Hugo Preuß (1860 – 1925) und die jüngere deutsche Verfassungsgeschichte
Wenn im Mai 2024 der 75. Jahrestag des Inkrafttretens des Grundgesetzes gefeiert wird, werden neben der Verfassung als solcher auch die Delegierten des Parlamentarischen Rates als die „Väter und Mütter“ dieses Werkes geehrt.
Dreißig Jahre vor der Einführung des Grundgesetzes hat es im Sommer 1919 bereits eine andere deutsche Verfassung gegeben. Diese ist unter der Bezeichnung „Weimarer Reichsverfassung“ bekanntgeworden, war die erste tatsächlich wirksam umgesetzte, demokratische Verfassung in Deutschland und wird mit einer ganz bestimmten Person verbunden: Hugo Preuß. (1)
Im Folgenden sollen Person und die Bedeutung von Hugo Preuß für die Entstehung der Weimarer Reichsverfassung (WRV) behandelt werden; war er nicht nur „Vater“ der WRV, sondern – zumindest im ideellen Sinne – sogar „Großvater“ des heutigen Grundgesetzes?
Insoweit sind auch die Berührungspunkte zur „deutschen Geistesgeschichte“ (Dreyer) im – frühen – 20. Jahrhundert zu beachten – einschließlich der Grundzüge in der allgemeinen politischen Entwicklung.
Darüber hinaus wird aber auch der Frage nachgegangen, in welchem Verhältnis beide Verfassungen zueinander stehen (genauer gesagt: hinsichtlich Vorgeschichte und Entstehungsprozess, inhaltliche Unterschiede und reale Verfassungswirklichkeit). Das Thema soll dabei auch vor dem Hintergrund der dramatischen Ereignisse behandelt werden, die aus zwei jeweils verlorenen Weltkriegen resultierten und zur historischen Verantwortung Deutschlands auch noch in einhundert Jahren zählen werden.
I) Wer war Hugo Preuß?
An dieser Stelle muss nicht der vollständige Lebenslauf dieses Mannes referiert werden, es genügen die wichtigsten Daten, soweit es um die verfassungsrechtliche Bedeutung von Hugo Preuß geht.
Ende Oktober 1860 in Berlin geboren (er sprach auch gerne Berliner Dialekt), studierte Preuß von 1879 bis 1883 Rechtswissenschaften in Berlin und Heidelberg, promovierte in Göttingen. Von Interesse ist dabei, dass er ein Schüler bei Otto von Gierke, dem einflussreichsten Vertreter des „germanistischen Zweigs“ innerhalb der deutschen Rechtsgeschichte Ende des 19. Jahrhunderts, gewesen ist (hierzu weiter unten). 1883 erfolgte die Promotion, 1889 schloss Preuß seine Habilitation (mit einer Arbeit im „Staatsrecht“, was für einen künftigen Verfassungsrechtler nur von Vorteil sein konnte) ab. Damit hatte er zwar die formale Einstellungsvoraussetzung für ein Professorenamt, jedoch durfte Hugo Preuß als Jude, der nicht konvertieren wollte, Ende des 19. Jahrhunderts im Deutschen Reich keinen Lehrstuhl übernehmen. Die Tatsache, dass Preuß auch noch eine „demokratische“ Gesinnung pflegte, verhinderte zusätzlich die Anstellung als ordentlicher Professor, er konnte lediglich als Privatdozent für öffentliches Recht tätig werden. (2)
Diese prekäre Situation dauerte bis 1906 an, erst dann erhielt er an der neu gegründeten „Handelshochschule Berlin“ seine erste „richtige“ Professur (um 1900 wurden im Kaiserreich immer mehr „Fachhochschulen“ gegründet, so dass auch entsprechender Bedarf an qualifiziertem Lehrpersonal vorhanden war; allerdings hatten die Lehrer und Dozenten an den Hochschulen ein geringeres Renommee als die „richtigen“ Uni-Professoren, besonders an den Traditionsuniversitäten, und wurden auch noch schlechter besoldet). Trotzdem hatte der Jude und Demokrat Hugo Preuß vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Anerkennung als Wissenschaftler nebst Lehrstuhl erhalten, als im Spätherbst 1918 die überfällige politische wie staatsrechtliche Umwandlung des Deutschen Reiches erfolgte, stand der Endfünfziger Preuß bereit, die anfallenden Aufgaben zu übernehmen.
II) Berufung zum Staatssekretär/Innenminister Mitte November 1918
Als am späten Vormittag des 9. November 1918 der letzte kaiserliche Reichskanzler Max v. Baden sein Amt und die Regierungsgeschäfte auf den Sozialdemokraten Friedrich Ebert übertrug, kamen die neuen (revolutionären) Kräfte zur politischen Macht „wie die Jungfrau zum Kinde“.
Auch wenn spätestens seit den Ereignissen nach dem 5. November klar gewesen sein dürfte, dass das alte („morsche“) System der Monarchie am Ende war, hatte sich eigentlich niemand im politischen Berlin auf den Machtwechsel so richtig vorbereitet.3)
Nach den Worten von Friedrich Ebert (aber auch seines engen Mitarbeiters Baake) hat es in den Reihen der Sozialdemokraten eigentlich fast keine ausgewiesenen Fachkräfte gegeben, besonders wenn es um qualifizierte Verwaltungsaufgaben oder gar die Konzeption einer neuen Verfassung ging.(4)
Dieses fast schon „kollektive Unvorbereitetsein“ erstaunt umso mehr, weil selbst im Falle eines glücklicheren Endes des Ersten Weltkriegs klar gewesen sein müsste, dass ein einfaches „Weiterso“, also ein Anknüpfen an die Vorkriegsverhältnisse nur schwer vorstellbar gewesen wäre. (5)
Exkurs: politische Entwicklung im November 1918
Obwohl die alte „Bismarckverfassung“ von 1871 Ende Oktober 1918 grundlegend geändert wurde, und seitdem – noch im Kaiserreich – formal eine parlamentarische Regierungsform eingeführt worden war, d.h. dass Kanzler und Reichsregierung vom Vertrauen des Reichstags abhängig waren, also auch nur vom Parlament bestimmt bzw. auch abgelöst werden konnten, wurde gerade diese verfassungsrechtliche Vorgabe bei ihrem ersten praktischen Anwendungsfall außer Acht gelassen:
Die Übertragung der Amtsgeschäfte am (späten) Vormittag des 9. November 1918 von Prinz Max v. Baden (dem letzten „kaiserlichen“ Reichskanzler) auf den führenden Mann der stärksten Fraktion im Reichstag, Friedrich Ebert (Mehrheits-SPD), war verfassungswidrig; eigentlich hätte diese Verfahrensweise im Reichstag nach den Bestimmungen der kurz vorher erst geänderten Verfassung (Artikel 15 in der neuen Fassung) erfolgen müssen.
Aufgrund der an diesem Tag insgesamt (besonders in Berlin) sehr aufgeheizten Stimmung, und weil die „Regierungssozialisten“ selbst äußerst unsicher ob ihrer Regierungsfähigkeiten waren, fassten Ebert und seine engsten Mitarbeiter den Entschluss, auch ihre „linkssozialistische“ Abspaltung von der Unabhängigen-SPD (USPD) mit in die Regierungsverantwortung zu nehmen.
Immerhin war die politische Stimmung, gerade auf den Straßen Berlins, extrem angespannt, vor allem die von den Kriegslasten besonders betroffenen Arbeiter und Arbeiterinnen setzten Anfang November 1918 eindeutig auf eine revolutionäre Umwälzung der politischen und sozialen Verhältnisse.
Daher stand die große Mehrheit der Fabrikarbeiter auf Seiten der radikaleren Linken (besonders USPD und die sog. „Revolutionären Obleute“), gar nicht mehr unbedingt auf Seiten der Mehrheits-SPD.
Um deshalb die revolutionäre Grundstimmung in Berlin (und anderen Industrieregionen des Deutschen Reiches) aufzufangen und zu kanalisieren, erfolgte eine eigenartige Mischung der politischen Verantwortlichkeiten: neben dem am 10. November1918 gebildeten „Rat der Volksbeauftragten“ (drei Mitglieder der Mehrheits-SPD und drei Mitglieder der USPD) wurde auch – wenn man so will spontan bzw. als Ausdruck einer proletarischen Massenbewegung – ein sog. Vollzugsrat der Großberliner Arbeiter- und Soldatenräte gebildet.(6)
Dieser „Vollzugsrat“ ging auf die Initiative der „Revolutionären Obleute“ zurück, wurde ebenfalls noch am 10. November 1918 (allerdings erst abends) gegründet, als ca. 3000 Arbeiter- und Soldatenräte Großberlins (1000 Arbeitnehmer sollten im Schnitt einen Delegierten bestimmen, gleiches sollte für die Streitkräfte gelten, so dass die am 10. November versammelten Großberliner „Räte“ in etwa 3 Millionen „Stimmen“ repräsentierten) auf einer improvisierten Vollversammlung über die bisherigen Ergebnisse der Revolution beraten und abstimmen sollten.
Sowohl die auf der Versammlung anwesenden Arbeiter wie auch die Soldaten wählten je ein „Komitee“, das aus jeweils 14 Mitgliedern bestand; für die Arbeiter wurden paritätisch sieben Mehrheits-Sozialdemokraten und sieben von der USPD bestimmt (analog zur Besetzung des kurz vorher gebildeten „Rats der Volksbeauftragten“). Die 14 Vertreter der Soldatenräte waren mehrheitlich parteilos. Zum Vorsitzenden dieses 28-köpfigen Vollzugsrates der Arbeiter- und Soldatenräte Großberlins wurde Richard Müller (bis zum Ersten Weltkrieg SPD-naher Gewerkschafter, dann Organisator der zunächst illegalen „Revolutionären Obleute“) gewählt.(7)
Der Vollzugsrat kann daher als Exekutivorgan der Großberliner Arbeiter- und Soldatenräte betrachtet werden, wobei zum damaligen Zeitpunkt (10. November 1918 und in den folgenden Wochen) eine exakte Bestimmung von Kompetenzen und Zuständigkeiten zu Gunsten der Arbeiter- und Soldatenräte nach traditionellen Maßstäben generell schwierig ist.
Besonders aber um die Legitimationsgrundlage deutlich zu verbreitern (am Abend des 10. November waren ja lediglich maximal 3 Millionen Arbeiter bzw. Soldaten mittels Räten vertreten), wurde für die Zeit vom 16. bis 20. Dezember 1918 ein Allgemeiner Kongress (auch Reichsrätekongress genannt) der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands nach Berlin geladen. Dort sollte dann auch ein breiter legitimierter „Zentralrat“ gewählt werden (der aber in den wenigen Wochen seines Bestehens kaum echte Aktivitäten entwickelte).
Zum Thema „Legitimationsgrundlage“ kann an dieser Stelle kurz zusammengefasst werden, dass am Abend des 10. November 1918 die kraft der revolutionären Ereignisse, die zum Zusammenbruch des Kaiserreichs geführt hatten, sich selbst ermächtigten Arbeiter- und Soldatenräte Großberlins neben dem organisatorischen Akt der Gründung des Vollzugsrates auch einen verbindlichen Akt zur Bestätigung des am gleichen Tag eingesetzten „Rates der Volksbeauftragten“ vorgenommen haben; diese sechs Volksbeauftragten waren somit als Revolutions-Regierung rechtswirksam eingesetzt. (8)
Die dort versammelten knapp 3000 Räte repräsentierten zu diesem Zeitpunkt das „revolutionäre Volk“, also zumindest einen Teil des (neuen) Souveräns.
Ohne Übertreibung kann man für diese Tage des Umsturzes von einer zumindest ansatzweisen Etablierung eines „Rätesystems“ sprechen; die maßgeblichen Versammlungen, Abstimmungen und Beschlüsse sind durchaus als Ausdruck eines rätedemokratischen Organisationsprinzips zu charakterisieren.
Allerdings waren die Abläufe an diesen beiden Tagen eher chaotisch und nicht unbedingt planvoll oder rational durchdacht, was sich auf den weiteren Verlauf der politischen Ereignisse ungünstig auswirken sollte. Besonders die Abgrenzung der politischen Kompetenzen und staatsrechtlichen Organstellung zwischen dem „Rat der Volksbeauftragten“ und dem Vollzugsrat (bzw. den Arbeiter- und Soldatenräten insgesamt) sollte in den nächsten Wochen bis Mitte Dezember 1918 noch einige Probleme bereiten und politische Streitereien verursachen.(9)
Weil sich aber Anfang November 1918 die maßgeblichen Vorgänge beinahe überschlugen (binnen 36 Stunden war der letzte kaiserliche Reichskanzler zurückgetreten, eine provisorische Regierung zunächst ohne wirksame Ermächtigung eingesetzt, die dann im Wege einer zahlenmäßig doch überwältigenden rätedemokratischen Abstimmung im Amt bestätigt worden war), hatten besonders die führenden „Köpfe“ der Mehrheits-SPD um Ebert, Scheidemann und den eher bedächtigen Gewerkschaftsführern überhaupt keine Gelegenheit, der eigentlich ungewollten Revolution ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Am 9. und 10. November 1918 war die Mehrheits-SPD mehr Getriebene der Ereignisse als treibende Kraft, die mutig und zielbewusst vorangegangen wäre.
Dies sollte und (aus Sicht der Parteiführung um Ebert) musste sich schnell ändern: Es galt, nachdem die ersten Revolutionswirren überstanden waren, die entscheidenden Weichen zu stellen.
Eine der ersten staatsrechtlich bedeutsamen Amtshandlungen des Rates der Volksbeauftragten war der Aufruf an das deutsche Volk vom 12. November 1918, in welchem neben der Betonung, dass aus der Revolution, die damit wohl bereits schon als abgeschlossen betrachtet werden sollte (knapp drei Tage nach Ausrufung der Republik und dem Rücktritt der kaiserlichen Regierung), eine sozialistische Regierung hervorgegangen ist, auch ein knappes Dutzend Anordnungen und Ankündigungen verbindlich – mit Gesetzeskraft – bekanntgemacht wurden.
So erfolgten u.a. die Gewährleistung des Versammlungsrechts, Aufhebung der Zensur, Ankündigung einer Amnestie für politische Straftaten und der Wahl zu einer konstituierenden Versammlung, auch die Einführung des Achtstundentages für die Werktätigen. (10)
Am Tag zuvor (11. November 1918) war bereits die lang ersehnte Waffenstillstandsvereinbarung getroffen worden, wobei die alliierten Siegermächte bei der Prüfung der Bevollmächtigung der deutschen Verhandlungskommission (unter Vorsitz von Matthias Erzberger) die ihnen mit „Reichskanzler“ Ebert gezeichnete Vollmacht ohne Weiteres akzeptierten. Ebenfalls am 11. November wurde ein Erlass der neuen Regierung über den Fortbestand der bisherigen Reichsämter und der weiteren Reichsbehörden verkündet.(11)
Somit blieb auch das „Reichsamt für Inneres“ (das kurz danach in Reichsinnenministerium umbenannt wurde) erhalten.
Hiervon abgesehen, wurden auch noch an anderer Stelle entscheidende Weichen gestellt: Am 15.11.1918 wurde zwischen den großen Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften eine sog. „Zentralarbeitsgemeinschaft“ gegründet, die auch als „Stinnes-Legien-Abkommen“ bekannt wurde. 12)
Dieses Abkommen wurde nach den beiden Verhandlungsführern, dem Schwerindustriellen Stinnes und dem Vorsitzenden der Generalkommission der Freien Gewerkschaften, Carl Legien, benannt.
Der wesentliche Inhalt der Vereinbarung lautet: Die Gewerkschaften wurden als „berufene Vertreter“ der Arbeiterschaft anerkannt, Verbot jeder Beschränkung der Koalitionsfreiheit, Gewährleistung von Ansprüchen für Kriegsheimkehrer, Gewährung neuer Arbeitsbedingungen, Errichtung von Arbeiterausschüssen (im Vorgriff auf spätere Betriebsräte) u.v.m.
Folgen der Vereinbarung waren: Aus Sicht der führenden Gewerkschaftsvertreter konnte es als Erfolg gewertet werden, dass zumindest auf dem Papier die sog. Tarifautonomie festgeschrieben wurde, also die Gewerkschaften als legitime Interessenvertretungen anerkannt worden waren.
Aus Sicht der Industrie bzw. Unternehmerverbände war positiv festzuhalten, dass das bürgerlich-kapitalistische Wirtschaftssystem grundsätzlich fortbestand, zumindest nicht auf einen Schlag verschwand (z.B. durch Enteignung bzw. Vergesellschaftung wie es das bolschewistische Vorbild Russlands befürchten ließ).
„Für die Arbeitgeber wogen die Zugeständnisse an das Gewerkschaftslager wenig, wenn man sie mit dem Nutzen verglich, den die Zentralarbeitsgemeinschaft abwarf. Das Wichtigste war, daß das Abkommen vom 15. November 1918 einem Vertrag gegen die Sozialisierung gleichkam. Indem die Gewerkschaften die Unternehmer als Partner akzeptierten, erkannten sie zugleich die bestehende Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung an.“ (13)
Für das hier behandelte Thema ist dieses Abkommen besonders deshalb von Interesse, weil mit der Gründung der Zentralarbeitsgemeinschaft ein Großteil der bis dahin von der Arbeiterschaft geforderten Verbesserungen und Fortschritte bei den sozialpolitischen Forderungen erfüllt worden zu sein schienen (beachte: die Hoffnung überwog die Realität!). In den nächsten Jahren sollte sich aber aus Sicht der Arbeitnehmer vieles als Trugschluss und bloßes Wunschdenken erweisen.
