Eine Betrachtung unter verschiedenen Perspektiven
Mit diesem Beitrag soll die kurze Reihe zum Thema „150 Jahre Reichsgründung“ abgerundet werden. (1)
Ein Motiv, das der Beschäftigung mit den jeweiligen Einzelaspekten zugrunde liegt, ist die viele Historikergenerationen (und weitere akademische Fachrichtungen) beschäftigende Frage, ob es einen inneren Zusammenhang, eine Art Kontinuität, zwischen den Ereignissen von 1870/71 und den nachfolgenden Entwicklungen, besonders im Hinblick auf 1914 (Erster Weltkrieg) oder 1933 (Machtübergabe an Hitler und Selbstaufgabe der Weimarer Republik) gegeben hat; war also der „deutsche Sonderweg“ vorgezeichnet oder hätten die maßgeblichen Weichenstellungen auch anders, weniger katastrophenbeladen ausfallen können? (2)
Dabei wurde – wenn auch nicht ausschließlich – größeres Gewicht auf die Darstellung der „Ereignis“- bzw. „Personengeschichte“ gelegt (was auch in der Regel im „klassischen“ Geschichtsunterricht überwiegt). Im Folgenden sollen mehr strukturelle Aspekte bzw. allgemeinere Entwicklungen im Mittelpunkt stehen. Es erfolgt eine grobe Einteilung zwischen „äußeren“ Strukturen und Einflüssen und speziellen „inneren“ Strukturmerkmalen im 1871 gegründeten Deutschen Reich.
Die von und nach außen gerichteten Einflüsse müssen – allein schon aus Platzgründen – gebündelt in groben Zügen zusammengefasst werden. Die Darstellung spezieller innerer Strukturen (Stichworte in der Überschrift: besonders „Verwaltung“ und „Justiz“) dürfen auch schon deshalb nicht ausufern, um juristische Laien nicht zu sehr abzuschrecken.
A) Die Staatsgründung 1871 von außen betrachtet
Ein so überwältigendes Ereignis wie die Gründung eines Nationalstaates in der Mitte Europas bleibt natürlich nicht ohne entsprechende Auswirkung auf die anderen (Groß-)Mächte des Kontinents und erst Recht war diese Entwicklung in ein ganz bestimmtes politisches Umfeld der 1860er Jahre eingebettet. Dieses soll daher etwas näher betrachtet werden. Dabei können nur wenige „Akteure“ berücksichtigt werden; zur Auswahl stehen: die nach 1866 vollständig souveränen deutschen „Mittelstaaten“, die beiden europäischen „Flügelmächte“ Großbritannien und Russland und natürlich der westliche Nachbar Frankreich.
I) Die Haltung der Weltmacht Großbritannien
Da eine auch nur halbwegs vollständige Darstellung der britischen Außenpolitik Mitte des 19. Jahrhunderts – selbst bloß in Bezug auf europäische Konflikte – jeden Rahmen sprengen würde, sollen lediglich im Über-blick einige „Wegmarken“ der britischen Politik zur „Deutschland- Frage“ (zur Unterstützung bzw. generellen Einstellung) aufgezeigt werden.
1) Unmittelbar nach der Kaiserproklamation im Versailler Schloss gab der damalige Oppositionsführer im britischen Unterhaus, Benjamin Disraeli, Anfang Februar 1871 seiner Bestürzung Ausdruck:
„Es gibt keine einzige diplomatische Tradition, die nicht hinweggefegt worden ist.“ (…) „Die große Mehrheit der Zeitgenossen war sich wie Disraeli Anfang 1871 der Tatsache bewußt, daß sich während der 1860er Jahre und schließlich durch den Krieg 1870 in Europa erhebliche Machverschiebungen vollzogen hatten.“ (3)
Er sprach von neuen Einflüssen, die am Werk seien und von unbekannten Größen, auf die sich sein Land nun einzustellen habe; der konservative Disraeli spitzte seine Argumentation auch noch zu und bezeichnete die kurz zuvor erfolgte Staatsgründung gar als „the German Revolution“. (4)
Wenn z.B. im Februar 1871 der damalige konservative Oppositionsführer im britischen Unterhaus, und spätere Premierminister Disraeli, von der kurz vorher erfolgten Staatsgründung als „Revolution“ sprach, konnte dies als eine typisch englische Übertreibung mit innenpolitischer Zielrichtung bewertet werden oder aber auch als eine Art Warnung vor dem befürchteten Wegfall des Gleichgewichts der Kräfte.
2) Natürlich hatten die (Außen-)Politiker in London bzw. im Buckingham Palace die Entwicklung schon Jahre zuvor erkannt und beobachtet und teilweise auch mit Sorge verfolgt:
„Kritik der parlamentarischen Opposition an der auswärtigen Politik der jeweils amtierenden Regierung ging einher mit Beunruhigung in der politisch interessierten Öffentlichkeit über die geminderte internationale Stellung Großbritanniens. Beides waren Hinweise auf die Unsicherheit, mit der in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Londoner Regierungen versuchten, in einer sich rasch verändernden weltpolitischen Konstellation nicht nur britische Interessen zu verteidigen, sondern zugleich der von England beanspruchten bzw. von ihm erwarteten Rolle einer globalen Ordnungsmacht gerecht zu werden. Offenbar hatten sich dafür im Unterschied zu den Jahrzehnten nach dem Wiener Kongreß sowohl der außenpolitische Spielraum als auch die politischen Möglichkeiten merklich verengt. (…) War das Großbritannien der sechziger Jahre überhaupt noch eine Macht, die ihren Beschlüssen … gegebenenfalls auch Taten folgen lassen konnte? (…) Im Hinblick auf Europa schien sie sogar vorab darum bemüht zu sein, politische Engagements auf ein kaum noch vertretbares Minimum zu reduzieren und heraufziehende Konflikte mit anderen europäischen Mächten durch bis- weilen fragwürdige Kompromisse … beizulegen.“ (5)
Insoweit stellt sich die Frage nach der politischen Relevanz der nationalstaatlichen Einigungsbewegungen in Europa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts (neben Deutschland auch z.B. Italien) für das Inselreich Großbritannien und des „Empire“ insgesamt:
„Für die global orientierte britische Außenpolitik war Europa in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts nur eine Region unter anderen, der nicht einmal die höchste Priorität zukam, wenn es darum ging, die britischen Interessenschwerpunkte festzulegen.“ (6)
In dieser grundsätzlichen Ausrichtung gaben sich die beiden großen politischen Anschauungen in England nur wenig (und ähnelten hierin sogar dem zaristischen Russland, s.u.).
3) Nicht vergessen werden darf aber auch, dass durch die familiären Bande zwischen dem britischen Königshaus und den Herrschern von Sachsen-Coburg-Gotha und in Preußen eine spezielle Verbindung und Kontaktmöglichkeit vorhanden war.
Wie bereits im Beitrag zum 99-Tage-Kaiser Friedrich III. dargestellt, hatte der preußische Kronprinz durch seine Heirat mit der Tochter Queen Victorias ein ganz besonderes Verhältnis zur britischen Krone.
Natürlich war gerade die Queen nicht ganz unbesorgt über den politischen Einfluss Bismarcks, der ihr überhaupt nicht zusagte, und über die unmittelbaren Ereignisse ab 1864. Allerdings konnte sie auf die Integrität ihres Schwiegersohnes setzen und ihr war ebenfalls bewusst, dass die „deutsche“ Frage (also besonders der schon lange anhaltende Dualismus zwischen Preußen und Österreich) irgendwann gelöst werden musste. Das weltliche Oberhaupt der „Kirche von England“ hatte auch eher Interesse an einem protestantischen Preußen als an einem katholischen Österreich, das durch seine Bestrebungen auf dem Balkan auch schnell mit britischen Interessen im östlichen Mittelmeer kollidieren konnte (so war europäische Machtpolitik im 19. Jahrhundert gestrickt).
Daher kann man durchaus sagen, dass die Briten – trotz gewisser Bedenken, die auch mit Bismarck zusammenhingen, – der nationalstaatlichen Einigung Deutschlands unter Führung Preußens verhalten positiv gegenüberstanden; zumindest Ende der 1860er Jahre und während der folgenden beiden Jahrzehnte.
II) Die Haltung des zaristischen Russland
Auch die zweite „Flügelmacht“ – hier im Osten Europas – war in den 1860er Jahren mehr mit sich beschäftigt. Der unbefriedigende Ausgang des Krimkrieges und die nachhaltige Verstimmung im Verhältnis zu Österreich führten dazu, dass sich Sankt Petersburg auf die eigenen Interessenzonen konzentrierte; diese lagen eher in Südosteuropa und besonders im asiatischen Raum (vom Kaukasus bis zum Pazifik).
Während des Krimkrieges verstarb der alte Zar Nikolaus I. mit knapp 60 Jahren, sein Nachfolger Alexander II., mit den Hohenzollern verwandt, war deutlich jünger und setzte andere Schwerpunkte. Nachdem 1856 der Frieden geschlossen worden war, wurde ein Primat der Innenpolitik (im Sinne weitgehender innerer Reformen) angestrebt, insoweit „bestand nach dem Krimkrieg Einigkeit darin, daß Rußland seine außenpolitische Orientierung neu auszurichten habe“. (7)
Im Westen gaben lediglich die Polen dem russischen Bären ab und zu Grund zu militärischen Drohgebärden. Immerhin hätte das politisch wie militärisch erstarkende „Preußen-Deutschland“ an Russlands westlicher Flanke ein Störfaktor werden können, der auch innenpolitisch zu einer Belastung für das zaristische Regime hätte führen können. Doch seit Bismarcks ausgesprochen russenfreundlicher Haltung in der „Polenfrage“ ab 1863 war auch das Thema durch. In Anbetracht des insgesamt guten Verhältnisses zwischen Preußen und Russland während des gesamten 19. Jahrhunderts (und ebenfalls enger verwandtschaftlicher Bindungen) war für die Reichsgründung 1871 aus dem Osten am wenigsten Widerstand zu erwarten. Davon abgesehen, war Russland auch eher mit den Folgen der Neutralisierung bzw. Entmilitarisierung des Schwarzen Meeres beschäftigt und hatte dank ständiger Haushaltsdefizite seit 1855 auch kaum Geld. (8) Zumindest nicht genug, um sich im Westen ohne vernünftigen Grund politisch oder gar militärisch einzumischen; der marode Zustand von Russlands Armeen war damals hinlänglich bekannt (und konnte erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts langsam „modernisiert“ werden).
