Besonderheiten im 19. Jahrhundert. Zu den Irrungen und Wirrungen am Beispiel Heinrich v. Treitschkes
I) Vorbemerkung
Mit den nachfolgenden Ausführungen soll eine kurze Reihe von Beiträgen gestartet werden, die im Zusammenhang mit dem Ereignis „150 Jahre Reichsgründung“ stehen.(1)
Im Januar 1871 (feierliche Proklamation des Königs von Preußen zum Deutschen Kaiser, ausgerechnet im Spiegelsaal des Versailler Schlosses) und im April 1871 (Inkrafttreten der Reichsverfassung, nach ihrem Schöpfer auch „Bismarckverfassung“ genannt) erfolgten die beiden wichtigsten nach außen gerichteten (formellen) Ereignisse zur Staatsgründung, nachdem bereits im Herbst 1870 preußische Truppen inklusive des „Norddeutschen Bundes“ und einiger Kontingente süddeutscher Staaten die wichtigsten militärischen Schlachten gegen Frankreich, dem offiziellen Aggressor, gewonnen hatten.
Doch waren die Ergebnisse von 1870/71 nicht bloß Folge traditioneller „Machtpolitik“ (im außen- wie im innenpolitischen Sinne) der handelnden Eliten in Staat und Militär, sondern auch Ausdruck und Folge ganz bestimmter „gesellschaftspolitischer“ Entwicklungen. Alle – zumindest die politisch maßgeblichen – Gesellschaftsschichten (oder auch „Klassen“ bzw. soziale Milieus) strebten zur deutschen Einheit.
Aber wegen des Ausgangs der „kurzen“ Revolution von 1848/49 konnte nur noch die sog. Kleindeutsche Lösung zur Staatsgründung führen – es galt daher „Borussia First“.
Um das berühmte Hegelwort leicht abzuwandeln: das seit den napoleonischen Befreiungskriegen entwickelte nationale Bewusstsein bestimmte das Sein der konkreten Staatsbildung. Mindestens eine ganze Generation war von dieser Vorstellung beseelt. Betrachtet man das gesamte 19. Jahrhundert, war diese Entwicklung auch in Deutschland gleichsam zwangsläufig und lag im allgemeinen Zeitgeist. (2) Daher ist es nur folgerichtig, neben diesen rein objektiven Daten (sog. Ereignisgeschichte) auch nach tieferen Zusammenhängen und besonderen Ausprägungen zu fragen (sog. Strukturgeschichte).
Das besondere Interesse soll auf die Frage gerichtet werden, welche politisch-geistigen Strömungen waren um 1870 und in den Jahren nach der Reichsgründung vorherrschend?
Unter „geistige Strömungen“ sind die althergebrachten, in religiösen bzw. konfessionellen „Mustern“ überlieferten Grundlagen einerseits und die zunehmende Säkularisierung („Verweltlichung“), angestoßen durch die technisch-naturwissenschaftlichen Innovationen der beginnenden „Industrialisierung“, andererseits zu verstehen. In dieser Ära gab es natürlich viele Spannungsverhältnisse und Reibungspunkte.
Und wenn man sich mit einem solchen Thema beschäftigt, werden auch zwangsläufig Fragen nach den generellen „politischen Strömungen“ der damaligen Zeit (Mitte des 19. Jahrhunderts) aufgeworfen.
Von den drei großen und grundsätzlich ideologischen Strömungen und Parteiungen, die damals (theoretisch bis heute) vorherrschten, dem Sozialismus (in verschiedenen Spielarten), dem Konservativismus (mal mit, mal ohne konfessionelle Bindung) und dem weiten Feld des „Liberalismus“, fällt die Meinungsfreiheit als Bürger- oder Grundrecht in die „Kernkompetenz“ des Liberalismus; so sollte man meinen! Daher geht es auch um den Wandel bzw. Niedergang des politischen Liberalismus in Deutschland nach 1871.
Fügt man beide Teile zusammen (die politischen und geistigen Strömungen), kann man sich auch der Kardinalfrage nähern, wie konnte daraus extrem gesteigerter Nationalismus und radikaler Antisemitismus folgen?
Waren diese speziellen Ausprägungen bereits bei der „Reichsgründung“ angelegt, zumindest absehbar oder war diese verhängnisvolle Entwicklung gerade nicht zwangsläufig (sprich: hätte auch alles anders kommen können)?
Dieser Beitrag möchte mit einer ganz speziellen Frage bzw. Themenstellung beginnen: Die Meinungsfreiheit und (im akademischen Bereich) die Wissenschaftsfreiheit im Kaiserreich bzw. generell in Deutschland im 19. Jahrhundert; „Quer“-Bezüge zur aktuellen Situation sind dabei durchaus beabsichtigt. (3) Zwecks Übersichtlichkeit und um einen adäquaten Umfang beizubehalten, können im Folgenden nur einzelne Aspekte angerissen werden. (4)
II) Einleitung
In der Bundesrepublik steht die Meinungsfreiheit in Artikel 5 Absatz 1 des Grundgesetzes, neben der sog. allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG, im Mittelpunkt der verfassungsrechtlich verbürgten Grundrechte. Das Bundesverfassungsgericht wird nicht müde, die überragende Bedeutung dieses Freiheitsrechts zu betonen (die Freiheit der Wissenschaft, Art. 5 Abs. 3 GG, bedeutet insofern nur einen speziellen Anwendungsfall), zumal es sich um ein klassisch-liberales Freiheitsrecht handelt, das bereits im Entwurf der sog. Paulskirchenverfassung von 1849 enthalten war (dort als Artikel 143). In der bereits erwähnten Reichsverfassung vom April 1871 fehlt eine solche Verbürgung (5).
Allerdings war das „Bismarckreich“ als ein besonders föderaler Bundesstaat konzipiert, so dass grundsätzlich den beteiligten Gliedstaaten volle Souveränität verblieb, sofern diese nicht ausdrücklich als Angelegenheit der Reichsgesetzgebung gesondert festgelegt wurde. Das hatte zur Folge, dass es neben der (neuen) Reichsverfassung auch noch die (meist alten) Landesverfassungen gegeben hat, so vor allem die Preußische Verfassungsurkunde von 1850, welche in Artikel 20 und 27 Wissenschafts- und Meinungsfreiheit regelten (zumindest den Buchstaben nach ähnlich wie heute noch formuliert).
Dass dennoch nach 1871 zahlreiche Personengruppen (zuerst im sog. Kulturkampf, dann im Rahmen der Sozialistengesetze) gerade wegen ihrer (abweichenden) Meinung verfolgt, oft auch inhaftiert wurden, beweist nur erneut den Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Diese unterschiedliche Praxis beim Thema „Meinungsfreiheit“ soll hier nun kurz dargestellt werden.
III) Unterschiedliche Entwicklungen
1) Im Frühjahr 1871 wurde nicht nur das Deutsche Reich aus der Taufe gehoben, sondern auch im März d. J. der Schriftsteller Heinrich Mann geboren. Zu seinen bekanntesten Romanen zählt „Der Untertan“. (6)
Eine prägnante Episode in dieser bereits 1914 fertiggestellten, aber erst 1918 endgültig gedruckten Gesellschaftskritik des „Wilhelminismus“ ist die, als die Hauptfigur Diederich Heßling eine eher beiläufige Bemerkung in einem Wirtshaus zum Anlass nimmt, den bis dahin unbescholtenen Fabrikbesitzer Lauer, der dem liberalen Bürgertum zugerechnet wurde, zu denunzieren, so dass aus einem flapsigen Spruch in bierseeliger Wirtshausstimmung eine „Staatsaffäre“ wird.
Die preußische „Obrigkeit“ in Gestalt von übereifrigen Beamten, Staatsanwälten und Richtern ließ nichts unversucht, die durch eine angebliche Beleidigung geschmähte Majestät zu sühnen und die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Am Ende wird dieser Mann sogar zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Nach Haftentlassung ist Fabrikbesitzer Lauer wirtschaftlich und persönlich ruiniert. Alles wegen einer Lappalie, die zu einer Majestätsbeleidigung hochgespielt wird.
Natürlich handelt es sich bloß um einen Roman, aber die Handlung, noch mehr die Hauptfiguren, stellen doch das Abbild der damaligen Gesellschaft und des insgesamt eher intoleranten gesellschaftlichen Klimas, das seit Ende des 19. Jahrhunderts im gesamten Reich herrschte, dar.
2) Ganz im Gegensatz zu dieser obrigkeitsstaatlichen Verfolgungspraxis stehen zahlreiche Vorfälle, in denen einflussreiche Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Kultur Hetzkampagnen gegen nationale Minderheiten starteten und dabei völlig straffrei geblieben sind.
a) Hier ist zunächst der als „Berliner Antisemitismusstreit“ aufschlussreiche Fall zu nennen. (7)
Aufschlussreich besonders deshalb, weil ein nicht ganz unbekannter Hochschulprofessor, der gleichzeitig noch Abgeordneter im Reichstag und Herausgeber der „Preußischen Jahrbücher“ gewesen ist, in einer Art „Leitartikel“ Ende 1879 seine relativ überflüssigen Ansichten zur damaligen Lage der Weltpolitik zum Besten gegeben und dabei fast kein nationalistisches Ressentiment ausgelassen hat. (8)
Höhepunkt der dort verbreiteten Polemik ist der noch immer berühmt-berüchtigte Ausspruch: „ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück!“
Auf eben jenen Heinrich v. Treitschke wird im Folgenden noch näher einzugehen sein.
b) Nachdem erst einmal dieser Aufsatz mit seinen provozierenden Bemerkungen veröffentlicht worden war, setzte eine weitere Steigerung von Hetzkampagnen und Hassreden gegen deutsche Juden ein.
Dabei wurden auch „alternative Fakten“ konstruiert; diese semantische Spielart der Wahrheitsverdrehung ist also nicht erst eine Erfindung eines ehemaligen US-Präsidenten ab 2016/17.
Der sog. Hof- und Domprediger Adolf Stoecker, dem ein großer Einfluss auf Wilhelm II. zugeschrieben wird, war seit 1879 Abgeordneter im Preußischen Landtag, Mitinitiator einer antijüdischen Petition, die auf den Entzug der staatsbürgerlichen Rechte jüdischer Mitbürger abzielte, hat in eben diesem Landtag völlig abwegige Behauptungen aufgestellt, die (strafrechtlich gesehen) schon stark in Richtung Verleumdung gingen, aber wegen seiner Immunität, Artikel 84 der Preußischen Verfassung, folgenlos blieben.
Vorausgegangen war dem ganzen eine Debatte im Preußischen Landtag im November 1880 über eine Anfrage des liberalen Abgeordneten Albert Hänel zum Thema „Agitation gegen die jüdischen Staatsbürger“. Der Abgeordnete Hänel wollte wissen, wie die Preußische Landesregierung mit den Forderungen, die in dieser Petition erhoben wurden, zwecks Aufhebung der rechtlichen Gleichstellung der jüdischen Staatsbürger, umzugehen gedachte. (9)
Im Rahmen dieser Debatte wurde auch dem Abgeordneten Stoecker das Wort erteilt. Er nutzte, genauer gesagt, er missbrauchte sein Rederecht als Abgeordneter, um offensichtliche Falschbehauptungen zu verbreiten. Ihm ging es nämlich darum, die angeblich generell feindliche Einstellung und eine allgemeine Überheblichkeit der Juden gegenüber dem Christentum durch Benennung verschiedener Autoren und Zitate zu belegen.