Den Fakt, dass mit der Errichtung der Zentralarbeitsgemeinschaft am 15.11.1918 im Prinzip das bürgerlich-kapitalistische System in die neue Staatsordnung transformiert wurde, dürften damals die wenigsten im linkssozialistischen Lager um Luxemburg und Liebknecht vollumfänglich realisiert haben.
Soweit an dieser Stelle der Exkurs zu den wichtigsten politischen Entwicklungen und Änderungen im November 1918 bis zum ersten Auftritt von Hugo Preuß.
Am selben Tag, als das „Stinnes-Legien-Abkommen“ geschlossen wurde, wurde auch auf Regierungsebene eine wichtige Personalentscheidung getroffen: Friedrich Ebert ging persönlich – ob offiziell im Namen des Rates der Volksbeauftragten, dem ja die Funktion einer Revolutionsregierung zugekommen und dessen Co-Vorsitzender Ebert gewesen ist, oder als zuständiger Volksbeauftragter für das „Ressort Innenpolitik“ (gleichsam als eine Art Fachminister) kann hier dahingestellt bleiben – auf Hugo Preuß zu, um ihm das Amt eines Staatssekretärs im „Reichsamt für Inneres“ (das ja unbeschadet übernommen worden war) anzutragen; verbunden mit der Anfrage, ob Preuß nicht auch einen Verfassungsentwurf für die künftige Deutsche Republik ausarbeiten könne. (14)
Wie kam es aber dazu, dass der politisch mächtigste Mann im Rat der Volksbeauftragten ausgerechnet einen – außerhalb der Berliner Universitätslandschaft – doch relativ unbekannten Mann (läßt man das kommunalpolitische Engagement von Hugo Preuß einmal außen vor) mit solch wichtigen und auch schwierigen Aufgaben betraute?
Zum einen hatte Hugo Preuß am Vortag (14.11.1918), wenn man so will als Privatmann, einen vielbeachteten Aufsatz im »Berliner Tageblatt« mit dem Titel „Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat“ veröffentlicht, in dem er u.a. eine verantwortliche Beteiligung der liberalen bürgerlichen Kräfte an der politischen Neuordnung Deutschlands gefordert hat. (15)
Zum anderen ist es dem Parteifreund und Kollegen Eberts im Rat der Volksbeauftragten, Otto Landsberg (selbst Jurist und einer der wenigen „Kopfarbeiter“ in der damaligen Mehrheits-SPD, im Kabinett Scheidemann ab Februar 1919 ein halbes Jahr Justizminister), zu verdanken, dass dieser seine „Kabinettskollegen“ auf Preuß, der als am weitesten links stehende Staatsrechtslehrer angesehen wurde, mit Nachdruck hingewiesen hat. (16)
Inwieweit Landsberg wusste, dass Preuß bereits im Vorjahr (ebenfalls auf private Veranlassung hin) ein erstes Konzept für eine geänderte Reichsverfassung ausgearbeitet hatte, ist nicht eindeutig ersichtlich.
Nicht zutreffend ist jedoch, dass Preuß gleichsam einen fertigen (ersten) Verfassungsentwurf in der Schreibtischschublade liegen gehabt hätte. (17)
Der Vollständigkeit halber ist zu diesem von Preuß im Sommer 1917 erarbeiteten Konzept für eine mögliche Verfassungsänderung folgende Anmerkung seines Biographen Dreyer mitzuteilen:
„Im Juni 1917 stand Hugo Preuß zum ersten Mal vor einer Aufgabe, die er sich lange erhofft hatte: er sollte Vorschläge für die vollständige Reform einer Verfassung ausarbeiten. Von allen möglichen Stellen hatte man sich ausgerechnet in der Obersten Heeresleitung Gedanken darüber gemacht, ob eine solche Reform sinnvoll sei und wie sie aussehen solle. (…) Gleichwohl war Preuß nicht der Mann, den Ludendorff und Hindenburg für diese Aufgabe im Auge hatten; er konnte es bei der Entfernung seiner politischen Überzeugungen von denen Ludendorffs auch kaum sein. Aber die Militärs hatten sich an den Nationalliberalen Richard Witting gewandt, den (…) früheren Oberbürgermeister von Posen und Bruder Maximilian Hardens, der seinerseits die Aufgabe an seinen Freund Hugo Preuß weiterreichte. (…) Man kann darüber spekulieren, ob Ludendorff wirklich genau wußte, von wem er sich da über die Zielrichtung einer Verfassungsreform unterrichten ließ.“(18)
Somit ist zur „Ehrenrettung“ von Preuß festzuhalten, dass Ludendorff nicht unmittelbar mit ihm zu tun hatte, sondern der „Kontakt“ indirekt über Richard Witting abgelaufen ist, sich also insofern auf „privater“ Ebene abgespielt hatte: Hugo Preuß war kein Handlanger eines erklärten Republikfeindes!
Zu den möglichen Motiven, warum ausgerechnet die 3. Oberste Heeresleitung sich im Frühsommer 1917 mit dem Thema einer Verfassungsrevision auseinandersetzte, gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze; z. B. im Zusammenhang mit dem Kriegseintritt der USA kurz zuvor, da man glaubte, dem Reichstag, der ja nach wie vor für die Kriegsfinanzierung Kredite bewilligen musste, eine Art Zuckerbrot anbieten zu können. Auch die Tatsache, dass der mutwillig vom Zaun gebrochene unbegrenzte U-Boot-Krieg doch nicht so recht funktionieren wollte, wodurch sich die Kriegsdauer erneut verlängerte, könnte ein Grund gewesen sein: Die militärische Führung, die ja faktisch damals auch die deutsche Innenpolitik maßgeblich geprägt hat, wollte grundsätzlich von der Kriegspolitik ablenken (auch die sog. Julikrise 1917, die mit der Entlassung des langjährigen Reichskanzlers endete, gehört zu dieser „Vexier-Taktik“).
Doch auf eine Variante wird kaum hingewiesen: Es waren ja ausgerechnet die „Sozialistenhasser“ um Ludendorff, die im April 1917 einen gewissen bis dahin als „Salonrevoluzzer“ verschrienen Lenin auf Staatskosten aus der Schweiz über Schweden nach Sankt Petersburg (damals Petrograd) im verplombten Zug verschickten, damit dieser in Russland die „Weltrevolution“ ausrufen würde, um vor allem die russische Armee zur Kriegsaufgabe zu bewegen.
Da im Weltkrieg die Bahn als Staatsbetrieb nicht streiken durfte, gelang dieses Unternehmen (als „Reise Lenins im plombierten Wagen“ in die Geschichtsbücher eingegangen, aber von bekannten Sozialdemokraten, wie Alexander Parvus, eingefädelt) auch ohne Verzögerung (geradezu fahrplanmäßig).
Doch was wäre gewesen, wenn diese Taktik der Destabilisierung des ehemaligen Zarenreiches auch auf das Deutsche Reich übergesprungen wäre und die deutschen Arbeiter (und auch viele Arbeiterinnen) zum Umsturz der völlig verkrusteten Verhältnisse im Inland aufgeputscht hätte? Dann hätte es auf jeden Fall schon etwa ein Jahr früher diverse Reformen und gegebenenfalls auch eine neue Verfassung gebraucht.
Dann hätte sich ausgerechnet die halb-diktatorische Armeeführung als eine Art „Auguren“ deutscher Innenpolitik bestätigt fühlen können – eine wahrhaft gruselige Vorstellung.
Weitere, letztlich ins Reich der Spekulationen führende Motivforschung kann an dieser Stelle unterbleiben.
Entscheidend bleibt die Tatsache, dass seine Reformpläne sowohl für das Reich als auch für das Königreich Preußen im Frühherbst 1917 tatsächlich als Manuskript erstellt und sogar in kleiner Stückzahl gedruckt wurden, aber der Entwurf von Preuß zunächst ein solcher blieb und nicht weiterverfolgt wurde.
Doch auch so war sich Hugo Preuß nicht sicher, welche Wirkungen seine Überlegungen zu einer umfassenden Verfassungsreform haben würden. Er machte nur wenige Vorschläge für spezielle Sofortmaßnahmen; eine konkrete Einzelmaßnahme wäre ad hoc die Gewährung völliger Gleichberechtigung für „Elsaß-Lothringen“, das ja seit 1871 nur eine Provinz zweiter Klasse im Kaiserreich gewesen ist. Weiterhin setzte er sich, wie bereits in früheren Arbeiten, für ein demokratischeres Wahlrecht in Preußen selbst ein.
Interessant ist auf jeden Fall, dass es bereits vor dem „Zusammenbruch“ des Kaiserreichs politisch denkende Menschen mit Weitblick in Deutschland gegeben hat (so ein Walther Rathenau auf ökonomischem Gebiet und eben Hugo Preuß, wenn es um künftige „Verfassungsfragen“ ging; zum Teil auch ein Max Weber), die aber grundsätzlich alle dem „linksliberalen“ Bürgertum zugerechnet werden.
Denn obwohl spätestens seit Bismarck schon in den ersten Jahren nach Gründung des Kaiserreichs den politischen Liberalismus in Deutschland „ausgetrickst“ hatte (mit der Folge, dass sich dieser mehrfach aufspaltete und verwässerte, wenn nicht sogar in extreme Positionen, wie viele der sog. National-Liberalen, verfiel), gelang es ab Spätherbst 1918 den o.g. „Linksliberalen“ zumindest vorübergehend eine einflussreiche politische Kraft zu gestalten. In einem auffälligen Gegensatz zur Politik der mehrheitssozialistischen Führung um Ebert & Co.:
„Obwohl für die Entwicklung der Sozialdemokratie die Theorie traditionell bestimmend war, fehlte ihr nahezu jede theoretische Vorbereitung auf die mit der Revolution entstandene Führungsrolle. Im Vordergrund standen allgemeine Ziele (…). Trotz aller theoretischen Bekenntnisse zu einer Neuordnung der bestehenden Verhältnisse wagte die Sozialdemokratie keine grundlegenden Eingriffe in das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Beziehungsgefüge.“ (19)
Diese Sachlage, die Anfang/Mitte November 1918 unstreitig vorhanden war, hatte natürlich auch Auswirkungen, wenn es um das Thema „Verfassungspolitik“ ging:
„Nun aber zeigte sich das erstaunliche Phänomen, daß die deutsche Arbeiterbewegung in ihrer Mehrheit nur noch einzelne verfassungspolitische Forderungen erhob und keine in sich geschlossene Verfassungskonzeption anzubieten hatte. In einer Partei, für deren Entwicklung die Theorie stets eine wesentliche Rolle gespielt hatte, fehlte nahezu jede theoretische Vorbereitung auf die mit der Revolution gegebene politische Führungsrolle der Sozialdemokratie. Was man konkret wollte, war die Einführung des parlamentarischen Systems, eine Stärkung der Selbstverwaltung und die Durchsetzung des gleichen Wahlrechts (…).
In allen übrigen Fragen – Sozialisierung, Reichsreform, Neuordnung der Verwaltung und des Heeres, Reform von Justiz und Bildungswesen – gab es sehr unterschiedliche Ansichten, die sich in keinem Fall zu klaren Konzeptionen oder gar detaillierten Entwürfen verdichteten.“ (20)
Um diese konzeptionelle Lücke auszufüllen, brauchte die SPD (aber auch insgesamt der Rat der Volksbeauftragten, also die Revolutionsregierung als Ganzes) Fachleute von außen bzw. aus dem Kreis der alten Führungskräfte – daher z. B. auch die umgehende Verständigung zwischen Ebert und dem starken Mann in der Obersten Heeresleitung, Groener.
Dies erklärt somit auch den doch relativ einfachen Start, den Hugo Preuß beim Rat der Volksbeauftragten (allen voran bei Friedrich Ebert) hatte. Bei Professor Preuß dürfte aber auch sein beruflicher Werdegang mit ausschlaggebend gewesen sein.
Exkurs: juristische Profession von Hugo Preuß
Wie bereits eingangs erwähnt, ist Preuß ein Schüler Otto v. Gierkes gewesen, der Ende des 19. Jahrhunderts sehr großen Einfluss in der Jurisprudenz und wissenschaftliche Reputation genoß.
So war Gierke der große Kritiker am ersten Entwurf zum „Bürgerlichen Gesetzbuch“, dem er besonders die fehlende Berücksichtigung der „sozialen Frage“ ankreidete (z. B. bei der zunächst geplanten Ausgestaltung des Arbeitsrechts oder auch des Mietrechts: So war ursprünglich angedacht, dass der Kauf die Miete bricht, im Gegensatz zur heute geltenden Fassung, was zur Folge gehabt hätte, dass jeder Wohnungsverkauf den Rauswurf der bisherigen Mieter hätte bedeuten können, also gerade in Großstädten eine Katastrophe).
Diese besondere Art einer Sozialbindung des Eigentums (gerade bei Immobilien) resultierte bei Gierke aus seiner rechtshistorischen Grundeinstellung als Anhänger der „juristischen Germanistik“; im Gegensatz zu den sog. Romanisten, die in der ersten Kommission für den Entwurf zum BGB die Oberhand hatten. (21)
Als typischer Vertreter der juristischen Profession des 19. Jahrhunderts hatte auch Gierke starke Bezüge zur „Historischen Rechtsschule“. (22)
Grundlage war die Auffassung, dass alles Recht nur in seiner „Geschichtlichkeit“ (also besonders wenn es um die Verankerung bei den betroffenen Menschen geht) begriffen werden könne.
Innerhalb dieser Denkrichtung gehörte Gierke, wie sein Schüler Preuß, zum Zweig der „Germanisten“, also dass das vom Mittelalter geprägte „deutsche Recht“ betont wurde, im Gegensatz zur fast schon bedingungslosen Rezeption des „Römischen Rechts“ aus der Spätantike (besonders zur Zeit des oströmischen Kaisers Justinian und des von diesem inspirierten „corpus iuris civilis“). Ohne Kenntnis dieser Grundlagen war vor 150 Jahren jede Beschäftigung mit „Rechtswissenschaft“ – zumindest im deutschsprachigen Raum – sinnlos; im Jahr 2024 mag man in der juristischen Ausbildung über das Fehlen von Grundlagenwissen hinwegsehen, solange an den Fakultäten „richtig“ (?) gegendert wird.
Ausfluss und konkretes Ergebnis der „Germanistik“ bei Gierke war dessen monumentales Werk zum „Genossenschaftsrecht“ (das auch heute noch z. B. bei zumeist kommunalen Wohnungs- oder Energiegenossenschaften große Bedeutung besitzt), bei Hugo Preuß kam zusätzlich noch eine besonders ausgeprägte Begeisterung für den „Volksstaat“ hinzu.
Dies soll insbesondere an dieser Stelle deswegen thematisiert werden, weil die Nazis gerne und im Überfluss betonten, wie fremd, undeutsch und schädlich für den gesunden Volkskörper doch der Jude an sich sei. Und dann kam mit Hugo Preuß ausgerechnet ein Jude mit professionellem Anspruch, Fürsprecher des „deutschen Rechts“ zu sein; ganz schön peinlich für die rechtsnationalistische und faschistische Szene in Deutschland vor 100 Jahren. (23)
Somit existierten gleich mehrere gute Gründe, warum gerade Hugo Preuß auch in den Augen des (formal sozialistisch geprägten) „Rats der Volksbeauftragten“ besonders geeignet erschien, für die neue deutsche Republik federführend eine moderne Verfassung zu entwerfen.
III) Widerstreitende Interessen: „Rätesystem“ oder „Nationalversammlung“
Bevor auf den weiteren Ablauf der Verfassungsberatung eingegangen werden kann, muss doch noch ein Wort zur grundsätzlichen Weichenstellung Mitte November 1918 verloren werden: In der Literatur wird dies unter dem Stichwort „Übergangsverfassung“ behandelt.
Hierbei geht es um die damals vertretenen unterschiedlichen Konzepte: Einerseits die Idee einer „Rätedemokratie“, andererseits der demokratisch-liberale Parlamentarismus, wie er in der Forderung nach Wahl einer „Nationalversammlung“ zum Ausdruck gekommen ist.
Wie eingangs ausführlicher dargestellt, ist die allgemein-politische wie die verfassungspolitische Situation während der Phase des Umsturzes am 9. und 10. November 1918 zumindest zeitweise sehr unübersichtlich, ja sogar chaotisch gewesen.
Eine Folge war, dass sich mit dem „Rat der Volksbeauftragten“ und dem Berliner Vollzugsrat unterschiedliche Organe in ihrer Zuständigkeit überlappten bzw. hinsichtlich ihrer Machtansprüche konkurrierten:
„Zu einer ersten vorläufigen Fixierung des sogenannten »Verfassungsrechts der Übergangszeit« kam es im Interesse einer Kompetenzabgrenzung zwischen den revolutionären Führungsgremien in Berlin.“ (24)
Am 22. November 1918 wurde nämlich zwischen dem Rat der Volksbeauftragten (Regierung) und dem Vollzugsrat des Großberliner Arbeiter- und Soldatenrats („Aufsichtsorgan“) eine höchstförmliche Vereinbarung getroffen; veröffentlicht wurde diese dann am 23.11.1918 sogar im „Reichsanzeiger“. (25)
Wesentlicher Inhalt:
„Die Revolution hat ein neues Staatsrecht geschaffen. (…) Die politische Gewalt liegt in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte der deutschen sozialistischen Republik. Ihre Aufgabe ist es, die Errungenschaften der Revolution zu behaupten und auszubauen, sowie die Gegenrevolution niederzuhalten. (…)
Im Anschluss an diese Vereinbarung, die das grundsätzliche Verhältnis der Arbeiter- und Soldatenräte zur Reichsregierung festsetzt, sollen alsbald Richtlinien für die Arbeiter- und Soldatenräte herausgegeben werden.“
Insgesamt umfasste diese Vereinbarung nur eine Handvoll Punkte, die man aus heutiger Sicht eher als Absichtserklärung bezeichnen würde (oder als Eckpunkte für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen).