Solange die „preußisch-deutschen“ Kriege (gegen wen auch immer) keine negativen Rückwirkungen auf russische Interessen auf dem Balkan („Panslawismus“) oder in Kleinasien („Bosporus“) befürchten ließen, waren Russen und Preußen auf einer Wellenlänge (Königsberg lag auch näher bei Sankt Petersburg als Paris).
Bemerkenswert ist allerdings die Entwicklung des russisch-französischen Verhältnisses am Ende des 19. Jahrhunderts: War doch das napoleonische Frankreich (zumindest mittelbar) Nutznießer des Krimkrieges und im Hinblick auf die von Napoleon III. angestrebte Neuordnung Europas ein Hoffnungsträger vieler nationaler Minderheiten, damit automatisch ein ideologischer Widerpart zur autokratischen Militärmacht im Zarenreich, setzten die Führer des republikanischen Frankreich auf Annäherung mit dem zaristischen Russland (paradox, hätten doch die französischen Republikaner „ideologisch“ mehr Grund gehabt, sich vom wirtschaftlich und politisch besonders rückständigen Zarenreich abzugrenzen als zuvor der „Kaiser“ Napoleon III.).
Ab 1890 – nicht zufällig nach Bismarcks Abgang – begannen Paris und Sankt Petersburg die Voraussetzungen der (kleinen) Entente zu begründen, wodurch dann ab 1907 die sog. Triple-Entente unter Einschluss Großbritanniens entstand. (9)
III) Frankreich – der Erzfeind?
Eigentlich hatte Frankreich ab Mitte der 1850er Jahre allen Grund, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Der nach 1848/49 restaurierte Deutsche Bund war besonders wegen des ausgeprägten Dualismus zwischen Preußen und Österreich sicher kein künftiger Kriegsgegner; teilweise pflegte Paris zu den deutschen Mittelstaaten sogar gute diplomatische Beziehungen.
Die überraschend schnelle Niederlage Österreichs 1866 hatte Paris doch relativ kalt erwischt. Es war daher nur allzu verständlich, dass Frankreich die sich immer stärker anbahnende „kleindeutsche“ Lösung zumindest mit Argwohn beobachtete und alle Register zog, ein weiteres Absinken in der politischen Rangordnung auf dem Kontinent zu vermeiden. (10) Die Möglichkeiten zur Einflussnahme waren durchaus vorhanden; doch auch hier kam „Hochmut vor dem Fall“: Außenpolitische Abenteuer, kostspielige Kriege und auch schon erste „Krisentendenzen des Kapitalismus“ setzten „Kaiser“ Napoleon III. in den 1860er Jahren übermäßig zu – sein eigenartiger Regierungsstil („Bonapartismus“) führte letztlich in die Sackgasse.
1) Eigenartige politische Interessen Frankreichs um 1860
Die außenpolitischen Bestrebungen Frankreichs waren so ambivalent wie die sich abwechselnden Staatsformen. 1859 führten Frankreich und das mit ihm verbündete Königreich Sardinien-Piemont Krieg gegen Österreich; knapp zehn Jahre vorher hatten Italiener unter Garibaldi noch gegen die Franzosen gekämpft. Ab 1861 engagierte sich Frankreich (wie auch Spanien und Großbritannien) in Mexiko: Franzosen landeten in Mexiko und besetzten weite Teile des Landes, um 1864 das Zweite Kaiserreich von Mexiko zu errichten (bzw. zu restaurieren). Den Kaisertitel sollte ausgerechnet auf Vermittlung und unter Mithilfe Frankreichs der österreichische Erzherzog Maximilian (Bruder von Franz Joseph I., gegen den die Franzosen kurz vorher noch in Europa Krieg geführt hatten) annehmen; knapp drei Jahre dauerte dieses Possenspiel, dann wurde der Österreicher auf dem Thron Mexikos hingerichtet. 1866/67 musste Frankreich auf Druck der USA seine Besatzungstruppen aus Mexiko wieder abziehen: außer Spesen nichts gewesen (und natürlich die Blamage).
Beachtet man die zeitliche Überschneidung zwischen den kriegerischen Verstrickungen und politischen Ambitionen Frankreichs mit den beiden ersten „Einigungskriegen“ Preußen-Deutschlands 1864 und 1866, kann man auch zu dem Schluss kommen, hätte sich Frankreich, gilt auch für andere europäische Staaten, nicht mit sinnfreien Abenteuern in Übersee verausgabt, sondern den Schwerpunkt auf innereuropäische Entwicklungen gelegt, wäre Napoleon III. und somit auch die „Grande Nation“ deutlich glaubwürdiger gewesen; Frankreichs Wort hätte mehr Gewicht gehabt (ein Realpolitiker wie Bismarck hätte dies bemerkt).
Die zahlreichen militärischen Aktivitäten waren im Übrigen auch nicht zum Nulltarif zu haben; Frankreich musste viel Geld in seine Armeen stecken (das an anderen Stellen dann fehlte).
2) Ökonomische Entwicklungen
Westeuropa, auch Frankreich, war zwar „Motor“ der industriellen Revolution ab etwa der Jahrhundertmitte, doch erste Krisenerscheinungen des damaligen (Turbo-)Kapitalismus blieben (beinahe naturgesetzlich) nicht aus; der berühmteste Zigarrenraucher aus Trier fand daher genug Anschauungsmaterial für sein „Kapital“.
Ein Hauptproblem für jeden Unternehmer, dem es an ausreichend Eigenkapital mangelt, und damit ein Kardinalfehler moderner Wirtschaftsformen und auch staatlicher Wirtschaftspolitik ist das süße Gift der Verschuldung. Einer der ersten „Finanzskandale“ im modernen Kapitalismus ereignete sich in Paris in den 1860er Jahren: Die Crédit Mobilier (Vorläufer späterer Schneeballsysteme) war aufgrund des eigenartigen Geschäftsmodells zahlungsunfähig geworden und stand vor dem Konkurs. Bemerkenswert war 1852 die enge Verbindung zwischen der Gründung dieser Bank und dem Staatsstreich Napoleons; warum eine Bank ausrauben, wenn man stattdessen auch eine gründen kann (dachte wohl der künftige Kaiser)? Als diese verkappte Privatbank Napoleons III. ab 1867 auch wegen des überraschenden Ausgangs des zweiten Einigungskrieges in Schieflage geriet, konnte lediglich eine Art Rettungsschirm der französischen Nationalbank (indirekt Napoleons III.) einen Totalverlust verhindern. (11)
Auch wenn solche finanzpolitischen Auswüchse keinen unmittelbaren Einfluss auf die Ausstattung der französischen Armee hatte, wurde es für Napoleon III. nicht einfacher, sein Militär zu modernisieren (bestes Beispiel: Zündnadelgewehre waren teurer, aber durchschlagender als die alten Vorderlader; auch der strategische Einsatz der Eisenbahn war nur durch hohe staatliche Investitionen zu realisieren). Ähnlich wie Österreich 1866, hatte auch Frankreich 1870 einfach nicht genug Geld, den materiellen Vorsprung Preußens auszugleichen.
3) Bonapartismus als politisches Problem
Napoleon III. hatte – gleichsam in der Tradition seines berühmteren Onkels – ebenfalls einen sog. Napoleonkomplex; anders lassen sich bestimmte Facetten außenpolitischer Ambitionen des „kaiserlichen“ Frankreichs 1856 – 1870 nicht erklären. Auf den „Bonapartismus“ als politische Agenda wurde bereits im Beitrag zu den Einigungskriegen hingewiesen. Kurz gesagt: Kaiser Napoleon III. war eine Art Volkstribun, der für seinen innenpolitischen Machterhalt die Popularität bei den Massen anstrebte. Mittel des „bonapartistischen Regiments“ in der Innenpolitik (eine Beschreibung Bismarcks) waren eine ausgeprägte Zentralisierung, einen Hang zur „Vernichtung der Selbständigkeiten“ und ein gleichmachender Druck; gepaart mit dem Vorwurf von Lüge und Korruption. Hauptproblem dieses besonderen „populistischen“ Regierungsstils: Blieben die Erfolge aus, konnte die öffentliche Stimmung schnell kippen. Zu viele Ambitionen (oder auch bloße politische Abenteuer) konnten dazu führen, dass der Eindruck bloßen Aktionismus entstand.
Während der Amtszeit Napoleons III. können genannt werden: 1859 der Krieg gegen Österreich, ab 1862 die militärische Einmischung in Mexiko, der fehlgeschlagene Versuch 1867, Luxemburg zu „erwerben“, der angemaßte Anspruch 1870, bei der Thronfolge in Spanien bestimmen zu können, was dann unmittelbar zur „Emser Depesche“ führt, oder auch die verschiedenen kolonialistischen Bestrebungen in Afrika. Jedes Mal, wenn eines dieser „Ziele“ fehlschlug, musste Napoleon III. fürchten, in der französischen Öffentlichkeit als unfähiger Möchtegern dazustehen.
War Napoleon III. (unabhängig von seinem Gesundheitszustand) somit auch ein Getriebener der öffentlichen Meinung, musste er diese dann ganz besonders bei einer derart prestigeträchtigen Angelegenheit wie die Regelung der spanischen Thronfolge berücksichtigen. Obwohl vom preußischen König die Zusage kam, dass der entfernte Verwandte Wilhelms I. auf die Königswürde Spaniens verzichten werde, überspannte die französische Diplomatie den Bogen. Um bei der heimischen Presse zu punkten, verlangte die französische Regierung eine Art bindende Zusage von Preußen, sich auch künftig aus der „spanischen Personalpolitik“ herauszuhalten; Bismarck erkannte die Chancen, diesen Affront auszunutzen und drängte Paris gleichsam in eine außenpolitische Sackgasse (der darauf folgende Krieg 1870/71 schuf dann die Grundlage für die Reichsgründung).