So beschuldigte Stoecker auch den Wissenschaftler Matthias Jacob Schleiden (Botaniker und Mitbegründer der Zellforschung), ein Jude zu sein und deshalb andere jüdische Gelehrte, die sich im Mittelalter um den Fortbestand der Wissenschaften bemüht hatten, besonders zu loben.
Stoeckers kurzsichtiger Gedankengang war: Wer die historischen, kulturellen bzw. (natur-)wissenschaftlichen Leistungen von Juden besonders hervorhob, musste automatisch selbst ein Jude sein (ein Christ könne unmöglich so positiv über Juden urteilen).
Als der Abgeordnete Stoecker noch während der Sitzung auf seine Fehleinschätzung zur Person Schleidens, der nämlich kein Jude, sondern Christ gewesen ist, hingewiesen wurde, hat er diese Einwände einfach ignoriert. Aus der Sicht eines radikalen Antisemiten, wie Stoecker, konnte nicht sein, was nicht sein durfte. (10)
Für konservative Milieus, besonders aber für Verfechter der reinen christlichen Lehre, waren Ansichten, wie die Schleidens, wonach das Judentum zugleich religiöse Wissenschaftstradition und wissenschaftliches Denken und Handeln beförderte, so dass auch die Unterscheidung zwischen religiösem und weltlichem Wissen an Bedeutung verlöre, gefährlich. Letztlich konnte mit solch „subversiven“, fast schon ketzerischen Ideen auch das Gottesgnadentum der christlichen Monarchen, also auch des Preußischen Königs, angezweifelt werden. (11)
Diese zwar recht kurze Episode zum Thema „Alternative Fakten“ in politischen Debatten zeigt aber die doch relativ weit verbreitete geistige Ignoranz bestimmter Personenkreise nach der Reichsgründung deutlich auf.
Ähnlich wie beim bekannten Hochschulprofessor v. Treitschke, konnte sich auch der Landtagsabgeordnete und Kirchenmann Stoecker sicher sein, dass seine Behauptungen an die Öffentlichkeit gelangten und dort oftmals nicht näher hinterfragt wurden, vielmehr vom „normalen“ Publikum für bare Münze gehalten wurden. Und selbst wenn fundierte Kritik vorgetragen wurde oder gar der Nachweis der Unrichtigkeit von Behauptungen („Falsifizierung“, Widerlegung) gelang, bedeutete das noch lange nicht, dass die Kritik bzw. die richtigen Fakten auch ausreichende Beachtung fanden.
c) Ein solches Beispiel soll hier besonders betrachtet werden, im Rahmen der sog. „Treitschke-Baumgarten-Kontroverse“. (12)
Die unter dieser etwas sperrigen Bezeichnung bekannt gewordene Auseinandersetzung zwischen zwei Fachhistorikern ist aber bezeichnend für den „Wissenschaftsbetrieb“ im Kaiserreich. Vor allem interessant wird diese zunächst unter Kollegen geführte Kontroverse unter dem Gesichtspunkt, wie objektiv eine wissenschaftliche Darstellung sein muss bzw. sein sollte, um den „normalen“ Maßstäben zu genügen, die sowohl im jeweils zeitlichen Zusammenhang und auch innerhalb der jeweiligen „Zunft“ im Besonderen angelegt werden.
Wo verläuft die Grenze zwischen Tatsachen, Meinungen und „Meinungsmache“? Diese Fragestellung wird nicht erst heute thematisiert, sondern war auch schon vor rund 140 Jahren Auslöser für weitreichende Diskussionen. (13)
Ausgangspunkt war zunächst – recht unspektakulär – eine Rezension (Buchkritik): Nachdem Ende Oktober 1882 der zweite Band des Handbuchs „Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert“ von Heinrich v. Treitschke fertiggestellt und veröffentlicht worden war, setzte bereits kurz danach Kritik einiger Fachkollegen ein. Besonders aktiv wurde dabei Hermann Baumgarten (heute nahezu unbekannt, das wichtigste Detail an seiner Person, das überdauert hat, ist: Baumgarten ist der Onkel von Max Weber, vielleicht dem letzten „Universalgelehrten“ Deutschlands).
Seine Kritik an der Darstellung im Werk v. Treitschkes, der sich noch einige ebenfalls eher unbekannte Kollegen anschlossen, war, fehlende Objektivität und Distanz zum Thema (Treitschke wollte eine umfassende Entwicklung der politischen Verhältnisse in Deutschland beschreiben, stellte aber extrem einseitig die Politik Preußens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in den Vordergrund, so als ob nur mit Hilfe einer herausragenden Stellung Preußens die Deutsche Nation hergestellt werden könne; anders formuliert: laut Treitschke musste das geeinte Deutschland am preußischen Wesen genesen). Nicht ganz ohne Grund haben die Kritiker Treitschkes Hauptwerk vorgeworfen, zu unwissenschaftlich zu sein, insbesondere habe er zu wenig Quellen beachtet bzw. verarbeitet, habe Dokumente zu unkritisch, vor allem einseitig behandelt, also insgesamt zu viel Parteinahme bemängelt. Hierauf soll weiter unten noch einmal eingegangen werden.
Zunächst soll an dieser Stelle die eigentliche Hauptfigur etwas näher betrachtet werden, denn erneut war es mit Heinrich von Treitschke (wenn man so will, im Wiederholungsfalle) eine besonders populäre Gestalt im damaligen Geistesleben, zumindest in Preußen, die im Mittelpunkt einer solchen Auseinandersetzung stand.
Die nackten biographischen Daten zu v. Treitschke können interessierte Leser einfach online nachlesen, sie sind nicht der wesentliche Punkt dieser Darstellung. Hier soll die Wirkungsmacht, der politische Einfluss des Historikers v. Treitschke betrachtet werden.
Zunächst soll aus dem Klappentext der jüngsten (wissenschaftlichen) „Darstellung“ dieses Mannes zitiert werden: „Bis heute gilt Heinrich von Treitschke (1834-1896) als einer der umstrittensten deutschen Historiker und Publizisten, als eine Symbolfigur für rechte politische Ideologien. Das Urteil der Forschung: Treitschke hatte eine immense Wirkung auf das politische Denken der nachfolgenden Generationen. (…)
Die Analyse zeigt dabei Erstaunliches: Konservative Nationalisten konnten Treitschke verachten, jüdische Exilanten wohlwollend erinnern; Nationalsozialisten missbilligten seinen »liberalistischen« Antisemitismus, Sozialisten bewunderten seine politische Kämpfernatur.“ (14)
Auch wenn dieser Auszug aus dem Klappentext nicht zum eigentlichen Inhalt des Fachbuches von Thomas Gerhards zählt, so erstaunen doch die aufgezeigten Widersprüche und regen zu einer näheren Betrachtung an. Denn wenn es um Meinungsfreiheit geht (vor 150 Jahren, wie heute), gebietet es die Redlichkeit, auch die andere, abweichende Ansicht zu hören (sofern sie einen Funken Verstand enthält). Dies kann man einem Mann wie Treitschke zumindest nicht grundsätzlich absprechen.
Nun ist hier nicht der Platz, um die über 420 Seiten Fachtext (ohne Anhänge) dieser „Biographie“ eingehend zu beleuchten. Besonders betont werden muss einerseits, dass es schwerfällt, einzelne Passagen aus Treitschkes Werk herauszugreifen, ohne Gefahr zu laufen, den wahren Sinn zu entstellen.
Dies beschreibt der Treitschke-Biograph Gerhards anhand des Artikels „Die Türkei und die Großmächte“ wie folgt: „Es handelt sich bei diesem Artikel also, verfasst zur Zeit der heraufziehenden Orientkrise, um ein Plädoyer für das politische Zusammengehen der christlichen Staaten auf dem Balkan gegen das Osmanische Reich. Mit Sozialdarwinismus hatte dieser Text nichts zu tun.
Eines wurde auch hier erneut klar, und deshalb wurde so ausführlich zitiert: Es ist äußerst problematisch, Treitschkes Aussagen aus dem Zusammenhang zu reißen. Die Widersprüchlichkeit der politischen Aussagen ist ein wesentliches Charakteristikum seiner Werke“. (15) Beachtet man den eigenen Anspruch Treitschkes, bedeutende Männer, die „Geschichte machten“, aber keine objektiven Zusammenhänge zu beschreiben, wird seine Subjektivität offensichtlich.
Andererseits war er von der Richtigkeit seiner Positionen so überzeugt, dass er sogar den Bruch früherer Freunde oder Kollegen mit ihm in Kauf nahm; so z.B. auch im Falle Baumgartens. Also ein ganz eigener und schwieriger Charakter. Umso erstaunlicher ist seine ganze „Karriere“ – als Politiker, Publizist und Herausgeber, aber vor allem als Hochschullehrer, der es schließlich bis in die Preußische Akademie der Wissenschaften geschafft hatte und zuvor noch den Titel eines „Geheimen Regierungsrates“ nebst preußischem Verdienstorden verliehen bekommen hatte.
Doch gerade bei einem Hochschullehrer, dessen Vorlesungen oftmals überfüllt waren und viele seiner Studenten fast ehrfurchtsvoll dem „Meister“ folgten (obwohl Treitschke schon früh nahezu völlig taub geworden war und er deshalb einen ganz eigenartigen Vortragsstil hatte), mussten doch die o.g. „Widersprüchlichkeiten der politischen Aussagen“ umso stärker und nachhaltiger ins Gewicht fallen.
Warum konnte ein solcher Mann eine derartige Bedeutung und „Popularität“ gewinnen? (16) Ein Grund war sicher, dass Treitschke in seiner Person viele Merkmale des damaligen Zeitgeistes verkörperte und zur richtigen Zeit an den wichtigen Orten wirkte.
Treitschke war ein Verfechter des Mottos: „Borussia First“ (in diesem Punkt, zumindest äußerlich, stimmte er mit Otto v. Bismarck überein, der ebenfalls, schon vor seiner Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten, unbeirrt „die Sache Preußens“ vertrat). Er begann seine politisch-akademische Karriere tatsächlich als „Liberaler“ – nach den Maßstäben der nach der Jahrhundertmitte geltenden politischen Auffassungen. Von 1871 bis 1878 war er für die sog. National-Liberalen Reichstagsabgeordneter, danach noch einige Jahre ohne Parteizugehörigkeit.