„Schließlich wurde vereinbart, daß so bald wie möglich eine Reichskonferenz von Delegierten aller deutschen Arbeiter- und Soldatenräte zusammentreten sollte, durch die eine weitere Klärung des »Verfassungsrechts der Übergangszeit« erfolgen werde. Die Frage einer verfassunggebenden Nationalversammlung wurde in dieser Vereinbarung nicht erwähnt. Da es in dieser Hinsicht prinzipielle Meinungsverschiedenheiten gab, klammerte man das Problem einfach aus.“ (26)
Diese Indifferenz bzw. Zögerlichkeit löste daher auch seitens der linkssozialistischen Kräfte um den „Spartakusbund“ heftige Kritik aus. (27)
Welche Auswirkungen hatte nun der Inhalt dieser Absprache vom 22.11.1918 für die Arbeit von Hugo Preuß als Staatssekretär (eine Art „Reichsinnenminister“) und „Verfassungsbeauftragten“?
Eigenartigerweise zunächst überhaupt keine, denn selbst die linkssozialistischen Vertreter der USPD im Rat der Volksbeauftragten hatten zu diesem Zeitpunkt keine Veranlassung, Hugo Preuß irgendwelche verbindlichen Vorgaben oder gar Direktiven zu geben.
Da Staatssekretär Preuß und sein engster Mitarbeiterstab hinter verschlossenen Türen ihres Amtssitzes, gleichsam in aller Ruhe, ihrer Arbeit nachgehen konnten, blieb noch radikaleren Kräften in der Reichshauptstadt (z. B. von den Revolutionären Obleuten oder dem Spartakusbund) erst Recht jede Einsicht in die ersten Entwürfe einer künftigen republikanischen Verfassung verwehrt.
Hinzu kommt, dass am 6.Dezember 1918 ein zunächst eher harmloser Zwischenfall in Berlin-Mitte durch Verkettung „unglücklicher Umstände“, die nie richtig aufgeklärt wurden, zu einem ersten Massaker an der Zivilbevölkerung ausartete (als eine Art Vorschau auf die Unruhen ab Anfang Januar 1919, die zu Unrecht als „Spartakusaufstand“ in die Geschichtsbücher eingegangen sind).
Dieser erste Vorbote der „Straßengewalt“ dürfte dafür gesorgt haben, dass der große politische Fokus der „echten Revolutionäre“ z. B. um Luxemburg und Liebknecht Anfang Dezember 1918 auf derartige Entwicklungen, weniger auf die Frage nach der Verfassungsstruktur o.ä. gerichtet wurde.
Als dann ab dem 16. Dezember 1918 auf dem Allgemeinen Rätekongress auch die Fragen nach den Grundzügen einer künftigen deutschen Verfassung aufgeworfen wurden, waren die machtpolitischen Konstellationen auf diesem Kongress längst zu Gunsten der Mehrheits-SPD ausgerichtet und entschieden, was dann auch den Weg zur Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung ebnete – und zwar unwiderruflich.
Die grundsätzliche Frage, ob und in welchem Maße gegebenenfalls ein „Rätesystem“ entwickelt und implementiert werden könnte, wurde nach dem 20. Dezember 1918 kaum noch thematisiert; die Haltung von Hugo Preuß, der ja zumindest bis zur ersten Sitzung der neugewählten Nationalversammlung Anfang Februar 1919 die maßgeblichen Fäden bei den Verfassungsentwürfen in der Hand hielt, ist eher undeutlich.
Sicherlich war Preuß kein „Spartakist“, der einem „Sowjet-Deutschland“ das Wort geredet hätte; doch entsprach ein Teil der Idee vom Rätesystem zumindest seinen grundsätzlich Vorstellungen zum Thema Selbstverwaltung (oder nach heutigen Maßstäben auch zur „Subsidiarität“). Auch das grundsätzliche Konzept vom „Volksstaat“ hat bei Hugo Preuß schon eine gewisse Verankerung in den genossenschaftsrechtlichen Theorien seines Lehrers v. Gierke.
Zu den schwachen Bezügen, welche der Räte-Gedanke im späteren endgültigen Verfassungstext noch aufweist, siehe weiter unten.
IV) Zu den weiteren Verfassungsberatungen im Frühjahr 1919
Da Preuß mit seinen engsten Mitarbeitern unverzüglich nach seinem Amtsantritt mit den Vorarbeiten für einen ersten Verfassungsentwurf begonnen hatte, konnte er bereits Anfang Dezember konkrete Ergebnisse präsentieren, über die anlässlich einer gesonderten Besprechung im Reichsamt für Inneres vom 9. bis 12. Dezember 1918 ausführlich beraten wurde.
Neben den üblichen Referenten der Fachabteilungen, hohe Ministerialbeamte etc. auch ein Max Weber, denen vom federführenden Staatssekretär Preuß Gelegenheit zur Diskussion gegeben wurde:
„Zur Debatte standen vor allem die Struktur des Bundesstaates, die Kompetenzabgrenzung zwischen Reich und Ländern, die Frage einer Ländervertretung, das Amt eines Reichspräsidenten. Die Ergebnisse dieser Besprechung – an der von Seiten der Sozialdemokraten lediglich die beiden Beigeordneten im Reichsamt des Inneren teilnahmen – gingen in den ersten Entwurf ein, dessen Grundgedanken von Preuß in einer Denkschrift vom 3. Januar 1919 dargelegt wurden.“ (28)
Festzuhalten bleibt, dass dieser frühe Entwurf schlank gehalten werden sollte und nur die wichtigsten Merkmale und Strukturen einer künftigen verfassungsrechtlichen Organisation für einen deutschen Staat beinhaltete. Zu diesem „Kernbestand“ an Staatsorganisationsrecht zählten drei Abschnitte, einerseits das Verhältnis von Gesamtstaat zu den Ländern (Gliedstaaten), andererseits natürlich die Legislative (der Reichstag, also das Parlament) und drittens „Staatsoberhaupt“ und Regierung.
Zu diesem frühen Zeitpunkt blieb das Thema „Grundrechte“ noch völlig außen vor; gerade Preuß, der ja eine besondere historische Verantwortung anerkannte, wollte vermeiden, dass sich die teils zeitraubenden Beratungen zur sog. „Paulskirchen-Verfassung“ 1848/49 beim Grundrechtekatalog wiederholten. (29)
Aber auch ohne Überlegungen zu einem Grundrechtekatalog gab es genug verfassungsrechtliche Fallstricke aus der Zeit der Bismarckverfassung 1871, die gelöst werden mussten. Denn wer vielleicht geglaubt haben sollte, man könne doch einfach als Grundgerüst die alte Verfassung in der geänderten Version vom 28. Oktober 1918 (also nach formaler Einführung der parlamentarischen Monarchie) zugrunde legen, musste sich schnell eines Besseren belehren lassen:
Mit dem schnellen Austausch des „Souveräns“ (bis 1918 der alte Fürstenbund, ab 1919 dann die „Volkssouveränität“, also Demokratie) war es natürlich nicht getan!
Insbesondere die Frage nach dem „inneren“ Staatsaufbau, welche vor allem das Verhältnis des künftigen Gesamtstaates („Reich“) zu den Ländern umfasste, sollte noch große Schwierigkeiten bereiten.
Hierbei ging es nicht bloß um formale Kriterien wie „Zentralismus“ vs. „Föderalismus“, Bundesstaat oder (zentraler) Einheitsstaat.
Viel schwieriger sollte zunächst das Thema einer staatlichen Neugliederung (im Sinne von Zuschnitt) der künftigen Länder werden; denn gerade beim „Gliedstaat“ Preußen sollten sich die Geister scheiden.
„Der Entwurf sah 16 »Gebiete des Reiches« vor: Preußen (Ostpreußen, Westpreußen und Bromberg), Schlesien, Brandenburg, Berlin, Niedersachsen, die drei Hansestädte, Sachsen, Thüringen, Westfalen, Hessen, Rheinland, Bayern, Württemberg, Baden, dazu gegebenenfalls Deutsch-Österreich und Wien.
Dieser Entwurf wurde in seinen Grundzügen von den Volksbeauftragten akzeptiert, die jedoch zwei einschneidende Änderungen forderten. Zunächst mußten die konkreten Vorschläge für eine Neugliederung des Reichsgebietes gestrichen werden; an ihre Stelle trat eine allgemeine Klausel, die eine Neugliederung vorbehielt. Außerdem wurde die Aufnahme eines Grundrechtekatalogs gefordert (…).
Beiden Forderungen der Volksbeauftragten wurde jedoch Rechnung getragen, und in dieser überarbeiteten Fassung wurde der Entwurf mitsamt der Denkschrift dann am 20. Januar, einen Tag nach den Wahlen zur Nationalversammlung, (…) veröffentlicht. Auch dieser Entwurf war nur ein Fragment; er enthielt nur den »allgemeinen Teil der künftigen Reichsverfassung« (…).
Wohl nicht zuletzt aus diesem Grund nahm der »Zentralrat«, dem gegenüber der Regierung ein Kontrollrecht zustand, kritisch zu dem Entwurf Stellung und forderte am 22. Januar die Volksbeauftragten auf, nun doch noch einen sozialistischen Verfassungsentwurf ausarbeiten zu lassen. Auf der anderen Seite wurde dem Entwurf jedoch nicht nur der zu erwartende Protest der Einzelstaaten, sondern auch vielfache Anerkennung in der politischen Öffentlichkeit zuteil.“ (30)
1) Daher soll an dieser Stelle ein kurzes Zwischenfazit zur Arbeit von Hugo Preuß an der künftigen Reichsverfassung bis Ende Januar 1919 (bevor die gerade gewählte Nationalversammlung erstmals zusammentrat) gezogen werden:
Die besonders während des Weltkrieges aufgetauchten Strukturprobleme im Kaiserreich (und der zugrunde liegenden „Bismarckverfassung“) wollte Preuß mit einem „großen Wurf“ lösen.
Er wagte sich an das besonders heiße Eisen der Zerschlagung des preußischen Staates heran, indem er dessen „hegemoniale Rolle“ in einem deutschen „Gesamtstaat“ aufheben und einzelne Provinzen errichten wollte.
Dabei sollten auch alle künftigen Länder („Gliedstaaten“) mehr den Charakter von Gebietskörperschaften zur Erfüllung von Verwaltungsaufgaben erhalten („potenzierte Selbstverwaltungskörper“ nach Willoweit), aber trotzdem trat Preuß für die Idee des Föderalismus und der Selbstverwaltung ein. (31)
Wer Hugo Preuß unterstellt, er habe einen zentralistischen Einheitsstaat konzipieren wollen, tut ihm großes Unrecht an.
Vergleicht man seine Überlegungen zur gesamtstaatlichen Neuordnung mit dem „Bestand“ an Gliedern, aus denen sich das alte Kaiserreich gebildet hatte, bemerkt man sofort die riesigen Veränderungen, die erfolgt wären, hätte sich Preuß insgesamt durchgesetzt: Das Kaiserreich bestand aus 25 Einzelstaaten, nunmehr hätten es noch 14 „Gebiete“ plus gegebenenfalls Deutsch-Österreich und Wien sein sollen. (32)
Die von Preuß konzipierte Neugliederung des Reiches hätte nämlich die Chance zu durchgreifenden Reformen eröffnet: Mittels „Gebietsreform“ eine nachhaltige „Auflösung der alten Verwaltungsapparate“. (33)
Insbesondere die Zerschlagung der preußischen Bürokratie, die besonders im Verlauf des Ersten Weltkriegs spürbar angewachsen ist, hätte umfangreiche personelle und strukturelle Reformen ermöglicht.
Insoweit wäre eine bewusste Abkehr vom alten Obrigkeitsstaat, also ein echter „Kontinuitätsbruch“ auch verfassungsrechtlich manifestiert worden; dass insbesondere die Zerschlagung „Preußens“ misslang, führte dazu, dass sich spätestens ab 1923 eine immens spürbare Rivalität zwischen Bayern und Preußen herausbildete, die dem Gesamtstaat keinesfalls gut tun konnte. (34)
Was die Stellung des künftigen Staatsoberhaupts, fortan „Reichspräsident“, betrifft, sind die Überlegungen von Hugo Preuß ebenfalls innovativ:
Er bevorzugte bereits früh die Wahl des Staatsoberhauptes direkt durch das Volk (die Zahl der wahlberechtigten Deutschen, also das aktive Wahlrecht, war ja bereits durch Gesetz vom 30.11.1918 stark angestiegen); die Alternative wäre eine bloß „repräsentative“ Wahl durch das Parlament oder einer anderen mittelbaren Körperschaft, wie die sog. Bundesversammlung nach dem aktuellen Grundgesetz: siehe dort in Artikel 54 Absatz 3. (35)
Dass bei der Wahl Friedrich Eberts zum Reichspräsidenten 1919 (und auch noch einmal bestätigt im Jahr 1922) dann doch nur das Parlament beteiligt gewesen ist, muss als rein zeitbedingte Ausnahme angesehen werden, die aber das grundsätzliche Wahlverfahren nicht in Frage stellte, wie sich dann 1925/32 zeigen sollte – auch wenn das jeweilige Wahlergebnis doch sehr erschreckt! (36)
Wichtig ist festzuhalten, dass bei Preuß drei wirklich wesentliche Merkmale im Mittelpunkt seiner verfassungspolitischen Überlegungen standen: Demokratie, Parlamentarismus und Rechtsstaat.
Für ihn handelte es sich um miteinander verknüpfte und sich ergänzende Strukturen, die als Grundlage für dringende Kompromisse notwendig waren:
„Hugo Preuß wurde nicht müde, den tauben nationalistischen Ohren zu predigen, daß die Reichsverfassung aus den Schrecken des verlorenen Krieges immerhin ein Gut gerettet habe, nämlich die nationale Einheit als Staat und als Staatsvolk. Daß diese Einheit nicht zugleich auch Einigkeit bedeutet, war die große Gefahr, in der Preuß weniger „seine“ Verfassung schweben sah, als vielmehr das deutsche Volk. Hugo Preuß wußte, daß die demokratische Verfassung aus den Trümmern der Niederlage geboren war, belastet durch den Frieden von Versailles.“ (37)
Verknüpft man dieses Credo mit den drei von Preuß besonders hervorgehobenen Merkmalen, sollte sich doch eigentlich eine konstruktive Arbeitsgrundlage für die künftige Verfassung der ersten deutschen Republik ergeben, die auch den stürmischen Entwicklungen der Nachkriegszeit hätte standhalten können.
2) Ausgewählte Schwerpunkte in den Verfassungsberatungen
Nachdem sich die frisch gewählte Nationalversammlung Anfang Februar 1919 in Weimar zur ersten Sitzung konstituiert hatte (kurz zuvor hatte sich sogar der o.g. „Zentralrat“ noch einmal in die Diskussion eingebracht), und die ersten staatsrechtlichen Maßnahmen durchgeführt worden waren, wie Erlass eines Gesetzes „über die vorläufige Reichsgewalt“ vom 10.02.1919 (eine Art Verfahrensordnung für den Übergang), dann die „Einsetzung“ Eberts zum (vorläufigen) Staatsoberhaupt, Bildung des Kabinetts Scheidemann, ging man unverzüglich zum Thema der Verfassungsberatung über. (38)
Wie bereits oben angesprochen, ging aus der Tagung Anfang Dezember 1918 der erste offizielle Entwurf einer künftigen Verfassung hervor, der am 3. Januar 1919 als weitere Beratungsgrundlage vorgelegt wurde und als Entwurf I katalogisiert wird. (39)
Am 20. Januar 1919 wurde von Preuß dann Entwurf II vorgelegt, also direkt im Anschluss an die Wahl zur verfassunggebenden Nationalversammlung. Dieser zweite Entwurf wurde dann auch zur Grundlage für die offizielle Vorlage, die vorher schon im sog. Staatenauschuss diskutiert worden war, an das Parlament, um ins formelle Gesetzgebungsverfahren eingebracht werden zu können. Dies erfolgte am 21. Februar 1919, dabei handelte es sich um die Entwürfe III und IV.
Anfang März wurde ein Verfassungsausschuss unter Vorsitz des Liberalen Haußmann gebildet (der aus 28 Mitgliedern bestand), Ende März 1919 noch ein separater Unterausschuss für Grundrechte, dort hatte Friedrich Naumann (DDP) den Vorsitz.
In diesem Verfassungsausschuss wurde dann an den bisherigen Entwürfen weitergefeilt, bis zur Vorlage für die zweite Lesung in der Nationalversammlung am 18. Juni 1919 (der Entwurf V).
Dieses Datum ist insofern von Interesse, weil bereits drei Tage später die erste Regierung der zu diesem Zeitpunkt noch ohne umfassendes Verfassungsdokument regierten Weimarer Republik zurückgetreten war:
Ministerpräsident Scheidemann hatte aus Frust über das als nationale Schmach empfundene „Diktat von Versailles“ seinen Rücktritt erklärt und wurde vom liberalen Koalitionspartner DDP insoweit unterstützt.
