Licht und Schatten einer „Jahrhundertgestalt“ – Otto von Bismarck
I) Vorbemerkung
In diesem Beitrag zu Otto von Bismarck geht es auch im Folgenden um ganz besondere Aspekte zum Thema „150 Jahre Reichsgründung“, die einen anderen Blick -als den sonst üblichen- auf bestimmte Ereignisse der Nationalstaatsbildung vermitteln sollen.(1) Jenseits der gewohnten Darstellungen Bismarcks und der üblichen Beschreibungsmuster, die meist von einem ideologischen Vorverständnis geprägt sind, wird versucht, Höhen und Tiefen eines Mannes zu beleuchten, der, zumindest teilweise, in eine Reihe (im Sinne von „Kontinuitätslinie“) mit Adolf Hitler gestellt wird. Letzteres – kann hier bereits vorweggenommen werden – würde allerdings eine grundlegend falsche Schlussfolgerung darstellen und würde dem „böhmischen Gefreiten“ und seinen Anhängern eine viel zu große Entschuldigungsmöglichkeit einräumen.
Sebastian Haffner (eigentlich Raimund Pretzel), aufgrund eigener Erlebnisse als Nachwuchsjurist in den ersten Jahren der NS-Herrschaft und der 1938 folgenden Emigration nach England ein profunder Kenner der Verhältnisse in diesem Unrechtsregime, hat zwar eines seiner bekanntesten Bücher „Von Bismarck zu Hitler: Ein Rückblick“ betitelt, aber wusste schon zwischen objektiven Zusammenhängen und individueller Verantwortung einzelner Personen zu unterscheiden.(2)
Sofern man Bismarck für bestimmte politische Entwicklungen, die nach seiner Entlassung (sein „Rücktrittsgesuch“ vom 18.03.1890 war ja nicht unbedingt aus freien Stücken erfolgt) eintraten, verantwortlich machen will bzw. ihm die späteren Ereignisse zurechnen will (insbesondere die Großmannssucht nahezu einer ganzen Gesellschaft, nicht nur des letzten Kaisers), die dann nicht nur in den Ersten Weltkrieg mündeten, sondern auch den Weg ins „Dritte Reich“ vorzeichneten, ist man gut beraten, zwischen den tatsächlichen Leistungen Bismarcks und seiner plumpen Vereinnahmung durch bestimmte Kreise zu unterscheiden.
II) Einleitung
Alle Bismarck-Biografien sind etliche hundert Seiten lang, umfassen teils sogar über 800 Seiten. An dieser Stelle wäre es völlig vermessen, auch nur einen Bruchteil darstellen zu wollen.(3) Daher sollen, um das o.g. Anliegen, nämlich Besonderheiten hervorzuheben, einigermaßen umzusetzen, nachfolgend bestimmte Schwer- und Höhepunkte herausgegriffen werden, um die Bedeutung dieses Mannes wenigstens anzuschneiden.
1) Zunächst sei auf einen ganz bestimmten Deutschlandkenner hingewiesen, Henry Kissinger: „Few statesmen have altered the history of their society so profoundly as Otto von Bismarck.“(4)
Diese besondere Bedeutung, genauer gesagt, die Kraft zur Veränderung der Geschichte einer ganzen Nation bzw. Gesellschaft soll exemplarisch anhand dreier Zitate aus berühmten Reden Bismarcks untersucht werden. Diese stammen aus drei völlig unterschiedlichen zeitlichen und sachlichen Kontexten:
a) Eine der ganz frühen Reden Bismarcks vor dem „Ersten Vereinigten Landtag“(5) der preußischen Provinzen am 15. Juni 1847 in Berlin: „Ich gestehe ein, daß ich voller Vorurtheile stecke, (…) wenn ich mir als Repräsentanten der geheiligten Majestät des Königs gegenüber einen Juden denke, dem ich gehorchen soll, so muß ich bekennen, daß ich mich tief niedergedrückt und gebeugt fühlen würde“.(6)
b) Die erste Rede Bismarcks als „neuer“ preußischer Ministerpräsident vor der Budgetkommission (Haushaltsausschuss) des preußischen Landtags am 30. September 1862: „Preußen muß seine Kraft zusammenfassen und zusammenhalten auf den günstigen Augenblick, der schon einige Male verpaßt ist; Preußens Grenzen nach den Wiener Verträgen sind zu einem gesunden Staatsleben nicht günstig; nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen – sondern durch Eisen und Blut.“(7)
c) Eine der letzten Reden als Reichskanzler vor dem Reichstag am 6. Februar 1888: „Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt und diese Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen lässt.“(8)
2) Will man diese drei nun völlig unterschiedlichen Aussagen auf Gemeinsamkeiten bzw. eine innere Entwicklung des Redners Bismarck, der sich selbst, wie auch die meisten Zeitgenossen, nicht unbedingt als großen Rhetoriker eingeschätzt hatte, betrachten, fängt man zunächst bei den äußeren Umständen an.
a) Die erste Rede aus dem Jahr 1847 erfolgte, nachdem Bismarck erst kurz vorher überhaupt den Einstieg in die Politik gesucht hatte. Er war durch private Kontakte zu einflussreichen protestantischen Kreisen um Adolf von Thadden-Trieglaff auch mit den Gebrüdern Ernst Ludwig und Leopold Gerlach bekannt geworden. Insgesamt ein sehr konservativer und monarchistisch geprägter Kreis typisch preußischer Junker.
Zu diesem erlauchten Kreis zählte auch die Familie von Puttkamer, deren Tochter Bismarck im Sommer 1847 heiraten sollte (siehe unten). Besonders durch diese familiäre Verbindung wurden die Kontakte also „formalisiert“ und der (noch relativ) junge Bismarck hatte allen Grund, so schien es zumindest auf den ersten Blick, seinen Gönnern und Förderern nach dem Mund zu reden, also extrem konservative Interessen zu vertreten (was jedoch nicht allzu lange anhielt). Dennoch erklärt es Inhalt und Zielrichtung seiner o.g. Rede vom Juni 1847, da es der Meinung der von ihm repräsentierten Kreise entsprach, einen derart religiösen Anti-Judaismus zu propagieren. Bedenkt man, dass unter Friedrich dem Großen Preußen für damalige Verhältnisse eine geradezu flüchtlingsfreundliche „Willkommenskultur“ entwickelt hatte (bezogen auf verfolgte Hugenotten, aber auch jüdische Gemeinden, die andernorts vertrieben wurden), indem vor allem Kaufleute, Händler und Handwerker in Berlin und Brandenburg angesiedelt wurden und 1812 das preußische Staatsbürgerrecht auf jüdische Mitbürger erstreckt worden ist, fällt diese antijudäische Stimmung unter den Vertretern des preußischen Landadels besonders auf.(9) Diese Form von kulturellem Antisemitismus wird in historischen Darstellungen oft gerne vom sog. rassistisch-völkischen Antisemitismus abgegrenzt, wie er sich in den späten 1870er und 1880er Jahren entwickelt hat. Diese Unterscheidung ist zwar schon offensichtlich, aber für die betroffenen Menschen dennoch diskriminierend, da es vom Ergebnis her betrachtet keinen großen Unterschied macht, ob jemand als „Glaubensjude“ oder als „Rassejude“ verfolgt, entrechtet oder letztlich sogar getötet wird (im Übrigen nicht nur in Deutschland; auch in katholisch geprägten Teilen Frankreichs und besonders im zaristisch-orthodoxen Russland gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Verfolgungen und Ausschreitungen).
Für diese Art kulturell-religiös definierten Antisemitismus, wie er unter preußischen Junkern gepflegt wurde, war es bezeichnend, dass ein zum Protestantismus konvertierter (ehemaliger) Jude viele ihm zuvor gegenüber geäußerte Vorbehalte überwinden konnte, so dass auch eine Laufbahn im Militär oder Verwaltungsdienst offenstand. Letzteres, nämlich die Ausübung „öffentlicher Ämter“, wie Richter, bei der Polizei und der exekutiven Gewalt, wurde preußischen Juden im Gesetz von 1847 ausdrücklich verwehrt; auch an Universitäten waren sie nur noch minderen Ranges, von den Standesvertretungen, wie dem „Vereinigten Landtag“ sogar ganz ausgeschlossen.(10) Die o.g. Rede Bismarcks stand genau im Zusammenhang mit den Beratungen, die diesem „Judenstatut“ von 1847 vorausgingen.(11)
Zu Bismarcks späterem Verhältnis zu einigen deutschen Juden, die auf ihrem Gebiet großen Einfluss hatten, und die er zu seinen persönlichen Bekannten oder gar Freunden rechnete, siehe unten.
b) Die zweite Rede aus dem Jahr 1862 steht direkt im Zusammenhang mit dem damals akuten Verfassungskonflikt zwischen dem preußischen Landtag und der Regierung, sprich dem preußischen König Wilhelm I. Gegenstand war die geplante Heeresreform, für deren Finanzierung der Landtag eine mehrheitliche Zustimmung hätte abgegeben müssen, da es vor allem um Fragen der Finanzierung ging (das sog. Budgetrecht).
Da sich der preußische Landtag aber Anfang der 1860er Jahre vehement gegen diese Heeresreform ausgesprochen hatte, waren König und die jeweiligen preußischen Minister gezwungen, ohne gültigen Haushalt zu regieren, da durch die Weigerung des Landtags kein wirksames Haushaltsgesetz beschlossen werden konnte.
Zwar war der König von Preußen der alleinige Träger der Staatsgewalt (das monarchische Prinzip), doch bei der Ausübung der Staatsgewalt war er an die verfassungsrechtlichen Vorgaben gebunden; mit folgenden Auswirkungen: Zunächst war in Art. 62 Abs. 1 der Preußischen Verfassung v. 1850 vorgesehen, dass die Gesetzgebung „gemeinschaftlich“ durch den König und die beiden Kammern („Herrenhaus“ u. „Abgeordnetenhaus“) ausgeübt wurde; doch beim Haushaltsgesetz galt gemäß Art. 62 Abs. 2 der Preuß. Verfassung, dass zuerst die zweite Kammer, also das „Abgeordnetenhaus“, das nach den Grundsätzen des „Dreiklassenwahlrechts“ gewählt wurde, zuständig war. Dieses musste zustimmen, erst dann konnte das „Herrenhaus“ abstimmen. Das waren die Besonderheiten im klassischen Budgetrecht. Bei Ablehnung (und das Abgeordnetenhaus hat mehrfach, sogar nach einer Neuwahl die Zustimmung verweigert) stand die königliche Regierung daher vor einem großen Problem.
Dieser Verfassungskonflikt (in der Sache ging es um den Verstoß gegen den unscheinbar wirkenden Artikel 99 der Preuß. Verfassung) stellt auch heute noch einen Leckerbissen für jeden (Verfassungs-)Juristen bzw. Politologen dar. (12)
Im Übrigen war Bismarck auch nicht die erst Wahl bei der Besetzung des Postens eines preußischen Ministerpräsidenten. Erst nachdem andere Kandidaten verschlissen worden waren oder die Übernahme dieses Amtes abgelehnt hatten, kam er als Nachfolger ernsthaft ins Gespräch. Er selbst hat in seinen Memoiren vom „Konfliktministerium“ gesprochen. Damit soll letztlich gemeint sein, dass das eigentliche Motiv für seine Ernennung durch König Wilhelm I. Bismarcks unerschrockene Art beim Umgang mit Problemen bzw. Schwierigkeiten gewesen sei.
Der König wollte sich Bismarcks zweideutigen Ruf als scharfes royales Schwert zu Nutze machen; man kann aber auch sagen, Bismarck war im Herbst 1862 der letzte Strohhalm für den preußischen König, um die drohende endgültige Niederlage im Abgeordnetenhaus abzuwenden und das Gesicht zu wahren. Zunächst war der Ausgang des Konflikts offen.(13)
c) Und die dritte Rede von 1888 war wohl die letzte mit einer großen außenpolitischen Zielrichtung; sie sollte noch einmal die Rolle und Verantwortung des „Staatsmannes“ Bismarck betonen.