Was machte also den Liberalismus so besonders, dass sogar ein Mann wie Treitschke lange Zeit als liberal gelten konnte? Der Liberalismus war die erste große politisch-ideologische Bewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit einer programmatischen Ausrichtung und Anhängerschaft. Der Historiker Nipperdey gibt folgende Definition: „Liberal“ – als Wort zuerst für die Anhänger der spanischen Verfassung von 1812 geprägt – das geht übers Politische hinaus, (…) die Grenzen sind gerade im 19. Jahrhundert fließend. (…) In einem ganz allgemeinen „metapolitischen“ Sinn geht der Liberalismus aus von der Autonomie, der Selbstgesetzgebung des Individuums und der Vernunft: das ist das Erbe der Aufklärung, in Deutschland zumal das Erbe Kants. Autonomie: das richtet sich gegen die bloß faktischen Gegebenheiten, die bloßen Traditionen (…) das richtet sich gegen die überlieferten Bindungen in Stand und Korporation wie gegen die bürokratische, herrschaftliche Bevormundung des einzelnen, Autonomie heißt darum Emanzipation. Die doppelte Frontstellung gegen die feudal-korporative Gesellschaft wie gegen den obrigkeitlichen Staat ist für den Liberalismus charakteristisch. Das Individuum und die Entfaltung seiner Möglichkeiten und Kräfte, das steht im Mittelpunkt der Lebensanschauung, von daher erst bestimmen sich Sinn und Zweck des Staates und der Gesellschaft.“ (17)
Wie in England der „Wirtschaftsliberalismus“, so wurde in Deutschland der „bürgerliche Liberalismus“ zum Maßstab einer gesamten Epoche. Autonomie im o.g. Sinn wurde daher vom Besitz- und Bildungsbürgertum zur Blaupause des individuellen ökonomischen Aufstiegs genutzt. Der Prototyp des Liberalen war der „Kaufmann“ (oder auch Fabrikant), der durch seinen wirtschaftlichen Aufstieg die feudalen, ständestaatlichen Fesseln, die ihn zuvor an Grundherren (Adel) und auch die Kirche banden, abstreifen konnte.
Diese Entwicklung bedeutete (ganz grob gesprochen) zweierlei: Der liberale Bürger konnte sich dank seines ökonomischen Aufstiegs ein Anrecht auf politische Teilhabe erarbeiten und sichern, so dass das Bürgertum tatsächlich begann, zu einem selbständigen politischen Machtfaktor zu werden. Aber diese auf ökonomischen Grundlagen basierende Stellung musste auf dem Rücken Dritter begründet und gefestigt werden.
Sowohl der Kaufmann, wie auch der Fabrikant benötigten „Arbeitskräfte“, um ihre wirtschaftliche Stellung zu erreichen. Waren über das (Spät-)Mittelalter bis weit in die Neuzeit feudalistische Strukturen, insbesondere die Grundherrschaft, Basis ökonomischer Stellung von Adel und Klerus, gab es mit dem Aufstieg des Bürgertums eine neue Form wirtschaftlicher Abhängigkeiten.
Ein Merkmal des politischen „Liberalismus“ in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis weit nach 1871 war, dass es keine ausdrücklich „demokratische“ Bewegung gewesen ist; zumindest gehörte es nicht zur ideologischen Agenda der meisten Liberalen, die Masse der Besitzlosen (Fabrikarbeiter in den Städten und Tagelöhner auf dem Land) zu repräsentieren. Unabhängig ob eher „fortschrittlich“ oder eher nationalliberal: Die Mehrzahl der Liberalen in Deutschland blieben Monarchisten, keine bekennenden „Republikaner“ (diese Minderheit unter den frühen Liberalen wandte sich dann schnell in Richtung frühsozialistischer Bewegungen).
Innerhalb der Liberalen um das Jahr 1848 erfolgte die entscheidende Aufspaltung in Befürworter der „Großdeutschen“ Lösung (eine Staatsbildung unter Einschluss Deutsch-Österreichs) oder aber der sog. „Kleindeutschen“ Lösung (der künftige Nationalstaat musste unter preußischer Führung ganz ohne Österreich gegründet werden).
Nach dem endgültigen Scheitern der Paulskirchenversammlung 1849 versammelten sich die meisten Liberalen unter der Fahne der Kleindeutschen, also der Agenda einer Nationalstaatsbildung unter Ausschluss Österreichs und einer Suprematie Preußens. Dies führte in den 1860er Jahren dazu, dass ein (eher kleiner) Teil der Liberalen an ihren alten Vorstellungen von Gewaltenteilung und dem Konstitutionalismus festhielten, aber der größere Teil ins „nationalliberale“ Lager wechselte, das spätestens nach den militärisch-außenpolitischen „Erfolgen“ Bismarcks 1864/66 zu euphorischen Anhängern der sog. Eisen-und Blut-Doktrin des preußischen Ministerpräsidenten wurden. Genau hier findet sich auch Heinrich v. Treitschke wieder.
Dass Ende der 1870er Jahre gerade diese treuen „Fans“ Bismarcks von eben diesem Reichskanzler ausgebootet, ins politische Abseits gestellt wurden, zählt zur Tragik des Liberalismus in Deutschland. Mit der Abkehr von der klassischen Idee des Freihandels und dem „Übergang zum Schutzzoll“ wurde wirtschaftspolitisch der neue Kurs eingeleitet, der innenpolitisch mit den Sozialistengesetzen fortgeführt werden sollte; ganz sicher keine klassisch liberalen Positionen mehr.
Mit diesem Schwenk in der Innenpolitik, den Bismarck aus rein machtpolitischen Gründen vollzog (er war weder Verfechter einer bestimmten ökonomischen Schule, noch ließ er sich von Schwerindustrie und Großlandwirtschaft manipulieren), mussten sich viele dieser sog. Nationalliberalen entscheiden, wo sie künftig stehen wollten. Treitschkes Wahl fiel insofern eindeutig aus: Obwohl von Geburt und durch familiäre Bindungen (die er später abstreifen sollte) ein „Sachse“, entwickelte sich Treitschke zum „Muster-Preußen“ (zumindest bis etwa 1894, kurz vor seinem Tode bekam diese innige Verehrung der Hohenzollern sichtbare Risse).
Vom Standpunkt eines „guten“ Preußen betrachtet, galt es für Treitschke fast 30 Jahre lang, gegen alle antipreußischen Vorstellungen und Verhaltensweisen vorzugehen und solche weitestgehend einzudämmen. In diesem Punkt repräsentierte Treitschke die „Mehrheitsmeinung“ im Deutschen Reich und besonders im nationalliberalen Bürgertum (insoweit sei auf Heinrich Manns „Untertan“ verwiesen).
Nachdem auch die letzten „liberalen“ Minister aus den Regierungen gedrängt worden waren, verschwand auch endgültig der Einfluss pluralistischer Strömungen und liberaler Ansichten. Eine Art Höhepunkt war der faktische Zerfall auch der nationalliberalen Partei ab 1880.
„Die liberale Phase des Reichsausbaus ist zu Ende, und damit dessen liberale Perspektive. Der Liberalismus hat verloren, er spaltet sich, er verliert weiter. Mit der Hoffnung von 1867 ist es zu Ende.“ (18)
Zu den Gründen: „Sozialistengesetz, Zölle, Interventionsstaat, Verbändepluralismus, Befestigung des autoritären Staates, Zähmung des Liberalismus, so kann man das Ergebnis charakterisieren. Das autoritäre System der Regierung, unabhängig von Parlament und Parteien, hat sich stabilisiert. Die Konservativen gewinnen eine wirkliche und solide Wählerbasis. Die Parteien werden – gegenüber Regierung und Interessenverbänden – schwächer, verlieren an Integrations- und Kooperationsfähigkeit, an Initiative und Perspektive. Das sind die langfristig wichtigsten Ereignisse der Krise. Darum ist das Ende der liberalen Epoche ein Unglück für die Deutschen gewesen. Wenn es unvermeidlich war, war es ein tragisches Unglück.“ (19)
Unabhängig ob linksliberal oder nationalliberal, die bürgerlichen Mittelschichten, die über Jahrzehnte die Basis des Liberalismus in Deutschland stellten, waren in sich zerstritten und sozial inhomogen. (20)
Spätestens als die verschiedenen liberalen (Splitter-)Parteien immer stärker in der Wählergunst nachließen, hatte dies Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft, nicht nur auf die Zusammensetzung der Parlamente.
Diese Auflösung des liberalen Gedankens führte zu Besonderheiten in der Entwicklung der Innenpolitik des Deutschen Reiches, nämlich: Ausgrenzung bestimmter Gruppen und Milieus mit den Slogans „Reichsfeinde“ oder „vaterlandslose Gesellen“ einerseits (um dadurch ein spezielles „Einheitsgefühl“ zu bewirken), andererseits der wirtschaftspolitische Wechsel vom Freihandel zum „Schutzzoll“, wodurch auch juristische Präferenzen geändert wurden. Es zeigten sich somit die inneren Risse/Spaltungen der „verspäteten Nation“.
Dies bekamen dann auch und vor allem „nationale Minderheiten“ zu spüren, neben den in den östlichen Landesteilen Preußens lebenden Polen auch die Elsässer (Zabern-Affäre) und im gesamten Reichsgebiet deutsche Juden.
Nach Treitschkes Gusto, dem viele gerade in bürgerlichen Kreisen und unter seinen Studenten folgten, sollten Juden (gilt ähnlich für Katholiken, die sozialistisch eingestellten Arbeiter oder andere Minderheiten) sich derart anpassen, in die „preußische Mehrheitsgesellschaft“ einfügen, unbedingter Bestandteil des Deutschen Reiches werden, inkl. des damals propagierten Untertanengeistes.
Notwendige Voraussetzung, diese „Integrationsbereitschaft“ nachzuweisen, musste für Juden die Zwangstaufe, also der Übertritt zum Christentum sein; insoweit gibt es Parallelen zumindest zum jungen Bismarck. Sofern sich diese Minderheiten einer Integrationsbereitschaft widersetzten, also Juden ihrem Glauben treu bleiben wollten, galten sie (gleichsam automatisch) als Störfaktor.
Einem Preußen, so diese „altpreußische“ Sichtweise, war es nicht zumutbar, als Repräsentanten des preußischen Staates und somit seiner preußischen Majestät einen Juden zu akzeptieren (z.B. in Gestalt eines Beamten oder Offiziers).
Weigerte sich ein Jude zu konvertieren, würde er seine Untauglichkeit, Preußen zu repräsentieren, beweisen und war daher für alle staatlichen Ämter und Funktionen disqualifiziert (so die Konsequenz dieser Sichtweise) und müsse dann auch ausgegrenzt werden. Denn die mit dieser Unterstellung (gläubiger Jude, unglaubwürdiger Preuße) aufgeworfene Loyalitätsfrage galt letztlich auch für die Katholiken im Deutschen Reich.
Ein Resultat des Ersten Vatikanischen Konzils von 1869/1870 war bekanntlich das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes. Daraus musste zwangsläufig ein Dissens zwischen der protestantisch geprägten Monarchie Preußens und allen katholischen Würdenträgern einschließlich der Fürsten und Majestäten katholischer Konfession eintreten, die der katholischen Amtskirche mit ihren Glaubenssätzen anhingen (oft „Römlinge“ genannt).
Auch insoweit galt eine simple Gleichung: Ein Katholik ist Anhänger des römischen Papstes und kann daher kein guter Preuße (Deutscher) sein. Auch diese „Theorie“ musste zu einer Ausgrenzung führen (und war selbst nach Beendigung des sog. Kulturkampfes Ende der 1870er Jahre oft unterschwellig präsent). Mit dieser Sichtweise war Treitschke weder allein, noch besonders radikal.
Selbst der „altliberale“ (heute vielleicht linksliberale) Hermann Baumgarten führte 1882 in seiner Kritik an Treitschkes Hauptwerk nicht dessen antijüdischen Aussagen auf, die dieser noch zwei Jahre zuvor in den Preußischen Jahrbüchern veröffentlicht hatte, sondern er warf seinem Kollegen unwissenschaftliches Arbeiten und eine tendenziöse Grundhaltung, also mangelnde Objektivität vor.
