrag über die Europäische Union“ aus dem Jahr 1992 (in der Fassung des „Lissabon-Vertrags“ v. 13.12.2007) oder gar den „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (ebenfalls aus 2007).
Literatur
Bauer-Kirsch, Angela: Herrenchiemsee. Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee – Wegbereiter des Parlamentarischen Rates, Bonn 2005 (zugl. Dissertation, Uni Bonn).
Benz, Wolfgang: Deutschland 1945 – 1949, Informationen zur politischen Bildung, Heft 259 (Stand 2005), hrsg. von Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn.
Benz, Wolfgang: Die Gründung der Bundesrepublik. Von der Bizone zum souveränen Staat, 5. Aufl., München 1999 (Taschenbuch).
Benz, Wolfgang: Potsdam 1945. Besatzungsherrschaft und Neuaufbau im Vier-Zonen-Deutschland, München 1986 (Taschenbuch).
Frotscher, Werner/ Pieroth, Bodo: Verfassungsgeschichte, München, 9. Aufl. 2010.
Grabbe, Hans-Jürgen: Die deutsch-alliierte Kontroverse um den Grundgesetzentwurf im Frühjahr 1949, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jahrgang 26 (1978), S. 393 – 418.
Graml, Hermann: Die Alliierten und die Teilung Deutschlands. Konflikte und Entscheidungen 1941 – 1948, Frankfurt 1985 (Taschenbuch).
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, im Internet: http://www.zeno.org/Philosophie/M/Hegel,
+Georg+Wilhelm+Friedrich/Grundlinien+der+Philosophie+des+Rechts/Dritter+Teil.
+Die+Sittlichkeit/Dritter+Abschnitt.+Der+Staat/%5BDer+Staat%5D
Hesse, Konrad: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg, 20. Aufl. 1995.
Kowalski, Hans-Günter: Die „European Advisory Commission“ als Instrument Alliierter Deutschlandplanung 1943 – 1945, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jahrgang 19 (1971), S. 261 – 293.
Kröger, Klaus: Einführung in die Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 1993.
Willoweit, Dietmar: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 4. Aufl. München 2001
Zusätzliche Empfehlungen im Überblick:
https://www.bpb.de/themen/nachkriegszeit/grundgesetz-und-parlamentarischer-rat/38975/von-den- londoner-empfehlungen-zum-grundgesetz/
Von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit: Themenheft 1/23: „Einsichten und Perspektiven“, unter: www.blz.bayern.de/herrenchiemsee https://www.blz.bayern.de/themenheft-herrenchiemsee_p_462.html
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