4) Französische Schlafwandler?
Bekanntlich erscholl nach dem Sieg Preußens in Königgrätz im Juli 1866 ausgerechnet in Frankreich ein deutlich lauterer Ruf nach Rache als im besiegten Österreich selbst.
Irrationale Forderungen bzw. Wunschvorstellungen haben aber gerade in der Geschichte Europas selten den erhofften Erfolg gehabt. Vor allem wenn es um eigentlich fremde politische Ansprüche oder Angelegenheiten ging, mussten die Länder, die glaubten sich dabei einmischen zu müssen, einen hohen Preis zahlen; bestes Beispiel: der Verlauf des Dreißigjährigen Krieges oder auch die zahlreichen sog. Erbfolgekriege.
Diese Erfahrung mussten auch die Franzosen machen, als sie lauthals „Rache für Sadowa“ forderten, obwohl Frankreich an dieser Auseinandersetzung gar nicht beteiligt war und nur dank Verblendung auf Kompensation gehofft hatte.
Die gesamte außenpolitische Agenda des napoleonischen Frankreichs gerade 1867/69 in Bezug auf mögliche Absprachen oder gar Bündnisse mit Österreich (bzw. mit anderen Ländern, die ein erstarkendes Preußen-Deutschland als Bedrohung empfanden), war von einer gewissen Naivität geprägt. Nicht nur, weil z.B. Bismarck über alle wichtigen diplomatischen Aktivitäten, die es tatsächlich zwischen Paris und Wien oder auch Florenz gegeben hat, bestens unterrichtet war, sondern weil auch jeder der oben skizzierten Fehlschläge in der französischen Politik nicht unbedingt die Furcht in Berlin vor dem französischen Kaiser erhöht hat. Gerade Bismarck konnte sich (dank seiner intensiven Beschäftigung mit Napoleon III.) durchaus vorstellen, dass man in Paris konkret über einen Krieg gegen Preußen (bzw. den Norddeutschen Bund) nachdachte und deshalb die zahlreichen Sondierungen in halb Europa vornahm. Bereits vor der „Emser Depesche“ ließ der preußische Ministerpräsident nichts unversucht, dass in Paris geradezu zwangsläufig der Eindruck entstehen musste, Preußen wolle um jeden Preis seine Machtstellung zu Lasten Frankreichs erweitern. (12)
Dieser Eindruck (einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung) wurde natürlich von der französischen Öffentlichkeit geradezu dankbar aufgegriffen, um nationalistische Ressentiments zu verbreiten (übertriebener Nationalismus ging auch in umgekehrter Richtung).
„Für Frankreich zeichnete sich wie 1519 das Schreckensbild einer Einkreisung durch Spanien und Deutschland ab, jetzt unter Führung der expandierenden Hohenzollern anstelle der Habsburger. Nur hatten sich nach 350 Jahren die Gewichte verschoben: (…) Deutschland, 1519 traditionelles Machtvakuum, befand sich auf dem Sprung zur Reichsgründung. So war für die Franzosen die in deutschen Augen so periphere spanische Thronkandidatur eine zentrale Bedrohung und machtpolitische Provokation.“ (13)
Ab einem bestimmten Zeitpunkt waren alle maßgeblichen Entscheidungsträger in Paris so von diesem Szenario beeindruckt, dass offensichtlich keiner mehr einen klaren Gedanken fassen konnte. Leicht überspitzt ließe sich sagen: „Wie ein steuerloses Schiff“ taumelte Paris nach der „Emser Depesche“ der Kriegserklärung gegenüber Preußen entgegen. Das für die Lage im Sommer 1914 gewählte Bild von den „Schlafwandlern“ (Christopher Clark) ließe sich auch bereits für die französischen Akteure im Sommer 1870 nutzen. Damit war natürlich auch der gesamte Norddeutsche Bund involviert und aufgrund der zahlreichen bilateralen Absprachen mit den süddeutschen Ländern war die Frontstellung ziemlich schnell deutlich; und trotz der jahrelangen Bemühungen um irgendeine Art von Beistand Österreichs zugunsten Frankreichs blieb man in Wien absolut distanziert.
London und Sankt Petersburg mögen unterschiedliche Gründe gehabt haben, nicht für Paris Partei zu ergreifen, aber eine Intention war identisch: Engländer wie Russen wollten nicht gegen Preußen/Deutschland ein- greifen. Da es um 1870 zwischen Frankreich und Großbritannien bzw. Russland keine ausdrücklichen Bündnisse (defensiver oder gar offensiver Ausrichtung) gegeben hatte, mangelte es Napoleon III. einfach an (verlässlichen) Partnern; Preußen war dank Bismarck in dieser Beziehung offensichtlich besser aufgestellt.
IV) Die Stellung der süddeutschen Staaten (und Österreichs) ab 1866
Obwohl die nach der Auflösung des Deutschen Bundes ab Herbst 1866 völlig souveränen „Mittelstaaten“ südlich des Mains sehr verschieden waren und insbesondere Baden ganz andere Interessen als Bayern hatte und das Kaiserreich Österreich eigentlich völlig getrennt betrachtet werden müsste, kann man gerade wegen der im Deutschen Bund gemeinsam verfolgten Interessen und natürlich auch wegen der kulturellen Gemeinsamkeiten der „Süddeutschen“ von einer gewissen Homogenität ausgehen.
1) Österreich ab 1867: Annäherung oder Distanz?
Das Jahr 1866 war nicht nur für Preußen-Deutschland (zunächst als „Norddeutscher Bund“ konstituiert), sondern auch für das über Jahrhunderte wichtigste deutsche Territorium im Südosten des Alten Reiches eine Art Schicksalsjahr: Österreich war durch die Auflösung des Deutschen Bundes mit einem Schlag auch aus der weiteren deutschen Geschichte entlassen und (zumindest weitgehend) ausgeschlossen worden. Diese Art von Herabsetzung konnte auch zu einer Radikalisierung der künftigen österreichischen Innenpolitik führen: „Kleine radikale Minderheiten plädierten schon 1866 für die Auflösung der Habsburger Monarchie und den Anschluß an ein preußisch geführtes Deutschland.“ (14)
Soweit kam es (im Gegensatz zum November 1918) damals noch nicht, die Habsburger besannen sich eines Besseren: Ähnlich wie Russland nach 1856, musste auch das Habsburgerreich nach der Niederlage 1866 ausgiebig die entstandenen Wunden lecken und zunächst notwendige Reformen im Inneren vornehmen. Dies geschah 1867 im Wege des sog. Ausgleichs mit Ungarn, wodurch die Bezeichnung „Doppelmonarchie“ endgültig für die nun entwickelte Staatsform stand. Folge war z.B., dass die Außenpolitik zwischen Wien und Budapest koordiniert, somit die auswärtigen Angelegenheiten gemeinsam verwaltet werden mussten. Viele der „ungarischen“ Politiker waren aber zunächst gegen eine Politik, durch die Wien versuchte, sich wieder stärker in Deutschland zu engagieren.
Direkt nach der Schmach von Königgrätz hätte die österreichische Führung alles Erdenkliche tun können, um auf Revanche zu sinnen; eine Annäherung an das Frankreich Napoleons III. wäre dann die absolut logische Folge gewesen. In der Tat, die österreichische Außenpolitik begann zu lavieren:
„Kaiser Franz Joseph und die österreichischen Führungsschichten hatten nach der Zerstörung des Bundes keineswegs auf die mitteleuropäische Orientierung der Monarchie verzichtet. (…) Als sich zeigte, daß Preußen zu keiner Zusammenarbeit bereit war, die Österreichs deutsche Interessen anerkannte, suchte Wien den Weg nach Deutschland über Frankreich. (…) Aber die Ziele (…) wurden aus mehreren Gründen nicht erreicht. Das nationale Bewußtsein – auch und ganz besonders bei den Großdeutschen im Süden und Westen – orientierte sich weiter in antifranzösischer Richtung; die Versuche Napoleons, jene territorialen Kompensationen an der französischen Ostgrenze, die ihm Bismarck verweigert hatte, jetzt mit Hilfe der österreichischen Allianz zu erreichen, steigerten das Mißtrauen breitester Schichten in Deutschland. Das galt ebenso für die Deutschliberalen in Österreich, während die Ungarn grundsätzlich gegen jeden »Wiedereintritt in Deutschland« waren“. (15)
Ab einem bestimmten Zeitpunkt musste man sich in der Wiener Hofburg fragen, welche konkreten Vorteile eine Zusammenarbeit mit Frankreich haben würde.
Hierbei ging es um folgende Erwartungen/Ziele:
„Sicherheit gegen Isolierung im Falle eines preußischen Angriffs, Sicherheit gegen Isolierung im Falle eines russischen Angriffs, Sicherheit gegen einen italienischen Angriff, Sicherheit gegen ein Arrangement Frankreichs mit Preußen auf Österreichs Kosten, allgemeine außenpolitische Absicherung“. (16)
So kompliziert gestaltete sich „Außenpolitik“ im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts für ein Land ohne natürliche Grenzen (die Alpen waren ja kein echtes Hindernis); ähnlich war die „Lage“ für Preußen-Deutschland spätestens seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts und dauerte bis zum Ersten Weltkrieg an.
Dies erklärt auch die etwas eigenartig gestaltete österreichische Allianzpolitik gegenüber Frankreich. Von den höchst wechselhaften französisch-österreichischen Beziehungen seit der Hinrichtung Marie Antoinettes 1793 und der Zwangsheirat Marie Louises mit Napoleon Bonaparte 1810 und überhaupt in den ersten sechzig Jahren des 19. Jahrhunderts ganz abgesehen, wie weit war man in Paris bereit, z.B. die Interessen der Habsburger auf dem Balkan (uneigennützig) zu unterstützen? Wie hoch war der Preis für eine „Achse Wien – Paris“ wirklich; materiell, aber noch mehr in Bezug auf ideelle Gemeinsamkeiten mit (Süd-)Deutschland? Wien stand vor der Entscheidung, sich auf eigene Interessen zu konzentrieren oder aber möglicherweise von fremden Interessen geleitet zu werden; dies wäre dann der Fall gewesen, hätten die potentiellen Partner, Frankreich und Italien, größeren Wert auf ihre eigenen Ambitionen gelegt. Außerdem gab es bei den damaligen Verhandlungen auch immer finanzielle Aspekte zu berücksichtigen: Wer sollte den Hauptanteil der Kosten tragen? Frankreich und Österreich hatten in den Jahrzehnten zuvor schon viel Geld durch Kriege verloren; Italien selbst war als Nationalstaat gerade erst im Gründungsstadium.