Und betrachtet man den zweiten Band der Deutschen Geschichte Treitschkes, der Gegenstand von Baumgartens Kritik gewesen ist, genauer auf antijüdische oder gar antisemitische Vorurteile, ergibt sich in der Tat ein eigenartiger Befund: An vielen Stellen verurteilt Treitschke z.B. Ausschreitungen gegen Juden. So hat es im Frühjahr und Sommer 1819 an vielen Orten und zahlreichen Städten Deutschlands pogromartige Verfolgungen von Juden gegeben, die von Treitschke kritisch beschrieben werden; er spricht von einer Zusammenrottung des Pöbels, der in den betroffenen Städten jüdische Häuser erstürmte und Bewohner misshandelte. (21)
Es mag sein, dass es Treitschke bei seiner Ablehnung dieser Ausschreitungen eher um die „schlechte Presse“ im Ausland ging als um ein aufrichtiges Bedauern dieser Vorfälle. Aber sicher spricht hier nicht der Antisemit oder Rassist aus Treitschke.
Im Vergleich z.B. zum fünften Band seiner Deutschen Geschichte, der 1894 erschien, und wo Treitschke dezidiert deutsche Exilanten, die sich in den 1840er Jahren in Frankreich verstecken mussten, wie Karl Marx oder Heinrich Heine, wegen ihrer jüdischen Abstammung verunglimpfte, erscheint der zweite Band fast moderat: eine eigenartige Entwicklung bei Treitschke und eine Zuspitzung seiner Vor- und Darstellung zur sog. Judenfrage. (22)
d) Ende der Kontroverse mit Baumgarten
Wie beschrieben, war Treitschke ein typischer Vertreter des damaligen Zeitgeistes und hatte viele Freunde, Gönner bzw. Unterstützer. Da ist es nicht verwunderlich, dass er in dieser Debatte prominente Unterstützung von nationalkonservativen Historikern erhielt. Besonders der Herausgeber der „Historischen Zeitschrift“ (die HZ), Heinrich v. Sybel, schlug sich auf die Seite der Unterstützer Treitschkes, somit eine der einflussreichsten und mächtigsten Personen in der institutionalisierten Geschichtswissenschaft Deutschlands seit Mitte des 19. Jahrhunderts.
Diese prominenten Befürworter der von Treitschke vertretenen Positionen und somit auch seiner Methodik konnten zweierlei bewirken: Einerseits wurden die Kritiker Treitschkes, allen voran Baumgarten, von nun an in der HZ geschnitten, also konnten in der wichtigsten Fachzeitschrift nicht mehr veröffentlichen und wurden dadurch noch mehr zu bedeutungslosen Außenseitern; andererseits erhielt Treitschke einen derartigen Ansehenszuwachs, dass ihm sogar 1884 der bedeutendste Historikerpreis des Kaiserreiches verliehen wurde. Dies galt im politischen Berlin als weitere Niederlage des liberalen Gedankens. (23)
IV) Kulturelle Besonderheiten im 19. Jahrhundert
Nachdem in Deutschland vor allem in der zweiten Hälfte des 18. und in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts die „Aufklärung“ zu einer irreversiblen Überwindung der geistigen Unmündigkeit großer Teile der Bevölkerung geführt hatte (hier sei der Vollständigkeit betont, dass es der „Alte Fritz“ war, der in etlichen Provinzen Preußens die Schulpflicht einführte, somit einen Alphabetisierungsschub einleitete; zu einer Zeit, als katholische Priester die Messe ausschließlich auf Latein abhielten), waren zunächst in den Städten, später vermehrt auf dem Land immer mehr Menschen fähig, auch geistige Leistungen zu erbringen:
„Während der ersten beiden Drittel des Jahrhunderts werden die Deutschen aus einem Volk von Nicht-Lesern zu einem Volk von Lesern. Schätzt man grob das Verhältnis von Nicht-Lesern zu potentiellen Lesern um 1800 wie 3:1, so kehrt sich das Verhältnis bis 1870 um. Man kann das mit Recht die „Leserevolution“ nennen, zumal wenn man auch die qualitative Veränderung des Lesens ins Auge fasst“. (24)
Zugleich stiegen auch die Studentenzahlen immer weiter an, so dass akademisches Wissen insgesamt stetig zunahm und entsprechende Bildung auch „populärer“, also volksnäher wurde. Damit wuchs aber auch die Verantwortung der Lehrenden, insbesondere der Professoren.
Gleichsam parallel wuchs auch die Bedeutung „bürgerlicher Freiheiten“, wie sie in den ersten „Konstitutionen“ ab ca. 1816/17 südlich der Mainlinie eingefordert und niedergelegt wurden. Diese ursprünglich genuin „liberale“ Entwicklung stellte neben der Eigentumsgarantie auch besonders auf die Meinungsfreiheit in allen Facetten ab. Nach und nach gaben sich alle (wichtigen) Territorien des Deutschen Bundes „Verfassungsurkunden“, in denen mehr oder weniger deutlich neben der „Meinungsfreiheit“ auch die „Pressefreiheit“ bzw. „Freiheit der Wissenschaft“ verbürgt wurden; siehe hierzu weiter unten.
Doch die „Deutsche Geschichte“ wäre nicht so kompliziert und wechselvoll, gäbe es nicht andauernd Kehrtwendungen bzw. Rückschläge. So auch ganz besonders im 19. Jahrhundert. Nachdem die politischen Verwerfungen insbesondere in der Mitte Europas, die Napoleon verursacht hatte, auf dem Wiener Kongress nur unvollständig gelöst werden konnten, setzte sich schon ziemlich schnell nach 1815 eine umfassende „Restauration“ der alten Mächte und Ordnungen durch.
Dies blieb auch auf dem Feld der „Meinungs-/Pressefreiheit“ nicht ohne negative Auswirkungen; hier nur einige Stichpunkte: Karlsbader Beschlüsse von 1819, die durch insgesamt vier Gesetze, einer Exekutionsordnung, dem Universitätsgesetz, dem Pressegesetz und einem Untersuchungsgesetz, bewirkten, dass mit Hilfe umfassender Maßnahmen der Zensur unliebsame Meinungsäußerungen verboten werden konnten, das gleiche gilt für Burschenschaften, des Weiteren eine umfassende Überwachung von Universitäten und die Schließung von Sportplätzen (Turnstätten). Unmittelbare Auswirkung, neben Geld- und Haftstrafen, hatten diese repressiven Maßnahmen auch durch Berufsverbote für viele liberale Professoren u.ä.
In diese Aufzählung reihen sich z.B. 1837 die sog. „Göttinger Sieben“ ein. Insgesamt sieben Professoren der Georg-August-Universität zu Göttingen hatten sich beim neu gekrönten König beschwert, dass dieser im Königreich Hannover relativ liberale Vorschriften aufgehoben hatte. Folge: Alle sieben Professoren, unter ihnen die Gebrüder Grimm, verloren ihre Anstellung, drei wurden sogar verbannt, sprich des Landes verwiesen.
Auch im Vorfeld der „Paulskirche“ hat es im Frühjahr 1848 heftige Auseinandersetzungen gegeben; ein Höhepunkt: die Erschießung von protestierenden Bürgern in Berlin Mitte März 1848 auf Befehl des preußischen Prinzen Wilhelm, des späteren Kaisers Wilhelm I., was ihm den Beinamen „Kartätschenprinz“ einbrachte (und er deshalb sogar eine Zeit lang nach England ins Exil gehen musste, was heutige Hohenzollern wohl nicht so gerne hören werden).
Nach 1850 bis in die 1870er Jahre war die Zensur allgegenwärtig, erst nach der Reichsgründung wurde 1874 ein „neues“ Pressegesetz erlassen, das einige Erleichterungen brachte; jedoch wurde die staatliche Kontrolle und Unterdrückung nicht wirklich aufgehoben.
Zeitungen konnten ohne Gerichtsbeschluss beschlagnahmt werden, wenn der Verdacht auf einen Verstoß gegen die gesetzlichen Bestimmungen vorlag. Verbunden mit dem „Ehrenschutz von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“ sowie den Bestimmungen über Verleumdung und Beleidigung war das Beschlagnahmerecht eine gerne genutzte Schikanemöglichkeit des Staates gegenüber der Presse (zu weiteren juristischen Fragen s.u.).
Auf die Folgen des „Kulturkampfes“ und der „Sozialistengesetze“ wurde schon weiter oben kurz hingewiesen. In beiden Fällen ging es natürlich nicht nur um politische Machtspiele Bismarcks, sondern ganz besonders um die Unterdrückung unliebsamer Meinungen, ob im konfessionellen oder im sozialistischen Kontext.
An dieser Stelle könnten zahlreiche Personen aufgezählt werden, stellvertretend sollen jedoch zwei Frauen hervorgehoben werden, die es zur Zeit des sog. Wilhelminismus bzw. während des Ersten Weltkrieges gewagt hatten, gegen die „Obrigkeit“ aufzubegehren bzw. sich für die Rechte der Frauen stark zu machen: Clara Zetkin und Rosa Luxemburg: nach dem Alter, nicht nach ihrer Bedeutung genannt. (25)
Beide wurden u.a. wegen Verstoßes gegen die damals geltenden Zensurbestimmungen verhaftet oder sogar zum Zwecke der „Abwendung einer Gefahr für die Sicherheit des Reichs“ zu Zuchthaus verurteilt und danach in Schutzhaft bzw. „Sicherungsverwahrung“ gesteckt (Luxemburg). Ähnlich wie heute (Russland oder China), war das Gut der Meinungsfreiheit nicht nur bedroht, sondern das Engagement dafür konnte schnell im Knast enden.
Exkurs: Juristische Anmerkungen
Auf die besondere Stellung der Meinungsfreiheit (inkl. Wissenschaftsfreiheit) in der heutigen Verfassungswirklichkeit wurde bereits weiter oben hingewiesen. Nun sollen zunächst einige Besonderheiten des Strafrechts zur Zeit der Reichsgründung erwähnt werden:
Mit der Bildung des deutschen Nationalstaates wurde auch eine Rechtsvereinheitlichung möglich und sogar zügig umgesetzt. Für das Gebiet des Strafrechts wurde im Mai 1871 ein (Reichs-)Strafgesetzbuch (StGB) eingeführt, das – man mag es kaum glauben – formal auch heute noch in Kraft ist; allerdings in vielen Neufassungen bekanntgemacht.
Gemäß § 95 Abs. 1 des damals geltenden StGB wurde bestimmt: „Wer den Kaiser, seinen Landesherrn oder während seines Aufenthalts in einem Bundesstaate dessen Landesherrn beleidigt, wird mit Gefängnis nicht unter zwei Monaten oder mit Festungshaft bis zu fünf Jahren bestraft.“
Gemäß § 130 StGB (in der ab 1872 geltenden Fassung) wurde bestimmt: „Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewalttätigkeiten gegen einander öffentlich anreizt, wird mit Geldstrafe bis zu zweihundert Thalern oder mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft.“
Und nach § 131 StGB in der alten Fassung galt: „Wer erdichtete oder entstellte Thatsachen, wissend, daß sie erdichtet oder entstellt sind, öffentlich behauptet oder verbreitet, um dadurch Staatseinrichtungen oder An-ordnungen der Obrigkeit verächtlich zu machen, wird mit Geldstrafe bis zu zweihundert Thalern oder mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft.“
Neben den bereits erwähnten Presse-, genauer gesagt „Zensurgesetzen“, konnten im Kaiserreich viele Strafverfahren auf die drei o.g. Tatbestände gestützt werden, besonders auf die „Majestätsbeleidigung“.