Mit dem Rückzug der DDP aus der Regierung verlor auch Hugo Preuß sein bisheriges offizielles Amt als Innenminister und wurde übergangsweise zum „Reichskommissar“ bestellt, um die Verfassungsberatungen weiterbegleiten zu können, war aber danach ohne echten Einfluss. (40)
Wie bereits erwähnt, hat es insgesamt sechs Entwürfe bis zur endgültigen Fassung der WRV, die dann am 31. Juli 1919 im Plenum beschlossen wurde, gegeben.
Die teils langwierigen, oft aber auch geistlosen Beratungen brauchen hier nicht wiedergegeben zu werden.
An dieser Stelle sollen vier einzelne Verfassungseinrichtungen bzw. Strukturmerkmale kurz beleuchtet werden, die im breiten parlamentarischen Einvernehmen hätten gelöst werden können, sofern tatsächlich ein gemeinsamer Wille hierzu vorhanden gewesen wäre, die dann aber in der Verfassungswirklichkeit spätestens ab 1930 mit zur Destabilisierung bzw. auch zum Untergang der Weimarer Republik führten.
a) Art des Wahlrechts
Aus den Erfahrungen der Kaiserzeit (noch verstärkt im Königreich Preußen mit dem sog. Dreiklassenwahlrecht) war für Hugo Preuß klar, dass nur ein „Verhältniswahlrecht“ – im Gegensatz zur bisherigen reinen Persönlichkeitswahl – den künftigen Volksstaat auf eine breite Legitimationsgrundlage stellen konnte.
Denn bis zur letzten Reichstagswahl im Kaiserreich 1912 war es nicht ungewöhnlich, dass durch Absprachen bestimmter Fraktionen missliebige Kandidaten (meist aus der SPD) einfach ausgetrickst werden konnten: Der Wählerwille war in vielen Wahlkreisen nur unzureichend im konkreten Wahlergebnis abgebildet. Daher sollte sowohl bei der Wahl zur Nationalversammlung im Januar 1919 als auch den späteren Reichstagswahlen als Wahlrechtsgrundsatz die Verhältniswahl maßgeblich sein (so schon im frühen Reichswahlgesetz v. 30.11.1918). Einer der wenigen Gegner dieses Prinzips war ausgerechnet Friedrich Naumann, „Parteifreund“ von Hugo Preuß in der DDP.
Naumann argumentierte im Verfassungsausschuss gegen die Einführung des Verhältniswahlrechts, weil er es „für unvereinbar mit dem parlamentarischen Regierungssystem“ hielt und zwar unter Berufung auf das englische Wahlrecht: „Der Proporz werde der Parteizersplitterung dienen.“ (41)
Jetzt wird man den Gegnern des reinen Verhältniswahlrechts zwar zugutehalten dürfen, dass eine zu große Zersplitterung des Parlaments in differierende Fraktionen die Regierungsbildung sicher nicht einfacher macht, so dass z.B. die Einführung einer sog. Sperrklausel sinnvoll sein kann.
Jedoch scheiterte die konkrete Regierungsarbeit nebst Kabinettsbildung in der gesamten Weimarer Republik gerade nicht an einer zu großen Anzahl von Parteien bzw. Fraktionen, die es in den Reichstag geschafft hatten (bis zur „Berufung“ Hitlers am 30. Januar 1933 gab es zuvor zwanzig Regierungen), sondern lange Jahre an der Unfähigkeit bzw. dem Widerwillen bestimmter Parteien, sich auf konstruktive Politik zu verständigen (gutes Beispiel: das Scheitern des Kabinetts von H. Müller im März 1930).
Und selbst wenn es eine „Sperrklausel“ (wie heute 5 Prozentpunkte) gegeben hätte, ab der Septemberwahl 1930 hatten sich die Voraussetzungen für eine reguläre Regierungsbildung (sprich Koalitionsverhandlungen und Kompromissfindungen) noch weiter verschlechtert. Da hätte höchst wahrscheinlich auch ein reines Persönlichkeitswahlrecht nichts geändert: Es hätte auch danach noch ein aus vier teils konträren ideologischen Lagern zusammengesetztes Parlament untereinander gestritten.
Sozialisten, Liberale, Konservative (mit und ohne christlichem Hintergrund) und Rechtsnationalisten; wahrscheinlich gab es in den drei letztgenannten „Fraktionen“ sogar auch nach 1930 immer noch verkappte Monarchisten!
Ergänzt wurde das System zur Reichstagswahl durch die Möglichkeit der direkten „Volksgesetzgebung“ im Wege sog. Volksentscheide, Art. 73 Abs. 3 WRV: „so führt die Weimarer Verfassung mit der unmittelbaren Volksgesetzgebung ein völlig neues Element in das deutsche Staatsrecht ein, durch welches die demokratische Wesensart in besonderer Weise betont wird. Das souveräne Volk ist nicht nur der Idee nach Träger der Staatsgewalt, seine politische Tätigkeit bleibt nicht auf die Ausübung des Wahlrechts und die Berufung seiner Repräsentanten beschränkt, sondern es ist höchstes Organ der Legislative, berufen an der Gestaltung der Rechtsordnung aktiv mitzuwirken.“ (42)
Auf die konkreten Fälle in der Verfassungswirklichkeit der Weimarer Republik, als derartige Volksentscheide initiiert worden waren, kann hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden; im Prinzip waren es eigentlich immer sog. „Aufregerthemen“ wie die sog. „Fürstenenteignung“. Leider ging es dabei oft weniger inhaltlich um die Sache, sondern mehr um Stimmungsmache. Ein Grund dafür, dass dieses Instrument im Grundgesetz nahezu ausgespart worden ist.
b) Ausgestaltung des sog. Misstrauensvotums
Unabhängig davon, welches Wahlrechtssystem gilt, kann es immer einmal während einer laufenden Legislatur bzw. auch in einer vorhandenen Regierung zu Streit kommen, so dass sich die Frage stellt, wie innerhalb des Parlaments gegen eine „in Ungnade gefallene Regierung“ vorgegangen werden kann.
Für den alten Reichstag in der Kaiserzeit stellte sich dieses Thema nicht, bis kurz vor den revolutionären Ereignissen am 9. November 1918 hatte das Parlament überhaupt keine offizielle Möglichkeit, den vom Kaiser bestimmten Reichskanzler (samt seinen Regierungsmitgliedern) zu stürzen.
In der WRV wurde stattdessen gemäß Artikel 54 Satz 2 ein sog. „negatives“ Misstrauensvotum verankert, wonach der Kanzler oder auch nur einzelne Minister zurücktreten mussten, wenn ihnen das Parlament ausdrücklich das Vertrauen entzog.
Eine Bestimmung zur Nachfolge hat die Verfassung aber nicht getroffen, so dass zunächst offenblieb, wie es in einem solchen Fall mit der Regierungsbildung weitergehen sollte (hier liegt der entscheidende Unterschied zum Grundgesetz nach Art. 67 Abs. 1: sog. konstruktives Misstrauensvotum).
„Dabei ist anzumerken, daß es zu formellen Misstrauensvoten nur in wenigen Fällen gekommen ist; zumeist veranlasste schon ein innerer Zerfall der oft nur mühsam eine Weile zusammengehaltenen Koalition den Reichskanzler, das Rücktrittsgesuch einzureichen.“ (43)
Also ist auch an dieser Stelle festzuhalten, dass nicht die entsprechende Vorschrift in der Verfassung das eigentliche Problem darstellte, sondern im Unvermögen der meist heillos zerstrittenen Koalitionspartner die wahre Ursache für stetige Rücktritte diverser Reichsregierungen zu finden ist – oft hat es nach einem Rück-tritt überhaupt keine Neuwahlen gegeben (so schon beim allerersten Rücktritt des Kabinetts Scheidemann Mitte Juni 1919 oder auch mehrmals zwischen 1921 bis 1923).
c) Stellung und Funktion des Reichspräsidenten
Die grundsätzlichen Überlegungen von Hugo Preuß zum künftigen Staatsoberhaupt wurden bereits oben kurz dargelegt. Zu den wichtigsten Befugnissen des Reichspräsidenten gehörte, dass er als zweites „Standbein“ einer funktionsfähigen Reichsregierung gedacht war; aber weder als „Ersatzkaiser“ noch als „Gegenpol“, der ein eigen- bzw. selbständiges Reichskabinett auf Dauer zu ersetzen gehabt hätte.
Neben den eher protokollarischen Aufgaben ergaben sich die wichtigsten Befugnisse des Reichspräsidenten aus Artikel 48 WRV. Diese Vorschrift wird von vielen Fachkollegen aus den Geschichts-, Politik- und auch Rechtswissenschaften als die wahre Krux, gleichsam als toxisch für die Entwicklung zum Ende der Weimarer Republik hin angesehen.
Dabei sind die verschiedenen Absätze ganz genau zu beachten und die separaten Befugnisse und Handlungsmöglichkeiten des Reichspräsidenten strikt auseinanderzuhalten.
Insgesamt ist Artikel 48 WRV, zumindest was die Übersichtlichkeit belangt, nicht besonders gelungen; in den verschiedenen Entwürfen war auch lange Zeit vorgesehen, die maßgeblichen Absätze in getrennten Artikeln aufzunehmen.
Einerseits die „klassische“ Exekution, wenn ein Gliedstaat von seinen bundesstaatlichen Pflichten abfällt (z. B. Verwaltungsaufgaben nicht oder nur unvollständig erfüllt), so in Absatz 1 – eine Vorschrift, die in ähnlicher Weise als Artikel 37 auch im Grundgesetz aufgenommen wurde.
Insgesamt hat es vor 1933 vier Anwendungsfälle von der „Reichsexekution“ gegeben, der berühmteste und juristisch relevanteste Fall war der sog. Preußenschlag vom Juli 1932 (wobei etliche dort getroffene Maßnahmen auch auf Art. 48 Abs. 2 gestützt wurden; selbst das Urteil des Staatsgerichtshofs schafft es in seiner Begründung nicht immer, sauber zwischen den Rechtsgrundlagen zu differenzieren).
Andererseits werden in den Absätzen 2 bis 5 des Art. 48 dem Reichspräsidenten „außerordentliche Maßnahmen“ erlaubt, wenn (vereinfacht gesagt) die „innere Sicherheit“ bedroht gewesen ist, was in der Literatur auch als Diktaturrecht des Reichspräsidenten bezeichnet wird. (44)
Einzelheiten können hier nicht näher erläutert werden, außer dass es insgesamt über 250 sog . Notverordnungen gegeben hat, die auf Art. 48 Abs. 2 WRV gestützt worden sind (fast gleichmäßig auf die Amtszeiten von Ebert und Hindenburg verteilt).
Dabei ging es um ganz unterschiedliche „Notlagen“, zum Schluss regierten die Reichskanzler Brüning, v. Papen und v. Schleicher (über zwei Jahre hinweg) fast nur noch mit diesem Instrument; das in Absatz 5 eigentlich vorgesehen Ausführungsgesetz wurde aber niemals beschlossen, so dass bis zuletzt nie so richtig feststand, ob die Tatbestandsmerkmale von Artikel 48 Abs. 2 WRV auch konkret erfüllt worden waren.
Auch dieser Fakt deutet erneut auf ein Problem bei der „Verfassungswirklichkeit“ hin, also wie die WRV konkret von den Verfassungsorganen im täglichen Politikbetrieb angewendet wurde.
Gerade unter dem Reichspräsidenten Hindenburg, mit seinem Hang zu Präsidialkabinetten und persönlich-en Lieblingen, ist dann einiges schiefgelaufen, wofür weder die Abgeordneten der Nationalversammlung von 1919 noch Hugo Preuß persönlich auch nur das Geringste konnten.
d) Maßnahmen zum Binnenschutz der WRV
Hierzu können zahlreiche Verfassungsbestimmungen gezählt werden, die von Preuß und dem Verfassungsausschuss zumindest theoretisch wohl durchdacht waren:
Das fängt beim Demokratieprinzip und der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung an, geht auch über die (zahlreichen) Grundrechte bis zur „Homogenitätspflicht“ in Artikel 17 WRV und sogar Artikel 48 kann hierzu gerechnet werden, sofern dieser sachgemäß angewendet wurde.
Die Einrichtung eines Staatsgerichtshofes in Artikel 19 WRV war für damalige Verhältnisse ebenfalls besonders; höchstens noch mit dem „Supreme Court“ in den USA vergleichbar (auch wenn dieser teils ganz andere Klageformen und Zuständigkeiten kennt).
Und theoretisch war auch die Konstruktion als Bundesstaat durchaus geeignet, den inneren Frieden bzw. die Aufrechterhaltung der gesamtstaatlichen Funktionsfähigkeit und Ordnung zu sichern:
„Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die WRV in ihren bundesstaatlichen Regelungen Bestimmungen enthielt, welche teils ihrer Intention, teils ihrer objektiven Wirkung nach stabilisierend für die demokratische Republik wirken konnten. Dazu zählten – objektiv – die Trennung der Reichs- von den preußischen Staatsorganen und – subjektiv – die Mittel der Reichsaufsicht und der -exekution. Wenn diese Mittel in einzelnen Fällen dysfunktional eingesetzt worden sind, so ist dies nicht dem angewandten Recht, sondern dessen Anwendung anzulasten.“ (45)
Doch die wichtigste Voraussetzung für den „inneren Schutz“ einer Verfassung bzw. einer ganzen Rechts- und Gesellschaftsordnung ist deren Anerkennung durch die „Rechtsunterworfenen“ (früher Untertanen, heute Staatsbürger), die sich in einem „freiwilligen Gehorsam“ ausdrückt.
In der klassischen Staatslehre wird diese besondere Wechselwirkung, wonach die ganze Staatsgewalt bzw. Herrschaftsmacht nur dann von Dauer ist, wenn diese letztlich freiwillig anerkannt und akzeptiert wird, mit dem Merksatz: „Oboedientia facit imperantem“ (Spinoza) charakterisiert.
Wenn man so will, in wenigen Worten die Grundgedanken von Rousseau (Contrat social), Locke (Two treaties of government) und Kants Pflichtenlehre zusammengefasst.
Auch die Weimarer Republik und besonders ihr Verfassungswerk hätten unter solch glücklichen Sternen stehen können, wenn nicht ganz eigenartige Störfaktoren aufgetreten wären.
Hierfür hat es allerdings auch spezielle Gründe gegeben (von den „außenpolitischen Komplikationen“ durch den Versailler Vertrag ganz abgesehen), die durch etliche Unterlassungen bzw. Versäumnisse der maßgeblichen Politiker verursacht wurden:
Das beginnt damit, dass das kaiserliche Militär nicht einmal ansatzweise zerschlagen wurde. Nach Umbenennung in „Reichswehr“ und rein zahlenmäßiger Reduzierung, die letztlich durch den Versailler Vertrag vorgegeben wurde, konnte das alte preußische Offizierscorps nahezu ungestört weiter an (künftigen) Kriegsoperationen planen (sogar noch mittels der Schwarzen Reichswehr höchst konspirativ), wodurch das Selbstverständnis vom „Staat im Staate“ entstehen und aufrechterhalten werden konnte.
Dies geht weiter über den gesamten Bereich des öffentlichen Dienstes: Eine echte Neuausrichtung bzw. Umstrukturierung besonders des „Berufsbeamtentums“ wurde nahezu vollständig unterlassen (ähnlich wie auch nach 1945/49). Wenn tatsächlich, wie in Preußen, „politische Beamte“ ernannt wurden, so gab es einige von der SPD, die in der inneren Verwaltung oder im höheren Polizeidienst eingesetzt wurden, kam dann teils noch Pech bei der Auswahl geeigneter Kandidaten (z. B. eines Berliner Polizeichefs) hinzu.
Bei der speziellen Gruppe der Berufsrichter, in deren Reihen besonders lange viele Republikgegner ihr Unwesen treiben konnten, drückte der neue Staat beide Augen zu; dabei hätte man gerade bei diesen Funktionsträgern allen Grund gehabt, die Regelungen für (Erst-)Anstellung und Beförderung zu demokratisieren, nämlich durch geeignete Wahlausschüsse (unter Beteiligung möglichst vieler Laien), wodurch eine größere Transparenz hätte entstehen können. So blieb alles wie bisher: meist in Hinterzimmern mit entsprechend viel Vitamin B wurden Richterposten nur an Aspiranten vergeben, die regelmäßig die Gewähr boten, soweit vom Boden der WRV und der Republik insgesamt, wie nur möglich, entfernt zu stehen.
Im Bereich der Ökonomie wurde nahezu alles versäumt, obwohl das Schlagwort von der „Vergesellschaftung“ in den ersten Wochen der Revolution doch eigentlich in aller Munde gewesen ist.
Die Überführung volkswirtschaftlich bedeutsamer oder auch (kriegswirtschaftlich) kritischer Wirtschaftszweige in „Gemeineigentum“ bzw. in eine „gemeinwirtschaftliche Nutzung“ wäre gerade im Dezember 1918, als die erste Sozialisierungskommission ihre Arbeit hätte aufnehmen sollen, durchaus politisch durchsetzbar gewesen: aber nichts passierte. (46)
Da wundert es nicht, dass eine noch härtere Gangart, z.B. die Zerschlagung der Deutschen Bank oder anderer Bankhäuser, was zumindest von einigen wenigen angedacht worden war, gänzlich außer Betracht blieb (dabei waren es ja auch bekannte Bankiers, die an den zahlreichen wirtschaftlichen Krisen der 1920er Jahre bzw. nach 1930 prächtig verdienten und zumindest teilweise ab 1932 Hitler aktiv unterstützten).