Hintergrund war wie so oft das europäische Bündnissystem, somit im Kern das Problem, wie konnte das Deutsche Reich eigene Sicherheitsinteressen wahren und potentielle Gegner (nicht nur Frankreich) einerseits von der grundsätzlichen Friedfertigkeit überzeugen, aber andererseits auch Handlungsfähigkeit zu demonstrieren.(14) Daher wollte Bismarck neben einem fein verwobenen System internationaler Verträge auch eine starke Armee. Ab Mitte der 1870er Jahre ein Dauerbrenner in der Bismarckschen Außenpolitik. (15)
Mit dieser kurzen Auswahl berühmter Reden Bismarcks soll die Einleitung enden. Der zeitliche Umfang erstreckt sich über 40 Jahre seines Politikerlebens; jedes Mal ging es ihm um den Kern seiner Überzeugungen. Diese erfuhren im Laufe der Zeit notwendigerweise gewisse Änderungen; dennoch dürften einige der charakteristischen Wesenszüge dieses Mannes klar geworden sein.
III) Eckdaten aus Bismarcks Biographie
Aus der Fülle seines langen Lebens können hier nur wenige wichtige Punkte herausgegriffen werden. Geboren am 1. April 1815, stammte er väterlicherseits aus einem uralten Landadelsgeschlecht aus der „Altmark“ als Teil der Mark Brandenburg, wodurch er sich gegenüber den erst später aus Süddeutschland übergesiedelten Hohenzollern zumindest gleichrangig (wenn schon nicht ebenbürtig) empfand; ähnliches Standesdenken war unter preußischen Junkern durchaus verbreitet. Seine Mutter, der er zeitlebens sehr reserviert gegenüberstand, was wohl insgesamt sein Verhältnis zu Frauen prägte (manche nennen ihn gar einen Misogyn), stammte dagegen aus einer bürgerlichen Familie; Anfang des 19. Jahrhunderts war eine solche standesungleiche Ehe zwar nicht unmöglich, aber auch nicht die Regel.
In seinen Memoiren bezeichnet sich Bismarck selbst als ein „normales Produkt“ des staatlichen Schulunterrichts, als er 1832 die Schule abschloss, um dann Juristerei zu studieren (weniger aus Liebe zum Recht, denn mehr um das Studentenleben auszukosten), die auf das Examen folgende Referendarzeit hat er dann allerdings gründlich vergeigt, so dass er weder im Justiz- noch im Verwaltungsdienst eine offizielle Anstellung gefunden hätte, was ihm aber auch nicht zusagte (er hatte eine Abneigung gegen alles „Bürokratische“). Nachdem er nur höchst widerstrebend seinen einjährigen Militärdienst abgerissen hatte (er, der später oft in Gardeuniform auftrat), bewirtschaftete er mit Mitte Zwanzig die elterlichen Güter und gab sich längere Zeit dem dekadenten Leben eines Landjunkers hin (z.B. Glücksspiel, Jagd und Zechgelage).
Mit Anfang Dreißig wechselte Bismarck in die „Kommunalpolitik“; sein „Sprungbrett in die Welt der Politik war seine Stellung als Grundherr, und er betrat diese Welt in Begleitung seiner Nachbarn und Standesgenossen.“(16) Rein interessengeleitet, nicht weil ihm am Allgemeinwohl gelegen gewesen wäre, setzte sich Bismarck für den grundsätzlichen Erhalt der Patrimonialgerichtsbarkeit ein (siehe unten Anmerkung 11). Ihm und seinen erzkonservativen „Freunden“ ging es um die Aufrechterhaltung traditioneller Hoheitsrechte und Privilegien; dem Bewahren des adligen Gutsherrenstandes, wie dieser sich in Preußen besonders im 18. Jahrhundert ausgebildet hatte, aber Mitte des 19. Jahrhunderts reichlich antiquiert wirkte.
Kümmerte sich Bismarck zwar bis dahin einige Jahre, sogar mit wirtschaftlichem Erfolg, um die väterlichen Güter, so doch eigentlich ohne echte Hingabe oder Begeisterung, eher als Lebemann oder auch „Tunichtgut“.
„Die neue politische Tätigkeit bereitete Bismarck enormes Vergnügen (…). Er hatte den Sinn seines Lebens gefunden. Er wurde zu einem brillanten, beredsamen und auf überwältigende Weise überzeugenden Parlamentspolitiker – und blieb es zeit seines Lebens.“(17)
Es handelte sich also eher um einen zufälligen Einstieg in die Welt der niederen Provinzpolitik, als Bismarck ab 1845 (zunächst kurz in der Provinz Pommern, dann als Vertreter der „Ritterschaft“ für die Provinz Sachsen) seine „Karriere“ startete. Zunächst ein kurzer Überblick zur politischen Situation in Preußen ab 1840 bis kurz vor dem Revolutionsjahr 1848: „Während sich in den 40er Jahren die Dinge in den meisten deutschen Ländern kontinuierlich weiterentwickelten, entstand in Preußen eine neue politische Lage. (…) zumal ja ohne Preußen, eine der beiden deutschen Großmächte, eine Lösung der deutschen Frage nicht vorstellbar war. Als Friedrich Wilhelm IV. 1840 den preußischen Thron bestieg, war das, typisch für das monarchische System des Jahrhunderts, für die Öffentlichkeit eine Stunde der Hoffnung. Er galt als phantasievoll und aufgeschlossen (…); er war gegen den bürokratischen Obrigkeitsstaat, wie er unter seinem Vater dominiert hatte, und gegen seine Erstarrungen (…); er war nicht auf Konflikt, sondern auf Versöhnung aus.“(18)
Im Prinzip hätten die ersten Regierungsjahre Friedrich Wilhelms IV. wichtige Impulse sowohl für Preußens innen-, insbesondere die beginnenden sozialpolitischen Entwicklungen (Stichwort „Industrielle Revolution“) als auch für eine Überwindung der „gesamtpolitischen“ Erstarrung im Deutschen Bund setzen können. Wie so oft kam es anders, der neue König irritierte nicht nur seine Untertanen, sondern auch die Herrschenden in Wien und St. Petersburg; man sprach sogar davon, die gesamte Politik Friedrich Wilhelms IV. sei „eine lange Kette von Missverständnissen“ gewesen, er habe für „mannigfache Verwirrungen“ gesorgt.
So auch in Bezug auf die -für die preußische Politik maßgebliche- Verfassungsfrage – bedenkt man, dass nach 1815 große Gebiete am Rhein und in Westfalen preußisch wurden, konnten die „altpreußischen“ Strukturen der Mark Brandenburg bzw. Ostpreußens nicht mehr adäquat funktionieren; der „Vereinigte Landtag“ im Frühjahr 1847 war auch deshalb für den König im Ergebnis ein Reinfall, weil sich die Delegierten mehr Mitbestimmungsrechte erhofft hatten, die ihnen die Regierung aber keinesfalls einräumen wollten. Besonders beim Geld hörte aber die Freundschaft bzw. „Untertänigkeit“ gegenüber dem König auf, so dass eine breite Mehrheit von Ostpreußen bis Rheinländern jede Geldbewilligung ablehnte.(19) Die Fronten waren endgültig verhärtet, der König löste dieses „Schein-Parlament“ einfach wieder auf. Theoretisch wäre damit auch die eben erst gestartete politische Karriere Bismarcks wieder im Boden seines Rittergutes in Schönhausen versandet. Doch dann kam das Jahr 1848.
Bismarck hatte, kurz nachdem der Landtag aufgelöst worden war, Ende Juli 1847 die Tochter eines seiner Standesgenossen, Johanna v. Puttkamer, geheiratet, obwohl er eigentlich viel stärker an einer engen Freundin von ihr interessiert gewesen ist (wie stark „Gefühle“ oder mehr Kalkül bei Bismarck eine Rolle spielten, muss hier nicht entschieden werden; Fakt ist, dass Bismarck bereits als Student hoffnungslose Beziehungen hatte und selbst später als gestandener Diplomat Liebesbeziehungen zu verheirateten Frauen unterhielt; aber Frau Bismarck sollte dennoch still im Hintergrund eine wichtige Rolle spielen).
Bereits zu Beginn des Jahres 1848 sollte nahezu in ganz Europa eine Welle revolutionärer Ereignisse die bisher angestammten Verhältnisse erschüttern.(20) Zunächst gingen in der zweiten Februarhälfte 1848 die Menschen in Frankreich, vor allem in Paris, „auf die Barrikaden“; zeitweise schlossen sich Arbeiter und Bürger gegen die verhasste Regierung und den König zusammen, diese wurden gestürzt bzw. gingen ins Exil. Seitdem war das Wort „Barrikade“ in konservativen und monarchistischen Kreisen ein absolutes „no go“. Von Paris schwappte die revolutionäre Welle zunächst auf Süddeutschland über, um dann auch Preußen zu treffen.(21) In Berlin kam es im März zu Unruhen, die, neben den Todesopfern unter der Zivilbevölkerung, noch mindestens zwei weitere höchst interessante Details mit sich brachten: König Friedrich Wilhelm IV. musste klein beigeben und den Demonstranten politische Zusagen machen, nachdem sein Bruder und Thronfolger, der spätere Wilhelm I., in die Menge feuern ließ („Kartätschenprinz“) und kurzfristig ins englische Exil musste (dieser „Kotau“ eines preußischen Königs vor dem „Pöbel“ führte zu einer ersten Erschütterung in der Monarchie Preußens). Bismarck wollte mit einem Trupp „Freiwilliger“ nach Berlin, den bedrängten Hohenzollern zur Hilfe eilen, um die Aufständischen zur Not mit Waffengewalt niederzuwerfen, musste aber zur Kenntnis nehmen, dass
sein Einsatz nicht gewürdigt wurde bzw. seine Pläne zu einer „Gegenrevolution“ bei Hofe als intrigant abgelehnt wurden. Hierbei zog er sich die lebenslange Gegnerschaft der Ehefrau Wilhelms I., der späteren Königin und ersten Kaiserin Augusta, zu (hierzu weiter unten). Bismarck galt fortan als „royalistischer Heißsporn“, wie er sich selbst in seinen Memoiren bezeichnete.
Auch ohne Bismarcks „Freikorps“ konnte sich bis Ende 1848 in Preußen dennoch eine ultrakonservative Gegenbewegung (zumindest teilweise) durchsetzen. Es gab die sog. Okroyierte Verfassung vom Dezember 1848 als Einlösung des königlichen Versprechens, eine Verfassung zu gewähren. Die Grundproblematik, Bismarck nannte es einen „Prinzipienstreit, welche Europa in diesem Jahre in seinen Grundfesten erschüttert hat“ (22), bestand in den nicht überbrückbaren Gegensätzen zwischen bürgerlichem Liberalismus und den konservativen Kräften. Dieser Konflikt der „Weltanschauungen“ verknüpfte sich zudem mit materiellen Interessengegensätzen, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch extrem zuspitzen sollten (insbesondere als die dritte Ideologie, der „Sozialismus“, begann, ebenfalls Machtansprüche zu formulieren).
Im Sommer 1849 hatte sich diese „kurze“ Revolution eigentlich schon wieder erledigt; allerdings nur auf den ersten Blick, da die zugrunde liegenden weltanschaulichen Konflikte lediglich verschoben wurden. Spannend war nunmehr die Frage, wie die beiden innerdeutschen Großmächte, Preußen und Österreich, auf die neue Lage reagierten: Friedrich Wilhelm IV. hatte bekanntlich die ihm von bürgerlichen Abgeordneten angetragene Kaiserkrone bereits im April 1849 abgelehnt; Österreich versuchte mit dem neuen starken Mann, Fürst Schwarzenberg, wieder Boden gut zu machen, nachdem sich die Frankfurter Nationalversammlung („Paulskirche“) schließlich auf die „kleindeutsche“ Lösung geeinigt hatte, somit faktisch gegen Österreichs Verbleib im neu zu konstituierenden Bundesstaat.(23)
Bis zum Sommer 1850 führte der erneut erstarkte Dualismus zwischen Preußen und Österreich dazu, dass sich zwei Machtblöcke in Deutschland gegenüberstanden. Letztlich durch außenpolitische Komplikationen, die bis zur Generalmobilmachung Preußens führten, musste der preußische König doch einlenken, seine auf Vorherrschaft in Deutschland zielende Politik der Gründung einer sog. Union (unter Ausschluss Österreichs) aufgeben und Ende November 1850 den sog. Vertrag von Olmütz abschließen; im Ergebnis wurden damit die alten Strukturen des Deutschen Bundes wiederbelebt und fortgesetzt. Für Bismarcks weiteren Weg war das konkrete Ergebnis des Olmützer Vertrages, der allgemein als Blamage für Preußen interpretiert wurde, insofern bedeutsam, als er im preußischen Landtag wenige Tage später, Anfang Dezember 1850, die undankbare Aufgabe übernahm, die mit Österreich vereinbarten Absprachen gegenüber der Opposition zu verteidigen.(24) Da sich Bismarck zwischen 1847/48 und Ende 1850 vom Heißsporn zum geschickten Debattenredner mit diplomatischem Geschick entwickelt hatte, wurde er vom preußischen König endgültig in die Staatspolitik befördert. Als 1851 die alte Bundesversammlung in Frankfurt/M. wiedererrichtet worden war, wurde er zum preußischen Gesandten beim Bundestag ernannt, stand also in diplomatischen Diensten. In den folgenden Jahren konnte Bismarck seine Fähig- und Fertigkeiten auf dem Boden der Diplomatie erweitern und vertiefen; er reifte dort endgültig zum „Realpolitiker“.