Im Ergebnis waren es für Wien zu viele unbekannte Variablen, die dazu führten, dass es zu keiner Allianz zwischen der Doppelmonarchie und dem napoleonischen Frankreich gekommen ist. (17)
Dessen ungeachtet gab es ja einen maßgeblichen völkerrechtlichen Vertrag, an dem Österreich an exponierter Stelle beteiligt gewesen war: Der Prager Friedensvertrag vom August 1866, in dem genaue Bestimmungen über den künftigen territorialen Bestand Österreichs erfolgten. In Artikel 1 wurde explizit der Friedenswunsch zwischen den Monarchen Preußens und Österreichs, aber auch der Bevölkerungen Gegenstand der Vereinbarung. Außerdem wurde in Art. 4 des Prager Friedensvertrages zumindest indirekt eine Art Unterrichtungsvorbehalt zugunsten Österreichs vor einer Vereinigung des Norddeutschen Bundes mit den „Südstaaten“ festgeschrieben (ob es sich praktisch um einen echten „Einspruch“ handelte, kann offen bleiben, da Österreich zumindest Ende Dezember 1870 gegen die Reichsgründung keine Einwände erhob).
2) Süddeutschland 1866 – 1870
Trotz der Niederlage, die die „Südstaaten“ als Verbündete Österreichs einstecken mussten, waren sie (lässt man Hessen-Darmstadt nördlich des Mains außer Betracht) die eigentlichen Nutznießer der Auflösung des Deutschen Bundes: Die beiden Königreiche Württemberg und Bayern waren begehrter denn je; auch Baden hatte zumindest dank der Heiratspolitik des Großherzogs keine Befürchtungen, von den Großmächten aufgerieben zu werden. Bereits vor dem Krieg von 1866 kann von einer Absicht der „Stärkung der Mittelstaaten“ gesprochen werden; auch wenn die z.B. von Frankreich zugedachte Rolle als neutraler Puffer machtpolitisch eher illusionär blieb.
Das Werben um die „Südstaaten“ begann ja bereits vor dem Prager Frieden, da schon im Vorfriedensvertrag von Nikolsburg explizit die Vereinigung der süddeutschen Staaten als mögliche politische Gestaltung angesprochen wurde. Diese potentiell nahe Verbindung wurde im endgültigen Friedensvertrag bestätigt. Jedoch unter Wahrung der Souveränitätsrechte der Süddeutschen.
Dieser Gesichtspunkt war auch für die sich anschließende „Außenpolitik“ Bismarcks maßgeblich; daraus wurde eine Tendenz zur Stagnation abgeleitet. (18) Auch wenn die Gestaltung der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom April 1867 eindeutig die Absicht erkennen lässt, dass dieser „Nordbund“ lediglich als Provisorium gedacht war, um süddeutschen Staaten den Beitritt zu ermöglichen, kann aber ebenfalls sicher festgestellt werden, dass Bismarck nicht um jeden Preis
die Aufnahme einzelner Länder anstrebte. Als in Bezug auf das Großherzogtum Baden Anfang 1870 eine isolierte Aufnahme in den Norddeutschen Bund diskutiert wurde, hat dies Bismarck mit unerwarteter Schärfe zurückgewiesen. (19) Hier stand eindeutig das Bestreben im Vordergrund, nichts überstürzen zu wollen:
„Bismarcks Süddeutschlandpolitik nach 1866 stand also wie der gesamte Komplex seiner sogenannten nationalen Politik (…) unter dem Primat machtpolitischer Strukturentscheidungen im Inneren, wie er sie nach 1866 im Bereich des Norddeutschen Bundes durchgesetzt hatte und wie er sie um keinen Preis wieder zurücknehmen oder auch nur zur Diskussion stellen wollte, also auch nicht um den Preis rascherer Fortschritte in der Einigungsfrage.“ (20)
Der „Fürstenbund“ mit den süddeutschen Monarchen (der ja bereits im Norddeutschen Bund staatsorganisatorisches Strukturmerkmal gewesen ist) musste wohl bedacht vorbereitet und den künftigen Beteiligten auf Augenhöhe unterbreitet werden. Bismarcks ganze „Staatskunst“ war gefordert.
„Da sein Spielraum angesichts dessen einigermaßen eng war und, unerwartete äußere Anstöße und Ereignisse nicht einkalkuliert, eher enger wurde – mit ihrer Fortdauer überzeugten sich die streng monarchischen Kräfte in Bayern und Württemberg und auch die dortigen Monarchen zunehmend von der Haltbarkeit der neuen Verhältnisse -, stellte er sich selber und suchte er vor allem seine Umgebung und die ihm zugängliche Öffentlichkeit auf immer längere Fristen einzustellen. Leicht war das angesichts der Erwartungen, die das Jahr 1866 geweckt hatte, nicht“. (21)
Zum einen musste der preußische Ministerpräsident und Kanzler des Norddeutschen Bundes auf die parteipolitischen Strömungen in den Parlamenten Rücksicht nehmen (was ihm besonders missfiel, da sich insbesondere die „Nationalliberalen“ als Partei des Nationalstaates ausgaben), zum anderen gab es natürlich gerade auch bei den Süddeutschen große Skeptiker, die eine »Verpreußung des Südens«, gar einen autoritären Kasernenhof nach dem Muster preußischer Kadettenanstalten fürchteten:
„Ein einiges Deutschland haben wir gewollt, aber kein durch Annexion vergrößertes Preußen (…), erklärte selbst ein auf dem rechten Flügel der Liberalen angesiedelter Mann wie der damalige württembergische Justizminister und spätere Ministerpräsident Hermann von Mittnacht 1867 in einer Wahlrede.“ (22)
Politische Absichten und Erwartungen klafften demnach in den Jahren 1867/69 zwischen dem Norden und dem Süden weit auseinander. Am ehesten konnten wirtschaftliche Interessen und Gemeinsamkeiten zu einer Annäherung führen; der Zollverein sollte sich auch hier als Klammer anbieten. Neben der Handels- und Zollpolitik gab es natürlich auch im Heerwesen (also bei militärischen Fragen) „strukturelle Einflussmöglichkeiten“, insbesondere durch die bewährten „Allianzautomatismen“. Hier kamen dann die verschiedenen Schutz- und Trutzbündnisse zwischen Preußen bzw. dem Norddeutschen Bund und den süddeutschen Staaten ins Spiel. Diese blieben jedoch so lange nur eine theoretische Option, bis ein wirklich eindeutiger Bündnisfall eintrat.
Hierbei durfte für die Süddeutschen auch nicht der Eindruck entstehen, dass mutwillig ein Kriegsgrund konstruiert wurde; letztlich war auch klar, wer Kriegsgegner sein müsste (es konnte ja nur ein „äußerer“ Feind sein, der mächtig genug war, alle innerdeutschen Vorbehalte gegenüber einer staatlichen Einigung zu überwinden).
Vor 1869/70 hätte niemand in Preußen, Württemberg oder in Bayern auch nur im Traum daran gedacht, dass ausgerechnet die Frage der spanischen Thronkandidatur genau die benötigte Blaupause für den idealen Bündnisfall abgeben würde. Die äußere Bedrohung, die seit Sommer 1870 von Paris ausging, bzw. die Kriegserklärung durch das napoleonische Frankreich war der willkommene, vielleicht auch der einzig überzeugende Anlass für ein Zusammengehen der süddeutschen Länder mit dem preußisch dominierten Norddeutschen Bund. Vor allem aus Sicht der Befürworter einer Nationalstaatsbildung hatte der französisch-deutsche Krieg den großen Vorteil, dass es kein innerer „Bürgerkrieg“ war, der die Einigung vorantrieb. (23)
V) Fazit
Wie bereits im Beitrag zu den Einigungskriegen versucht zu verdeutlichen, waren die gesamten politischen Entwicklungen und Erwartungen im damaligen Europa besonders „komplex“, viele Beziehungen und Abhängigkeiten waren für Außenstehende gar nicht zu erfassen.
Obwohl das „lange 19. Jahrhundert“ in seinen Grundstrukturen als erstaunlich stabil bezeichnet worden ist, zumindest wenn es um die Mechanismen der Konfliktaustragung ging. In diesem Zusammenhang kann die Gründung des Deutschen Reiches als Zäsur betrachtet werden, da nach dem Ausgang des französisch-deutschen Krieges die „Gewichte“ in Europa neu verteilt wurden. (24)
Manchmal schien es aber auch bloß vom Zufall abzuhängen, ob in den einzelnen Ländern „geniale“ (aber nicht unbedingt immer „moralische“) Personen an den Stellen der Macht saßen – politisch und militärisch – oder eher Luschen bzw. willfährige Jasager.
Dementsprechend folgten auch die drei Kriege 1864 bis 1870 einer inneren Logik der Machtpolitik, wie sie in Europa seit Beginn der Neuzeit absolut üblich war. Ein Grund, warum keine Großmacht seinerzeit auch nur im Entferntesten Preußen an den Pranger stellte bzw. ernsthaft als üblen Kriegstreiber brandmarkte: Engländer wie Russen, Franzosen und bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts auch Spanier taten in vergleichbaren Situationen nichts anderes (und manche sollten es Ende des 19. Jahrhunderts in Afrika oder im „Fernen Osten“ noch bunter treiben, Stichwort „Imperialismus“).