Um es etwas zugespitzt zu formulieren: Erst haben bestimmte Kreise der Hochfinanz und des Großkapitals vor 1914 kräftig daran mitgewirkt, dass das Kaiserreich sich auf einen riskanten Wettlauf in Sachen Imperialismus eingelassen hat, um dann sehenden Auges in den Krieg zu schlittern (um das Bild von den Schlafwandlern leicht abzuändern), die dann nach 1918 zum Dank ihre Pfründe auch noch behalten durften.
Auf der anderen Seite wurden die Hoffnungen von Millionen Menschen, die als einfache Arbeitnehmer, Handwerksgesellen oder als Hilfskräfte in der Landwirtschaft (die klassischen Werktätigen) jeden Tag hart schuften mussten, schwer enttäuscht, weil ihnen die versprochene Teilhabe auf den verschiedenen Ebenen letztlich versagt blieb.
All diese Faktoren waren – in unterschiedlichem Ausmaß – dafür verantwortlich, dass eine echte Identifikation großer Bevölkerungsgruppen mit dem neuen Staat unterblieb, so dass sich auch kein „freiwilliger Gehorsam“ in nachhaltiger Weise einstellen konnte.
3) Die Grundrechte als soziales Bindemittel ?
Wie weiter oben bereits kurz ausgeführt, wollte Hugo Preuß das Thema „Grundrechte“ bei den ersten Beratungen aus Zeitgründen hintanstellen, aber keineswegs unter den Tisch fallenlassen; er versuchte halt einfach Prioritäten zu setzen. Zumal bei den klassischen Grundrechten zumindest ein Kanon seit 1848 vorhanden war; und die „sozialen Rechte“ waren ohnehin ein schwieriges Thema (Preuß als Pragmatiker wußte dies und wollte sich auch etwas zurücknehmen).
Ebert und Scheidemann, im Januar 1919, nach Ausscheiden der USPD, die profiliertesten Sozialdemokraten im Rat der Volksbeauftragten, gaben Preuß beim Thema „Grundrechte“ nur wenig klare Weisungen, von Ebert heißt es:
„Da müssen die Grundrechte etwas schärfer ausgearbeitet werden“ und die Ergänzung: „Wie steht es mit den Grundrechten?“, woraufhin der Preuß-Mitarbeiter Alfred Schulze ebenso knapp protokolliert entgegnete: „Ich werde sie aus der 48er Verfassung abschreiben, soweit sie heute noch paßt“. (47)
Ursprünglich hatte Preuß lediglich drei Grundrechtsbereiche in seinem Entwurf ausformuliert:
„Gleichberechtigung vor dem Gesetz, Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie Rechte der fremdsprachlichen Minderheiten – also Bereiche, wo dem gesetzgeberischen Mehrheitsprinzip vorab Grenzen gezogen wurden. Außerdem waren drei Platzhalter belassen für noch auszufüllende Grundsätze des „Schulwesens“, der „Bodengesetzgebung“ mit dem „Siedlungswesen“ und auch „Bestimmungen über die Vertretung der Arbeiter, besonders über Arbeiterräte bei den großen Unternehmungen“.
Diese gesellschaftspolitischen Elemente ließen erkennen, dass Preuß über ein liberales Grundrechtserbe hinauszugreifen bereit war.“ (48)
Gerade der zuletzt zitierte Punkt, dass Preuß bereit war, über die „klassischen Grundrechtsverbürgungen“ hinauszugehen, zeigt doch, wie offen und zukunftsorientiert er dachte.
Jedoch kann hier nicht eine umfassende Herleitung und Dogmatik der Grundrechte bzw. des Grundrechtsschutzes geleistet werden (was für viele Nichtjuristen auch nicht unbedingt spannend sein dürfte).
Und vergleicht man die ursprüngliche Absicht, die Preuß verfolgen wollte, den Abschnitt über die Grundrechte überschaubar zu gestalten, mit dem endgültigen Ergebnis von über 60 Artikeln (rechnet man den Abschnitt zur Rechtspflege hinzu), wird deutlich, dass die Abgeordneten (besonders im Verfassungsausschuss) ganz andere Prioritäten setzten bzw. parteipolitische Ziele verfolgten.
Kurz gesagt: Das Prozedere glich teilweise dem Gefeilsche auf einem „Jahrmarkt der Eitelkeiten“. (49)
Doch auf folgende Punkte muss im hier zu betrachtenden Kontext kurz eingegangen werden:
a) Zunächst die Gleichheit vor dem Gesetz
Mit Artikel 109 wurde nicht nur der zweite Hauptteil der WRV eingeleitet, der die Grundrechte und -pflichten der Deutschen festlegen sollte, sondern gleich ein ganz dickes Brett gebohrt:
Der Gleichheitsgrundsatz gehört zum kleinen Einmaleins eines „Volksstaates“, vor allem die alten Feudalrechte und Adelsprivilegien gehörten somit endgültig der Vergangenheit an.
„Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich“, so der gleichermaßen wohlklingende wie prägnante Absatz 1 von Artikel 109, der nicht weniger maßgeblich durch Absatz 2 ergänzt und präzisiert wird:
„Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“
Vergleicht man die rechtliche Situation bis zum November 1918, war dies schon eine fast bahnbrechende Neuerung und Verbesserung der (zumindest theoretischen) Stellung der Frau.
Auch hier ist es dann mehr auf die praktische Umsetzung in der Lebenswirklichkeit angekommen, so z. B.
dass immerhin drei Dutzend Frauen als Abgeordnete in die Nationalversamlung einziehen konnten und nicht mehr wie 1848 als „Zaungäste“ verschmäht in den hinteren Reihen der Zuschauerränge in der Frankfurter Paulskirche Platz nehmen mussten.
Besonders der mehr als beherzte Auftritt einer Marie Juchacz, die als erste Frau am 19. Februar 1919 in einem deutschen Parlament eine auch von den männlichen Kollegen beachtete Rede halten konnte, nachdem sogar der nicht mehr ganz so taufrische Sitzungspräsident ihr den nötigen Respekt zu zollen genötigt war, hat doch mehr bewirkt als tausend schöne Worte in akademischen Abhandlungen. (50)
Eine – aus heutiger Sicht absolut notwendige – spezielle Ergänzung des Gleichheitsgrundsatzes findet sich im zweiten Abschnitt der Grundrechte in Artikel 134 WRV: die Ausprägung des Grundsatzes von der Gleichmäßigkeit der Besteuerung.
b) Eigentumsschutz
Das Thema „Steuergerechtigkeit“ bzw. Steuerhoheit des Staates führt zum zweiten grundsätzlichen Thema beim Grundrechtekatalog der WRV, nämlich die Rechtsprobleme zu Inhalt und Reichweite des Eigentumsschutzes laut Artikel 153 (und ergänzt in Art. 154).
Obwohl bereits in der Paulskirchen-Verfassung und in den Verfassungen der konstitutionellen Monarchien als „Rechtsinstitut“ garantiert und oft sogar identisch formuliert, erschließt sich die genaue Bedeutung, was ist eigentlich „Eigentum“ und wie wird es erlangt, aus dem jeweils geltenden Verfassungsrecht überhaupt nicht. Sogar zwischen Juristen und Ökonomen (selbst die Soziologen melden eigene Definitionsversuche an) ist in Teilen unklar, was zum Umfang des Eigentums, vor allem bei immateriellen Gütern, zählt bzw. zählen sollte und wie Erwerb und Übertragung fair zu regeln sind. Insoweit spielen dann auch noch steuerrechtliche Vorschriften eine gewisse Rolle (extreme „Wirtschaftsliberale“ sehen in jeder Besteuerung gleich einen Akt der „Enteignung“).
Die politische Relevanz der Rechtsgarantie des Eigentums zeigte sich in der Weimarer Republik schon ziemlich früh: Einerseits forderten die von Enteignung bedrohten Fürstenhäuser den verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz ein (die Wittelsbacher waren schlau, die Hohenzollern bis heute arrogant und kleinere Fürsten nutzten ihr Vermögen teilweise sogar, um die Nazi-Partei finanziell zu fördern).
Andererseits stellten die wirtschaftlichen Folgen der Hyperinflation auch die Rechtsprechung beim Thema „Aufwertung“ vor große Probleme, als die Frage aufgeworfen wurde, ob Gläubiger von Geldforderungen schlechter gestellt werden können als andere Gläubiger: „Eigentum als Verfassungsproblem“. (51)
Insgesamt zeigte sich aber schon vor hundert Jahren, dass die aus dem römischen Recht resultierende Auffassung, wonach einem Eigentümer die nahezu unbeschränkte Sach- und Nutzungsherrschaft zustand, mit anderen Rechts- und Verfassungsgütern kollidieren konnte. Ein Problem, das beim Thema „Ressourcenbewirtschaftung“ spätestens in der Nachkriegszeit 1918 – 1923 große Bedeutung erlangen sollte (z. B. auch bei der Wohnraumbewirtschaftung oder der öffentlichen Fürsorge) und sich bis ins 21. Jahrhundert zum Gegensatz von Ökonomie und Ökologie noch weitaus steigern sollte: z. B. beim Klimaschutz als Verfassungsziel.
Auf weitere Einzelheiten zur Eigentumsproblematik in der Weimarer Republik kann hier leider nicht eingegangen werden, zeigt aber die permanenten Streitpunkte zwischen Inhabern (großer) Sachvermögen und der breiten Masse der besitzlosen Kleinbürger und einfachen Arbeiter deutlich auf.
Exkurs: zu den wirtschaftspolitischen Grundaussagen der WRV
Ähnlich wie bei den Fragen zur grundsätzlichen Staatsorganisation und zum Verhältnis der Einzelperson zum Staat musste auch der Bereich des Wirtschaftslebens spätestens nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs ganz neu gedacht und organisiert werden.
Wie schwierig selbst kleine Fortschritte bei sozio-ökonomischen Fragen werden konnten, zeigte sich am Beispiel der „Betriebsräte“. Als im Januar 1920 das entsprechende Reichsgesetz beraten und verabschiedet wurde, kam es zu tumultartigen Szenen vor dem Reichstag; blutige Konsequenz: wohl knappe 40 Todesopfer und eine dreistellige Zahl an Verletzten. Im Übrigen waren dies mehr als zwei Monate später in Berlin beim Kapp-Lüttwitz- Putsch (deutschlandweit, besonders im Ruhrgebiet ab Ende März, gab es natürlich deutlich höhere Opferzahlen).
Es war daher natürlich kein Zufall, wenn ein Mann wie Walther Rathenau, nicht ohne Grund Parteifreund von Hugo Preuß, der oft weit über den Tellerrand hinausschauen konnte, auch insoweit wichtige Impulse gesetzt hat.
Zwischen 1917 und 1922 (im Prinzip noch am Abend vor seiner ruchlosen Ermordung) widmete er sich den Fragen, wie in Deutschland eine „Neue Wirtschaft“ (im Sinne einer Alternative zwischen Kapitalismus und Bolschewismus) errichtet werden könne.
Einige Kernaussagen hat Rathenau in seinen 1921/22 gehaltenen Vorträgen „Die Wirtschaft ist das Schicksal“ zusammengefasst.
Dagegen waren die entsprechenden Bestimmungen in der WRV (Artikel 151 bis 165) lediglich:
„das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den verschiedenen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Richtungen, die in Regierung und Nationalversammlung miteinander rangen. Diesen Aussagen fehlt die systematische Geschlossenheit (…).“
So wurden zu Beginn des Abschnitts genuin wirtschaftsliberale Gedanken, wie „die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen“, die „Vertragsfreiheit“ und die „Eigentumsgewährleistung“, verankert.
„Der sozialistischen Grundforderung entsprechen die Artikel, die die Möglichkeit von Enteignung sowie der Vergesellschaftung wirtschaftlicher Unternehmungen vorsehen (Artikel 153 und 156). Das System der Sozialpolitik wird verfassungsrechtlich verankert (Artikel 161) und durch ein unbeschränktes Koalitionsrecht für alle Berufe, d.h. auch für Beamte ergänzt (Artikel 159). Aus dem Leitsatz für ein einheitliches Arbeitsrecht, daß die Arbeitskraft unter dem besonderen Schutz des Reiches stehe, ergibt sich die Verfassungszusage, daß jedem Arbeitsgelegenheit nachgewiesen, und wo das nicht möglich ist, Unterhalt gewährt werden soll. Entsprechend dem von der Reichsregierung am 4. März 1919 den streikenden Arbeitern gegebenen Versprechen sind auch die Räte in die Verfassung hineingenommen worden (Artikel 165). Sie bleiben aber auf den wirtschaftlichen Bereich beschränkt.“ (52)
Viele der wirtschaftspolitischen Programmsätze klingen zwar sehr schön (und um diese wurde auf dem spöttisch so genannten „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ auch hart gerungen), aber bis auf die Grundlagen für die Errichtung von Betriebsräten und der Einführung einer Arbeitslosenversicherung (formal erst 1927) hatte sich für die allermeisten Werktätigen nicht allzu viel im täglichen Leben geändert.
Daher kann an dieser Stelle eine Kurzbeschreibung der Verfassungsberatungen zur WRV, für die Hugo Preuß von Mitte November 1918 bis Juli 1919 verantwortlich zeichnete, abgeschlossen werden.
Schon die endgültige Abstimmung am 31. Juli 1919 zeigte, dass selbst in der Regierungskoalition, aus der allerdings wegen der Aufregungen um den Versailler Vertrag die DDP, deren Mitglied Preuß ja gewesen ist, kurz zuvor ausgetreten war, nicht alle Abgeordneten der neuen Verfassung zustimmten.
Die Abstimmung über die WRV am 31. Juli 1919 ist wie folgt ausgegangen:
Von den 423 Abgeordneten, die insgesamt in der Nationalversammlung vertreten waren, nahmen nur 337 an der Abstimmung teil, davon votierten 262 für, 75 gegen die Regierungsvorlage (immerhin haben 86 Abgeordnete gar kein Votum abgegeben, „glänzten durch Abwesenheit“). Somit haben rechnerisch über 160 Abgeordnete nicht für die WRV gestimmt, die Zustimmungsquote betrug nur knapp 62 Prozent. (53)
Da aber trotzdem die Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder der neuen Verfassung zugestimmt hatten, konnte Reichspräsident Ebert diese am 11. August 1919 unterzeichnen, so dass die WRV dann am 14. August 1919 wirksam in Kraft getreten ist.
Viele – auch wichtige – Abschnitte und Teilbereiche der neuen Verfassung werden in diesem Beitrag nicht ausdrücklich behandelt; zum einen weil diese nur wenig mit den eigentlichen Grundzügen, die Hugo Preuß einer modernen demokratischen Verfassung beimaß, zu tun haben, zum anderen weil diese zwar in der Theorie zu etlichen Kontroversen geführt haben, aber praktisch doch kaum eine Rolle spielten (und daher den Umfang des Beitrags nur noch weiter aufgebläht hätten, auch wenn gerade das Thema der Erzbergerschen Steuerreform, deren Grundlagen in Artikel 8 und 11 WRV zu finden sind, eine große Bedeutung erlangen sollte und mit einen Grund darstellte, warum Matthias Erzberger in „rechten Kreisen“ so unbeliebt gewesen ist, dass man ihm den Tod wünschte, wie Karl Helfferich).
Aus diesem Grund wird auch nicht weiter auf das gerade in der verfassungsrechtlichen Literatur der damaligen Zeit doch ziemlich breit ausgetretene Thema der (angeblich) einfach zu erfüllenden Voraussetzungen für eine Verfassungsänderung, siehe in Artikel 76 WRV, eingegangen.
Zum einen hat es in der staatsrechtlichen Praxis von Weimar gar nicht so viele Anwendungsfälle des Artikels 76 WRV gegeben, zum anderen war gerade der angeblich in dieser Vorschrift enthaltene „Relativismus“ auch nicht dafür verantwortlich, dass 1932 keine arbeitsfähige Reichsregierung mehr vorhanden war und dass der Reichspräsident – gleichsam in geistiger Umnachtung – am 30. Januar 1933 Hitler die „Macht“ einfach überlassen hat.
Es mag zwar sein, dass Artikel 76 WRV auch eine komplette Aushöhlung der wichtigsten Strukturmerkmale, so wie sie gerade für Hugo Preuß bestimmend waren, zugelassen hätte oder gar die Grundlage für die eigene Abschaffung hätte bilden können, doch war diese Vorschrift nicht ansatzweise für die Selbstaufgabe der Weimarer Republik am 30.01.33 herangezogen worden (allein schon weil die Mehrheitsverhältnisse im Reichstag völlig anders ausgesehen haben).
Als die in der Literatur als Methodenstreit in der Weimarer Staatsrechtslehre bezeichnete dogmatische Diskussion hierzu so richtig an Fahrt aufgenommen hatte, nämlich ab etwa 1927/28 war Hugo Preuß bereits zwei Jahre tot und konnte daher auch nicht mehr hieran teilnehmen.
Die wichtigsten Akteure standen damals der WRV auch nicht völlig ablehnend gegenüber, selbst ein Carl Schmitt hat seine extremen Positionen erst ab 1932/33 entwickelt. (54)
Nur noch ein kurzer Hinweis sei erlaubt, dass auch unsere aktuelle Verfassung noch über die Verweisungsnorm in Artikel 140 GG auf den kirchenrechtlichen Teil der WRV Bezug nimmt. Somit gilt auch heute noch Artikel 138 WRV, wonach die „Religionsgesellschaften“ (von manchen Pfaffen genannt) allein die letzten Jahre weit über eine halbe Milliarde Euro pro anno vom Staat, also den Steuerzahlern kassiert haben.