Eine wirklich unabhängige Justiz hat es weder in Preußen, noch nach 1871 im Deutschen Reich gegeben, wenn auch vielleicht im liberaleren Südwesten nicht jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wurde.
Hinzu kamen zumindest ab August 1914 die durch „Erklärung des Kriegszustandes“ (Art. 68 Bismarck-Verfassung) bedingten Vorschriften des „Belagerungszustandes“ (Preuß. Gesetz v. 1851), so dass innenpolitisch das Kriegsrecht galt und jede Meinungsäußerung überwacht bzw. sanktioniert werden konnte.
Spätestens bei diesem Szenario waren die Einschränkungen der Zensur (so formal in Art. 27 Abs. 2 Preuß. Verfassung v. 1850) absolut hinfällig, es regierten ganz offen die Militärbehörden. Im Jahre 2021 gelten natürlich ganz andere verfassungsrechtliche Vorgaben:
Das Verbot der Zensur (Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG) ist tatsächlich deutlich effektiver als zu Kaisers Zeiten. Notwendige Einschränkungen, z.B. aus Gründen des persönlichen Ehrenschutzes, noch viel stärker aus Gründen des Jugendschutzes, müssen gesetzlich geregelt und insbesondere verhältnismäßig sein, so dass Verbote von mündlicher, aber vor allem schriftlicher Meinungsäußerung (Artikel in jeder Form, Bücher und sonstige Publikationen) von den dafür zuständigen Gerichten (im Regelfall die Verwaltungsgerichte) überprüft werden können und gegebenenfalls auch aufgehoben werden; unabhängig von ideologischer Präferenz.
Selbst wenn heute ein „innerer Notstand“ (Art. 91 GG) oder gar der „Verteidigungsfall“ (Art. 115a GG) eintreten würde, hätte dies nicht automatisch die Beschränkung oder gar Suspendierung der Meinungsfreiheit bzw. eine allgemeine Zensur zur Folge.
Die im März 2020 erstmals vom Bundestag beschlossene Feststellung einer epidemischen Lage hat keinerlei Auswirkung auf die Meinungsfreiheit im engeren Sinne (noch viel weniger auf die Wissenschaftsfreiheit), sondern auf andere grundrechtlich verbürgte Freiheitsrechte – wobei auch im Hinblick auf Versammlungs- u. Demonstrationsfreiheiten zwischenzeitlich ein durchaus vernünftiges Maß „praktischer Konkordanz“ wieder eingetreten ist (auch wenn Ausgangssperren und Kontaktverbote sicher immer einschneidend sind und viele Verwaltungs- und Polizeibehörden gerne unsensibel auftreten: 1871 und noch viel mehr nach 1933 wären Behörden und Uniformträger deutlich krasser vorgegangen).
Inwieweit inhaltlich die „Meinungsäußerungsfreiheit“ aktuell geht, kann hier nicht näher dargestellt werden, dafür ist die Bandbreite juristischer Argumente und die Vielzahl von Gerichtsurteilen einfach zu monströs. Dafür soll aber kurz auf die Wissenschaftsfreiheit hingewiesen werden:
„Freiheit der Wissenschaft ist Freiheit von Forschung und Lehre: wissenschaftliche Forschung darf in ihrer Methode und in ihren Ergebnissen nicht durch wissenschaftstranszendente Ziele oder weltanschauliche Apriori gebunden werden. Das gleiche gilt für die wissenschaftliche Lehre; auch dieser dürfen keine Inhalte vorgeschrieben werden, deren wissenschaftliche Hinterfragung ausgeschlossen ist. Die in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG anerkannte Einheit beider beruht auf dem Gedanken, dass es in der „Lehre“ nicht nur um die Übermittlung von Fachwissen, sondern um die Anleitung zu wissenschaftlichem Denken und wissenschaftlichem Urteil (…) geht“. (26) Diese Definition eines ehemaligen Juraprofessors und Richters am Bundesverfassungsgericht ist zwar nicht mehr ganz neu, aber immer noch allgemeingültig.
Da die Wissenschaftsfreiheit (gleiches gilt für die „Kunst“) keinem Gesetzesvorbehalt unterliegt, lediglich für die Lehre gilt die „Verfassungstreue“ (Art. 5 Abs. 3 S. 2 GG), obliegt es umso mehr der persönlichen Integrität bzw. dem Berufsethos des einzelnen Hochschullehrers (Professor, Dozent o.ä.), ungebunden und objektiv zu unterrichten. (27) Nur dann ist gewährleistet, dass wissenschaftliches Arbeiten unabhängig und von der Politik bzw. Regierung unbeeinflusst (im Sinne von ungesteuert) erfolgen kann.
V) Schlussbetrachtung zu Treitschke
Nimmt man die zuletzt behandelte Frage zu Inhalt und Umfang der Wissenschaftsfreiheit zum Maßstab, um Heinrich v. Treitschkes Wirken als Hochschullehrer zu bewerten, fällt auf, dass er zumindest in seiner Zeit an der Berliner Universität nicht unbedingt das Ziel hatte, seine Schüler zur kritischen Anleitung wissenschaftlichen Denkens zu befähigen.
Neigte er schon in den 1870er Jahren zumindest zu teilweise tendenziösen Darstellungen (vielleicht schon in Richtung „Meinungsmache“), wandelte sich sein Anliegen, vergleichende Geschichte zu beschreiben, hin zu einer von Medienrummel geprägten Art von „politischer Wissenschaft“.
Viele seiner (überfüllten) Vorlesungen glichen eher politischen Showveranstaltungen als einem seriösen Vortrag; mit zunehmendem Alter verstärkte sich sein Hang zur Polemik (unverhohlener Spott, teils sogar eine Art Gehässigkeit), die besonders im letzten Band seiner Deutschen Geschichte (1894 fertiggestellt und herausgegeben) auch schriftlich dokumentiert ist.
Nicht nur der damalige preußische König Friedrich Wilhelm IV. wurde dezent mit Spott bedacht, sondern nahezu der gesamte europäische Hochadel (zur Mitte der 1840er Jahre, kurz vor den Märzunruhen 1848). So bekam die englische Queen Victoria, das Haus Coburg, Franzosen und Spanier sowieso, den Sarkasmus Treitschkes zu spüren.(28)
Polen galten für Treitschke insgesamt als unfähig, ihre politischen Belange selbst zu regeln, so dass ihnen auch kein Anrecht auf Staatsgründung zukam; zu den abwertenden Äußerungen über deutsche Juden, die aus politischen Gründen Exil im Ausland (vor allem in Paris) gesucht hatten, wurde bereits oben Bezug genommen.
Natürlich kann man v. Treitschke, ohne ernsthaften Widerspruch fürchten zu müssen, einen geistigen Brandstifter nennen (nicht nur wegen seiner Polemik gegenüber den jüdischen Mitbürgern). Dennoch würden es sich heutige „Brandstifter“ viel zu einfach machen, würden sie sich auf eben jenen Mann berufen bzw. ihn als Vorkämpfer für die heute populäre Floskel „das wird man ja noch sagen dürfen“ machen.
Hierzu ist die Sache mit v. Treitschke zu komplex und teils auch sehr widersprüchlich. Abschließend sollen zwei ganz verschiedene Epochen der Rezeption, also der Betrachtung der „Wirkungsmacht“, Heinrich v. Treitschkes kurz angerissen werden.
Einerseits das Bild und die Bedeutung Treitschkes in der NS-Zeit bzw. in der NS- Ideologie: Vorab sei darauf hingewiesen, dass in der Weimarer Republik die Person Treitschkes sowohl als Geschichtswissenschaftler als auch in Bezug auf sein politisches Wirken erstaunlich präsent gewesen ist. (29)
Betrachtet man jedoch die geschichtswissenschaftliche und -politische Rezeption und Wahrnehmung Treitschkes nach 1933, rüttelt man automatisch an der Historiographiegeschichte der deutschen Historikerzunft zu dieser Zeit: ein seltsames, oft auch widersprüchliches Gemisch aus Anpassung und Hingabe ans System und seinen Führer. Und wie passte nun eben Heinrich v. Treitschke in diese Gemengelage?
Seit 1927 wurde das von Julius Streicher herausgegebene antisemitische Kampfblatt „Der Stürmer“ mit dem Treitschke-Satz „Die Juden sind unser Unglück“ betitelt. (30) Dennoch galt Heinrich v. Treitschke den Nazis als zu „liberalistisch“. Als einen wahrhaften „Spiritus rector“ hat ihn der deutsche Faschismus niemals erkoren (dazu fehlte bei Treitschke vor allem die rassistisch-biologische Komponente; diese fand sich viel eher bei Eugen Dühring und Georg v. Schönerer).
Adolf Hitler stand auf die schwulstige Musik Richard Wagners, nicht auf akademische Vorträge; ganz gleich, ob von Historikern, Juristen oder echten Philosophen. Der an der Kunstakademie gescheiterte Volksschüler konnte keine Menschen mit kritischem Verstand ertragen; selbst der promovierte Joseph Goebbels tat gut daran, seine intellektuelle Bildung zu „dosieren“. Hitlers Verachtung für Akademiker war bekannt.
Daher wäre es sicher nicht zu weit hergeholt, würde man unterstellen, wenn Treitschke nach 1933 noch gelebt hätte, dass er nicht mehr als einen „Grüßonkel“ abgegeben hätte; vielleicht ehrenhalber in irgendeine Position mit einem schön klingenden Namen weggelobt worden wäre, aber sicher keinen direkten Zugang zu den Machthabern im NS-Regime erlangt hätte (ähnlich wie Carl Schmitt als sog. „Kronjurist“).
Bekanntlich jährte sich ein Jahr nach Beginn der NS-Herrschaft 1934 Treitschkes 100. Geburtstag, willkommener Anlass für viele schöne Reden auf den Jubiliar. (31)
Da, wo es den Nazis passte, wurde Treitschke zumindest direkt nach 1933 „instrumentalisiert“, anderenfalls bewusst verkürzt oder gar verdreht und in den späteren Jahren ganz verschwiegen. Was hätte der Borusse auch zum „Anschluss“ Österreichs 1938 beitragen können?
Wenn Treitschke vor allem in der angelsächsischen Forschung als „Forerunner of Hitlerism“ bezeichnet bzw. betrachtet wird, kann dies zumindest für die Zeit von 1933/45 nur eingeschränkt gelten, da im Dritten Reich ganz andere Protagonisten an den Hochschulen und im staatlichen Bildungsbereich wirkten als Ende des 19. Jahrhunderts. Natürlich gab es viele Studenten, die Treitschke noch in den 1890er Jahren in den Vorlesungen selbst erlebt haben, aber für deren geistige Sünden (z.B. beim Thema Germanisierung in Osteuropa) dreißig und vierzig Jahre später einen längst Verstorbenen haftbar zu machen, wäre doch zu einfach; auch wenn seine Verantwortung für die Überstrapazierung des Nationalgedankens („am deutschen Wesen soll die Welt genesen“) insgesamt überhaupt nicht abgestritten werden kann. Dasselbe gilt für seine (dümmlichen) Aussagen zur Frage der Assimilation jüdischer Mitbürger: heute, in einer Zeit der Diversifizierung, überflüssig wie ein Kropf, aber auch vor 150 Jahren ein untauglicher Versuch falsch verstandener „Integration“.