Die Neigung zu impulsiven Gefühlsausbrüchen war aber in den 1850er und frühen 1860er Jahren durchaus noch vorhanden: Im März 1852 z.B. sein Duell mit Georg v. Vincke – aus relativ nichtigem Anlass (einer Zigarre!). Zum Glück für beide Duellanten versagten die Pistolen, so dass letztlich niemand zu Schaden gekommen ist. Im Sommer 1862 erneut „eine verbotene Liebe zu einer jüngeren und in diesem Fall bereits verheirateten Frau. Sie gingen zusammen spazieren, badeten, lagen am Strand (…) und Bismarck entdeckte seine Lebensfreude wieder.“ (25)
Anfang 1859 wechselte er vom Frankfurter Bundestag als preußischer Botschafter an den Zarenhof in St. Petersburg, wo er in der deutschen Zarenmutter Alexandra Fjodorowna, geb. Prinzessin Charlotte v. Preußen, eine wohlwollende Gönnerin fand, was sich insgesamt positiv auf seine politische Einstellung Russland gegenüber auswirken sollte. Bismarck behauptete sogar gegenüber Kollegen, „der einzige Diplomat zu sein, der Zutritt zur Zarenfamilie habe, so dass er gewissermaßen »die Stellung eines Familiengesandten« innehabe“.(26) Dessen ungeachtet stützte sich Bismarcks pro-russische Grundhaltung auch auf übereinstimmende Ablehnung jeglicher polnischer Unabhängigkeitsbestrebungen.
IV) Aufstieg zu Macht
Im Frühjahr 1862 wurde Bismarck zunächst von seinem russischen Posten abberufen und hoffte insgeheim, von Wilhelm I., der erst im Jahr zuvor offiziell König von Preußen geworden war, mit dem Ministerpräsidentenamt betraut zu werden. Damals noch vergebens; stattdessen wurde er Preußens Gesandter in Frankreich. Für Bismarck zwar eigentlich eine Zurücksetzung, aber dennoch eine bedeutsame Wendung, da er bereits seit Jahren großes Interesse für Napoleon III. zeigte: „Bismarck hatte angefangen, intensiv und auf höchst unkonventionelle Weise über die Nützlichkeit Napoleons III. für die Erreichung preußischer Ziele nachzudenken.“ (27)
Das diplomatische Gastspiel in Paris war aber ohnehin nur von kurzer Dauer, da im September 1862 erneut eine Umbesetzung der preußischen Regierung bevorstand. Am 22. September hatten bereits Ministerpräsident, Außen- und Finanzminister ihren Rücktritt eingereicht, alle waren die zermürbenden Diskussionen um die bereits kurz erwähnte „Heeresreform“ und den dadurch ausgelösten „Verfassungskonflikt“ leid. Daher war es nur folgerichtig, dass der noch im Kabinett verbliebene starke Mann, Kriegsminister Albrecht von Roon, der ohnehin schon seit einiger Zeit Bismarck stärker einbinden wollte, dem preußischen König die Berufung Bismarcks zum Ministerpräsidenten vorschlug. Folgerichtig auch deshalb, weil es eben jener Roon gewesen ist, der noch zur aktiven Zeit Friedrich Wilhelms IV. 1858 eine Denkschrift zu Fragen der Modernisierung des preußischen Kriegswesens verfasst hatte, die weitreichende Konsequenzen für die militärische Leistungsfähigkeit Preußens haben sollte. Eine der ersten Personalentscheidungen des Prinzregenten Wilhelm, nachdem er die Regierungsgeschäfte für seinen älteren Bruder wegen dessen geistiger Umnachtung übernommen hatte, war die Berufung Roons zum preußischen Kriegsminister, weil er Roons Vorschläge unbedingt umsetzen wollte. Diese Neuausrichtung der preußischen Militärpolitik lag ganz in Bismarcks Sinne, der durch seine diplomatischen Tätigkeiten über die Stärken und Schwächen anderer europäischer Mächte auf diesem Gebiet durchaus informiert gewesen ist, aber besonders die empfindliche Stellung Preußens durch die Zersplitterung seiner Landesteile aufgrund der Ergebnisse des Wiener Kongresses fürchtete.
Seit Übernahme der Regentschaft durch Prinzregent Wilhelm hatte sich mit diesem, Kriegsminister von Roon und der „Allzweckwaffe“ Bismarck ein Trio im Geiste gebildet, welches nach dem Thronwechsel endgültig aktiv werden konnte. Hinzu kam, dass alle drei offensichtlich keine Anhänger des Parlamentarismus gewesen sind, so dass ihnen der sich abzeichnende Konflikt mit dem preußischen Landtag gerade recht kam, um die aus ihrer Sicht seit 1848 schief gelaufenen Verfassungsänderungen zu revidieren.
Der über mehrere Jahre andauernde „Verfassungskonflikt“ (der König, seine Regierung und somit der gesamte preußische Staatsapparat handelten ohne verfassungsgemäßen Staatshaushalt, haben also Ausgaben ohne Rechtsgrund getätigt) ist ein allgemeingültiges Beispiel für die Frage „Machtpolitik versus Recht und Gesetz“; in dem Sinne: soll ein Gesetz gelten, obwohl es vom Herrscher nicht befolgt wird oder soll der Wille des Herrschers gelten, weil er die Macht besitzt?(28)Zumindest für den preußischen König und späteren Kaiser Wilhelm I. war die Antwort eindeutig, wie ein Brief Wilhelms vom Januar 1863 beweist, als er die bewusste Missachtung von Artikel 99 der preuß. Verfassung von 1850 verteidigte: „Was schreibt die Verfassung in einem solchen Falle vor? Nichts! Da … das Abgeordnetenhaus sein Recht zur Vernichtung der Armee und des Landes benutzte, so mußte ich wegen jenes »Nichts« supplieren und als guter Hausvater das Haus weiter führen und spätere Rechenschaft geben. Wer hat also den § 99 unmöglich gemacht? Ich wahrlich nicht!“(29)
Eine derartig eingeschränkte Beurteilung der verfassungsrechtlichen Vorgaben konnte Wilhelm I. (wie auch andere konservative Politiker) nur deshalb vornehmen, weil er sich der von Bismarck vertretenen „Lückentheorie“ anschloss; Macht gegen Recht.
Die endgültig eingetretenen Erfolge (1864 Sieg über Dänemark, 1866 über Österreich) bewiesen die Überlegenheit der preußischen Armee dank der Heeresreform: Ende gut alles gut? Doch selbst Bismarck war sich über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit seiner Lückentheorie nicht so ganz sicher; daher hat er im September 1866, nach dem Sieg über Österreich, ein Gesetz verabschieden lassen, das ihn nachträglich zu den ursprünglich rechtswidrigen Staatsausgaben legitimierte, er also „entlastet“ wurde (sog. Indemnitätsgesetz).(30)
Da die drei Einigungskriege gesondert behandelt werden sollen, kann dieses spezielle Kapitel auf dem Weg zur deutschen Einigung hier übersprungen werden. Bevor auf die innen- wie außenpolitischen Besonderheiten der Bismarckschen „Regierungskunst“ nach der Reichsgründung eingegangen wird, sollen zwei besondere Aspekte behandelt werden: Bismarcks politische Wandlungsfähigkeit („Flexibilität“) und der persönliche Umgang mit ihm („Freunde“ und „Gegner“). Wie zumindest in Ansätzen gezeigt, galt der „junge“ Bismarck als politischer Heißsporn der konservativen Ultras in Preußen. Manche würden ihn wegen seines Eintretens für den Erhalt „halbmittelalterlicher“ Strukturen auf den ostelbischen Rittergütern als erzreaktionären Anhänger des Feudalismus bezeichnen. Wenn der gleiche Mann ab Anfang der 1880er Jahre die Grundlagen für die Einführung eines modernen Sozialversicherungssystems geschaffen hat, dann muss in der Zwischenzeit ein Wandel in den grundsätzlichen Anschauungen eingetreten sein. Dasselbe muss auch bei seinen generellen Ansichten zur „Staatsidee“ eingetreten sein: Kann man Bismarck vor 1850 als Vertreter der „altpreußischen“ Staatslehre bezeichnen, so wie dies von seinen damaligen Förderern und Kollegen, insbesondere im Kreis um die Brüder Gerlach oder Friedrich Julius Stahl, propagiert wurde, hat er sich im Laufe der 1850er Jahre als preußischer Gesandter am Bundestag in Frankfurt immer mehr zum Realpolitiker gewandelt, der auch die Natur des Staates neu bewertete.
Dieser innere Wandel war Bismarck so wichtig, dass er diesen in seinen Memoiren breit dargestellt hat; in den Erörterungen mit Leopold v. Gerlach, aufgrund dessen Stellung als Generaladjutant bei König Friedrich Wilhelm IV. ganz nah am Monarchen, ging es Bismarck besonders um Fragen der „Legitimität“. Ein Briefwechsel, der auch heute noch von wissenschaftlichem Interesse ist.
Die Wandlung zum Realpolitiker zeigt sich auch in seinen Ansichten über Napoleon III. bzw. generell bei der Bewertung politischer Umbrüche: „Wie viele Existenzen gibt es noch in der heutigen politischen Welt, die nicht auf revolutionärem Fundamente stehen? (…) Wann und nach welchen Kennzeichen haben alle diese Mächte aufgehört revolutionär zu sein? Es scheint, daß man ihnen die illegitime Geburt verzeiht, sobald man keine Gefahr von ihnen besorgt“.(31)
Bismarck zeigt in dem betreffenden Brief aus dem Mai 1857 auch, dass es keine logische Begründung für eine Ungleichbehandlung Napoleons III. im Verhältnis zu anderen Herrschern der damaligen Zeit gab (Portugal, Spanien oder Belgien), da diese alle in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch revolutionäre Ereignisse bzw. Staatsgründungen ohne traditionelle Herkunft entstanden waren. Dies gilt natürlich umso mehr für die Vereinigten Staaten von Amerika, die infolge der Unabhängigkeitsbestrebung ja allein durch kriegerische Abspaltung entstanden waren und trotzdem bereits 1785 von Preußen anerkannt worden waren.
Mit diesen für streng legitimistisch eingestellte „Atl-Preußen“ beinahe ketzerischen Aussagen hat sich Bismarck immer weiter von seinen ursprünglichen Parteigängern aus dem erzkonservativen Lager entfernt. Auch auf die Gefahr, dadurch langjährige Freunde zu verlieren oder sich gar zu Gegnern zu machen. Denn gerade im persönlichen Umgang mit Bismarck pflegte dieser eine äußerst heterogene Mischung. Hier sollen nur einige wenige Beispiele aus seinem Bekanntenkreis genannt werden:
Zunächst seine Gespräche mit und die besondere Brieffreundschaft zu Ferdinand Lassalle, „dem Mitbegründer, ersten Präsidenten und Haupttheoretiker des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, der ersten Arbeiterpartei in Deutschland“.(32) Bedenkt man, dass Bismarck der späteren Sozialdemokratie, die aus dem ADAV hervorging, total ablehnend bis feindselig gegenüberstand, wirkt dieser Briefwechsel 1863/64 beinahe bizarr, trotzdem konnte Lassalle nicht umhin, Bismarcks „kleindeutsche“ Politik gutzuheißen. Außerdem hatten beide wohl einen ähnlichen Ehrbegriff: wie Bismarck 1852, so war auch Lassalle Teilnehmer an einem Duell. Im Gegensatz zum preußischen Junker hatte der Arbeiterführer Lassalle weniger Glück, er wurde bei seinem Duell im Sommer 1864 getötet (bei ihm ging es aber auch nicht um eine Zigarre, sondern um eine Frau).