Daher kann auch Bismarck – trotz seines Taschenspielertricks mit der „Emser Depesche“ – keine „politische Schuld“ am Ausbruch des französisch-deutschen Krieges im Sommer 1870 angekreidet werden. Die „Kriegsschuld“ wäre auch eindeutiger auf Seiten Frankreichs, wenn nicht durch die lange Belagerung von Paris, der blutigen Niederschlagung der Pariser Kommune und des expansiven Vorgehens in Elsaß-Lothringen (fast schon im Stile einer Kolonialmacht) doch noch dunkle oder gar schwarze Schatten auf die Ereignisse von 1870/71 gefallen wären; diese Hypothek lastete fortan auf der Reichsgründung. Doch wie bei jeder „Grundschuld“ konnte das neu gegründete Deutsche Reich die entstandenen Verpflichtungen auf dem europäischen Parkett redlich abtragen oder sich wie eine Heuschrecke gebärden.
Somit wäre die Frage zu stellen: Gab es aus Sicht der anderen europäischen Großmächte (und der direkten Nachbarstaaten) im Jahr der Reichsgründung 1871 bzw. in den folgenden zwei Jahrzehnten Gründe, das Deutsche Reich als möglichen Störenfried einer halbwegs konfliktfreien Zukunft oder gar als Aggressor wahrzunehmen? Sicher nicht; aber nicht nur, weil Bismarck tatsächlich davon überzeugt war, das Maximum möglicher Erfolge erreicht zu haben, so dass seine Aussage, man sei „saturiert“, glaubhaft war, sondern weil im direkten Vergleich mit den anderen politischen Akteuren der neue Machtblock in der Mitte Europas legitime Ziel verfolgt hatte und bei der Wahl der Mittel – aus damaliger Sicht – zumindest nicht über das Ziel hinausgeschossen war. Ab Ende des 19. Jahrhunderts und dann verstärkt 1905 bis 1912/13 sollte sich die deutsche Haltung und Einstellung jedoch grundlegend ändern. (25)
Die hierfür maßgeblichen Gründe hatten aber nichts (mehr) mit der Reichsgründung als Akt der Nationalstaatsbildung als solcher zu tun, sondern lagen besonders in der Hybris des „Wilhelminismus“ begründet. Inwieweit hierfür auch innere Strukturmerkmale maßgeblich waren, soll daher anschließend kurz beleuchtet werden.
B) Die inneren Strukturen des Deutschen Reiches
Wie bereits angesprochen, soll bei der Betrachtung der Reichsgründung von 1871 auch die Frage von Kontinuitäten bzw. ob es zwangsläufig zu den Katastrophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kommen musste, behandelt werden. Zumindest die äußeren Umstände der Gründung des ersten deutschen Nationalstaates moderner Prägung zu Beginn des Jahres 1871 setzten keine (kausalen) Ursachen für eine schicksalhafte Weichenstellung in Richtung der dramatischen Entwicklungen, die gleich zu zwei Weltkriegen führten, die beide ihren Ausgang in Deutschland nahmen. Selbst die Annexion Elsaß-Lothringens als Kompensation nach der Niederlage Frankreichs im Krieg von 1870/71 war nach der damaligen politischen Theorie, die in ganz Europa vertreten wurde, keine absolut verwerfliche Reaktion: Ob sie auch innenpolitisch klug war, insbesondere weil in weiten Teilen Lothringens rein französische Bevölkerungsgruppen ansässig waren, sei dahingestellt; das Problem nationaler Minderheiten hatten bekanntlich auch andere europäische Staaten. (26)
Interessant ist daher aber der Blick auf die inneren Strukturen und spezifischen gesellschaftlichen Entwicklungen, die nach 1871 stattfanden, aber meist schon lange vorher ihren Ursprung hatten, für die Frage der zwangsläufigen Auswirkungen und Konsequenzen.
I) Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Merkmale
Seit den Umwälzungen von 1848/49, also ab etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts, ist Deutschland im juristischen Sinne ein „Verfassungsstaat“ (obwohl bereits in Artikel 13 der Bundesakte von 1815 die Einführung von „landständischen“ Verfassungen vorgeschrieben wurde).
Die „Verfassungsidee“ selbst aber entstammt der Zeit der Aufklärung, also aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Diese war eingebettet in einen epochalen Wandel des gesamten Rechts- und Staatsdenkens und ihrer „Ideen“ seit Ende des 17. Jahrhunderts; mit der aufkommenden Naturrechtslehre stellt dies somit eine zwingende Voraussetzung für das Zeitalter der europäischen Aufklärung dar. Im Mittelpunkt stand die Idee einer Objektivierung des Staates im Sinne eines überindividualistischen oder auch transpersonalen „Gebildes“ mit positiven wie negativen Kompetenzen. Es waren besonders die Lehren Immanuel Kants, dessen Pflichtethik auch für eine moderne Gemeinwohltheorie nutzbar ist, der den künftigen Herrschern ab dem 19. Jahrhundert (bzw. auch noch den heutigen Politikern) ins Stammbuch schrieb, der Staat als solcher habe gar keine Kompetenz über den einzuschlagenden politischen Weg letztverbindlich zu bestimmen, „weil Politik nicht eine Frage von richtig und falsch, sondern von Meinung und Wertentscheidung“ sei. (27)
In diesem Zusammenhang begann auch die „Verrechtlichung“ des politischen Bereichs, zumindest als Vorstufe eines liberalen Rechtsdenkens, so dass auch die Theorie von den Grundrechten als sog. Abwehrrechte gegenüber staatlichem Handeln entstehen konnte, die bis heute immer weiter ausgebaut worden ist.
Zwar existierten bereits vor dem Beginn des Zeitalters der Aufklärung, spätestens mit der Goldenen Bulle ab dem 14. Jahrhundert, eine Art von „Staatsgrundgesetzen“ (theoretisch zählen auch schon die Landfriedens-ordnungen aus dem 11./12. Jahrhundert dazu), doch das charakteristische Merkmal der Verfassungen modernen Typs besteht neben der Schriftlichkeit (Ausnahme: interessanterweise Großbritannien) in der Rationalisierung von Staatsorganisation einerseits und andererseits der Gewährung von „staatsbürgerlichen Rechten“ (oft auch als Grundrechte bezeichnet). Mit diesen staatsbürgerlichen Rechten war nicht nur der Übergang von Leibeigenschaft zur bürgerlichen (Rechts-)Person verbunden, sondern auch eine gedankliche wie begriffliche Auflösung der bisherigen Untertanenstellung. Die Umsetzung der Verfassungsidee war Voraussetzung für das Entstehen eines „Bürgertums“.
Dieses historische Resultat hatte natürlich verschiedene Voraussetzungen zu erfüllen gehabt, deren Ursachen einer längeren Entwicklungsperiode entsprangen und in den verschiedenen deutschen Regionen unterschiedlich stark ausgeprägt waren; aber unabhängig von regionalen“ Unterschieden in Berlin oder Wien, in Nord- und Süddeutschland, ihren eigentlichen Ausgang nahmen die maßgeblichen Entwicklungen im politischen Sinne 1789 in Frankreich. Die Jahre der französischen Revolution und die anschließende Napoleonische Fremdherrschaft haben politische, gesellschaftliche und geistige Entwicklungen bzw. Strömungen ausgelöst, die einerseits irreversibel waren, andererseits weitere Schritte und Prozesse ermöglichten.
Rein machtpolitisch sind zu nennen: Durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 wurden die allermeisten der (eigentlich schon längst überholten) kleinen Landesherrschaften aufgelöst, sie verschwanden einfach von der politischen Landkarte Mitteleuropas. Zunächst von Österreich (1808/09) und erst später von Preußen (1812/13) ging eine „patriotische“ Welle zumindest durch Teile der deutschen Bevölkerung, sich gegen die französische Besatzungsmacht oder zumindest Bedrohung aufzulehnen, aus der sich dann eine „Nationalbewegung“ entwickeln konnte (nicht mit „Nationalismus“ heutiger Konnotation zu verwechseln). Diese politische „Bewegung“ bedurfte auch einer geistigen (philosophischen) Grundlage und Begleitung; der „deutsche Idealismus“ (von Kant über Fichte zu Hegel, um nur drei der wichtigsten Denker zu nennen) war geradezu denknotwendig, damit ein „geistiger Überbau“ vorhanden war, ohne den die gewaltigen (teils auch gewalttätigen) Umwälzungen nicht erklärbar sind. Die maßgeblichen politischen und geistigen Veränderungen oder gar Verschiebungen blieben aber unvollständig, wenn man die gesellschaftlichen (sozioökonomischen) Aspekte außer Betracht lässt.
Wenn man so will, war es diese ganz spezielle Gemengelage aus Dialektik und Liberalismus, aus frühkapitalistischer Zukunftsbejahung und Wissenschaftsgläubigkeit auf der einen und erzkonservativen Vertretern von altständischen Vorstellungen sowohl in Österreich als auch in Preußen, die eigentlich zur Verteidigung ihrer angemaßten Vorrechte zusammen als Bundesgenossen hätten agieren müssen (aber wegen des konfessionellen Unterschieds meist getrennt waren), auf der anderen Seite, welche die politische Entwicklung in Deutschland zur Mitte des 19. Jahrhunderts bestimmten.
Somit war die Entwicklung hin zum Verfassungsstaat, wie ansatzweise dargestellt, von unterschiedlichen Bedingungen geprägt. Doch sollte an dieser Stelle eine These des Staatsrechtlers und Ökonomen Lorenz v. Stein (wie Bismarck 1815 geboren) Beachtung finden:
„Das Verfassungsrecht entsteht nicht aus dem Recht der Gesetze, sondern aus dem Recht der Verhältnisse“. Diese ließen in Preußen aber nur einen »Scheinkonstitutionalismus« zu, wie der heutige Verfassungsrechtler Grimm hierzu anmerkt. (27a)
Ähnlich wie ca. 300 Jahre zuvor der Übergang von der sog. Landesherrschaft zum „Territorialstaat“ einen Einschnitt bedeutete, wodurch jedoch ein Schritt hin zur Objektivierung von „Staatsgewalt“ als solcher erreicht wurde, sind derartige Änderungen auch immer mit Widerständen verbunden.