Historische Begründung bzw. Hintergrund: Die vermeintlichen Rechtsverluste aufgrund des „Reichsdeputationshauptschlusses“ von 1803.
V) Fazit zu den Grundlagen der Konzeption vom „Volksstaat“ bei Hugo Preuß
Preuß war ein Verfechter der parlamentarischen Demokratie westlicher Prägung. Die Idee vom „Volksstaat“ als eines „sozialdemokratischen Freistaates“ geht auf die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück und ist in Deutschland mit dem Namen und der Person Arnold Ruges eng verbunden.
Die damit verknüpften Grundüberzeugungen vertrat Preuß bereits lange vor dem Umsturz bzw. Zusammenbruch der „alten Ordnung“ im Herbst 1918:
„Er vereinigt Entwicklungslinien einer dezidiert westeuropäischen politischen Kultur in sich, die in dieser Kombination fast einmalig sind. Er ist ein öffentlich wirkender Intellektueller (…). Er ist ein politischer Professor in der Tradition des Vormärz (…), als ob seine ganze äußere Erscheinung, seine Lebenssituation und seine persönliche Gestalt auf das 19. Jahrhundert verweisen, auf die Zeit der Honoratioren und selbständigen Geister, die sich in keine Parteidisziplin einbinden ließen und die typisch für eine frühe Phase liberal-demokratischer Entwicklung waren. Aber das hieße, sich von Äußerlichkeiten leiten zu lassen, denn die ganze von Preuß verfochtene Politik ist neu und modern, sie ist auf sozialen Liberalismus und auf Massendemokratie ausgerichtet. Sie ist schon zu Zeiten von Wilhelm I., als Preuß seine ersten politischen und publizistischen Gehversuche unternimmt, ein Vorbote des demokratischen Verfassungsstaates in Theorie und Praxis.“ (55)
Preuß setzte also schon lange vor dem November 1918 den bürokratischen Obrigkeitsstaat in einen gleichsam dialektischen Gegensatz zu einer genossenschaftlich strukturierten Verwaltungsorganisation mit pluralistischer Zielrichtung bzw. Prägung (unter dem Oberbegriff der Selbstverwaltung).
Dieses Eintreten für Selbstverwaltung in pluralistischer Form brachte Preuß auch die Auszeichnung als „Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus“ ein (Andreas Voßkuhle, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, über Hugo Preuß).
Dabei wird „Pluralismus“ nicht bloß als verstaubtes Relikt der Theorie, sondern eher als „Öffnungsklausel“ im Verfassungsrecht gedeutet, um ganz unterschiedliche Entwicklungen in einer Gesellschaft unmittelbar auffangen zu können (frei nach Goethe: grün ist des Lebens goldener Baum).
Beachtet man, dass es keine einheitliche Definition des Begriffs von Pluralismus gibt, da sich die geistesgeschichtliche Entwicklung hierzu über einen längeren Zeitraum (von Kant Ende des 18. Jahrhunderts bis v. Gierke in Deutschland oder britische Theoretiker im frühen 20. Jahrhundert) hinzog, genügt es für den hier maßgeblichen juristischen Zusammenhang (die Entstehung einer staatsrechtlichen Verfassung) von einer „organischen“ Grundlage für eine Selbstverwaltung („selfgovernment“) im weitesten Sinne des Wortes auszugehen. (56)
Pluralismus in dieser Variation setzt zum einen die Bereitschaft zu offenen Diskussionsprozessen voraus, bedeutet zum anderen naturgemäß auch die Fähigkeit zur Kompromissfindung.
Auch hierin stimmte Preuß mit Friedrich Ebert überein, denn gerade Reichspräsident Ebert wusste um den Kompromisscharakter der WRV, ja sogar der gesamten Weimarer Republik. (57)
Denn aufgrund der politischen Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung war auch nicht mehr möglich, als den halbwegs besten Kompromiss zu versuchen (bereits das Ergebnis der ersten offiziellen Reichstagswahl im Juni 1920 – knapp zwei Monate nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch – zeigte ja auch deutlich, wie fragil die Gesamtsituation nach 1918 gewesen ist).
Abschließend noch ein kurzer Hinweis auf die geistige Größe von Hugo Preuß:
Denn für viele dürfte auch die Haltung von Preuß gegenüber Karl Liebknecht und vor allem Rosa Luxemburg überraschend gewesen sein, die er gerade nicht als die „Bösewichte“ in der politischen Auseinandersetzung der frühen Weimarer Republik anprangerte, wie er in einem Interview freimütig mitteilte:
„Das belegt schon der Zeitzeugenbericht des deutsch-amerikanischen Diplomaten Ellis Loring Dresel zur Jahreswende 1918/19: Preuß schätzte, diesem Fragesteller bereitwillig Auskunft gebend, Karl Liebknecht als „not bloodthirsty“ ein, er habe vielmehr „attented his courses, and had been an intelligent pupil“ (des Privatdozenten Preuß in den 1890er-Jahren), „and that Rosa Luxemburg was the cleverest woman as far as politics were concerned in Germany today“.
Für Preuß lag schon zu diesem relativ frühen Zeitpunkt die größere Gefahr bei den Rechtsparteien, die er aus tiefster Überzeugung ablehnte, ohne gleich in ein linksradikales Fahrwasser zu geraten:
„Natürlich lehnte Preuß, so wie die SPD und im Revolutionswinter 1918/19 auch ersichtlich die gemäßigte Mehrheit der USPD, den russischen Weg Lenins in die bolschewistische Diktatur entschieden ab.“ (58)
Will man drei – in vielen Belangen – sehr unterschiedliche Gestalten in der deutschen Politik im Zeitraum 1871 bis 1925 miteinander vergleichen, nämlich Otto v. Bismarck, Friedrich Ebert und auch Hugo Preuß, so gibt es trotz der zahlreichen Unterschiede doch eine Gemeinsamkeit, die sich in der Formel ausdrückt:
„Patriae inserviendo consumor“.
War es bei Bismarck die unbedingte Hingabe an den preußischen Staat (als beinahe schon sakrales Konstrukt, unabhängig vom jeweiligen Monarchen, denn er diente ja insgesamt, wenn auch unterschiedlich lange, drei verschiedenen Kaisern), so waren Ebert und Preuß beide unbedingte Anhänger des „Volksstaates“, bei dem die Bürger an erster Stelle stehen sollten (ein Dienstethos bzw. Amtsverständnis, das bei der heutigen Politikergeneration nicht immer selbstverständlich zu sein scheint).
Und allen dreien war zu Lebzeiten der ihnen gebührende Dank nicht immer sicher! (59)
VI) Ausblick
Mit der Verabschiedung der WRV im Sommer 1919 erhielt Deutschland eine moderne, in Teilen geradezu progressive Verfassung; für das „Volk der Dichter und Denker“ längst überfällig.
Der renommierte Zeithistoriker Horst Möller hat dies treffend zusammengefasst:
„Bedenkt man die Umstände, unter denen die neue Weimarer Reichsverfassung entstand, dann wird die exzeptionelle Leistung der Verfassungsväter erkennbar. Das gilt für Hugo Preuß, von dem die ersten Entwürfe stammen und der als Staatssekretär bzw. Reichsminister des Innern immer wieder bis ins einzelne an der Gestaltung der neuen Verfassungsordnung mitwirkte, ebenso für den 8. Ausschuß, den Verfassungsausschuß, die Nationalversammlung und ihr Plenum. Diese Leistung anzuerkennen bedeutet nicht, die dann schließlich in Kraft getretene Weimarer Reichsverfassung für die beste aller möglichen Verfassungen zu halten oder auch nur ihre schwerwiegenden Mängel zu leugnen. Aber diese Verfassung konnte weder ein reines, in sich schlüssiges Rechtsprodukt sein, noch konnten die Verfassungsväter die Verfassungswirklichkeit genau voraussehen, die aus der Anwendung der Verfassung folgte. Traditionen und Vorbelastungen sind dabei ebenso wirksam wie die aktuelle Konstellation bei der Entstehung und ihr Kompromißcharakter.“ (60)
Trotzdem wird man diese neue Verfassung durchaus als ein positives und optimistisches Werk begreifen können, mit dem das deutsche Volk (nach wie vor geeint, also in einem Staatsgebiet lebend) „sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen“ suchte (so die Präambel), also als vollwertiger Souverän die notwendige Staatsgewalt konstituierte.
Dies bedeutete auch, dass zumindest ein grundsätzliches Vertrauen in die Fähigkeiten des neuen Souverän, diese Aufgabe zu meistern, als auch in die maßgeblichen Personen, die für die Entstehung der WRV verantwortlich zeichneten, vorhanden war.
Hier ergibt sich ein Gegensatz zu den Zeitumständen, als das Bonner Grundgesetz entstand, und eher ein tiefes Misstrauen beim aber auch gegenüber dem „Volk“ vorherrschte.
Als der erste Bundespräsident der späteren Bundesrepublik, Theodor Heuss, von einem der zahlreichen politischen Beobachter nach 1945/49 einmal nach dem grundsätzlichen „Volkscharakter“ der Deutschen gefragt wurde, antwortete dieser belesene Mann mit einem Schillerzitat sinngemäß: das deutsche Volk sei fleißig, wenn man es in Ruhe lässt. (61)
Hugo Preuß, immerhin ein früher Parteifreund von Heuss, wollte dem deutschen Volk nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg diese dringend benötigte Ruhe gönnen. Die Zeitumstände verhinderten dies; nicht zuletzt der Versailler Vertrag, auf dessen Inhalt und Zustandekommen der „Vater der Weimarer Verfassung“ überhaupt keinen Einfluss hatte, war eine schwere, letztlich sogar zu schwere Bürde, um – nach einer notwendigen Katharsis – einen echten „Volksstaat“ aufbauen zu können, der mit seinen europäischen Nachbarn friedlich und erfolgreich zusammenlebt.
Dass der Gedanke von Völkerverständigung und einem friedlichen Miteinander der Europäer nach 1945 noch viel wichtiger und drängender werden sollte, zeigt nur die besondere Wertigkeit dieser Prämisse.
In dieser ideellen Sicht kann Hugo Preuß nicht nur als „Vater der Weimarer Verfassung“, sondern auch als Vorfahr für das spätere Grundgesetz gesehen werden. Auch insoweit kann dem Parteifreund von Preuß, dem bereits schon erwähnten Theodor Heuss, eine Charakterisierung überlassen werden: Heuss, selbst als einer der „Väter des Grundgesetzes“ ausgerufen, hat seinen Beitrag bei den Beratungen zum Grundgesetz lieber, weil von Natur aus ein bescheidener Mensch, als die eines „Geburtshelfers“ der Verfassung Deutschlands bezeichnet.
Auf jeden Fall zeichnet beide Männer eines aus: Liberalismus kann als Grundlage einer Politik des Ausgleichs, besonders von sozialen Interessengegensätzen, wertvolle Dienste leisten; zumindest wenn damit tatsächlich pluralistisches Denken gemeint ist – denn dann ist Liberalismus nicht bloß der peinliche Versuch, keine konkrete Meinung oder Einstellung zu haben, schon als Inhalt verkaufen zu wollen (ein Eindruck, den aktuell viele Berufsliberale in der von Heuss mitgegründeten Partei nach außen vermitteln).
Liberalität im Sinne dieser „Verfassungsväter“ konnte somit auch zu keinem Zeitpunkt mit „libertär“ oder „libertin“ verwechselt werden. Eine Einstellung, die auch künftig wünschenswert wäre.
Auch von Hugo Preuß hätte daher der erste Satz im Grundrechte-Katalog des Grundgesetz-Entwurfes, der vom Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee im August 1948 erarbeitet worden war, stammen können:
„Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“ (Artikel 1 Absatz 1 des genannten Entwurfs, der in weiten Teilen zur Vorlage des heutigen Grundgesetzes geworden ist, aber ausgerechnet dieses entsprechende „Bekenntnis“ wurde dann später im Parlamentarischen Rat gestrichen).
Umso ernüchternder und fast schon tragischer ist dann doch das Scheitern der Weimarer Republik und damit auch der WRV zu betrachten. Einige der möglichen Gründe wurden zumindest angeschnitten; viele weitere lagen entweder in der problematischen psychologischen Ausgangssituation Deutschlands (der von Heinrich Mann so treffend beschriebene „Untertanengeist“ ließ sich nicht über Nacht abstreifen) oder in persönlicher Unfähigkeit bzw. Überheblichkeit der Vertreter der nach wie vor herrschenden Klassen (vom Militär über die „hohen Beamten“ bis zur Großindustrie).
Preuß und seinen wichtigsten politischen Unterstützer, den späteren Reichspräsidenten Friedrich Ebert, treffen an den kommenden unheilvollen Entwicklungen am wenigsten auch nur ansatzweise Schuld: nicht nur weil beide eigentlich viel zu jung bereits im Jahr 1925 verstarben.
Beiden war klar, dass ein auf Pluralismus aufgebautes „Staatssystem“ der Fähigkeit zum Kompromiss zwingend bedarf; wenn diese teilweise von Anfang an, spätestens ab Frühjahr 1930 mit dem Scheitern der „Großen Koaltion“ aber unwiderbringlich verlorengegangen ist, war im Prinzip mit den üblichen politischen wie verfassungsrechtlichen Mitteln nur noch wenig zu machen (dann kam gleichsam automatisch „die Stunde“ von Carl Schmitt und noch schlimmeren).
Insoweit ließe sich auch vom gemeinsamen Scheitern von Ebert und Preuß sprechen; irgendwo aber auch symptomatisch für zwei Außenseiter (auch Ebert war ja sowohl als Sozialdemokrat aber auch als „einfacher Arbeiter“ immer davon bedroht, von der jeweiligen Mehrheit ausgeschlossen zu sein).
Die Außenseiterstellung von Hugo Preuß beruhte gleich auf mehreren Faktoren – selbst in „seiner“ eigenen Partei blieb er immer etwas im Hintergrund: trotz oder aber gerade wegen seiner unbestrittenen wissenschaftlichen Qualifikationen. (62)
Sogar die linksliberale DDP hat es Hugo Preuß nicht ermöglicht, ein Reichstagsmandat zu erringen; man gestand ihm lediglich eine erfolgreiche Kandidatur für den preußischen Landtag zu, wo er dann als Landtagsabgeordneter mit gleicher Begeisterung wie als „Verfassungsbeauftragter“ ans Werk ging.
Dass es für Außenseiter im deutschen Wissenschaftsbetrieb generell schwierig ist, zeigt die Vita von Hugo Preuß mehr als eindringlich – denn immerhin konnte er erst 1906 eine „offizielle“ Professur annehmen. Wenn schon ein knappes Vierteljahrhundert später bereits kurz nach der Machtübernahme Hitlers und seiner rechtsnationalistischen Helfershelfer die ersten jüdischen Professoren ihre Lehrstühle verlassen mussten (im selben Atemzug auch viele andere politisch unliebsame Hochschullehrer an allen möglichen Fakultäten), stellt dies nur unter Beweis, wie fragil pluralistische Demokratie und liberaler Rechtsstaat in Wirklichkeit sind. (63)
An dieser Stelle, quasi dem Übergang zum dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte, muss ein Beitrag, der als Schwerpunkt das Wirken von Hugo Preuß zu Beginn der Weimarer Republik betrachten soll, enden.
Thomas Fuchs, Assessor iur., Rechtshistoriker
Anmerkungen
1) Die als Anerkennung gedachte Ehrenbezeichnung „Vater der Weimarer Verfassung“ für Hugo Preuss hat sich nicht nur in Deutschland, sondern z.B. auch in Israel ganz zu Recht durchgesetzt, siehe u.a. unter der Überschrift: »The Weimar Constitution and its “Father” Hugo Preuss« hier: The Weimar Constitution and its “Father” Hugo Preuss (nli.org.il)
2) Preuß war bereits Mitte der 1890er Jahre als Mitglied in der Berliner Stadtverordnetenversammlung kommunalpolitisch tätig, Vertreter der „liberalen Freisinnigen“ und Mitglied der „Fortschrittlichen Volkspartei“ (Vorläufer der späteren Deutschen Demokratischen Partei). Das Engagement auf kommunaler Ebene war auch Ausdruck des traditionellen Gedankens der „Selbstverwaltung“ freier (Stadt-)Bürger.
Insoweit spiegelt sich auch die bei Preuß und anderen Liberalen vorherrschende Ideenwelt wider: soviel Selbstbestimmung, Autonomie und auch Subsidiarität wie möglich, sowenig (Obrigkeits-)Staat wie nötig.
3) Als die Meuterei bzw. Befehlsverweigerungen (so verständlich, und aus Sicht der Matrosen auch völlig nachvollziehbar, diese nach dem sinnlosen Auslaufbefehl Ende Oktober gewesen sind) nach dem Auftreten Gustav Noskes in Kiel ab dem 5. November 1918 in friedliche Bahnen gelenkt worden waren, zeigte sich aber augenscheinlich, wie schwach der politische Durchhaltewillen der preußischen Militärführung gewesen ist. Der damals in Kiel zuständige Stadtkommandant (ein Vizeadmiral namens Souchon) war eigentlich eine überforderte „Witzblattfigur“ und selbst ein höchstens mittelmäßig begabter Politiker wie Noske hatte den schnell im Sack. In geradezu atemberaubendem Tempo wurde in Kiel ein Arbeiter- und Soldatenrat gewählt und verbindlich eingesetzt: ein offensichtliches Fanal für den Umsturz im gesamten Kaiserreich.