Ein weiterer, eher ungewöhnlicher Bekannter Bismarcks war Ludwig Bamberger.(33) 1848, während der Revolution, noch bekannter und bekennender Demokrat, ging er erst ins Exil, um danach für die Nationalliberale Partei (ab ca. 1868) als ein Anhänger Bismarcks in Erscheinung zu treten.
1870, gleichsam als „finanzpolitische Rückendeckung“, war Bamberger sogar persönlicher Berater Bismarcks, als es um die Finanzierung des Krieges mit Frankreich ging. Allerdings kam es Ende der 1870er Jahre zu einem tiefen Zerwürfnis mit Bismarck, als dieser den Kurs des Freihandels verließ und zur Politik des Schutzzolls überging. Eine ganz besondere Freundschaft verband Bismarck mit Gerson (von) Bleichröder, 1872 als erster Jude in Preußen in den erblichen Adelsstand erhoben.(34) Noch stärker als Bamberger, war er an der Finanzierung von Bismarcks Kriegen 1866 und 1870 beteiligt. Bleichröder war der „Privatbankier“ Bismarcks, ab dem Frühjahr 1859 bis zu seinem Tode.(35) Über diese geschäftliche Beziehung hinaus, konnte sich Bleichröder als einer der wenigen der uneingeschränkten Wertschätzung Bismarcks erfreuen. Obwohl diese drei Männer sehr unterschiedlich waren, verband sie neben dem persönlichen Kontakt zu Bismarck noch ein anderes Merkmal: Lassalle, Bamberger und Bleichröder waren jüdischer Abstammung. Für Bismarck kein Grund, diese Männer zu meiden – ganz im Gegenteil.
Zu den ausgesprochenen Gegnern Bismarcks gehörten natürlich nicht nur viele „Alt-Liberale“, nach 1866 auch die Anhänger der „Welfen“ (das annektierte Königreich Hannover) oder die Kaufleute der ebenfalls annektierten Reichsstadt Frankfurt am Main, sondern auch ganz spezielle Einzelpersonen. Hier sollen zunächst die beiden Kaiserinnen Augusta und Viktoria genannt werden, Ehefrauen von Wilhelm I. und Friedrich III. (Schwiegermutter und -tochter). Beide Damen verband aus unterschiedlichen Gründen eine tiefe Abneigung gegen den Machtmenschen Bismarck. Die damalige Kronprinzessin Augusta hielt im März 1848 Bismarcks Ansinnen, mit einem Trupp Freiwilliger den bedrängten Hohenzollern in Berlin zur Hilfe zu eilen, für intrigant und anmaßend; dies galt auch für Bismarcks spätere Politik während der „Einigungskriege“, die sie verabscheute. Auch ihre Schwiegertochter, die aufgrund ihrer britischen Herkunft (Tochter von Queen Victoria) den Liberalismus bzw. Parlamentarismus kennen und schätzen gelernt hatte, konnte mit Bismarcks Politikverständnis wenig anfangen, insbesondere da sie zusammen mit ihrem Ehemann für frischen Wind im verstaubten Preußen sorgen wollte.
Bismarck wusste sehr wohl um die Antipathie der beiden Frauen seiner Person gegenüber, er klagte mehrfach, ihm fehle der direkte Zugang ins eheliche Schlafgemach der Hoheiten. Trotzdem hatte diese Ablehnung keine unmittelbare negative Auswirkung auf sein Verhältnis zu Wilhelm I. oder dem Kronprinzen; als dieser 1888 für die berühmten 99 Tage auf den Thron gelangte, war Friedrich III. sogar froh, auf Bismarck zählen zu können. Ganz andere Kaliber waren Friedrich von Holstein und Alfred von Waldersee, beides ausgesprochene Intimfeinde Bismarcks, aber nicht weil diese besonders liberal oder fortschrittlich eingestellt gewesen wären, sondern weil sie im alternden Reichskanzler einen Konkurrenten um die politische Macht sahen. Der Diplomat Holstein (später als die graue Eminenz bezeichnet) hatte völlig andere Vorstellungen als Bismarck, was das langfristige Verhältnis zu Russland anging; er kam daher erst richtig zum Zuge, als der beim jungen Kaiser in Ungnade gefallene Reichskanzler abtreten musste. Ähnlich die Beziehung zu Waldersee (ab 1888 unter Wilhelm II. Chef des Generalstabs), der ebenfalls eine ausgesprochen antirussische Position einnahm (bis zur Forderung eines Präventivkrieges). Hinzu kam, dass Waldersee, zusammen mit Hofprediger Adolf Stoecker, eine stark antisemitische Einstellung bei Wilhelm II. förderte. Im Frühjahr 1890 wirkte er aktiv am Sturz Bismarcks mit.
Diese kurze Aufzählung bekannter Zeitgenossen Bismarcks, zu denen er völlig unterschiedliche Beziehungen unterhielt, soll mit einem bekennenden Katholiken beendet werden: Ludwig Windthorst, einflussreicher Fraktionsvorsitzender der Zentrumspartei im Reichstag.
Der Protestant, Junker und Anhänger von „Borussia first“ einerseits und der gläubige Katholik, bürgerliche Rechtsanwalt und Anhänger des Hauses Hannover andererseits verband über viele Jahrzehnte eine Art Hassliebe. Beide Politiker vertraten völlig gegensätzliche Positionen: Bismarcks kleindeutsch-preußische Machtpolitik mit dem Anspruch der Vormachtstellung des Protestantismus im Deutschen Reich und der Zentrumspolitiker, sozialpolitisch ganz anders ausgerichtet, 1848/49 eher großdeutsch eingestellt und vor allem während des sog. Kulturkampfes stets darauf bedacht, strikte Opposition gegen Bismarcks Unterdrückungspolitik zu wahren. Trotz aller Ambivalenz kamen beide nicht umhin, sich gegenseitig Respekt zu zollen.
Geradezu bezeichnend ist es daher, dass Wilhelm II. Bismarck ausgerechnet eine zu große Nähe zur Fraktion der Zentrumspartei im Reichstag bzw. zum Fraktionsvorsitzenden Windthorst vorgeworfen hat, als er Anfang 1890 begann, Bismarck aus der Regierung zu mobben. Dabei hat Bismarck nur versucht, geplante Gesetzgebungsvorhaben (u.a. die Verlängerung des sog. Sozialistengesetzes) mit den Führern der maßgeblichen Fraktionen im Reichstag abzusprechen. Da die Stellung des Reichskanzlers allein vom Vertrauen des Kaisers abhing, es keine parlamentarische Regierungsmehrheit gab (im Gegensatz zu heute), waren solche Vorbesprechungen grundsätzlich notwendig. Bismarck war anständig genug, dies in kultivierter Form zu erledigen, was ihm der Kaiser als zu großes Entgegenkommen gegenüber Windthorst negativ ankreidete.
Dies führt nun zu den Besonderheiten der Bismarckschen „Regierungskunst“. Als Anhänger der Idee eines Königtums, das am besten ganz ohne Parlament auskommen sollte, und wenn schon eine konstitutionelle Monarchie (wie ab 1849 fast überall in Kontinentaleuropa, in Großbritannien bekanntlich schon viel früher), dann bitte schön mit einem Parlament, das nach der Pfeife des Königs und seiner Regierung tanzt. Jedoch musste der Realist Bismarck bereits bei Übernahme des Ministerpräsidentenamtes in Preußen im Herbst 1862 erkennen, wie schwierig es für eine Regierung, die lediglich vom Monarchen ernannt und kontrolliert wird, werden kann, wenn ein selbstbewusstes, aufmüpfiges Abgeordnetenhaus „auf Krawall gebürstet ist“. Die Innenpolitik Bismarcks in den ersten Jahren bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes stand daher ganz im Zeichen des „Verfassungskonflikts“; wenn man so will, war diese höchst einseitig.
Erst ab Herbst 1866 konnte er – dank des militärischen Sieges über Österreich – echte innenpolitische Konzepte erarbeiten; wobei die wichtigste Leistung auf diesem Gebiet die Schaffung der Verfassung für den Norddeutschen Bund gewesen ist (bereits mit Optionsmöglichkeiten für die verbliebenen süddeutschen Staaten). Auch seine Außenpolitik in diesen wenigen Jahren zwischen 1866 und 1870 bestand darin, sich Optionen offenzuhalten: moderater Frieden mit Österreich, entspannte Verhältnisse zu Russland und England, den beiden Flügelmächten in Europa, und soweit es ging auch gegenüber Frankreich.
Erst als Bismarck nach dem deutsch-französischen Krieg ab 1871 Reichskanzler wurde, standen ihm ganz andere Möglichkeiten offen, seine politischen Vorstellungen umzusetzen; natürlich im Einklang mit Kaiser Wilhelm I., der jedoch kaum das Bedürfnis verspürte, seinem Kanzler in die Parade zu fahren: Bismarck regierte, der Kaiser repräsentierte; wer war in diesem Verhältnis Koch und Kellner?
Aber auch im Verhältnis zum Reichstag musste sich der Kanzler für seine Projekte Mehrheiten suchen. In den ersten Jahren war dies relativ einfach, da vor allem die National-Liberalen fast uneingeschränkt auf seiner Seite standen. Eine Komponente für diese Zusammenarbeit war der sog. Kulturkampf.(36) Eigentlich eine groteske Ausgangssituation: Ursprünglich liberale Politiker ließen sich zur Verfolgung einer religiösen Minderheit (ca. 40% der damaligen Bevölkerung waren katholisch) einspannen. Aber auch Bismarck wusste um die Bedeutung der katholischen Monarchen im Bundesstaat, da diese ja auch als souveräne Fürsten Träger der Staatsgewalt waren.
Nachdem der Realpolitiker Bismarck einsehen musste, dass sein berühmtes Wort vom „Gang nach Canossa“ in einer frühen Reichstagsrede von 1872 an innerer Logik einbüßte, war er bereit, sich mit den kirchlichen Kräften zu arrangieren. Insbesondere brauchte er ab Ende der 1870er Jahre neue „Partner“ im Reichstag, nachdem sich sein Verhältnis zu den National-Liberalen merklich abgekühlt hatte. Grund hierfür war die neue innenpolitische Frontstellung: nach den Katholiken jetzt die Sozialdemokraten. Mit Erlass des (ersten) Sozialistengesetzes, das äußerlich als Reaktion eines Attentatsversuchs auf Wilhelm I. verstanden werden sollte, aber tatsächlich der Furcht Bismarcks vor der revolutionären Kraft des „Kommunismus“ entsprang (August Bebel und Wilhelm Liebknecht waren im Gegensatz zu Lassalle „internationalistisch“ aufgestellt, hatten z.B. die „Pariser Kommune“ unterstützt), verband sich auch ein wirtschaftspolitischer Wechsel, da Bismarck ab 1879 verstärkt auf die Politik des „Schutzzolles“ setzte, wodurch er viele „Wirtschaftsliberale“ endgültig in die Opposition drängte. Der Übergang vom Freihandel zum Protektionismus vollzog sich in den folgenden Jahren in mehreren Schritten. Bismarck hoffte, aus seinem Eingehen auf die Wünsche der Großgrundbesitzer einerseits und der „Ruhrbarone“ (Eisen und Stahl) andererseits politische Mehrheiten erreichen zu können, um die konservative Basis des Reiches auszubauen und seine eigene Position zu festigen.