Ausgangspunkt für die Neuordnung der politischen Verhältnisse wie auch der nahezu gleichzeitig einsetzenden Widerstände war der Wiener Kongress. Einerseits mussten dort die Hinterlassenschaften der Autokratie Napoleons beseitigt werden (was schon schwierig genug war), andererseits setzte mit der „Restauration“ die Gründung des „Deutschen Bundes“ ein, einer ganz eigenartigen völkerrechtlichen Konstruktion, deren Grundkonzept höchstens bewahrenden (konservierenden) Charakter hatte, aber sicher keine progressiven Kräfte oder Impulse ausstrahlte.
Dies sieht man an der zögerlichen Haltung, welche die allermeisten Majestäten, vor allem natürlich der König von Preußen und der Kaiser von Österreich, gegenüber dem sog. Konstitutionalismus eingenommen haben; dieses „Prinzip“ widersprach der damals üblichen Legitimationsgrundlage des sog. Gottesgnadentum, das sich im „monarchischen Prinzip“ spiegelte. (28)
Dieses auf dem Gottesgnadentum des Herrschers basierende monarchische Prinzip war auch für Bismarck ein wesentliches Strukturmerkmal (daher auch seine Ablehnung der politischen Parteien, besonders des Liberalismus, und des Parlamentarismus insgesamt) und Ausgangspunkt seiner eigenen Theorie zur „Legitimität“. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Bismarck einen ganz besonderen „Kronzeugen“ für sein Verständnis von „Legitimität“ hatte: Talleyrand. (29)
Bismarck nennt in seinen Memoiren den von Talleyrand genutzten Begriff von Legitimität „als eine täuschende Zauberformel“ (wobei sich fragt, auf wen dies ein schlechteres Licht wirft).
Es ist daher alles andere als zufällig, dass mit dem Aufkommen des Konstitutionalismus (wodurch das Staatsoberhaupt, in der Regel ein „Monarch“, der die „Staatsgewalt“ repräsentiert, durch formelle Verfassungsvorschriften juristisch eingeschränkt wird, indem ein Parlament bei bestimmten Angelegenheiten mitbestimmen kann oder gar zustimmen muss, wie beim Budget- u. Haushaltsrecht oder militärischen Fragen) im Laufe des 19. Jahrhunderts auch das Verhältnis von Staat und Gesellschaft neu justiert wurde.
Teilweise noch bis weit nach dem Wiener Kongress galt in vielen Staaten das traditionelle Machtverhälnis von Obrigkeit und Untertanen (im Prinzip basiert auf diesem Über-/Unterordnungsverhältnis das gesamte Verwaltungs-, ganz besonders das Polizeirecht in Deutschland bis heute). Dies hing vor allem mit den nur langsam zurückgedrängten feudalen Strukturen des Grundeigentums zusammen; solange noch (spät-)feudalistische Verhältnisse vorlagen (so galten die alten „Gesindeordnungen“ noch bis zum Untergang der Monarchie und wurden erst mit „Aufruf“ des Rates der Volksbeauftragten v. 12.11. 1918, dort unter Nr. 8, mit Gesetzeskraft aufgehoben – bis dahin gab es im Kaiserreich noch über 40 dieser Gesindeordnungen, nicht nur in Preußen), war auch die Gesellschaftsordnung eher rückständig.
Gerade die (einfache) Landbevölkerung befand sich bis 1918 im Zustand faktischer Entmündigung (an „modernen Massenmedien“ gab es nur Zeitungen bzw. Journale, die teuer und meist nur im Abonnement zu beziehen waren, so dass halbwegs unabhängige Meinungsbildung erschwert war; das Kino als erschwingliche Form von Unterhaltung und Informationsquelle kam erst nach dem Ersten Weltkrieg in die Großstädte), da insbesondere die ostelbischen Rittergutsbesitzer und Grundherren nichts unversucht ließen, ihre angestammten Herrschaftsrechte, die sich mit dem Grundeigentum ergaben, wie z.B. auch polizeiliche Befugnisse oder gar solche der niederen Gerichtsbarkeit, zu verteidigen (die Junker hatten vor 1918 das Ohr der kaiserlichen Regierungen, oft in stärkerem Ausmaß als die „Ruhrbarone“, nach 1925 das von Reichspräsident Paul von Hindenburg).
Erst durch eine regelhafte Einschränkung der „Obrigkeit“ in einem Verfassungsstaat konnte sich auch eine selbstbewusste Gesellschaft (die sich somit ihrer „Mündigkeit“ im Sinne Immanuel Kants bewusst werden konnte, was auch Verantwortung bedeutet) herausbilden; dies blieb jedoch meist bürgerlichen Kreisen vorbehalten. In Deutschland, aufgrund der staatlichen Zersplitterung bis weit über die Jahrhundertmitte hinaus, kam es zu Verzögerungen bei diesem zivilisatorischen Prozess, der dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts („Wilhelminismus“) auch schon wieder stark gebremst wurde.
Trotzdem war mit der Durchsetzung des Prinzips des „Konstitutionalismus“ der Grundsatz des modernen Gesetzgebungsstaates (zumindest auf dem Kontinent) unumkehrbar geworden; allerdings stellte sich seitdem „die Frage nach dem Rechtfertigungsgrund der Staatsgewalt“ neu bzw. mit anderer Schwerpunktsetzung:
„Diese Legitimitätsfrage konnte weder zur Zeit der Reichsgründung noch rückblickend heute einfach mit dem monarchischen Prinzip oder dem Prinzip der Volkssouveränität beantwortet werden. Bismarcks Reichsverfassung scheint sich beider Modelle zu bedienen und, ohne sich festzulegen, weitere Basiselemente politischer Macht hinzuzufügen: einen alleinherrschenden Kanzler und ein von der monarchischen Idee losgelöstes, nationales Kaisertum.“ (30)
Dieses neu konstruierte Staatsgebilde des Deutschen Reiches löste daher einige Verwirrung aus: sowohl bei Fragen der allgemeinen Staatslehre als auch in der politischen Praxis. Solange mit dem eingespielten Duo von Kaiser Wilhelm I. und einem absolut berechenbaren Kanzler Bismarck (in Personalunion beinahe auch die ganze Zeit über Ministerpräsident Preußens) genügend Stetigkeit und Verlässlichkeit im Inneren und – mindestens genauso wichtig – in der Außenpolitik vorhanden waren, blieb diese Verwirrung ohne Folgen. Spätere Reichskanzler waren jedoch leider nicht mehr so geschickt, die Widersprüche zu überbrücken und die negativen Folgen eines „Brausekopfes“ (Bismarck über Wilhelm II.) in den Griff zu bekommen.
Ganz unabhängig von den verschiedenen Theorien zur allgemeinen Staatslehre, kann als Zwischenergebnis festgehalten werden, ohne Bismarcks politische Hauptleistung, die Reichsgründung 1871, grundsätzlich in Frage zu stellen:
„Keine politischen Einrichtungen, keine Institutionen und Verfassungsordnungen sind von ewiger Dauer, doch sie können im einzelnen Fall ein langes Leben haben, sie vermögen dem politischen und gesellschaftlichen Leben Stabilität und wenigstens ein gewisses Maß an Sicherheit zu geben. Das gilt für die Verfassung wie für die Verwaltung eines Staates gleichermaßen (…). Das ist Bismarck, wie wir heute wissen, in den Jahren nach 1871 nur zum Teil gelungen“. (30a)
Mit dem Erstarken des Verfassungsgedankens wurden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts aber zunächst auch die beiden zugrunde liegenden politischen Fundamente für eine Verfassung, Staat und Gesellschaft, besonders angesprochen. Die vor allem in Deutschland scharf getrennte Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft geht u.a. auf die Philosophie Hegels zurück (Ausfluss seiner dialektischen Methode). Beide sollten je unterschiedliche Funktionen einnehmen; die Trennung dieser beiden Bereiche wird gleichsam als „ein Charakteristikum der Verfassungspolitik“ (Dietmar Willoweit) bezeichnet.
Entsprach es dem „altpreußischen“ Denken von König Friedrich Wilhelm IV. (und auch größtenteils Wilhelms I.), dass zwischen dem autoritär-lenkenden Monarchen kraft göttlicher Befugnis und seinem Volk kein Blatt Papier Platz haben sollte, musste diese spezielle Auffassung auch dann zum Tragen kommen, als die Einführung der ersten Verfassungen unumgänglich wurde. Daher kann man diese Entwicklung des „deutschen“ Konstitutionalismus auch als kupierte Verfassungsgesetzgebung bezeichnen. (31)
Zwar war man in Süddeutschland früher bereit, durch Verfassungen das Verhältnis von Obrigkeit zu den Untertanen auf ein moderneres Gleis zu bringen (so war dort die Bereitschaft zum Zweikammersystem ausgeprägter bzw. wurden insgesamt die von Frankreich ausgehenden Ideen bereitwilliger aufgenommen), aber sowohl die Verfassung des Norddeutschen Bundes 1867 als auch die Reichsverfassung von 1871 waren stärker formalistisch und tendenziell konservativer ausgerichtet. So fehlen in beiden Verfassungen jedweder Bezug auf Grundrechte und als „Souverän“ (somit Träger des Staates bzw. Inhaber der Staatsgewalt) werden allein und ausschließlich die verbliebenen Bundesfürsten anerkannt (lässt man die drei Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck wegen ihrer „Geringfügigkeit“ außen vor), wie es jeweils in den Präambeln beider Verfassungen deutlich wird.