Interessant ist daher auch die Betrachtung und Bedeutung Treitschkes in der Geschichtswissenschaft nach 1945, besonders in der Zeit ab Ende der 1960er Jahre (also nach den notwendigen Erneuerungen in den Geisteswissenschaften infolge der „68er“-Generation).
Da in den letzten 50 Jahren die Veröffentlichungen zu diesem Thema schier unüberschaubar geworden ist, können nur ganz wenige Beispiele angerissen werden.
Hans-Ulrich Wehler hat in seiner „Gesellschaftsgeschichte“ für Treitschke u.a. folgende Worte gefunden: ein begnadeter Rhetoriker, „Hohepriester des Borussismus“ und unermüdlicher Forscher. (32)
Eine leichte Diskrepanz zur Kritik Baumgartens an Treitschkes Arbeitsweise, die 100 Jahre früher erfolgte, ist hier spürbar: Auch bei der Bewertung methodischer Fragen gibt es also unterschiedliche Aspekte.
Ähnlich respektvoll äußert sich Nipperdey über Treitschkes Arbeitspensum, auch wenn er ihn weniger als Forscher (Wissenschaftler) und mehr als Schriftsteller charakterisiert, besonders als der „begabteste Sprecher des Nationalismus“.
Bei der Juden- bzw. Antisemitismusfrage versuchen Wehler und Nipperdey zwischen kulturellem und politischem Antisemitismus (der besonders die rassistisch-biologische Komponente beinhaltet) zu unterscheiden. Bei diesem Deutungsmuster zählt Treitschke dann zu den „kulturellen“ Antisemiten. (33)
Der US-amerikanische Historiker Gordon Craig verzichtet bei der Frage nach Treitschkes „Nationalismus“ auf feinsinnige Unterscheidungen und nennt ihn einfach einen „fanatischen Nationalisten“, der durch seine mangelnde Objektivität der Generation vor 1914 ihren Stempel aufgedrückt habe. (34)
Insofern kann man dann schon von einer „Kontinuitätslinie“ sprechen.
Von den bekannten Historikern, die in den letzten knapp 40 Jahren zur deutschen „Nationalgeschichte“ im Kaiserreich schwerpunktmäßig geforscht haben, soll abschließend Wolfgang J. Mommsen genannt werden, der in der Arbeit von Gerhards auch relativ breit behandelt wird, da er sich ausführlich mit Treitschkes Methodik und Arbeitsweise beschäftigt hat:
„Anders formuliert: Die Frage nach der Einschätzung Treitschkes als Historiker provoziert zum einen jeden, der sich mit ihm beschäftigt, zur Klärung des eigenen theoretischen Standpunktes, zum anderen zwingt er zur Selbstvergewisserung über die Frage nach der Möglichkeit und Notwendigkeit historischer Objektivität, und damit zur Klärung des eigenen politischen Standpunktes: „Als Historiker wird Treitschke ein immerwährendes Ärgernis für die historische »Zunft« bleiben“.
Wolfgang J. Mommsen hat diese Fragen in seinen geschichtstheoretischen und historiographiegeschichtlichen Arbeiten intensiv behandelt. (…)
Unter Rückgriff auf Max Webers Methodenlehre veranschaulicht Mommsen, wie eine Bewertung Treitschkes aussehen kann, die jenseits der Pole von Verdammung und Verharmlosung argumentiert (…).
So wird es dann auch möglich, auf der einen Seite die außerordentliche historiographische und publizistische Leistung Treitschkes zu betonen, auf der anderen Seite aber ebenso unbeschönigt auf die möglichen Folgen seines historisch-politischen Denkens aufmerksam zu machen. So sieht Mommsen in Treitschkes Verklärung des nationalen Machtstaates den Ausdruck »eines verflachten Hegelianismus«, in dem zum Teil schon die »Elemente eines in mancher Hinsicht präfaschistischen Nationalismus mit realpolitischer Gebärde« sichtbar werden.“ (35)
Aber gerade dieser extrem gesteigerte Nationalismus ist es, der in der aktuellen Generation der Historiker und Geschichtsprofessoren einen negativen Impuls beim Thema „Nationalgeschichtsschreibung“ aufkommen lässt; im Gegensatz zu früheren Historikergenerationen wird Treitschkes Werk insgesamt, nicht bloß die politischen Publikationen als solche, heute durchaus negativ gesehen. (36)
VI) Fazit
Der Zeitraum von etwa 1770 bis 1830 kann sicher als einer der wichtigsten im geistigen Leben Deutschlands und auch ganz Europas bezeichnet werden und hat unsere Entwicklung in vielfältiger Hinsicht geprägt. Der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert war in der deutschen Kunst von den beiden Epochen der Klassik und der Romantik geprägt. In der Philosophie ging langsam das Zeitalter der Aufklärung zu Ende, somit auch die unbedingte Strahlkraft Kants, und erfuhr im „Idealismus“ einen grandiosen Höhepunkt.
Ohne diese intellektuellen Leistungen, von denen das geistige Leben Deutschlands bis heute profitiert und die viel stärker beachtet werden müssten, hätte es die bahnbrechenden Forschungen und Entwicklungen im Laufe des 19. Jahrhunderts so nicht geben können; sowohl Kunst, Literatur und die gesamten Wissenschaften konnten nur dann blühen, wenn ihnen genug Freiraum, also freie Entfaltung ermöglicht wurde.
Diese Grundlagen dürfen nicht vernachlässigt werden, will man die geistigen und politischen Strömungen zur Zeit der „Reichsgründung“ verstehen. Wer Mitte des 19. Jahrhunderts, insbesondere nach der „kurzen Revolution“ 1848/49 als politischer Aktivist in Deutschland blieb, hatte meist im eher liberalen Südwesten, teils auch im Rheinland bessere Aussicht, „nach seiner Facon selig zu werden“. Mit der Reichsgründung 1871 bekamen zwar zunächst die Liberalen politischen Auftrieb, im neuen Reichstag und auch sonst in Preußen, aber spätestens nach 1880 ging diese (kurze) liberale Ära zu Ende. Für die Meinungsfreiheit (in allen Spielarten) bedeutete dies nicht nur verstärkte Maßnahmen der Zensur, sondern auch, dass das nunmehr reichseinheitliche Strafgesetzbuch besonders oft angewendet werden konnte: Verunglimpfung, Majestätsbeleidigung und staatsgefährdende Umtriebe waren auf der Tagesordnung.
Ganz besonders die Zensur und jede andere Form staatlicher Kontrolle und Beeinflussung führten dazu, dass neben der allgemeinen Meinungsfreiheit, vor allem in der Presse, auch neue Strömungen bei den Geisteswissenschaften gehemmt oder unterdrückt wurden.
Das Wechselspiel von Meinungsfreiheit, im Sinne von Freiheit der Meinungsäußerung (Recht zur freien Rede), die im Bereich von Forschung und Wissenschaft eine spezielle Anwendung findet, und der Möglichkeit staatlicher Organe, diese Freiheit zu kontrollieren, zu reglementieren oder notfalls auch zu sanktionieren, ist geradezu ein charakteristisches Merkmal spätestens seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert.
Davon ist natürlich Deutschland nicht alleine betroffen: Alle absolutistischen Staaten Europas, ob Preußen, Österreich (man beachte bloß die rigide Politik unter Metternich Anfang des 19. Jahrhunderts) und besonders das zaristische Russland setzten zeitweise auf Methoden des Polizeistaates, insbesondere die Zensur.
Frankreich ist dabei etwas gesondert zu betrachten, da einerseits bis zur Revolution dieselben absolutistischen Regeln und Mechanismen galten, wie im übrigen Kontinentaleuropa, selbst in der Revolutionszeit gab es starke Tendenzen, unliebsame Anschauungen (auch gewaltsam) zu unterdrücken; ab etwa 1830/1840 war Frankreich jedoch ein Zufluchtsort vieler Deutscher, die zuhause wegen ihrer politischen Meinungen verfolgt wurden (bekannte Beispiele: Karl Marx oder Heinrich Heine). Wem auch in Paris Mitte des 19. Jahrhunderts der Boden zu heiß wurde, ging dann oft nach London oder gleich in die „Neue Welt“.
Jedoch können Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit nicht nur Ansprüche stellen, sondern müssen auch bestimmte „Standards“ einhalten. Hierzu zählen neben Offenheit im Diskurs der geistigen Auseinandersetzung und auch die Bereitschaft, im Falle der Widerlegung („Falsifizierung“) bestimmter Thesen und Vermutungen, die gegenteiligen Ansichten und abweichenden Ergebnisse zu akzeptieren.
Im Bereich der politisch-historischen Wissenschaften ebenso wie bei den Kulturwissenschaften, zu denen auch größtenteils die Rechtswissenschaft zählt, gehört es zur Redlichkeit, zwischen sachlicher Information, subjektiv geprägter Meinung (oder auch Vorverständnis) und gezielter Beeinflussung zu unterscheiden.
Wird dies vernachlässigt oder gar bewusst unterdrückt, so ist der Schritt zur Demagogie nicht weit.
Die Auswirkungen dieser gezielten Meinungsmache war spätestens in der Weimarer Republik deutlich spürbar; Adolf Hitler war erst „Trommler“ und marktschreierischer Redner in Bierzelten und Brauereikellern, dann auf der großen Bühne im Reichstag offen Demagoge. Für diese Entwicklung wird man Treitschke nicht direkt verantwortlich machen können. Aber, dass er die Grundlage für bestimmte Strömungen zumindest beeinflusst hat, muss man ihm auf jeden Fall zurechnen.
Ebenso, dass er sich um den Wert der Wissenschaftsfreiheit nicht sonderlich bemüht hat (außer es kam seinen eigenen Interessen entgegen), enthebt Treitschke nicht seiner Verantwortung für seine Wirkungsmacht auf nachfolgende Generationen im akademischen wie im politischen Bereich.
Dass akademisches Wissen und die Freiheit der „Wissenschaft“ ein hohes Gut sind, das den Menschen, die Wissenschaft „betreiben“ und akademisches Wissen weitergeben, quasi treuhänderisch anvertraut ist, womit auch hohe Verantwortung einhergeht, war aber nicht nur Treitschke relativ egal.
In der Zeit des „Wilhelminismus“ war es vielen wichtiger, einen schneidigen Spruch rauszuhauen, als über die Folgen nachzudenken, siehe die außenpolitischen Abenteuer Wilhelms II. ab Ende der 1890er Jahre. Ob Heinrich v. Treitschke heute allerdings noch einen Lehrstuhl an einer bundesdeutschen Hochschule bekleiden würde, dürfte doch sehr unwahrscheinlich sein.
Es ergibt sich ein gespaltenes Fazit:
Im gesamten 19. Jahrhundert, besonders aber in der zweiten Hälfte, hat es enorme Fortschritte in Wissenschaft und Technik gegeben. Damit einher ging eine vielfältige soziokulturelle Entwicklung, so z.B. wurden die Grundlagen für die Sozialwissenschaften oder die politische Ideengeschichte gelegt. Zugleich gab es aber auch eine gefährliche Verengung, eine Art intellektuelle Sackgasse. Höhepunkte dieser negativen Entwicklung waren Imperialismus und ein ins Grenzenlose gesteigerter Nationalismus (nicht nur im jungen Kaiserreich, der „verspäteten Nation“).
Zumindest teilweise ist auch Heinrich v. Treitschke für diese Entwicklungen mit verantwortlich. Er hätte auf jeden Fall seine Verantwortung erkennen und wahrnehmen müssen; hier liegt wahrscheinlich sein größtes Versagen.