Bis hierhin würde sich eine sehr zwiespältige Bilanz der Bismarckschen Innenpolitik ergeben: einerseits die Reichseinigung, die über viele Jahrzehnte von Millionen Deutschen herbeigesehnt wurde, andererseits eine Politik der Ausgrenzung und Diskriminierung. Doch wäre Bismarck nicht er selbst gewesen, hätte er nicht ab Anfang der 1880er Jahre seinen größten Trumpf in der deutschen Innenpolitik gezogen, der sogar heute noch sticht, die Einführung der ersten Grundlagen des Sozialversicherungssystems in Deutschland. Die genauen Hintergründe für seine Sozialpolitik zu beleuchten, würde den Rahmen dieses Beitrages bei weitem übersteigen. Als typischer „Patriarch“ dachte er in noch teils mittelalterlichen Kategorien des sorgenden „Hausvaters“, aber genauso gut kann seine Sozialgesetzgebung als Bestechungsversuch gewertet werden, die Masse der Industriearbeiter der Sozialdemokratie zu entfremden. Es gibt sogar einen „außenpolitischen“ Ansatz für die innenpolitischen Maßnahmen seiner Sozialgesetze: Im Vergleich zu den anderen aufstrebenden Industrienationen, vor allem im Verhältnis zu Frankreich, sollte seine Sozialpolitik geradezu vorbildlich und zukunftsweisend sein (Bismarck konnte damals gar nicht ahnen, wie modern das Thema „soziale Sicherheit“ auch noch 140 Jahre später sein sollte).
Einfacher sind die Erfolge Bismarcks auf dem Gebiet der Außenpolitik zu beschreiben: Insgesamt ist es dem oft undurchsichtigen Bündnissystem Bismarcks gelungen, dass zwischen 1871 und 1914 kein wirklich gefährlicher Flächenbrand in Europa ausgebrochen ist (sieht man von relativ kleinen und kurzen Krisen auf dem Balkan ab). Wer nun einwendet, dass ein Mann gar nicht den Einfluss haben könnte, über so lange Zeit für militärischen Frieden auf einem durch und durch kriegerisch eingestellten Kontinent zu sorgen, dem sei entgegnet, dass es ausschließlich Gründe der Vernunft waren, die Bismarck als „ehrlichen Makler“ im Konzert der europäischen Großmächte auftreten ließen.(37) Im Gegensatz zu seiner stark emotional aufgeladenen Innenpolitik, konnte Bismarck bei außenpolitischen Fragen sein Geschick für strategische Schachzüge, die Fähigkeit, Billard gleichzeitig mit fünf Kugeln zu spielen, zur Geltung bringen. Keiner seiner Nachfolger hatte auch nur ansatzweise diese Kompetenz; trotzdem hielt das von Bismarck gewobene Netz internationaler Beziehungen auch noch lange Jahre nach seinem Abgang.
An dieser Stelle bietet sich ein Vergleich mit einem anderen großen Strategen des 19. Jahrhunderts an: Napoleon Bonaparte. Wenn die Bezeichnung „Jahrhundertgestalt“ gerechtfertigt erscheint, dann bei diesen beiden von Grund auf völlig verschiedenen Männern. Das eingangs erwähnte Zitat von Kissinger soll hier noch einmal bemüht werden: Nur wenige Staatsmänner haben die Geschichte ihrer Nation so beeinflusst wie Napoleon I. die französische und Bismarck die deutsche; darüber hinaus auch noch die des gesamten Kontinents. Es kommt bei einem solchen Vergleich auch gar nicht darauf an, wer unter dem Strich der bessere, erfolgreichere Staatsmann gewesen ist – das liegt im Auge des Betrachters. Maßgeblich ist ihre Bedeutung und der Einfluss für bzw. auf die nachfolgenden Generationen; dieser war bei beiden intensiv und nachhaltig. Betrachtet man allerdings nur das Ende, dann ergeben sich natürlich eklatante Unterschiede.
Napoleon Bonaparte verlor am Ende seiner Regierungszeit nicht nur alle wichtigen Schlachten, sondern nach seiner endgültigen Verbannung auch seine Existenz. Bismarck dagegen stieg in der Gunst seiner ehemaligen Untertanen, nachdem er einer recht durchsichtigen Hofintrige zum Opfer gefallen war und das Feld der aktiven Politik räumen musste. Von seinem „Altersruhesitz“ aus betrieb er eine fast schon an Hochverrat reichende Ein-Mann-Opposition. So hat er geheime Unterlagen zum sog. Rückversicherungsvertrag mit Russland veröffentlichen lassen (weil ihm die Außenpolitik seines Nachfolgers nicht passte), in seinen Memoiren, die ein Bestseller waren, mehrfach aus dem „Nähkästchen“ geplaudert, Kaiser und Reichstag vor den Kopf gestoßen.
Das passte zu Bismarcks Charakter, der als jähzornig und nachtragend galt; so hat er seinem ältesten Sohn die ursprünglich geplante Heirat verboten, weil er mit der Familie der Braut zerstritten war. Als Ende November 1894 Bismarcks Ehefrau Johanna plötzlich verstarb, hat ihn dies doch stark mitgenommen; außerdem musste Bismarck dem jahrzehntelangen Raubbau an seiner Gesundheit Tribut zollen. Trotzdem stand er im 84. Lebensjahr als der eiserne Kanzler am 30. Juli 1898, kurz vor 23.00 Uhr verstarb.
Hat Bismarck aber am Ende seines Lebens tatsächlich eine ehrliche Bilanz gezogen, selbstkritisch auch Fehler eingestanden oder aber mit einer gewissen Demut Wendepunkte seines Lebens zugegeben? Nein, wer auf solche Einsichten hoffte, wurde enttäuscht. Einer der zahlreichen Bismarck-Biografen, der US-amerikanische Historiker Steinberg, beschreibt die tiefere Ursache für Bismarcks zahlreiche körperliche Leiden in seiner kranken Seele: „Es war Bismarcks – und Deutschlands – Tragödie, dass er nie lernte, ein richtiger Christ zu sein, kein Verständnis für die Tugend der Demut besaß und noch weniger die Wechselwirkung zwischen seinem kranken Körper und seiner kranken Seele verstand.“(38)
Es hat sie gegeben, die schicksalhaften Begebenheiten, zahlreiche Wendepunkte, die einen völlig anderen Verlauf in Bismarcks Leben hätten bewirken können: Schon zu Beginn seiner „Karriere“ als Provinzpolitiker war er nur als Nachrücker in den Vereinigten Landtag gelangt. Wäre der eigentliche Kandidat nicht erkrankt, wären Bismarcks erste fulminante Reden im Mai und Juni 1847 wahrscheinlich nie gehalten worden. Auch das Revolutionsjahr 1848 hätte für ihn durchaus negativ verlaufen können. Der Ausgang des Duells 1852 war nun wirklich mehr als glücklich. Dann hatte Bismarck, nur wenige Wochen vor seiner Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten, in Südfrankreich einen Badeunfall, der auch tödlich hätte ausgehen können (wollte wohl der jungen Geliebten imponieren). Auch der Ausgang des Verfassungskonflikts nach seiner Ernennung war zunächst alles andere als vorhersehbar oder gar erfolgversprechend.
Bismarck hat in den Folgejahren mehrfach seinen Rücktritt angeboten (so z.B. 1869 und 1877), um mit diesem als Drohkulisse eingesetzten Druckmittel seinen König und Kaiser „gefügig“ für seine politischen Vorstellungen zu machen; unter den Nachfolgern Wilhelms I. wäre diese Taktik nicht mehr aufgegangen. Schließlich gab es auch auf ihn mehrere Attentatsversuche – nicht nur auf Wilhelm I.
An dieser Stelle würde sich zwar eine „kontrafaktische“ Betrachtung möglicher Alternativen anbieten, doch soll diese spezielle Methode dem Beitrag über die Darstellung der drei Einigungskriege vorbehalten bleiben.
Stattdessen soll noch kurz auf die Bezeichnung bzw. Charakterisierung Bismarcks als eines „weißen Revolutionärs“ eingegangen werden. In Deutschland dürfte diese Beschreibung am häufigsten durch die umfangreiche Bismarck-Biografie Lothar Galls geläufig sein. Aufgebracht hat er diese „Formel“ aber nicht; bereits 1968 hat Kissinger diese Überschrift gewählt – tatsächlich wurde sie aber schon 1868 von Ludwig Bamberger geprägt (zu seiner Beziehung zu Bismarck s.o.). Bamberger war nicht bloß Politiker und Bankier, sondern auch Autor bzw. Publizist, und hat 1868 für das französische Publikum eine Art Porträt über Bismarck verfasst („Monsieur de Bismarck“), dabei über ihn geurteilt, „daß er ein geborener Revolutionär war. Denn man wird als Revolutionär geboren wie als Legitimist, nach der Art der geistigen Anlage, während der Zufall allein darüber entscheidet, ob die Umstände des Lebens aus dem gleichen Menschen einen Weißen oder einen Roten machen“.(39)
Dabei ist die politische Farbenwahl noch einfach nachzuvollziehen: „Rot“ stand für alles Sozialistische bzw. Kommunistische, was seinen theoretischen Hintergrund im Marxismus fand(40) „Weiß“ war demnach der „Gegenbegriff“ zu allem, was seitdem als „links“ eingeordnet wird. Daher wurden alle gegenrevolutionären Bewegungen als sog. „Weiße“ gekennzeichnet, z.B. die militärischen Reaktionen im Baltikum oder in der Ukraine 1919/20 auf die bolschewistische Oktoberrevolution in Russland.
Doch ist es auch „historisch“ korrekt in Verbindung mit einer Person wie Bismarck von einem „Revolutionär“ zu sprechen? Sofern Bamberger diesen Begriff in einem polemischen Zusammenhang verwendete, um dem französischen Publikum, das ja 1789 tatsächlich eine echte Revolution zur Anschauung hatte, die eigenartigen Zustände in Deutschland zu verdeutlichen, dann ist dies gleichsam als „Stilmittel“ zulässig. Sollte er aber wirklich in Bismarck, dessen Eisen-und-Blut-Rhetorik auch in Frankreich 1868 durchaus präsent war, einen Mann, der die Verhältnisse „umwälzen“ wollte (so der Kern des lateinischen „revolutio“), gesehen haben, wirft dies doch die Frage nach der Sinnhaftigkeit dieser Formulierung auf. Gerade im Vergleich zu den erst knapp zwanzig Jahre zurückliegenden Ereignissen von 1848, die Bamberger ja direkt miterlebt und mitgelitten hatte, zeigen die Fragwürdigkeit dieser Zuschreibung für Bismarck auf. Dessen ungeachtet war die 48-Revolution keine genuin deutsche, sondern eher eine gesamteuropäische; in Deutschland hat es – sieht man von der paradoxen Entwicklung im November/Dezember 1918 einmal ab – nur eine Epoche gegeben, die die Bezeichnung „revolutionär“ verdient hat: der Bauernkrieg 1524/25.
Doch Bismarck mit einem der kleinbäuerlichen Anführer eines „Haufens“ unzufriedener Bauern und Handwerksgesellen (dem sog. „gemeinen Mann“) vergleichen zu wollen, wäre doch zu weit hergeholt; zumindest der junge Bismarck stand eindeutig auf Seiten der feudalen Grundherren, den wahren Unterdrückern der unterprivilegierten Schichten. 1868, als Bamberger diesen eigenartigen Vergleich gezogen hatte, war auch noch nicht im Mindesten abzusehen, dass Bismarck als Reichskanzler ca. 15 Jahre später die ersten Sozialgesetze zugunsten der Unterschichten auf den Weg bringen würde; aber auch das war ja keine „Umwälzung“ bestehender Verhältnisse, sondern vorausschauende Planung. Ihn dafür, „dass er das Neue stets mit dem Alten verknüpfte, dass er auf Kontinuität auch dort setzte, wo er in seiner Politik Neuland betreten wollte und gelegentlich musste“ (41), fast hundertvierzig Jahre später immer noch als „weißen Revolutionär“ zu apostrophieren, ist zumindest gewagt.