Binnen vier Tagen waren Monarchie und wilhelminischer Obrigkeitsstaat Makulatur; doch was sollte nunmehr nachfolgen?
Zum „Kieler Matrosenaufstand“: https://de.wikipedia.org/wiki/Kieler_Matrosenaufstand
4) Von Ebert selbst ist überliefert, er habe gegenüber Preuß geäußert, seine eigene Partei habe „keine Leute“ (Lehnert mit Verweis auf den Preuß-Vertrauten Theodor Wolff) oder auch der damalige Büroleiter von Ebert, Unterstaatssekretär Baake, bekannte: »Wir haben keine hundert Leute, mit denen man auch nur die allerwichtigsten Posten besetzen konnte«, siehe Schulz, S. 53.
Dieser „Fachkräftemangel“ in Reihen der Mehrheits-SPD bezog sich auf alle Organisationen/Institutionen des untergegangenen Kaiserreichs, also der inneren Verwaltung, der gesamten Justiz und gleichsam naturgemäß auf die Sicherheitskräfte inklusive Militär. Gründe für diesen Mangel an geeigneten „Funktionsträgern“ gab es natürlich etliche.
Auch die Ende 1906 gegründete SPD-eigene Parteischule änderte daran letztlich nur wenig. Zum einen gab es dort natürlich keine juristische Fakultät oder eine Art „Verwaltungsakademie“, zum anderen waren Zielsetzung und auch die Auswahlkriterien, wer an die Parteischule geschickt wurde, nicht unbedingt geeignet, spätere Regierungsarbeit oder gar „Staatskunst“ zu lernen. Außerdem ist auch nicht auszuschließen, dass gerade die jüngeren Jahrgänge der männlichen Absolventen dieser Parteischule leider ihren Blutzoll leisten mussten und nicht mehr aus dem Krieg zurückkehrten. Woher sollten daher Ende 1918 genug Akademiker auf Seiten der revolutionären Kräfte kommen? Frauen durften damals (vor 1914/18) im Deutschen Reich ohnehin nicht studieren bzw. einen anerkannten Abschluss erwerben.
Es gab zwar einige Ausnahmen, insbesondere unter den Rechtsanwälten, die aber 1918/19 oft eher auf der radikaleren Seite der USPD bzw. des Spartakusbundes (und dann auch der KPD) standen. Aber auch „normale“ Rechtsanwälte waren in der Regel keine „Verfassungsrechtsexperten“.
5) Allerdings gab es bereits ab 1915 erste kritische Geister bzw. mahnende Stimmen, die darauf hinwiesen, dass die Zeit nach dem Kriege auf jeden Fall voller Schwierigkeiten sein werde, »das staatliche und wirtschaftliche Leben umzugestalten.« So der damals noch junge Theodor Heuss, zitiert nach Welchert, S. 28.
Auch Hugo Preuß hatte bereits im Sommer 1917 eine Art Alternativentwurf zur alten Reichsverfassung v. 1871 (zumindest in Grundzügen) konzipiert; mehr dazu im folgenden Text.
6) Zu diesem „Vollzugsrat“ halten sich die meisten Überblicksdarstellungen zur „Novemberrevolution 1918“ relativ bedeckt. Ein Grund für diese Zurückhaltung ist die Unsicherheit vieler Autoren, wie mit dem Gedanken bzw. der „Idee“ von der „Rätedemokratie“ (oder auch Rätesystem) umgehen. Da die Mehrheitsmeinung in der Geschichtswissenschaft (in den politischen Wissenschaften mag dies anders sein) davon ausgeht, dass die Unterstützer der Idee vom Rätesystem in der Umsturzphase zum Jahreswechsel 1918/19 (zumindest insgeheim) das bolschewistische Modell im Sinne der (späteren) Sowjet-Union vor Augen gehabt hätten und daher die leninistisch-stalinistische Variante dieser Konzeption umzusetzen versuchten, wird daher von einem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen der (als positiv bewerteten) parlamentarisch-repräsentativen Demokratie und dem (als negativ beurteilten) basisdemokratisch-direkten Rätesystem ausgegangen. Die Ablehnung der „Rätedemokratie“ wird auch gerne an den beiden populärsten Vertretern dieser Ideologie festgemacht: Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.
Diese allgemein reservierte Haltung vieler (westlicher) Historiker gegenüber dem „Rätesystem“ hat sich auch dann nicht grundlegend geändert, nachdem ab etwa Ende der 1960er Jahre ein Umdenken in der Zunft stattgefunden hatte. Bis dahin galt uneingeschränkt die von Prof. K. D. Erdmann geprägte Auffassung, in den Wochen des Winters 1918/19 habe es hinsichtlich der politischen Ausrichtung nur die eine Alternative zwischen der Errichtung einer Rätediktatur nach sowjet-russischem „Vorbild“ oder aber dem Aufbau einer parlamentarischen Demokratie (nach westeuropäischem Vorbild) unter Mitwirkung eher konservativer Kräfte gegeben (vgl. zur Theorienbildung: Büttner, S. 291 – 295).
Nachdem die Erdmann-These aufgeweicht war, werden zwar seitdem auch andere Konstellationen und Akteure beachtet und berücksichtigt, aber eine wirklich unbefangene Betrachtung des „Rätegedankens“ als politischer Idee im Grundsätzlichen, als System uneingeschränkter Teilhabe bzw. als einer egalitären Organisationsform sucht man in den populären Geschichtsdarstellungen vergebens.
7) Richard Müller war nach seiner Wahl zum Vorsitzenden des „Vollzugsrates“ nach den üblichen Merkmalen des „klassischen“ Verfassungsrechts eine Art „Parlamentspräsident“. In den nächsten Wochen (zwischen dem 10. November und Mitte Dezember 1918 sollte er zu einem der schärfsten Gegenspieler des „Rates der Volksbeauftragten“ – insbesondere der Mitglieder der Mehrheits-SPD – werden. Im Zusammenhang mit dem Reichsrätekongress Mitte Dezember 1918 wollte Müller eine stärkere Betonung des „Rätegedankens“ durchsetzen und besonders dafür sorgen, dass der Arbeitnehmerschaft so viele „Früchte der Revolution“ wie möglich erhalten blieben; da er den führenden Kräften in der Mehrheits-SPD ein Dorn im Auge war, wurde bereits zu Beginn des Kongresses dafür gesorgt, dass Müller keine Stimme im Vorstand des Kongresses erhielt, so dass er kaum Einflussmöglichkeiten mehr hatte. Das Ergebnis der Abstimmung am 19.12.1918 über die Bedeutung des Rätesystems als Grundlage der künftigen Verfassung einer „sozialistischen Republik“ fiel daher erwartungsgemäß zu Gunsten der Mehrheits-SPD aus, die dann auch ohne weitere Verzögerung über ihren Antrag zur Ausschreibung von Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung abstimmen ließ und mit noch deutlicherer Mehrheit gewann (siehe im Überblick bei Winkler S. 50f.).
Mit dem Abschluss des Reichsrätekongresses am 20. Dezember 1918 waren die Weichen für eine klassischeparlamentarische Demokratie ganz im Sinne der Mehrheits-SPD um Ebert und Scheidemann gestellt, alternative Modelle hatten danach keine Chance mehr, auf friedlichem Wege (also über Verhandlungen) in den Prozess der Verfassungsberatung Eingang zu finden oder gar realisiert zu werden.
8) Auch wenn in diesem Beitrag auf die Bedeutung der (verfassungsrechtlichen) Legitimationsgrundlage hingewiesen werden soll (z.B. auch im Vorgriff auf ähnliche Fragen bei der Entstehung des späteren Grundgesetzes), ist aber auch zu betonen, dass dies in der zeitgenössischen Rechtswissenschaft (um 1919) gar nicht einmal das große Thema gewesen ist: „Legitimität war nach vorherrschender Auffassung unter den Juristen »kein Wesensmoment der Staatsgewalt«. »Die Befugnis zur Ausübung der Staatsgewalt war … nicht durch den rechtmäßigen Erwerb, sondern durch den tatsächlichen Besitz derselben bedingt«. Hier entschied allein der Besitz der Staatsgewalt (…). Diese Auffassung galt zwar nicht gänzlich unumstritten; sie setzte sich jedoch durch und blieb erfolgreich. Es stand nur in Frage, wer denn nun wohl in Wirklichkeit »im Besitze« der Staatsgewalt stand. Für Gerhard Anschütz waren dies zu Anfang Dezember 1918 noch »die Exponenten der im Revolutionskampf siegreichen Klasse, die Arbeiter- und Soldatenräte«“ (zitiert bei Schulz, S. 42f.).
Anschütz, der unbestritten zu den liberalen Staatsrechtslehrern gerechnet wird, hat mit dieser Auffassung aber auch die ideelle Grundlage für die später von Carl Schmitt vertretene Souveränitätslehre gelegt („Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt“) und zumindest den Weg in das „Präsidialsystem“ ab 1930 geebnet. Dass dann ein Reihe von Versagern im Amt des Reichskanzlers (von dem greisen Hindenburg als Staatsoberhaupt ganz abgesehen) die Weichen für Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 gestellt haben, kann aber den frühen Theoretikern der Weimarer Verfassung nur schwer zur Last gelegt werden.
9) Auch wenn durchaus behauptet werden kann, Deutschland sei für knapp drei Monate (10. November 1918 bis 11. Februar 1919, so lt. Erdmann, S. 37) ein sozialistischer Staat gewesen, darf nicht übersehen werden, wie extrem verschieden die „sozialistischen Vorstellungen“ der Männer, die in dieser Übergangszeit verantwortungsvolle Positionen übernommen hatten, gewesen sind. Dies wurde spätestens auf dem Mitte Dezember 1918 einberufenen „Reichsrätekongress“ überdeutlich. Als knapp vier Wochen vorher die Idee für einen solch einmaligen Vorgang geboren wurde (von der historischen Bedeutung her wird man diese deutschlandweite Veranstaltung höchstens noch mit dem „Vorparlament“ zur Paulskirchenversammlung vom 31. März bis zum 4. April 1848 vergleichen können), gingen besonders die Mitglieder der USPD und noch mehr die „Revolutionären Obleute“ inkl. der „Spartakisten“ geradezu selbstverständlich davon aus, zumindest die entscheidenden Grundlagen für eine sozialistische Republik in Deutschland gelegt zu haben; was insbesondere bedeuten sollte, dass die bisherigen politisch einflussreichen „Klassen“ (Bürgertum und Adel) endgültig entmachtet waren und stattdessen das „Proletariat“ die „Macht“ übernommen hatte. Die Hoffnungen bei den USPDlern, den linkssozialistischen Gewerkschaftern und bei der Gruppe um Luxemburg und Liebknecht hatten sich aber rasch als unrealistisch herausgestellt. Den Mehrheits-Sozial-demokraten war es nämlich gelungen, mit den „alten Eliten“ neue Bündnisse zu schmieden, so dass der Weg in eine bürgerlich-parlamentarische Demokratie vorgezeichnet war (was aber keineswegs bedeuten musste, dass auch die „soziale Frage“ bereits im Dezember 1918 endgültig im Sinn der alten Verhältnisse entschieden war). Dass aber auch der nunmehr skizzierten bürgerlichen Demokratie letztlich die Demokraten fehlen würde, konnte oder wollte damals zum Jahreswechsel 1918/19 keiner ahnen.
10) Abdruckt bei Huber, Dokument-Nr. 7, siehe dort S. 6f.
11) Siehe bei Huber, abgedruckt als Dokument-Nr. 8.
12) Abgedruckt bei Huber als Dokument-Nr. 28 (ab S. 22).
Weniger bekannt ist die Vorgeschichte, bei der Walther Rathenau großen Anteil als „Strippenzieher“ und Vermittler hatte. Bereits Mitte Oktober 1918 ist Rathenau auf die damaligen Entscheidungsträger zugegangen, um darauf hinzuwirken, einen Ausgleich zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen zu finden; Motiv: eine „Bolschewisierung“ der Massen zu vermeiden. Ende Oktober 1918 hatte sich Rathenau dann auch mit Erzberger, damals u.a. Leiter der Zentrale für Heimatdienst, kurzgeschlossen, um Vorkehrungen für die Zeit des bevorstehenden Umbruchs zu besprechen. Noch vor den Umwälzungen vom 9. und 10. November 1918 wurden entsprechende offizielle Verhandlungen geführt, die dann am 15.11.1918 zur endgültigen Gründung der „Zentralarbeitsgemeinschaft“ führten, ohne dass nennenswerte Beeinträchtigungen durch die Revolution erfolgt wären; die politisch maßgeblichen Kräfte, die den „Rat der Volksbeauftragten“ bildeten und steuerten schienen den künftigen Tarifparteien nahezu freie Hand zu lassen. Erst ab Ende November begannen einige USPD-Mitglieder die bis dahin allzu bereitwillige Konsensbildung zu hinterfragen; vgl. im Überblick bei Schulz, S. 84f.
13) Winkler, S. 46.
14) Vgl. zu den Abläufen bei Lehnert, S. 501f. (im Übrigen bietet jede Darstellung zur Dt. Verfassungsgeschichte einen entsprechenden Überblick).
15) Vgl. Rürup, S. 223f. Interessant ist auch die Beschreibung des späteren Parteifreunds von Hugo Preuß (in der DDP) und ersten Bundespräsidenten (1949 – 1959), Theodor Heuss: „Der Staatsrechtler an der Berliner Handelshochschule, Hugo Preuß, schrieb seinen historisch gewordenen Aufsatz mit der Absicht, die Rechtsgrundlagen der Demokratie zu sichern, und er wurde von Friedrich Ebert gehört; aber konnte er durchgesetzt werden?“, Heuss, S. 159.
Der Preuß-Biograph Dreyer würde diesen Artikel sogar „zu den klassischen Dokumenten der Demokratie in Deutschland“ zählen wollen (Dreyer, S. 334); bedauerlicherweise war der ungekürzte Text sehr lange Zeit nur sehr schwer zu finden, denn wer hat schon das „Berliner Tageblatt“ v. 14.11.1918 noch greifbar?
16) Vgl. Darstellung bei Lehnert, a.a.O.; mit dem Hinweis auf die Erinnerungen Philipp Scheidemanns.
17) Lehnert, S. 499, spricht insoweit von einem Märchen.
18) Dreyer, S. 320 (die dort in Anm. 166 wiedergegebene Schilderung von Preuß` Sohn zeigt, dass sich sein Vater absichern musste, um z.B. einem Strafverfahren wegen Hochverrats vorzubeugen).
19) So Kluge, S. 159.
20) Rürup, S. 223.
21) Eine auch heute noch auf „germanistischer“ Grundlage beruhende Besonderheit im deutschen Zivilrecht ist die besondere Eigentumsbindung in der sog. „Gesamthand“ (siehe § 719 BGB). Eine derartige Beschränkung der Verfügungsbefugnis geht auf die Eigenart germanischer Familienstrukturen zurück. In den damaligen Familienverbänden (Großfamilie bzw. „Sippe“) gab es persönliches Eigentum überhaupt nur an wenigen Gegenständen des „täglichen Bedarfs“. Der große Rest, insbesondere der „Grund und Boden“, war in der Großfamilie gebunden, wodurch eine (wirtschaftlich meist unsinnige) Aufsplittung verhindert werden sollte. Solche grundsätzlichen Überlegungen stehen daher auch hinter dem Prinzip: Kauf bricht nicht Miete (bezogen auf Wohnraum, § 566 BGB); eine frühe Form von Sozialbindung, die ihren Bestand den „Germanisten“ um v. Gierke zu verdanken hat.
22) Zur „Historischen Rechtsschule“ im Überblick: https://de.wikipedia.org/wiki/Historische_Rechtsschule
23) Womöglich auch einer der Gründe, warum Adolf Hitler die Juristen insgesamt hasste und zwar noch mehr als sonst Akademiker und Intellektuelle. Zumindest kann mit Fug und Recht behauptet werden, dass die u.a. von Hans Frank geleitete „Akademie für deutsches Recht“ sehr wenig zustande gebracht hat.
24) Rürup, S. 220.
25) Abgedruckt bei Huber, Dokument-Nr. 37, S. 30f.
26) Rürup, S. 221.
27) Nun wird oft – gerade besonders gegenüber Rosa Luxemburg – der Vorwurf erhoben, die oppositionellen Kräfte im Spartakusbund, aus dem ja noch Ende Dezember 1918 die KPD hervorging, seien zumindest insgeheim antidemokratisch bzw. antiliberal eingestellt gewesen, was dann – in Verkennung der wahren historischen Umstände – ausgerechnet mit der Ablehnung der Wahlen zur Nationalversammlung begründet wird. Dabei wird von diesen Luxemburg-Kritikern (bewusst) übersehen, dass bis Mitte Dezember 1918 das Thema „Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung“ gerade nicht sakrosankt gewesen ist. Viele der besonders engagierten Arbeiterräte der ersten Stunde (also von Anfang November 1918) waren auch noch Ende 1918 vom „Rätegedanken“ erfasst und beseelt. Dass der Reichsrätekongress Mitte Dezember 1918 – aufgrund einer durchaus geschickten Steuerung der formalen Verfahrensabläufe seitens der Mehrheits-SPD, wodurch die USPD plötzlich in eine absolute Minderheit geriet und Luxemburg und Liebknecht sogar die Anwesenheit verwehrt wurde – auf einmal vollständig auf diesen Kurs, wonach nur noch die Wahlen zur späteren Nationalversammlung Thema waren, eingeschworen wurden, musste doch verständlicherweise zu entsprechenden Unmutsäußerungen gerade bei den Spartakisten führen. Und dass die Führer der Mehrheits-SPD damals jede Diskussion zum Thema „Rätesystem“ schon im Keim zu ersticken versuchten, könnte man genauso gut als undemokratisch oder antiliberal qualifizieren.