Im Jahre 2021 wird zwar niemand mehr wegen „Majestätsbeleidigung“ bestraft und eingesperrt, sieht man von speziellen Handlungen (Verunglimpfung des Bundespräsidenten und bestimmter staatlicher Symbole und Verfassungsorgane ab, siehe §§ 90ff. StGB). (37)
Aber dafür werfen andere Entwicklungen ihre Schatten:
Von außen: Die Meinungsfreiheit erfährt sicher dann einen Substanzverlust bzw. eine Entwertung, wenn selbst der größte Mist als selbsterkorene Wahrheit ausgegeben und veröffentlicht werden kann (insbesondere im Internet, z.B. sog. Filterblasen etc.).
Von innen: Auch administrative Einwirkungen, die zur Verunsicherung beitragen und den objektiven Wert seriöser wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse in Frage stellen, haben seit März 2020 (offizieller Beginn der Pandemie in Deutschland) spürbar zugenommen.
Ich möchte an dieser Stelle mit einer kurzen Bezugnahme auf Max Weber enden:
„Max Webers Begriff der legitimen Herrschaft lenkt das Augenmerk auf den Zusammenhang zwischen dem Legitimitätsglauben und dem Rechtfertigungspotential von Ordnungen einerseits und ihrer faktischen Geltung andererseits.“ (38)
Anhand der jeweiligen Legitimitätsgrundlage wäre demnach erkennbar, welcher Anspruch auf Gehorsam erwartet werden kann. Für die Frage der Legitimation staatlicher Maßnahmen, insbesondere wenn diese grundrechtseinschränkende Auswirkungen haben, und der Wahrheitsabhängigkeit haben rationale Maßstäbe zu gelten. Rationaler Maßstab kann daher nur ein objektivierbarer sein.
Autor: Thomas Fuchs, Assessor iur., Rechtshistoriker
Anmerkungen
1) In der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ) erschien hierzu Anfang des Jahres folgende Zusammenstellung: https://www.bpb.de/apuz/reichsgruendung-2021 Diese kostenlos abrufbare Veröffentlichung verschiedener Aufsätze gibt zumindest einen kurzen Einblick in die unterschiedlichen Facetten des Themas. Der Verfasser dieses Beitrags möchte weniger generelle Aspekte behandeln, sondern vielmehr spezielle Details, die sonst in der üblichen Literatur (Schulbücher, Grundrisse etc.) vernachlässigt werden. Daher sollen weitere Beiträge folgen, die eher ungewöhnliche Darstellungen bekannter Persönlichkeiten und Ereignisse aus der „Gründerzeit“ beinhalten, z.B. zu Otto v. Bismarck, den sog. Einigungskriegen, Kaiser Friedrich III. oder zur Entwicklung und zu Besonderheiten in der Rechtsordnung u. -lehre in der Zeit nach der Reichsgründung. Gemeinsam soll all diesen Untersuchungen die Frage sein, ob und welche Alternativen bzw. Spielräume es zu den tatsächlichen Abläufen gegeben hat. Dies steht im Zusammenhang mit der grundsätzlichen Frage nach der zwangsläufigen Entwicklung vom „Kaiserreich“ zum „Dritten Reich“; gab es eine solche Zwangsläufigkeit (im Sinne einer „Kontinuitätsthese“) oder hätte alles auch ganz anders verlaufen können? Hundertfünfzig Jahre „Reichsgründung“ bieten hierzu einen passenden Einstieg.
2) Erfolgreiche Beispiele von Staatsgründungen im Europa des 19. Jahrhunderts: Griechenland, Belgien und besonders Italien (alle diese nationalen Bewegungen wurden als „Monarchien“ vollendet: der erste König von Griechenland war ein Prinz aus Bayern, ein gebürtiger Wittelsbacher; König Leopold I. von Belgien ein Spross aus dem Hause Sachsen-Coburg); dem stehen die erfolglosen Bemühungen der Polen gegenüber, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts staatsrechtlich nicht mehr auf der Landkarte Europas vertreten waren, deren Einigungsbestrebungen von den drei Großmächten, Preußen, Österreich und Russland, in wundersamer Eintracht unterdrückt wurden (sieht man von kurzlebigen Gebilden wie einem „Herzogtum Warschau“ oder einer „Republik Krakau“ ab) und die erst aufgrund der Entwicklungen am Ende des Ersten Weltkrieges einen eigenen Staat gründen konnten – wohlwissend, dass auch Sowjet-Russland und die Weimarer Republik („polnischer Korridor“) keine echten Freunde eines souveränen polnischen Staates waren. Außerhalb Europas sind vor allem die Unabhängigkeitsbewegungen in Südamerika um etwa 1830 zu nennen. Ganz im Gegensatz zum afrikanischen Kontinent, dessen Kolonialisierung gleichsam spiegelbildlich zur Epoche der Nationalstaatlichkeit in Europa vor allem nach 1880 einsetzte. Paradox: Je mehr europäische Völker ihr Selbstbestimmungsrecht einforderten und umsetzten, desto stärker begann die Entrechtung der Menschen in Afrika (Ende des 19. Jahrhunderts war fast dieser ganze Kontinent von europäischen Mächten besetzt und kontrolliert; Motto: der weiße Mann bringt die Zivilisation zu den „Wilden“).
3) Besonders in den letzten zwölf Monaten wurde das Thema „Meinungsfreiheit“ und der Umgang mit den wissenschaftlichen Fakten und Erkenntnisprozessen in den Mittelpunkt der politischen und medialen Auseinandersetzung gerückt. Sehr oft ist der Eindruck entstanden, dass bei vielen „Diskussionen“ um das Thema „Corona“ der (vermeintliche) politische Nutzen bzw. Effekt über wissenschaftlich fundierte Aussagen gestellt wurde/wird. Etwas überspitzt: die kurzfristige Schlagzeile geht der objektiven Wahrheit vor. Doch solche Effekthascherei und übertriebene Polemik gab es auch bereits vor 150 Jahren; einige Punkte sollen hier angesprochen werden.
4) Wer sich aber näher mit dem Thema der „Wissenschaft im 19. Jahrhundert“ bzw. „bürgerliche Freiheiten“ (man könnte auch generell den „Liberalismus“ nennen) beschäftigen möchte, findet sowohl im „Netz“ als auch in den klassischen Lehrbüchern genug Ansatzpunkte. Nach wie vor als Einstieg u. zur Vertiefung geeignet: Nipperdey, Deutsche Geschichte von 1800 bis 1918 insgesamt in drei Bänden; Propyläen Weltgeschichte Band 8, Das neunzehnte Jahrhundert, hrsg. v. Golo Mann; ders., Deutsche Geschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts. Von den Einzeldarstellungen besonders: Wehler, Dt. Gesellschaftsgeschichte, Band 2 u. 3; Wolfgang J. Mommsen mit zahlreichen Veröffentlichungen. Die Literatur zum 19. Jahrhundert ist geradezu ins Unermessliche gestiegen.
5) Bismarck hatte lediglich, wie bereits bei der Verfassung des Norddt. Bundes 1867, ein „Staatsorganisationsrecht“ (mit Organen und Kompetenzen) entworfen, das auch den süddeutschen Ländern problemlos den Beitritt ermöglichte. Auf zusätzliche Freiheitsrechte etc. konnte er daher leicht verzichten, zumal er aus seiner Sicht überflüssige Diskussionen vermeiden wollte: keine langwierigen Debatten wie 1848/49. Interessant ist, dass auch Hugo Preuss, obwohl bekennender Linksliberaler eher das Gegenteil von Bismarck, ursprünglich bei der Weimarer Verfassung 1919 ähnlich vorgehen wollte: Vermeidung einer zu sehr aufgeblähten Verfassung; negative Beispiele, die es dann doch aufgrund des unterschiedlichen parteipolitischen Drucks in die Weimarer Verfassung schafften, sind z.B. Art. 146 – 149, 155 f. u. 165. Die Gefahr einer Überfrachtung der Verfassung mit zu vielen Einzelregelungen, die auch mittels einfacher, aber prägnant formulierter Gesetze erfolgen könnten, besteht auch aktuell. Die Zahl der Grundgesetzänderungen in den letzten knapp 30 Jahren ist schon erstaunlich hoch.
6) Zur Person Heinrich Manns: https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Mann Zum Buch: https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Untertan
7) S. hier im Forum: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/berliner-antisemitismusstreit-1879-1881-geistige-grundlage-fuer-den-nationalsozialismus.
8) Der ursprüngliche Aufsatz von Heinrich v. Treitschke „Unsere Aussichten“, erschien im November 1879. in den „Preußischen Jahrbüchern“, Band 44, S. 560 – 576 . Dort behandelt der Autor, der zugleich Herausgeber und Chefredakteur dieser Ausgabe gewesen ist, zunächst in groben Zügen ein „außenpolitisches“ Thema, das im Rahmen der „Großen Orientkrise“ v. 1875 – 1878 spielt (vgl. im Überblick: Geiss, S. 151 ff.), um dann „innenpolitisch“ auszuholen. Für Treitschke war die Grundlage einer erfolgreichen Politik eine starke Regierung, „treue Eintracht zwischen der Krone und dem Volke“, S. 570. Von dieser „These“ ausgehend, fordert er eine Art Homogenität in der (wahlberechtigten) Bevölkerung: „Die Nation ist des Gezänks ihrer Parlamente bis zum Ekel überdrüssig“, dito. Wie gesagt, Treitschke war zu dieser Zeit selbst Abgeordneter im Reichstag. Von dieser Forderung nach „Einheit“, die er „in den Tiefen unseres Volkslebens“, im „erwachten Gewissen des Volkes“ zu spüren glaubte, gelangt Treitschke zur Frage, wer in diesem Staat dazugehören sollte und wer außerhalb der Nation bleiben müsse. Beurteilungsmaßstab sollten demnach besondere Merkmale der Religion und der Kultur sein. Ganz einheitlich und stringent war Treitschke bei seinen Forderungen allerdings nicht; einerseits schrieb er „Was wir von unseren israelitischen Mitbürgern zu fordern haben, ist einfach: sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen – unbeschadet ihres Glaubens und ihrer alten heiligen Erinnerungen, die uns Allen ehrwürdig sind; denn wir wollen nicht, daß auf die Jahrtausende germanischer Gesittung ein Zeitalter deutsch-jüdischer Mischcultur folge“ (S. 573); andererseits: „aber unbestreitbar hat das Semitenthum an dem Lug und Trug, an der frechen Gier des Gründer-Unwesens einen großen Antheil, eine schwere Mitschuld an dem schnöden Materialismus unserer Tage“, S. 574 bzw. „es war ein Unglück für die liberale Partei und einer der Gründe ihres Verfalls , daß gerade ihre Presse dem Judenthum einen viel zu großen Spielraum gewährte“ (ebenfalls S. 574); „und wir können nur wünschen, daß unsere Juden die Wandlung, die sich im deutschen Leben als eine nothwendige Folge der Entstehung des deutschen Staates vollzieht, rechtzeitig erkennen. Da und dort bestehen jüdische Vereine gegen den Wucher, die im Stillen viel Gutes wirken; sie sind das Werk einsichtiger Israeliten, welche einsahen, daß ihre Stammesgenossen sich den Sitten und Gedanken ihrer christlichen Mitbürger annähern müssen“, S. 575. Derartig merkwürdige Gedankengänge ließen sich noch etliche in diesem Artikel aufzeigen; es wird nicht immer ganz deutlich, ob Treitschke über vermeintliche Tatsachen referieren will oder bloße Polemik betreibt. Allerdings muss er sich, wie jeder Autor oder Redner, der sich den Anschein objektiver Darstellung gibt, mögliche Missverständnisse oder Unklarheiten zurechnen lassen; noch mehr, wenn es sich um eine Person des öffentlichen Interesses handelt. In der Tat haben Treitschkes Thesen recht hohe Wellen geschlagen. In der Januarausgabe 1880 der „Preußischen Jahrbücher“ (Band 45, S. 85 – 95) machte er daher mit einer Art Rechtfertigung unter dem Titel „Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage“ den Versuch, vermeintliche Missverständnisse auszuräumen bzw. Kritiker zu widerlegen, aber es war eher eine Verschlimmbesserung.