Ob daher die Verwendung des Begriffs „Revolutionär“ in Ansehung der gesamten Persönlichkeit Bismarcks wirklich zutreffend bzw. glücklich gewählt ist, braucht hier allerdings nicht entschieden zu werden. Interessant ist aber, wer noch alles so ähnlich über Bismarck dachte: Selbst ein Friedrich Engels bezeichnete Bismarck als „königlich preußischen Revolutionär“, Karl Marx empfand eine „widerwillige Bewunderung“ vor allem für seine konsequente Einigungspolitik. Und sogar ein Heinrich Mann spricht fünfzig Jahre nach dessen Tod von Bismarck als „heimlichen Revolutionär“: „Heute wäre er auf Seiten der Sowjetunion.“(42) Vielleicht wollte der Schriftsteller Mann auch bloß das ausgehende 19. Jahrhundert etwas „auf die Schippe nehmen“; sein Sarkasmus war ja durchaus bekannt. Weit objektiver fällt die Schilderung bei seinem Neffen, dem Historiker Golo Mann aus: „Es ist eine Schuld der deutschen Konservativen, daß sie, um ihre an sich wenig volkstümliche Politik volkstümlicher zu machen, ein Bündnis mit den Judenhetzern eingingen. Sie taten das schon in Stoeckers Tagen und wieder, auf noch tieferer Stufe, in den neunziger Jahren. (…)
Auch der Antisemitismus, an sich eine viel ältere menschliche Unart, wurde jetzt in der Form falscher Wissenschaftlichkeit geboten, als Lehre vom Wert und Unwert menschlicher Rassen, … die von deutschen Bildungsphilistern übernommen wurde. Seine Bequemlichkeit und verführerische Anziehungskraft lag anderswo. Im Zeichen des Antisemitismus ließen sich alle Gefühle der Unsicherheit und Unzufriedenheit, des Stolzes, der Furcht und des Hasses auf einen einzigen Nenner zusammensudeln. Man konnte gegen den Liberalismus sein – es gab liberale Juden. Gegen den Kapitalismus – es gab jüdische Finanziers. Gegen den Sozialismus – Marx und Lassalle waren Juden gewesen. Gegen jede Form von Internationalismus – in dem waren die Juden von alters her zu Hause. Gegen die österreichische Monarchie (…). Auch gegen Bismarck – der Fürst ließ sein Vermögen von einem jüdischen Bankier verwalten. Der Antisemit brauchte sich so nicht die Mühe zu nehmen, in seiner Zeit sich einen Gegner zu wählen; er konnte, vage, gegen seine ganze Zeit sein, insofern sie vom Judentum angeblich repräsentiert wurde (…).
Bismarck war kein Antisemit; dafür war er zu klug, zu kultiviert, zu hochmütig. Er hielt nichts von der Bewegung Hofprediger Stoeckers und war sehr ärgerlich, als der Prinz Wilhelm sich mit ihr einließ. So waren gerade die bedeutendsten Antisemiten zugleich Kritiker Bismarcks.“(43)
An diesem Befund des Historikers Mann sind gleich mehrere Aspekte bezeichnend für das Deutsche Reich; sowohl während der Amtszeit Bismarcks als auch noch darüber hinaus: Die beiden großen politischen Weltanschauungen, die zur Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschten, Liberalismus und Konservativismus, hatten der „menschlichen Unart“ des Antisemitismus nichts entgegenzusetzen. Den „Sozialismus“ konnte schon deshalb ablehnen, ohne seine Kernbotschaft zu kennen, wer die bekannten Protagonisten wegen ihrer jüdischen Herkunft ablehnte. Sogar Bismarck selbst konnte bei denen in Ungnade fallen, die seine privaten Kontakte z.B. zu Bleichröder mißbilligten. Und schließlich hatte, ab einem bereits frühen Zeitpunkt, jeder beim Kronprinzen und späteren Kaiser, Wilhelm II., verspielt, der nicht der Clique bekennender Antisemiten angehörte.
Unter diesem Gesichtspunkt gibt es tatsächlich eine gewisse Kontinuität in der deutschen Politik bzw. Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts, doch hat diese mit der Person Bismarcks nicht das Geringste zu tun.
V) Schlussbetrachtung
Besonders nach seiner Entlassung im Frühjahr 1890 (eine englische Zeitung titelte: „Der Lotse geht von Bord“) wurde Bismarck immer mehr zu einem mystifizierten Denkmal (von denen es in Deutschland immer noch viele gibt, nebst unzähliger Straßen und öffentlicher Plätze, die seinen Namen tragen). Dabei war er, streng genommen, ein Gefangener seines eigenen Erfolges, obwohl sich viele seiner ursprünglichen Vorstellungen und Ideen gerade nicht realisiert haben bzw. aufgegeben werden mussten: Die von ihm selbst noch praktizierte Grundherrschaft, das feudale Standessystem, wurde bereits 1849/50 in Preußen und andernorts endgültig abgeschafft. Obwohl er sich früh von den „alt-preußischen“ Vorstellungen seiner ursprünglichen Gönner und Förderer verabschiedete, blieb ihm die neue Staatsideologie, die sich im 19. Jahrhundert in Abkehr des „aufgeklärten Absolutismus“ des 18. Jahrhunderts zu entwickeln begann, in ihrem Wesen fremd; eine verfassungsrechtlich (also durch ein Blatt Papier) gebundene Monarchie war in seinen Augen schwach, der Staat als juristische „Gebietskörperschaft“ ein Unding. Er verabscheute den Bürokratismus derart, dass er sogar seine juristische Ausbildung aufgab; trotzdem schuf er einen „Interventionsstaat“, der bis heute immer weiter perfektioniert worden ist. Bismarck nutzte die Gunst der Stunde, um Österreich aus (Klein-)Deutschland herauszudrängen, war danach aber bereit, der Habsburgermonarchie sehr weit entgegenzukommen; ihm schwebte ein starker Mitteleuropa-Block vor (dass dieser bis zum sog. Blankoscheck Anfang Juli 1914 vorangetrieben werden würde, war allerdings um 1890 nicht vorhersehbar).
In seinen Memoiren widmet Bismarck im zweiten Buch ein ganzes Kapitel den deutschen Dynastien und Stämmen; er thematisiert u.a. auch die Kraft des deutschen Nationalgefühls und zwar unter dem Gesichtspunkt der Anhänglichkeit der Untertanen an ihre jeweilige Dynastie (an die einzelnen Herrschergeschlechter, wie die Hohenzollern, Wittelsbacher, die Welfen und Wettiner, sogar ansatzweise die Habsburger, auch wenn der österreichische Vielvölkerstaat außerhalb einer „spezifisch reichsdeutschen“ Betrachtung bleibt). „Die deutsche Vaterlandsliebe bedarf eines Fürsten, auf den sich ihre Anhänglichkeit konzentriert“ oder „Die andern europäischen Völker bedürfen einer solchen Vermittlung für ihren Patriotismus und ihr Nationalgefühl nicht“.(44)
Aus heutiger Sicht klingt dies sicher eigenartig, aber eins wird man Bismarck hierbei nicht unterstellen können, nämlich dass er ein Anhänger alldeutscher Großmannssucht, ein geistiger Wegbereiter des „Großdeutschen Reichs“ von 1938 gewesen sei; so war es ja auch nicht seine Idee, 1871 Elsass-Lothringen insgesamt von Frankreich abzutrennen.
Aber obwohl er um die dynastische Anhänglichkeit und die Unentbehrlichkeit einer Dynastie als Bindemittel für den Zusammenhalt unter dem Dach der gesamten Nation wusste, hat er bewusst dagegen verstoßen: Im Sommer 1866 gelang nämlich nicht nur der unerwartet schnelle Sieg über Österreich, sondern in den Verträgen von Nikolsburg und Prag wurde auch die endgültige Auflösung des Deutschen Bundes bestimmt, verbunden mit der Annexion des Königreichs Hannover, des Kurfürstentums Hessen-Kassel („Kurhessen“) und des Herzogtums Nassau: unter Missachtung des „monarchischen Prinzips“, denn die bisherigen Herrscher wurden einfach von ihrem „dynastischen Familienbesitz“ verjagt – da fällt die Entmachtung der Ratsherren der vormals freien Reichsstadt Frankfurt/M. fast nicht mehr ins Gewicht. Alle diese (unfreiwilligen) „Neu“-Preußen mussten integriert werden; Bismarcks Versuch, das allgemeine Wahlrecht für den Norddeutschen Bund einzuführen, war nur halbherzig, da in Preußen selbst das „Drei-Klassen-Wahlrecht“ weiter angewendet wurde – die eingefleischten Welfen blieben bis 1913 auf Distanz zu Preußen (Vermählung der einzigen Tochter Wilhelms II. mit einem Welfenprinzen). Die Außenpolitik des Kaiserreichs war derart auf seine Person zugeschnitten, dass alle Nachfolger Bismarcks wie blutige Anfänger aussehen mussten und in der Innenpolitik hinterließ er viele tiefe Gräben.
Wie soll man also eine solche Jahrhundertgestalt wie Bismarck angemessen würdigen, wenn man weiß, welch unterschiedliche Reaktionen er die letzten 150 Jahre hervorgerufen hat und in Anbetracht der geschichtlichen Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts?
„Erst heute – zwei Jahrhunderte nach seiner Geburt – scheint ein genügend großer Abstand gewonnen zu sein, um das Werk dieses Mannes weitgehend unvoreingenommen zu bewerten und zu würdigen. (…) Die von ihm begangenen politischen Fehler, in denen sich die Grenzen seiner Einsicht und seines Handelns ausdrücken, liegen so unbestritten und so klar zu Tage, dass darüber kaum mehr zu diskutieren sein dürfte. Ähnliches gilt für die historische Größe, die ihm ebenfalls zukommt und die ihn bis heute zu einer der herausragenden, unbestritten wirkmächtigsten Persönlichkeiten nicht nur der deutschen, sondern auch der europäischen Geschichte macht. (…) Die vielleicht wichtigste bleibende Leistung ist, man mag es drehen und wenden, wie man will, immer noch die deutsche Einheit. Bismarck hat, um es auf eine einfache, aber präzise Formel zu bringen, aus der deutschen Kulturnation eine politische, eine Staatsnation gemacht, er hat die Deutschen gerade darin politisch geeint, dass er aus Preußen, Bayern, Sachsen, Hannoveranern, Hessen, Württembergern, Mecklenburgern und anderen Deutsche gemacht und ihnen ein gesamtdeutsches politisches Bewusstsein vermittelt hat. Genau dieses Bewusstsein ist nach allen Katastrophen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts doch am Ende erhalten geblieben; (…) Bismarck vermittelte den Deutschen außerdem, dass es – jenseits von Stagnation und Apathie, aber auch von realitätsfernem Aktionismus – so etwas wie eine Politik mit Augenmaß, mit Blick auf das Mögliche und Machbare geben kann, eine Politik, die gleichwohl auch die Gefährdungen der Macht stets in das eigene Kalkül mit einbeziehen und dementsprechend vorsichtig sein muss. Er hat den Blick auf die vorhandenen Realitäten gerichtet, ja im eigentlichen Sinne dieses umstrittenen Begriffs »Realpolitik« betrieben, ohne die Bedeutung von Ideen und Idealen zu verkennen (…).
Eine zentrale Leistung des »eisernen Kanzlers« war, ist und bleibt darüber hinaus weiterhin die Grundlegung des deutschen Sozialstaates. Mag man auch noch so sehr die materielle Dürftigkeit und die (aus heutiger Perspektive so gesehene) Mangelhaftigkeit der Anfänge in den 1880er-Jahren ins Spiel bringen – dass hier überhaupt ein Anfang gemacht, dass die schwere soziale Not in der Ära der Frühindustrialisierung mit Mitteln des Staates, auch unter Einbeziehung der Arbeitgeber, nicht nur der damals noch kaum leistungsfähigen unmittelbar Betroffenen, im Rahmen des seinerzeit Möglichen angegangen und damit zugleich ein weit in die Zukunft weisender Prozess eingeleitet wurde, an dessen Ende der heutige deutsche Sozialstaat steht, bleibt eine einmalige Pionierleistung, die Bismarck persönlich auf den Weg gebracht hat. (…) auch wenn das Ziel eines umfassenden sozialen Friedens in Deutschland erst sehr viel später erreicht wurde. Manchmal ist es unabdingbar, dass erst einmal ein Anfang gemacht wird. Dort, wo damals, in der Zeit rasanter ökonomisch-technischer Hochentwicklung, eine sozialpolitische Fundierung der Lebensbedingungen sozial benachteiligter Unterschichten, wie sie in Deutschland unter Bismarck stattfand, unterblieb, sind die Folgen bis heute spürbar. Schließlich und endlich ist die ab 1871 betriebene aktive europäische Friedenspolitik zu nennen, auf die Bismarck am Ende seines Lebens in der Tat stolz sein konnte, auch wenn er gelegentlich durchaus sorgenvoll in die Zukunft blickte.“(45)
Diese etwas längere Zusammenfassung stammt aus einer relativ neuen Bismarck-Biografie aus 2015 und stellt besonders vier Leistungen Bismarcks hervor: Neben seinen Bemühungen um die Reichsgründung 1871, habe Bismarck eine Politik des Augenmaßes (sog. Realpolitik) etabliert, die durchaus als Vorbild genommen werden könne; dann natürlich die Begründung des Sozialstaates, ohne den sicherlich noch sehr viel heftigere Verwerfungen zu befürchten gewesen wären (direkt nach der Niederlage 1918/19, nach 1949 oder auch ganz aktuell seit dem Frühjahr 2020) und auch seine Verdienste um den Erhalt einer europäischen Friedensstruktur oder wenigstens um die Vermeidung offener kriegerischer Auseinandersetzungen auf dem Kontinent.