Der Bismarck-Biograph Kraus hat dieses ganz eigene System in etwa wie folgt beschrieben:
Die Stellung des Kaisers im Reich war stark, und das hatte Bismarck auch so gewollt, jedoch war die Macht des Monarchen keineswegs derart umfassend wie später oft dargestellt oder vermutet. Der Kaiser war nach dem Wortlaut der Verfassung nicht einmal Reichs- oder Staatsoberhaupt, sondern lediglich »Erster unter Gleichen« (primus inter pares) im Kreise der Reichsfürsten; eigentlich galt der Bundesrat in seiner Eigenschaft als höchstes Organ des Reiches zugleich als Inhaber der Souveränität in Deutschland. Auch wenn sich dies später etwas änderte und der Kaiser de facto die Stellung des deutschen Staatsoberhauptes einnahm, blieb er doch in den rechtlichen Rahmen der Reichsverfassung eingespannt. Die Stellung des Deutschen Kaisers war faktisch schwächer als die des amerikanischen Präsidenten, denn dieser war zugleich Regierungschef, während der deutsche Monarch nur durch Anordnungen und Verfügungen, die vom Kanzler gegengezeichnet waren, politisch agieren konnte; ein Regieren ohne oder gar gegen den Kanzler war deshalb nicht möglich. Vereinfachend: Bismarck hatte das seit 1848 bestehende System der konstitutionellen Monarchie kombiniert mit einzelnen, der Tradition des Deutschen Bundes entstammenden föderalen Elementen, auf das neue Reich übertragen, allerdings mit einigen vorher nicht dagewesenen, auf seine Person zugeschnittenen Eigenheiten. (32)
Vorteil dieses bundesstaatlichen Aufbaus war der Föderalismus als Gegengewicht zu einer autoritären Zentralgewalt; derselbe föderalistische Grundgedanke konnte aber auch als Nachteil gesehen werden – zumindest wenn aus sinnvollem Föderalismus engstirniger Partikularismus zu werden drohte, der eine gemeinschaftliche Zukunftsgestaltung behinderte bzw. zu einer Wiederholung des bekannten Dualismus führte (statt des bisherigen Gegensatzes von Österreich und Preußen konnte ein Gegensatz zwischen reichseinheitlichen Interessen und speziellen Einzelinteressen Preußens aufkommen). Außerdem war ohne ein Mindestmaß an Rechtsvereinheitlichung kein gemeinsamer Staat zu machen. Auf den Gebieten der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Ökonomie (Maße, Gewichte, Währung) war dies kein Problem, da insbesondere im Zollverein bereits wertvolle Vorarbeit geleistet wurde. Auf dem Gebiet des Wahlrechts blieben die unterschiedlichen „Systeme“ bis 1918 erhalten; auf Reichsebene und in den süddeutschen Ländern gab es ein relativ „modernes“ Wahlrecht, in Preußen konnte das „Dreiklassenwahlrecht“ nie überwunden werden.
Insofern kann auch von einer „gesplitteten“ Legitimität gesprochen werden (vergleichbar mit der „kupierten“ Verfassungsgesetzgebung). Auf Reichsebene bzw. in den Bundesstaaten, wo es ein allgemeines Wahlrecht gegeben hat, war die Legitimation der Gesetzgebung größer, weil das Gewicht der Wählerstimmen der mathematischen Zahl der (abgegebenen) Stimmen entsprach (Motto: one man, one vote), als in Preußen, das dem feudal geprägten Zensuswahlrecht folgte (the rich man rules); der „reiche Mann“ entstammte dem grundbesitzenden Landadel und dem Besitzbürgertum: den Fabrikanten oder „Couponschneidern“. (33)
Derartige strukturelle Auffälligkeiten oder gar Ungleichgewichte waren (zumindest auf längere Sicht) viel eher geeignet, in der Innenpolitik die Ursachen für Desintegration und das Aufkommen von Ausgrenzung oder gar Verfolgung nationaler oder kultureller Minderheiten zu begründen. (34)
Solche Auffälligkeiten und Besonderheiten waren aber nicht nur auf der Ebene der großen Politik ausgeprägt, sondern vielmehr auch im ganz normalen Alltag vorhanden. „Staat, Verwaltung und Justiz“ im Kaiserreich, diese Merkmale sind unter verschiedenen Gesichtspunkten für die Entwicklung ab 1870/71 bedeutsam. Dabei ist diese Aufzählung ganz bestimmt nicht abschließend und erschöpfend: Grund für genau diese Trias ist, dass es sich um wesentliche Merkmale im ersten deutschen „Nationalstaat“ handelt, die auch nach dem Untergang der Monarchie von überragender Bedeutung geblieben sind, aber auch schon im gesamten 19. Jahrhundert die Entwicklung in Deutschland prägten.
II) Verwaltung, Justiz und ähnliche Organe im Alltag des Kaiserreichs
Wie bereits angesprochen, sollen einige besondere Strukturmerkmale, die als Stützen des Kaiserreichs angesehen werden müssen, auf ihre Krisenanfälligkeit betrachtet werden; insoweit kann die Kontinuitätsfrage auf einer „Sub-Ebene“ verfolgt werden. Stützen eines Systems mussten schon immer besondere Voraussetzungen erfüllen; daraus haben sich meist auch innere Besonderheiten herausgebildet (in der Soziologie wird von „selbstreferentiellen“ Systemen gesprochen).
1) Preußen als Prototyp einer Militärmonarchie
Spätestens ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (während des Regimes des Großen Kurfürsten hatte sich die Fläche des preußischen Staatsgebiets um mehr als 1/3 vergrößert) stand das Militärwesen im Mittelpunkt der Staatsräson. Dies hat sich bis zum Untergang der Monarchie im November 1918 auch nicht mehr geändert. Das Sonderbewußtsein und die Sonderstellung vor allem des Offiziersstandes war besonders ausgeprägt; nicht erst während der Weimarer Republik gab es die Kennzeichnung von einem Staat im Staate. (35)
Von Carl v. Clausewitz ist eine Dienstanweisung aus dem Jahre 1812 bekannt, Der Geist der Armee und der Sold: „Eine Armee, die auf ihrem eigenen Grund und Boden für ihr höchstes Interesse ficht, kann und muß nicht wie ein Haufen Söldner betrachtet werden. (…) Die höchste Entsagung in allen Dingen des Luxus und Überflusses muß der Geist dieser Armee sein. (…) Der Kampf fürs Vaterland ist der höchste Lohn fürs Verdienst, der mächtigste Reiz fürs Talent.“ (36)
In einem Handbuch für das Militärrecht v. 1826 wird zu den Staatspflichten der Militärpersonen ausgeführt: „Da in einem rein monarchischen Staate wie dem preußischen die Staatsgewalt sich in der Person des Monarchen konzentriert, so lassen sich die Standespflichten der Militärpersonen auf die beiden Pflichten der unbedingten Treue gegen den König und des unbedingten Gehorsams gegen dessen unmittelbare oder mittelbare Befehle zurückführen, indem sich aus ihnen alle anderen militärischen Standespflichten herleiten lassen.“ (37) Hierzu zählt natürlich auch der ganz spezielle preußische Fahneneid.
Diese Charakterisierungen spezieller soldatischer Tugenden in der preußischen und später auch der reichsdeutschen Armee blieben ja nicht nur theoretische Anleitungen, sondern wurden insbesondere in den Kadettenanstalten bis zum Spießrutenlaufen täglich durchexerziert.
Was sollten diese an Drill und absoluten Gehorsam gewöhnten (meist blutjungen) Soldaten machen, als im November 1918 von jetzt auf gleich alles verloren war und seine „Majestät“ ins Exil flüchtete?
Viele klammerten sich an den (letzten) Strohhalm und gingen ab Jahresbeginn 1919 in die zahlreichen Freikorps; von dort – besonders nach dem gescheiterten Kapp-Putsch – entweder direkt in den rechtsterroristischen Untergrund (besonders zur „Organisation Consul“ und ähnlichen Organisationen) oder in paramilitärische Vereine, wie dem Vorläufer der späteren „SA“ (ganz zufälligerweise wurde Hitlers Sturmabteilung von Offizieren aus Ehrhardts Brigade gegründet bzw. ausgebildet). Die personellen und organisatorischen Überschneidungen zwischen ehemaligen kaiserlichen Offizieren und Hitlers Schlägertrupps sind offensichtlich; ein Grund, warum sich der braune Sumpf ab 1920 gerne in München aufhielt und dort auch unter besonderem Schutz stand (viele der ehemaligen „Kaiserlichen“/Monarchisten erhofften sich, von Bayern aus die Monarchie zu restaurieren – Kronprinz Rupprecht war dem nicht abgeneigt, gab es ihm doch ein Gefühl der Genugtuung gegenüber dem preußischen Kronprinzen, der ja Anfang der 1920er Jahre noch in seinem holländischen Versteck bleiben musste. Wie viele andere auch, musste der Wittelsbacher allerdings spätestens nach 1933 feststellen, dass die „Ordnungszelle“ Bayern ein Holzweg war und man damit einem Verrückten den Weg bereitet hatte. Ob der letzte bayrische Kronprinz zu diesem Zeitpunkt wirklich ein glaubwürdiger Gegner Hitlers war, kann hier nicht beurteilt werden, er musste aber ins Exil, seine zweite Ehefrau und einige der Kinder jedoch kamen Ende 1944 ins KZ; die SS nahm auf königliche Abstammung keine Rücksicht).
Natürlich kann diese besondere Entwicklung, dass zumindest Teile der ehemaligen kaiserlichen Offiziere entschiedene Gegner der Weimarer Republik und sogar glühende Anhänger Hitlers wurden, nicht direkt mit dem politischen und auch verfassungsrechtlichen Akt der Reichsgründung von 1871 in Verbindung gebracht bzw. als ursächlich betrachtet werden; aber das Problem waren die Mentalitäten und durch Sozialisation verinnerlichten „Weltanschauungen“.
Der wilhelminische Untertanengeist verkörperte sich nirgends so entschieden und nachhaltig wie in der Armee bzw. dem Offizierskorps (der Reserveleutnant als gesellschaftliches Aushängeschild), was sich auch in der Verfassung von 1871 (vor allem in Artikel 63 und 64) widerspiegelte.
Daher wäre zumindest auf dieser Ebene eine Antwort auf die Frage nach Kontinuitäten gefunden, auch wenn die Gründung des ersten deutschen Nationalstaates hierfür lediglich indirekt ausschlaggebend gewesen ist. Denn selbst wenn die starke Stellung von Militär und der Offiziere ab 1871 auch auf Reichsebene begründet war, hieß das noch nicht automatisch „Krieg in Sicht“: Die Entwicklungen, die im Sommer 1914 zum Krieg führten, spielten sich auf ganz anderen Politikfeldern ab, nicht im Bereich von „Staat und Verfassung“.