9) Im Überblick: Schmidt, S. 263 – 265.
10) Der „christliche Fundamentalist“ Stoecker regte sich besonders über Schleidens Feststellungen auf, dass die jüdische Geschichte in kultureller Hinsicht kein „Mittelalter“ gekannt habe; ohne Unterbrechung hätten Juden die vielfältigsten wissenschaftlichen Disziplinen gepflegt, ausgebaut und spätestens ab der Frühmoderne der christlichen Umgebungsgesellschaft übermittelt. Außerdem betonte Schleiden die weitgehende Alphabetisierung der Juden bereits im Mittelalter und verwies für den damaligen Zeitraum auf die amtliche preußische statistische Erhebung des Jahres 1875, der zufolge Analphabetismus unter Juden in weit geringerem Maße verbreitet war als unter Protestanten und, mit umso größerer Kluft, unter Katholiken, vgl. Schmidt, S. 265 – 268. Bereits vor 150 Jahren gab es Diskussionen über statistische Zahlen (zur Aussagekraft u. Interpretationsmöglichkeiten; also nichts Neues). Und wenn damals jüdische Kinder früher und besser Lesen und Schreiben lernten, dann war dies ja wohl eher ein Verdienst der jüdischen Gemeinden, aber sicher kein Makel. Die soziale Stigmatisierung des Analphabetismus traf vielmehr christliche Kinder – weit bis ins 20. Jahrhundert u. die Form des „funktionalen“ Analphabetismus ist sogar heute noch ein Problem (Tendenz steigend?).
11) Interessant ist ja auch, dass sich Wilhelm II. zum Schutzpatron der Muslime aufgespielt hat. „Möge der Sultan und mögen die 300 Millionen Mohammedaner, die, auf der Erde zerstreut leben, in ihm ihren Kalifen verehren, dessen versichert sein, dass zu allen Zeiten der deutsche Kaiser ihr Freund sein wird.“ Anlässlich seines Besuches im Spätherbst 1898 in Damaskus. Ähnlich wie in den Landeskirchen bzw. dem „Klerus“, gibt es auch in der islamischen Tradition ein ausgeprägtes Unterordnungsverhältnis (Hierarchien), so vor allem im Kalifat, das bis ins Osmanische Reich andauerte und erst 1924 in der heutigen Türkei abgeschafft wurde. Der letzte Hohenzollern-Kaiser stand auf solche „byzantinische“ Ehrerbietungen.
12) Im Überblick: https://de.wikipedia.org/wiki/Treitschke-Baumgarten-Kontroverse
13) Anders formuliert: Wie objektiv müssen „Tatsachen“ ermittelt, bewertet und dargestellt werden, um als „seriös“ gelten zu können bzw. welche Kriterien werden benötigt, um mögliche Kritik an wissenschaftlichen Erkenntnissen als haltlos zu entlarven? Dies gilt für die verschiedenen Teile der „Geisteswissenschaften“ genauso wie für die Naturwissenschaften und im medizinischen Bereich. Hier berühren sich die aktuellen Diskussionen um die Verlässlichkeit wissenschaftlicher Theorien und Erkenntnisse im Gegensatz zu „fake news“ und „alternativen Fakten“ bis hin zu „Verschwörungstheorien“.
14) Siehe Klappentext bei Gerhards, linke Spalte. Der Autor selbst betont, er habe keine „Biographie“ über Treitschke schreiben wollen, sondern „eine Rezeptionsgeschichte Treitschkes in der deutschen Geschichtswissenschaft“, Gerhards, S. 12. Dessen ungeachtet hat der Autor doch sehr viele biographische Details verarbeitet, um dessen Wirkungen als Historiker, Hochschullehrer und Publizist zu beleuchten.
15) Gerhards, S. 248.
16) Treitschkes Hauptwerk, „Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert“ erlebte für damalige Verhältnisse traumhafte Auflagen. Bis zu seinem Tod hat er mit den veröffentlichten fünf Bänden fast 100.000 Mark verdient, vgl. Gerhards, S. 9 und S. 69f. (150 Mark pro Druckbogen).
17) Nipperdey, Dt. Geschichte 1800 bis 1866, S. 286f. Zur speziellen Entwicklung des Liberalismus in Deutschland ab 1850 bis 1866ff: derselbe, S. 718 – 732.
18) Nipperdey, Dt. Geschichte 1866 bis 1918, S. 406.
19) Dito. Nipperdeys These vom „tragischen Unglück“ regt aber auch zur Antithese heraus, ob die Mehrheit der Deutschen um 1870 überhaupt reif für gesellschaftlichen u. politischen Fortschritt und „Liberalität“ im eigentlichen Sinn waren. Abgesehen von den zur SPD (und ihren Vorläufern) tendierenden Industriearbeitern gab es kaum einheitliche soziale Milieus; von den Katholiken abgesehen, doch war dort die Neigung zu liberalen Einstellungen eher stark unterentwickelt. Es mag schwierig sein, von einem „Nationalcharakter“ der Deutschen im 19. Jahrhundert zu sprechen, da die regionalen u. soziokulturellen Unterschiede zunächst zu unterschiedlich waren und nach 1871 alles dem „Einheitsgedanken“ untergeordnet wurde. Vergleicht man die damaligen Verhältnisse mit heute, fällt dennoch auf, dass durch die gesellschaftliche Fragmentierung der liberale Gedanke im allgemeinen Sinne im wiedervereinten Deutschland schon längst verloren gegangen ist.
20) Im Überblick: Ullrich, S. 166 – 168.
21) Treitschke, Band 2, S. 519f.
22) Außerdem erlaubte sich Treitschke in diesem fünften Band auch einige (zumindest versteckt) abfällige Bemerkungen zum Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. (Bruder des späteren Kaisers). Dies blieb natürlich nicht unbemerkt, so dass sich einige Zeitgenossen die Frage stellten, wie konnte Treitschke solch frivole Reden halten bzw. Schriften veröffentlichen, ohne dass Staatsanwälte und Richter eingeschaltet wurden, vgl. Gerhards, S. 71ff. Offensichtlich waren im preußischen Kultusministerium, dem unmittelbaren Dienstherren des Professors Treitschke, zu viele Opportunisten beschäftigt.
23) Wie bereits angerissen, war der interessanteste Punkt in Baumgartens Biographie, dass er der Onkel von Max Weber ist, der bei ihm in seiner Straßburger Zeit lebte und auch geprägt wurde. Weber ist für den hier betrachteten Gegenstand auch insoweit interessant, als es um die Frage der „Wahrheitsabhängigkeit“ sog. rationaler Herrschaft geht. Nur was rational begründbar und vermittelbar ist, kann auch durch staatlichen Zwang angeordnet werden. Anderenfalls handelte es sich um bloße Zwangsherrschaft bzw. Untertanengeist.
24) Nipperdey, Dt. Geschichte 1800 bis 1866, S. 587. Insgesamt zum Aufstieg der Presse: ders., S. 587 – 594.
25) Obwohl beide Frauen, zumindest in der damaligen Zeit, aufgrund ihrer „Weltanschauung“ (marxistisch bzw. kommunistisch) nicht unbedingt typische Vertreterinnen der Frauenbewegung waren („Suffragetten“, ein eher abwertend klingender Begriff), stehen sie zumindest exemplarisch für die unverhältnismäßig hohen Strafen, die auch Frauenrechtlerinnen im Kaiserreich zu erwarten hatten, wenn sie auf ihre politische Situation aufmerksam machten.
26) Hesse, Rn. 401ff. (Zitat in Rn. 402).
27) Ähnliches gilt auch für Richter, denen ebenfalls gemäß Art. 97 Abs. 1 GG eine große Unabhängigkeit eingeräumt wird und je nach Komplexität eines Rechtsgebiets die Bindung an Recht u. Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) auch mal verschwinden kann; insbesondere wenn sich z.B. hohe Richter selbst ermächtigen, die Rechtmäßigkeit ganzer Gesetze zu prüfen, obwohl dies gar nicht in ihre eigentliche „Kompetenz“ fällt.
28) Treitschke, Band 5, besonders im 10. Abschnitt.
29) Vgl. Gerhards, S. 200ff.
30) Ders., S. 14f.
31) Im Überblick: Gerhards, S. 216ff.
32) Zitate bei Gerhards, S. 321.
33) Vgl. Gerhards, S. 327.
34) Dito, S. 323.
35) Im Zusammenhang: Gerhards, S. 332f. (zum Mommsen-Zitat dort Fn. 100).
36) Vgl. Gerhards, S. 322.
37) Der letzte Aufreger war 2016 der Fall Böhmermann. Daraufhin wurde sogar der alte § 103 StGB vom Bundestag außer Kraft gesetzt (zur Frage der Wirkung abfälliger Aussagen über ein ausländisches Staatsoberhaupt als Beleidigung soll hier keine Stellung bezogen werden).
38) Habermas, S. 132.
Literatur
Geiss, Imanuel: Der lange Weg in die Katastrophe. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs 1815 – 1914, 2. Aufl., München 1991.
Gerhards, Thomas: Heinrich von Treitschke. Wirkung und Wahrnehmung eines Historikers im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn u.a. 2013.
Habermas, Jürgen: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, 1. Aufl., Frankfurt/M. 1973.
Hesse, Konrad: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Auflage, Heidelberg 1993.
Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800 bis 1866. Bürgerwelt und starker Staat, 6. Aufl., München 1993.
Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866 bis 1918. Zweiter Band: Machtstaat vor der Demokratie, 2. Aufl., München 1993
Schmidt, Imanuel Clemens: Kulturkampf, Protestantisierung, Wissenschaft, S. 263 – 286. In: Ein Paradigma der Moderne, herausgeg. v. Arndt Engelhardt u.a., Festschrift für Dan Diner zum 70. Geburtstag, Göttingen 2016.
Treitschke, Heinrich von: Unsere Aussichten, Preußische Jahrbücher Band 44, 1879, S. 559-576. https://www.gehove.de/antisem/texte/treitschke_1.pdf
Treitschke, Heinrich von: Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage, Preußische Jahrbücher Band 45, 1880, S. 85–95. https://www.gehove.de/antisem/texte/treitschke_3.pdf
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen, Erstauflage 1882 (hier die Ausgabe Leipzig 1927).
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur Märzrevolution, Erstauflage 1894 (hier die Ausgabe Leipzig 1927).
Ullrich, Volker: Die nervöse Grossmacht 1871 – 1914. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs, erweiterte Neuausgabe, Frankfurt/M. 2013.