Außerdem hat Bismarck durch sein Konzept des „Fürstenbundes“ dafür gesorgt, dass der Föderalismus als Strukturmerkmal auch noch im heutigen Verfassungsleben verankert geblieben ist. Nicht ohne Grund war der Bundesrat hinsichtlich der Gesetzgebungskompetenz dem Reichstag gleichgestellt: In Artikel 5 Abs. 1 der „Bismarckverfassung“ wird der Bundesrat sogar vor dem Reichstag genannt.(46) Wenn auch eher unbewusst, hat Bismarck dafür gesorgt, dass das Deutsche Reich gerade kein zentralistischer Einheitsstaat geworden ist.
Autor: Thomas Fuchs, Assessor iur., Rechtshistoriker
Anmerkungen
1) In diesem Beitrag wird bewusst auf eine intensivere Darstellung der sog. Einigungskriege (1864, 1866 und 1870) verzichtet. Diese werden ihrer besonderen Bedeutung entsprechend separat behandelt.
2) Haffner macht in dem angegebenen Buch gleich zu Beginn den Leser auf die maßgeblichen „Sonderbarkeiten“ aufmerksam, die zu beachten sind, wenn man sich mit den Themen „Kaiserreich“ und „Bismarckzeit“ beschäftigen will. Er entwickelt z.B. die These: „So ist die Geschichte des Deutschen Reiches fast eine Kriegsgeschichte, und man könnte versucht sein, das Deutsche Reich ein Kriegsreich zu nennen.“ (S. 10). Aber Bismarck entlastet er ausdrücklich von diesem allgemeinen Vorwurf (S. 12). „Erst nach Bismarck er- wies sich Deutschland als durchaus nicht saturiert“, a.a.O.
3) Selbst auf „Wikipedia“ kann nur ein grober Überblick gegeben werden: https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_von_Bismarck
4) Kissinger, S. 888.
5) Der „Erste Vereinigte Landtag“ war indirekte Folge des Wiener Kongresses, da sich die beteiligten Fürsten verpflichteten, sog. landständische Verfassungen zu gewähren (Art. 13 Dt. Bundesakte v. 1815; in der Wiener Schlussakte 1820 bestätigt). In Preußen wurde diese Verpflichtung nur langsam umgesetzt, ab 1823 zunächst nur in Gestalt sog. Provinziallandtage. Diese wurden nicht „gewählt“, sondern folgten dem Prinzip „ständischer Körperschaften“; deren Kompetenz sollte im Wesentlichen auf die Bewilligung von Staatsschulden beschränkt sein (Folge von Hardenbergs Finanzreform 1810, die 1820 im sog. Staatsschuldengesetz fortgesetzt wurde). Wenn also das „Budgetrecht“ auch heute noch als vornehmste Aufgabe eines (demokratischen) Parlaments bezeichnet wird, sollte den Abgeordneten immerhin bekannt sein, auf welchen historischen Grundlagen dies beruht. Als in der Amtszeit Friedrich Wilhelms IV. erstmals größere zivile Investitionsprogramme notwendig wurden, vor allem beim Eisenbahnbau, wuchs der staatliche Finanzbedarf deutlich an, das Problem der „Staatsverschuldung“ im modernen Sinne war entstanden. Um den absehbar stark steigenden Finanzbedarf zu sichern, ließ sich der preußische König auf das, aus seiner Sicht, Wagnis ein, im Frühjahr 1847 einen vereinigten Landtag aus den bisherigen Provinziallandtagen einzuberufen. Auch dieses neue „Organ“ wurde nicht von den Bürgern gewählt, sondern kraft Tradition bestimmt, d.h. ihm gehörten neben den Angehörigen des Königshauses, auch Mitglieder des „Herrenstandes“, der Ritterschaft und noch weitere Vertreter der Städte und Landgemeinden an. Diese waren also „Abgesandte“, keine echten Abgeordneten. Dieser Vorläufer eines Parlaments ging auf eine Verordnung Friedrich Wilhelms IV. vom 03.02.1847 zurück, so dass man diesen Zeitpunkt als „Zäsur“ bezeichnen kann: die bis dahin absolute Monarchie in Preußen verwandelte sich in einem Zwischenschritt erst in eine „ständische“ Monarchie, um dann ab Ende 1848 als „konstitutionelle“ Monarchie bis zur „Novemberrevolution“ 1918 weiter zu bestehen. Als 1871 das Deutsche Reich gegründet wurde, geschah dies zwar auf konstitutioneller Basis (eigentlich wurde nur die Verfassung des Norddeutschen Bundes v. 1867 entsprechend abgeändert übernommen), doch bis auf die Verfassungsänderung Ende Oktober 1918 galten noch die Vorstellungen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Aber selbst die „Reform“ im Oktober 1918, mit der viel zu spät die parlamentarische Verantwortlichkeit des Reichskanzlers eingeführt worden ist, wurde bereits keine zwei Wochen später bei der Amtsübergabe durch Max v. Baden auf Friedrich Ebert schon ignoriert: die „Ernennung“ Eberts zum letzten kaiserlichen Reichskanzler am späten Vormittag des 09.11.1918 kurz vor der berühmten Balkonrede Scheidemanns, in der dieser eigenmächtig die „deutsche Republik“ ausrief, war im Grunde genommen verfassungswidrig. In Preußen gab es also bis 1848 überhaupt keine Verfassung (im modernen Sinne) und somit keine gesamtstaatliche Repräsentation, lediglich provisorisch oder auf Provinzebene bis zum Vereinigten Landtag.
Diese „Ständevertretung“ hatte ohnehin nur eine kurze Dauer (April bis Juni 1847) und konnte die Hoffnungen auf echte Reformen nicht erfüllen, statt dessen weigerte sich eine große Mehrheit, die Schulden für den Eisenbahnbau zu bewilligen, so dass der preußische König diese Versammlung einfach wieder auflöste (die Bauarbeiten an der ersten Bahnlinie wurden sogar zeitweilig eingestellt), trotzdem gilt der Erste Vereinigte Landtag als eine Voraussetzung für die spätere Entstehung der Parteienlandschaft in der Paulskirchenversammlung, so gab es frühe „Fraktionen“ und weltanschauliche Zusammentreffen und erste „parlamentarische Spielregeln“ konnten geübt werden. Bis zum Untergang 1918 blieb dies jedoch stark eingeschränkt. Otto v. Bismarck selbst kam eigentlich nur als Vertreter (Ersatzmann) der Ritterschaft für die Provinz Sachsen in dieses Gremium; wäre der eigentliche Kandidat nicht schwer erkrankt, hätte Bismarck wahrscheinlich überhaupt keinen Auftritt als Redner gehabt.
6) Zitiert nach Steinberg, S. 116; siehe auch Treitschke, S. 621f.
7) Zitiert nach Steinberg, S. 251f.; https://germanhistorydocs.ghi-dc.org/sub_document.cfm?document_id=250&language=german
8) Quelle: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 7. Legislaturperiode, 2. Session 1887/88, Bd. 2. Berlin: Verlag der Norddeutschen Buchdruckerei und Verlags-Anstalt, 1888, S. 723-33, (S. 733), 30. Sitzung, 6. Februar 1888; https://ghdi.ghi-dc.org/docpage.cfm?docpage_id=2825
9) Zur Situation in Preußen: https://de.wikipedia.org/wiki/Preu%C3%9Fisches_Judenedikt_von_1812
Ein wichtiger Vorbereiter war der preußische Jurist u. Staatsbeamte Christian Wilhelm Dohm: https://de.wikipedia.org/wiki/Christian_Konrad_Wilhelm_von_Dohm
10) Preuß. Gesetz über die Verhältnisse der Juden v. 23.07.1847. Link: http://www.verfassungen.de/preussen/gesetze/judenstatus1847.pdf
Besonders krass: an diesem Gesetz haben mit Eichhorn und von Savigny zwei der berühmtesten und einflussreichsten deutschen Juristen des 19. Jahrhunderts mitgewirkt! Die Methodenlehre Savignys zählt heute noch zu den wichtigsten theoretischen Grundlagen in der deutschen Rechtswissenschaft. Nicht ganz uninteressant ist z.B. auch § 71 des o.g. Gesetzes, wodurch die Niederlassungs- u. Berufsfreiheit „ausländischer“ Juden erschwert wurde („Ausland“ bedeutete alle nicht-preußischen Provinzen, also auch alle anderen deutschen Staaten im „Deutschen Bund“).
Auch wenn der völlige Ausschluss preußischer Juden von den gesetzgebenden Körperschaften mit Einführung „echter“ Verfassungen ab 1849/1850 überwunden wurde (s. Art. 70, 74 Preuß. Verfassung v. 1850), am tiefer sitzenden Problem gesellschaftlicher Ausgrenzung änderte dies nur wenig. Ein bekanntes Beispiel ist Walther Rathenau, der in jungen Jahren unbedingt als Offizier in der Preuß. Armee „aufsteigen“ wollte, aber als Jude, der nicht konvertierte (obwohl nicht strenggläubig und von seinem gesamten Habitus eher großbürgerlich) ohne Chance auf eine Offizierslaufbahn blieb; besondere Ironie: der Zivilist Rathenau wurde im Herbst 1914 Chef der „Kriegsrohstoffabteilung“ im Preuß. Kriegsministerium und rettete die Militärs vor einer frühzeitigen Niederlage im Ersten Weltkrieg, da bereits in den ersten Wochen enorme Nachschubprobleme drohten; die Kriegstreiber in Berlin (und Wien) hatten schlicht den immensen Rohstoffbedarf unterschätzt, der für einen „modernen“ Massenkrieg notwendig wurde. Dass sich Rathenau für diese besonderen Kriegszwecke zur Verfügung stellte und seinen Job erfolgreich erledigte, mag zwar ein eher ungünstiges Licht auf seine Person werfen, macht aber den „Feme-Mord“ an ihn durch ehemalige Freikorps-Offiziere im Sommer 1922 nur umso unverständlicher und sinnloser.
11) Das andere große Debattenthema im „Ersten Vereinigten Landtag“ war die Reform der sog. Patrimonialgerichtsbarkeit (vereinfacht gesprochen: ein spezielles Recht auf Gerichtsbarkeit der „Grundherren“ bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts). Jeder Grundherr (Gutsbesitzer) hatte bis zum Untergang des alten Kaiserreichs 1806 kraft des Lehnsrechts die autonome Befugnis zur „niederen“ Gerichtsbarkeit, war in diesem Rahmen sein eigener Gerichtsherr, losgelöst von der „staatlichen“ Rechtspflege; heute noch in Ansätzen im Satzungsrecht von Verbänden und berufsständischen Kammern erhalten, wie der Sportgerichtsbarkeit oder in den Anwalts-, Ärzte- u. Steuerberaterkammern. Als sich nach endgültiger Auflösung der alten ständerechtlichen Zustände Anfang des 19. Jahrhunderts eine „neue“ Staatsvorstellung entwickelte und sich durchzusetzen begann, musste auch die „alte“ Grundgerichtsbarkeit in die Kritik geraten. Erst als diese noch aus dem Mittelalter stammenden Relikte adliger Herrschaftsrechte überwunden wurden, konnte das heutige „Gewaltmonopol“ des Staates aufgerichtet werden. Die entsprechenden politischen Diskussionen und Debatten Mitte des 19. Jahrhunderts waren somit eine wichtige Voraussetzung für die Herausbildung des modernen Staatswesens – ein Detail, das im schulischen und universitären Unterricht nur selten behandelt wird. Und natürlich hatte Bismarck auch bei diesem Debattenthema einen „gewaltigen“ Auftritt hingelegt, als er im Mai 1847 seine Jungfernrede den „Befreiungskriegen“ gegen Napoleon ab 1813 widmete, um sich grundsätzlich gegen die Einführung „moderner“ Verfassungen stark zu machen und damit auch prinzipiell für den Erhalt der Patrimonialgerichtsbarkeit zu argumentieren. Mit dieser „erzreaktionären“ Rede hat sich Bismarck einen Ruf als „aristokratischer Ultra“ erworben, der ihm lange anhaften sollte. Die zweite Rede v. Juni 1847 zur „Judenfrage“ kann daher auch nicht losgelöst von der vorherigen betrachtet werden. Wenn man so will, ging es in beiden Reden ums „Eingemachte“.