28) Rürup, S. 226. Interessant ist, dass bei dieser ersten offiziellen Beratung Anfang Dezember 1918 vom Rat der Volksbeauftragten keiner der Herren (Landsberg und auch Haase waren ja selbst Juristen, die zumindest von Berufs wegen eine gewisse Fachkompetenz aufweisen konnten) sich unmittelbar beteiligte. Die beiden „Beigeordneten“ im zuständigen Reichsamt waren, wie so oft, bloße Staffage, die teilweise von den langjährigen Berufsbeamten in den jeweiligen Reichsämtern wie Praktikanten behandelt wurden.
Ähnlich wirkungslos war die ebenfalls Anfang Dezember 1918 einberufene (Erste) Sozialisierungskommission, die eigentlich die Voraussetzungen hätte prüfen sollen, welche Industriezweige für eine mögliche Verstaatlichung in Betracht gekommen wären: Ergebnis gleich null, da der langjährige Beamte im damals noch bestehenden Reichswirtschaftsamt (August Müller) strikt gegen jede Verstaatlichung gewesen ist und dieser Beamte es fertig brachte, die politischen Vertreter dieser „Kommission“ (deren formaler Vorsitz K. Kautsky zukam) nach seiner Pfeife tanzen zu lassen; vgl. bei Winkler, S. 47. Rosa Luxemburgs Charakterisierung solcher Leute: „Witzblattfiguren“. Wenn selbst ein als „Marxist“ bekannter Mann wie Karl Kautsky, der lange Jahre eng mit Fr. Engels befreundet war, sich nicht gegen Vertreter der alten kaiserlichen Bürokratie (im Dezember 1918 waren nahezu alle hohen Beamte, die in den Ministerien bzw. Reichsämtern einfach übernommen worden waren, noch eingefleischte Monarchisten bzw. Anti-Republikaner) durchsetzen konnte, war eigentlich von Beginn an klar, wer auf verlorenem Posten stand.
29) Vgl. hierzu auch bei Heuss, S. 166. Der spätere Bundespräsident arbeitet in seinen Erinnerungen (aus eigener Anschauung!) den Gegensatz zwischen Preuß und dem damaligen Parteichef der linksliberalen DDP, Friedrich Naumann, bei der Frage eines klassischen Grundrechtekatalogs heraus.
30) Rürup, S. 226f. Dass der „Zentralrat“, der auf dem Reichsrätekongress Mitte Dezember 1918 zum Nachfolger des vorherigen Vollzugsrates zwecks Kontrolle des Regierungshandelns bestimmt worden war, sich in den Prozess der Verfassungsberatung überhaupt noch einbringen wollte, war zum damaligen Zeitpunkt eigentlich nur noch peinlich. Aufgrund des Ausganges der Wahlen zur Nationalversammlung stand fest, dass eine genuin „sozialistische“ Regierung (und auch Staatsform) nicht zustande kommen würde.
Da hätte man acht Wochen früher aktiv werden müssen; ganz gleich, wer für die Ausarbeitung einer echten „Räteverfassung“ überhaupt die fachliche Expertise gehabt hätte (von den braven Männern um Ebert und Scheidemann sicherlich keiner, auch Landsberg nicht, dann noch eher Haase von der USPD).
Der Vollständigkeit halber: ein rätedemokratischer Verfassungsentwurf wurde tatsächlich für das Land Baden konzipiert (hatte aber keine deutschlandweite Bedeutung), siehe bei Rürup, S. 242 Anmerkung 17.
31) Vgl. bei Heuss, S. 162f.
32) Zum Thema „Österreich“: Eigentlich war der Beitritt (um den Begriff „Anschluss“ hier zu vermeiden) des sog. „Deutsch-Österreichs“ inkl. Wiens beschlossene Sache. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs Österreich-Ungarn hatte die sog. Nationalversammlung von „Rest-Österreich“ am 12.11.1918 beschlossen, sich der künftigen „Deutschen Republik“ anzugliedern (somit den Zustand von 1866 zu revidieren). Auch der Rat der Volksbeauftragten betrachtete dies als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts der Österreicher (wie es US-Präsident Wilson ja versprochen hatte). Die WRV berücksichtigte dies auch in Art. 61 Abs. 2. Und auch für Hugo Preuß stand diese Option außer Frage; nur die Siegermächte sahen dies ganz anders und verhängten in Art. 80 des Versailler Vertrages ein sog. Anschlussverbot (unter Vorbehalt einer Völkerbundsentscheidung). Auch Österreich musste im Vertrag von Saint Germain (dort in Art. 88) dieses Verbot schlucken. Von diesen völkerrechtlichen „Komplikationen“ abgesehen, hatte sich aber eigentlich niemand so richtig Gedanken gemacht, wie eine „Eingliederung“ Deutsch-Österreichs praktisch durchzuführen gewesen wäre: Immerhin hatten sich während der über fünfzigjährigen Trennung die Rechtsordnungen in beiden Staaten teils sehr unterschiedlich entwickelt.
33) Rürup, S. 233.
34) Bereits am 25. Nov. 1918 fand eine erste Reichskonferenz der Ländervertreter statt, die dann am 25. Januar 1919 als Staatenkonferenz fortgesetzt wurde. Insgesamt 87 Vertreter der künftigen Gliedstaaten versuchten alles, ihre je eigenen Macht- u. Zuständigkeitsbereiche zu sichern. Ergebnis: keine Neugliederung des Reiches im Sinne von Hugo Preuß. Bei den gesamten Beratungen zur WRV sollte sich erweisen, „wie einflussreich die Einzelstaaten geblieben waren“, so Möller, S. 118.
35) Ob man beim Thema Wahl und Ausgestaltung des Amtes eines künftigen Staatsoberhauptes in gewisser Weise eine entfernte Ähnlichkeit zur Einrichtung der germanischen Thing-Versammlung erblicken kann, was man als Reminiszenz an die rechtshistorischen Bezüge von Preuß deuten könnte, muss hier nicht entschieden werden, stünde aber in einem gewissen Kontinuitätszusammenhang mit der Präambel zur WRV.
Zumindest hat es zu diesem Punkt auch ganz unterschiedliche Konzepte gegeben (die WRV folgte bei der Wahl des Reichspräsidenten grundsätzlich dem Vorbild der USA oder auch der aktuellen Französischen Republik), was auch innerhalb des linksliberalen Spektrums zu Dissens führte; auch z.B. mit Max Weber.
36) Vor allem weil der (im Amt bestätigte) Wahlsieger von 1932, ausgerechnet der kaiserliche Feldmarschall Hindenburg, sogar von der SPD mit Verve beworben wurde, um den „böhmischen Gefreiten“ wenigstens um ein knappes Jahr aufzuhalten.
37) Dreyer, S. 400. Wenn man die Originaltexte u. Redemanuskripte aus der damaligen Zeit liest, spürt man auf jeden Fall die tiefe Verbundenheit von Hugo Preuß zu seinem Vaterland und den Menschen in Deutschland. Daher sind die Hasstiraden, denen er von rechts-nationalistischer Seite ausgesetzt war, umso unverständlicher: Die WRV als „Judenverfassung“ zu diffamieren, ist eine absolut unwürdige Beleidigung.
38) Der Vollständigkeit halber: Auch zu Beginn der Verfassungsberatungen ging es um eine Beteiligung Österreichs, es sollten nämlich Abgeordnete aus Österreich an den Verhandlungen über eine Verfassung des (künftigen) Gesamtreichs teilnehmen dürfen, was aus verschiedenen Gründen aber unterblieb; vgl. bei Apelt, S. 96.
39) Zu den einzelnen Schritten siehe die Aufstellung bei Dreyer, S. 349 (insgesamt gab es sechs Entwürfe bis zur endgültigen Abstimmung am 31.07.1919).
40) Vgl. bei Dreyer, S. 394, der – leider nicht zu Unrecht – davon ausgeht, dass Preuß nicht nur bei den anderen Koalitionspartnern (SPD u. Zentrum), sondern auch bei seinen eigenen Parteikollegen nur wenig Rückhalt hatte; Ebert war ja damals als Staatsoberhaupt nicht direkt an der Regierung beteiligt und hatte auch nicht mehr den großen Einfluss in der SPD, so dass von ihm kaum Unterstützung für Preuß kommen konnte. Vielleicht war Preuß – zumindest im Sommer 1919 – auch einfach nur in der falschen Partei.
41) Insgesamt zu Naumanns Bedenken: Apelt, S. 97. Kennt man aber Naumanns chauvinistische Grundhaltung zumindest bis in die ersten Jahre des Ersten Weltkriegs (geäußert bei den Themen „Imperialismus“ und „Kolonialismus“), kann man aber auch „sozialdarwinistische Motive“ für sein Eintreten für eine Persönlichkeitswahl vermuten: pro Wahlkreis nur ein Sieger.
42) Apelt, S. 248.
43) Apelt, S. 209.
44) Vgl. bei Apelt, S. 260ff.; bei Gusy, S. 46ff. Im Grundgesetz ist in Artikel 91 zwar ein ähnliches Szenario betroffen, doch ganz andere Befugnisse geregelt.
45) Gusy, S. 36. Der Ebert-Biograf Besson ging gar soweit, die These aufzustellen, dass die Weimarer Republik Aspekte wie Toleranz und „Politische Freiheit“ (auch für ihre Feinde) insgesamt ernster nahm als den eigenen Schutz gerade vor den Republikgegnern, ders., S. 84.
46) Außer einigen Programmsätzen in den Art. 155 u. 156 WRV, die aber in der Praxis nahezu gar nichts bewirkten; Art. 165 kam zwar in Anwendung, aber dann doch eher höchst unglücklich!
47) Lehnert, S. 509f.
48) Lehnert, S. 507f.
49) Begreift man die (geschriebene) Verfassung als die höchste Norm (im Sinne von Kelsen) eines Staates, was also auch eine bestimmte Autorität vermitteln soll, ist es eher fragwürdig, wenn Denkmäler oder der selbständige Mittelstand als „Grundrechte“ verabsolutiert werden sollen, siehe in Art. 150, 164 WRV.
50) Das von Marie Juchacz ausgehende Selbstbewusstsein hat natürlich viele Männer irritiert, nicht nur im Parlament. So hat auch Apelt leicht verquer über Art. 109 (2) WRV geschrieben: „Diese Vorschrift hat der Praxis Schwierigkeiten bereitet, denn es kann sich, wie schon oben hervorgehoben worden ist, nicht um eine buchstäbliche Gleichstellung der Geschlechter handeln, dessen Verwirklichung naturbedingte Grenzen gezogen sind“ (Apelt, S. 306). Andere, echte Chauvinisten wie Heinrich v. Treitschke werden sich am 19. Februar 1919 im Grab herumgedreht haben.
51) Hierzu gibt es zahlreiche Abhandlungen, das Reichsgericht hat 1924 und 1925 zum sog. Aufwertungsstreit verschiedene Entscheidungen gefällt. Der Gesetzgeber hatte sogar „Steuernotverordnungen“ erlassen.
52) Die betreffenden Zitate finden sich bei Erdmann, S. 126f.
53) Aber auch die Abstimmung über das Grundgesetz im Parlamentarischen Rat 1949 war damals keine echte Offenbarung (neben den Kommunisten stimmten auch die bayrischen Delegierten der CSU gegen die Bonner Verfassung).
54) Zum „Methodenstreit“: https://de.wikipedia.org/wiki/Methodenstreit_der_Weimarer_Staatsrechtslehre
Zu Carl Schmitt soll in diesem Beitrag nur noch darauf hingewiesen werden, dass er ab 1928 ebenfalls an der Handelshochschule Berlin, wie Hugo Preuß, als Professor für Staatsrecht tätig gewesen ist.
55) Dreyer, S. 14.
56) Im Zusammenhang bei Dreyer, S. 136.
57) Vgl. hierzu bei Besson, S. 77 oder auch S. 69.
58) Zitiert nach Lehnert, S. 517.
59) Bismarck wurde von einem „Brausekopf“ (man könnte Wilhelm Zwo auch einen eitlen Gockel nennen) aus dem Amt gemobbt, Ebert als Staatsoberhaupt mit einer schmutzigen Rufmordkampagne überzogen, die wohl zu seinem frühzeitigen Tod wegen einer zu lange verzögerten Operation führte, und Preuß wurde sogar von der eigenen Partei ins Abseits gestellt: Undank ist der Welten Lohn!
60) Möller, S. 131.
61) Siehe bei Welchert, S. 219.
62) Zu seinem wissenschaftlichen Vermächtnis gehören über zwanzig Bücher und fast 180 Aufsätze und Beiträge in Zeitschriften etc., siehe Verzeichnis bei Dreyer, S. 455 – 462.
63) Ein Befund bzw. eine Problematik, die gleichsam naturgemäß auch für den heutigen deutschen Staat des Grundgesetzes zutreffen und im sog. „Böckenförde Theorem“ (benannt nach dem ehem. Richter am Bundesverfassungsgericht) einen verfassungstheoretischen Niederschlag gefunden hat. Wenn aber die in einem modernen Staat vorhandenen „Integrationsbedürfnisse“ extrem auseinanderdriften und sich diametral entgegenstehen, besteht entweder die Möglichkeit, dass eine an sich pluralistische Zivilgesellschaft auseinanderbricht, oder die Gefahr, dass staatliche Herrschaft zur reinen Willkür ausartet und als bloßes Instrument zur Verwirklichung von Partikularinteressen (meist des Großkapitals u.ä.) erscheint. Da es kein Patentrezept gibt, kann nur versucht werden, aus Versäumnissen der Vergangenheit rechtzeitig zu lernen und dabei nicht völlig „die Mehrheit der Vernünftigen“ zu übergehen (auch wenn der Schutz von Minderheiten zu einer freien und offenen Gesellschaft gehört).
Literaturhinweise
Apelt, Willibalt: Geschichte der Weimarer Verfassung, 2. Aufl. München 1964.
Besson, Waldemar: Friedrich Ebert. Verdienst und Grenze. Persönlichkeit und Geschichte Band 30. Göttingen etc. 1963.
Büttner, Ursula: Weimar – die überforderte Republik 1918 – 1933, in Gebhardt: Handbuch der deutschen Geschichte Band 18, 10. Aufl. Stuttgart 2010.
Dreyer, Michael: Hugo Preuß. Biografie eines Demokraten, aus der Reihe Weimarer Schriften zur Republik, Band 4, Stuttgart 2018.
Erdmann, Karl Dietrich: Die Weimarer Republik, in Gebhardt: Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 19 Taschenbuchausgabe, 10. Aufl. München 1991.
Gusy, Christoph: Weimar – die wehrlose Republik? Verfassungsschutzrecht und Verfassungsschutz in der Weimarer Republik, Tübingen 1991.
Heuss, Theodor: Erinnerungen 1905 – 1933. Fischer Bücherei Frankfurt/M. 1965.
Huber, Ernst Rudolf (Hrsg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Band 4: Deutsche Verfassungsdokumente 1919 – 1933, 3. Aufl. Stuttgart 1992.
Kluge, Ulrich: Die deutsche Revolution 1918/1919. Staat, Politik und Gesellschaft zwischen Weltkrieg und Kapp-Putsch, 1. Aufl. Frankfurt/M. 1985.
Lehnert, Detlef: Die Entwürfe von Hugo Preuß zur Weimarer Verfassung. Hintergründe und Veränderungen bis zum Zusammentritt der Nationalversammlung im Februar 1919, ZfG 71 (2023), S. 499 – 517. In: https://www.hugo-preuss-stiftung.de/Lehnert_Entwuerfe_in_ZfG_2023.pdf
Möller, Horst: Die Weimarer Republik. Eine unvollendete Demokratie, 10. Auflage München 2012.
Rürup, Reinhard: Entstehung und Grundlagen der Weimarer Verfassung, in: Eberhard Kolb (Hrsg.), Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, Köln 1972, S. 218 – 243.
Schulz, Gerhard: Zwischen Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik. Band 1: die Periode der Konsolidierung und der Revision des Bismarckschen Reichsaufbaus 1919 – 1930, Berlin 1963.
Welchert, Hans-Heinrich: Theodor Heuss. Ein Lebensbild, Frankfurt/M. 1959/1968.
Willoweit, Dietmar: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 4. Aufl. München 2001
Winkler, Heinrich August: Weimar 1918 – 1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, 4. Aufl. München 2005.
Ebenfalls empfehlenswert:
Lehnert, Detlef (Hrsg.): Hugo Preuß 1860 – 1925. Genealogie eines modernen Preußen, Historische Demokratieforschung Band 2, Köln u.a. 2011.
Zusätzlich noch der Hinweis auf die Hugo-Preuß-Stiftung:
https://www.hugo-preuss-stiftung.de/
Ebenfalls empfehlenswert:
Lehnert, Detlef (Hrsg.): Hugo Preuß 1860 – 1925. Genealogie eines modernen Preußen, Historische Demokratieforschung Band 2, Köln u.a. 2011.
Zusätzlich noch der Hinweis auf die Hugo Preuß Stiftung: www.hugo-preuss-stiftung.de