12) Zum damaligen Verfassungskonflikt im Überblick: https://de.wikipedia.org/wiki/Preu%C3%9Fischer_Verfassungskonflikt
Außerdem z.B. das Kapitel bei Nipperdey, S. 749 – 768.
13) Die Not des Preußenkönigs soll sogar so groß gewesen sein, dass Wilhelm I. Abdankungsgedanken hegte. Der Mittsechziger hätte durchaus ohne größeren Gesichtsverlust zu Gunsten des Kronprinzen Friedrich zurücktreten können; der als „liberal“ geltende Friedrich hätte dann fast ein Vierteljahrhundert Zeit gehabt, das in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen (nicht bloß die 99 Tage, die ihm tatsächlich 1888 als König bzw. Kaiser vergönnt geblieben sind).
14) Als Beispiel für Bismarcks außenpolitische Grundeinstellung ein kurzer Ausschnitt aus besagter Rede: „Wenn ich sage, wir müssen dauernd bestrebt sein, allen Eventualitäten gewachsen zu sein, so erhebe ich damit den Anspruch, daß wir noch größere Anstrengungen machen müssen als andere Mächte zu gleichem Zwecke, wegen unserer geographischen Lage. Wir liegen mitten in Europa. Wir haben mindestens drei Angriffsfronten. Frankreich hat nur seine östliche Grenze, Rußland nur seine westliche Grenze, auf der es angegriffen werden kann. Wir sind außerdem der Gefahr der Koalition nach der ganzen Entwickelung der Weltgeschichte, nach unserer geographischen Lage und nach dem vielleicht minderen Zusammenhang, den die deutsche Nation bisher in sich gehabt hat im Vergleich mit anderen, mehr ausgesetzt als irgend ein anderes Volk.“ Aus heutiger Sicht geradezu ein Appell für den Primat der Diplomatie, der von Bismarcks Nachfolgern bekanntlich überhört oder gar ignoriert worden ist.
15) Aufschlussreich das sog. „Kissinger Diktat“ vom Juni 1877.
16) Steinberg, S. 104.
17) Steinberg, S. 105.
18) Nipperdey, S. 396.
19) Vgl. Nipperdey, S. 399
20) Zum Thema „Revolution von 1848“ im Überblick: Wollstein, Informationen zur politischen Bildung Nr. 265/2006. Vertiefend Nipperdey, S. 595 – 673.
21) Auch wenn es die zeitliche Parallele zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung des Manifestes der Kommunistischen Partei („Kommunistisches Manifest“), das zum Jahreswechsel 1847/48 von Marx und Engels erarbeitet wurde und im Februar 1848 erstmals erschien, nahelegen würde, stellt diese Schrift keinen unmittelbaren Auslöser der Unruhen in Paris dar; zumal das Manifest zuerst in London erschienen ist. Wieweit es sich im Laufe der nächsten Monate in Europa verbreitet bzw. auf spätere Entwicklungen Einfluss hatte, blieb zumindest für die Ereignisse in Deutschland bis 1850 ohne nennenswerte Bedeutung. Interessant ist jedoch ein anderer zeitlicher Vergleich: 120 Jahre nach den ersten Unruhen in Frankreich (Paris) schwappte erneut eine revolutionäre Bewegung von Frankreich nach (West-)Deutschland über, die 68er-Bewegung. Die Brutalität, mit der zumindest teilweise die Sicherheitsbehörden (bei uns wie in Frankreich usw.) vorgegangen sind, böte schon einen interessanten Anschauungsunterricht und Vergleichsmaterial (1848 zu 1968).
22) Zitiert nach Gall, S. 73. Bismarck hatte im März 1849 in der Zweiten Kammer (das spätere „Abgeordnetenhaus“ im Landtag) eine entsprechend konservative Rede gehalten, die Eindruck machte.
23) § 87 Absatz 2 Paulskirchenverfassung v. 28.03.1849 („solange die deutsch-österreichischen Lande an dem Bundesstaat nicht teilnehmen“).
24) „Er verteidigte den Mut und die Moral des diplomatischen Rückzugs; und er ging zum Gegenangriff über (…). Das war rhetorisch-taktisch eine Meisterleistung“; Nipperdey, S. 673.
25) Steinberg, S. 244f. Es handelte sich um die 22-jährige Fürstin Katharina Orlowa, russischer Hochadel. Bismarck war 25 Jahre älter, ebenfalls verheiratet und wartete das gesamte Jahr 1862 darauf, höchste Staatsämter zu übernehmen. Insgesamt kein guter Zeitpunkt für eine Affäre.
26) Steinberg, S. 212. Die von Bismarck geschilderte „familiäre“ Atmosphäre dürfte auch insoweit leicht übertrieben gewesen sein, da um 1860 in weiten Kreisen der russischen Aristokratie eher eine antideutsche Grundstimmung herrschte. So auch die Stellung 1864 bezüglich des Konflikts um Schleswig-Holstein.
27) Steinberg, S. 182.
28) Nach dem Motto: suprema lex regis voluntas. Wer glaubt, diese Maxime gelte nur für absolutistische Monarchen, irrt natürlich. Aktuelle Beispiele: der letzte US-Präsident oder auch (zumindest ansatzweise) die außerhalb des Grundgesetzes stehende „Institution“ namens Corona-Kabinett bzw. die „Nachtsitzungen“ von Bundeskanzleramt und den Ministerpräsidenten: gut gemeint, ist das Gegenteil von gut gemacht.
29) Abgedruckt in: Bismarck, S. 234.
30) Der profunde Fachmann für die Weimarer Republik, Heinrich August Winkler, hat in einem Aufsatz die Ansicht des „NS-Kronjuristen“ Carl Schmitt zu Bismarcks Indemnitätsgesetz behandelt. Schmitt habe versucht, „die Machtübertragung an Hitler als logisches Resultat der deutschen Verfassungsentwicklung seit dem Jahre 1866 erscheinen zu lassen“. Schmitt zufolge habe diese Indemnität eine verhängnisvolle Weichenstellung bewirkt, Winkler, S. 127 u. 128.
31) Bismarck, S. 142f.
32) Gall, S. 277. Eine Übersicht des Briefwechsels zwischen Bismarck und Lassalle: https://www.marxists.org/deutsch/referenz/lassalle/bismarck/briefe/index.htm
Heinrich Mann, als junger Mann noch Zeitgenosse Bismarcks, fand diese „Männerfreundschaft“ überhaupt nicht verwunderlich: „Für gespannte, gewagte Naturen besaß ein Bismarck den verwandten Sinn; in seiner Nähe unterhielt er alte Revolutionäre, sie hatten von der bürgerlichen Freiheit mehr verlangt als nur den Einfluss des Besitzes. Lieber arbeiteten sie für einen geistvollen Machthaber als gegen ihn zugunsten einer hin- fälligen Konvention, die unter dem Namen der Freiheit ging“, s. Heinrich Mann, S. 504.
33) Wikipedia L. Bamberger: https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Bamberger
34) Wikipedia G. Bleichröder: https://de.wikipedia.org/wiki/Gerson_von_Bleichr%C3%B6der
35) Vgl. Steinberg, S. 208.
36) Obwohl es sich um ein sehr komplexes Thema handelt, kann der „Kulturkampf“ hier nur ganz grob dargestellt werden: Nach der Reichsgründung wurde die katholische Kirche (genauer gesagt, das römische Papsttum) beschuldigt, als Folge des Dogmas der päpstlichen Unfehlbarkeit die Autorität der weltlichen Herrschaft des preußischen Königs und deutschen Kaisers untergraben zu wollen. „Verfassungsrechtlich“ ging es um die Trennung von Staat und Kirche, da die Wortführer im Kulturkampf die Gefahr sahen oder auch nur propagierten, das Oberhaupt der katholischen Kirche könne sich negativ in die (Innen-)Politik des Deutschen Reiches einmischen. Folge und Auswirkungen waren eine Reihe von Maßnahmen gegen die katholische Kirche in Deutschland: Kanzelparagraf, Jesuitengesetz, Expatriierung missliebiger Mönche, Einführung der Zivilehe, Schulaufsicht u.a. Ab Ende der 1870er Jahre musste Bismarck immer deutlicher erkennen, dass seine Zielsetzung, den politischen Katholizismus in Deutschland „kleinzuhalten“ nicht aufging und mit dem neuen Papst Leo XIII. ein durchaus moderater Mann die Nachfolge Christi angetreten hatte, so dass sich nach und nach die politischen Beziehungen zwischen Bismarck und den Katholiken entspannte, diese auch immer mehr den neuen Staat akzeptierten (viele waren ja Süddeutsche, keine „Borussen“). Schließlich wurde der politische Katholizismus integraler Bestandteil der deutschen Innenpolitik, was sich bis zum Ende der Monarchie geradezu „staatstragend“ auswirken sollte; ohne das Zentrum wäre wohl auch die Weimarer Republik schon viel eher an ihre Grenzen gestoßen.
37) Zur Bündnispolitik Bismarcks im Überblick: https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCndnispolitik_Otto_von_Bismarcks
38) Steinberg, S. 217.
39) Zitiert nach Gall, Vorblatt, S. 15
40) Eine haarscharfe Trennung lag zumindest in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht vor. Karl Marx z.B. soll von sich selbst behauptet haben, kein „Marxist“ zu sein (im Sinne eines Parteipolitikers).
41) Kraus, S. 309.
42) Heinrich Mann, S. 502 (die Aussage stammt aus dem Jahre 1947).
43) Golo Mann, S. 466f.
44) Bismarck, S. 223f.
45) Kraus, S. 308 – 310.
46) Nicht verschwiegen werden soll, dass mit den Hansestädten Lübeck, Bremen und Hamburg auch drei „Republiken“ im Bundesrat beteiligt waren. Im Grundgesetz werden den Bundesländern ebenfalls umfassende Hoheitsrechte eingeräumt, z.B. in Art. 30 u. 70 GG.
Literatur
Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen, als Taschenbuch 1962 beim Goldmann Verlag München erschienen.
Gall, Lothar: Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt/M. u.a. 1980.
Haffner, Sebastian: Von Bismarck zu Hitler. Ein Rückblick, München 1987.
Kissinger, Henry A.: The White Revolutionary: Reflections on Bismarck, in Daedalus Vol. 97, No. 3, Philosophers and Kings: Studies in Leadership (1968), S. 888-924. https://findit.library.yale.edu/images_layout/view?parentoid=11787059&increment=0
Kraus, Hans-Christof: Bismarck. Größe – Grenzen – Leistungen, Stuttgart 2015
Mann, Golo: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, zuerst Frankfurt/M. 1958 (hier Sonderausgabe v. 1966).
Mann, Heinrich: Ein Zeitalter wird besichtigt, Berlin 1947.
Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800 bis 1866. Bürgerwelt und starker Staat, 6. Aufl., München 1993.
Steinberg, Jonathan: Bismarck. Magier der Macht, dt. Ausgabe Berlin 2012.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur Märzrevolution, Erstauflage 1894 (hier die Ausgabe Leipzig 1927).
Winkler, Heinrich August: Die deutsche Abweichung vom Westen. Der Untergang der Weimarer Republik im Lichte der „Sonderwegs-These“, in: Gestaltungskraft des Politischen, Festschrift für Eberhard Kolb, herausg. v. Wolfram Pyta u. Ludwig Richter, S. 127 – 137, Berlin 1998.
Wollstein, Günter: Revolution von 1848, in: Informationen zur politischen Bildung Nr. 265/2006, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2006.
Weiterhin empfehlenswert:
Bundeszentrale für politische Bildung (hrsg.): Bismarck, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 13/2015: kostenlos als PDF https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/202991/bismarck