2) Verwaltung/Bürokratie
Eine zweite, besonders wichtige Stütze sowohl im preußischen Staat als auch für den deutschen Nationalstaat waren die unzähligen Beamten und Staatsdiener. Die oben skizzierte Entwicklung zum „Verfassungsstaat“ musste natürlich auch deren Status berühren:
„»Wir wollen jetzt aus dem herauskommen, was uns der Polizeistaat der letzten Jahrhunderte gebracht hat. Wir wollen den Rechtsstaat auch für Deutschland begründen, und zwar in seiner Consequenz (…) und die Bildung der Zeit es fordert. Es soll die Bevormundung entfernt werden, die von oben her auf Deutschland lastet«. Diese Worte des Professors Georg Beseler in der Frankfurter Paulskirche 1848 zeigen, was der bürgerliche Liberalismus unter dem vieldeutigen Wort „Rechtsstaat“ verstand. Polizeistaat: das war der Obrigkeitsstaat, der dem „beschränkten Untertanenverstand“ nichts zutraute und den Menschen von oben herab verordnete, was zu ihrem Besten diente. Im liberalen Rechtsstaat dagegen sicherten die Grundrechte eine Sphäre bürgerlicher Freiheit, wo jeder in eigener Verantwortung wirken konnte. Zur Freiheit des Staatsbürgers gehörte aber auch, daß er durch seine gewählten Abgeordneten an der Gesetzgebung mitwirkte. In letzter Konsequenz war der Rechtsstaat also Verfassungsstaat. Nach 1848 wurden Gegensätze sichtbar.“ (38)
Wenn in unserer Sprache bis heute noch Ausdrücke wie „Staatsbüttel“ oder „Lakai“ vorhanden sind, wird deutlich, wie lange schon bestimmte Vorstellungen über Beamte (heute politisch korrekt: MitarbeiterInnen im öffentlichen Dienst) im Sinne von „herrschaftlichen Dienern“ existieren. Bis an die Schwelle des 19. zum 20. Jahrhunderts verkörperte der Beamte die unumschränkte Herrschaftsmacht des Staates. Erst mit dem Aufkommen erster „sozialstaatlicher“ Organe, wie z.B. den Versicherungsämtern, oder Einrichtungen der sog. „Daseinsvorsorge“ (ein Begriff, der allerdings erst in der NS-Zeit von Ernst Forsthoff geprägt wurde), setzte auch ein Wandel im Verhältnis der Bürger zu den staatlichen Mitarbeitern ein.
Gegensätze blieben aber noch lange vorhanden, weil diese – wie bereits Beseler (Jurist und Germanist) 1848 vor der Nationalversammlung, der er als Anhänger des rechtsliberalen „Casino“-Flügels angehörte und als Berichterstatter im Verfassungsausschuss für die Grundrechte auftrat, festhielt – über einen sehr langen Zeitraum entstanden waren. Prof. Beseler war selbst Opfer staatlicher Willkür, allerdings seitens der dänischen Regierung: erst wurde ihm die Zulassung als Rechtsanwalt in Kiel verweigert, weil er nicht den Eid auf den dänischen König ablegen wollte, so dass ihm als Folge auch nicht die königliche Genehmigung zur Doktorwürde erteilt wurde (konnte er erst in Preußen erwerben und später auch habilitieren). Trotz der staatlichen Zersplitterung in der Zeit des sog. „Vormärz“, wenn es um Repression oder auch staatliche Willkür ging, waren sich die Herrscher im Deutschen Bund (egal ob in Berlin, Wien oder Hannover, sogar der dänische König) erstaunlich einig: Dank der umfassenden Befugnisse der „guten Policey“ und der vom österreichischen Kanzler Metternich vorgegebenen Staatsdoktrin („Ruhe als erste Bürgerpflicht“) hatte sich die Vorstellung vom Nachtwächterstaat durchsetzen können. Man könnte aber auch von zwei Krebsgeschwüren sprechen: Bürokratie und Fürstenwillkür, die beide mit dem Phänomen des Polizeistaates zusammenhingen.
Diese in Deutschland gleichsam historisch gewachsene Erscheinung führte im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts natürlich auch zu konkreten Forderungen: „Eine wichtige Voraussetzung des liberalen Rechtsstaats war die Trennung von Justiz und Verwaltung. In den höheren Instanzen hatte sie sich schon im 18. Jh. weitgehend durchgesetzt, wenngleich die Bezeichnung mancher Obergerichte als Justizkanzlei oder Regierung noch lange an ihre Herkunft aus dem alten Regierungskollegium von Kanzler und Räten erinnerte. Auf der untersten Stufe aber waren Verwaltung und Gerichtsbarkeit noch lange vereinigt, und zwar in der Hand des Amtsmanns (…). Nach den Befreiungskriegen dauerte es Jahrzehnte, bis alle deutschen Staaten diese Reform durchgeführt hatten. (…) Einen neuen Anstoß gab die Revolution von 1848: in Preußen wurden Justiz und Verwaltung 1849 getrennt, in Hannover trat 1850 neben den Amtmann der Amtsrichter, und Baden folgte 1857. Der größte deutsche Staat war hier der letzte: nach einem vergeblichen Anlauf 1848 wurden in Österreich Justiz und Verwaltung endgültig erst 1867 getrennt.“ (39)
Man sieht, wie schwierig und auch langwierig diese Prozesse waren, bis aus unmündigen Untertanen zumindest formal rechtsfähige Staatsbürger werden konnten, die nicht nur theoretisch in den Landesverfassungen Grundrechte eingeräumt bekamen, sondern sich auch faktisch gegen staatliches Handeln wehren konnten. Dieser frühe Grundrechtsschutz stand aber stets „unter Gesetzesvorbehalt“ (eine rechtsdogmatische Besonderheit, die bis heute gilt, was dazu führt, dass jeden Tag die Verwaltungsgerichte mit der meist nachträglichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Behördenhandeln beschäftigt sind). Was heute aber einer bestimmten Regelhaftigkeit bzw. Rationalität unterliegt (und manchmal auch von Rechtsschutzversicherungen finanziell abgedeckt wird), stellte vor 150 Jahren viele betroffene Bürger vor große Probleme: Der „Staat“ saß meist am längeren Hebel, wenn bestimmte staatliche Maßnahmen durchgesetzt werden sollten – auch wenn z.B. die preußische Verfassung von 1850 viele bis heute anerkannte Rechtspositionen verbürgte.
Davon abgesehen, dass bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders in ländlichen Gebieten der Analphabetismus stark verbreitet gewesen ist, so dass – auch wenn es sich um ein Stereotyp handelt – viele Tagelöhner und Kleinbauern (die Masse der Besitzlosen) gar nicht lesen konnten, was die Staatsmacht per Dekret von ihnen verlangte, war das Behördendeutsch bzw. die seit dem Mittelalter gelehrte Kanzleisprache dem Volk meist unverständlich. Außerdem war der deutsche Michel seit Urzeiten gewöhnt, die qua Dienstuniform verkörperte Autorität eines Beamten ungefragt zu akzeptieren; je schneidiger ein Feldschütz oder Gendarm auftrat, umso größer war der zu erwartende Respekt.
Nicht ohne Grund gehörten daher auch bei den Beamten, den im preußischen Dienst stehenden allemal, die unbedingte Gehorsamspflicht und absolute Loyalität dem (Dienst-)Herrn gegenüber zu den höchsten Tugenden ihres Berufsstandes (absolut vergleichbar mit der Armee). Daher verwundert es nicht, dass im November 1918 auch viele Beamte (besonders die in höheren Rängen und Besoldungsgruppen) in einen tiefen Loyalitätskonflikt gerieten. Auch wenn der absolut größte Teil der Beamtenschaft (sowohl der Länder als auch auf Reichsebene) in die Weimarer Republik wechselte (insofern gab es ja auch keine Abrüstungsverpflichtung wie bei den Soldaten laut Versailler Vertrag und die vielfältigen Aufgaben auf dem Gebiet der „Fürsorge“ ergaben auch einen großen Personalbedarf im öffentlichen Dienst), die wenigsten waren echte „Republikaner“ oder überzeugte Demokraten.
Der typische „preußische“ Beamte kam daher im Normalfall auch viel besser mit dem autoritären bzw. totalitären Staatsverständnis im Dritten Reich klar als zuvor in der libertären, gar verwestlichten Republik. Gestalten wie ein Eichmann in der Ministerialbürokratie (oder ein Freisler bei Gericht) waren geradezu geschaffen für die bedingungslose Umsetzung der NS-Ideologie im Bereich der Verwaltung bzw. des öffentlichen Sektors.
Die bis 1918 überall gegenwärtigen „Sekundärtugenden“ waren das ideale Rüstzeug für alle administrativen Aufgaben während der NS-Zeit; auch und gerade unter den Bedingungen des Zweiten Weltkrieges.
Wie bei der Gruppe des Militärs, so finden sich auch bei den Beamten und Bürokraten auffällige Kontinuitätsmerkmale oder auch Erblasten, die aus der Kaiserzeit bis in die Nazizeit „exportiert“ werden konnten. Das obige Zitat Beselers aus der Paulskirche 1848 verdeutlicht, wie in Deutschland die Stellung der Polizei (lange synonym mit „Obrigkeitsstaat“) extrem vorbelastet gewesen ist. Viele der damals geäußerten Befürchtungen haben sich 1933 – 1945 wiederholt, aber auch nach 1949 noch lange (wenn auch in Uniformen mit neuen Abzeichen maskiert) bewahrt; so wurden z.B. in West-Berlin und anderen Universitätsstädten die Polizeiknüppel 1967/68 oft noch von der alten Garde gegen die protestierenden Studenten eingesetzt. (40)
Im Bereich der Beamtenschaft bzw. generell im öffentlichen Dienst ist allerdings in den letzten ca. 50 Jahren ein merklicher Funktionswandel eingetreten: weniger klassisches Eingriffsverhältnis (typische Polizeiarbeit), mehr Leistungs- und Mitwirkungsbereiche, insbesondere im Sektor des „Sozialstaates“, der immer größeren Umfang eingenommen hat. Dort wird natürlich kein „Untertanengeist“ mehr benötigt; problematisch wird aber diese moderne Aufgabendefinition, wo der Staat immer mehr „schutzstaatliche“ Funktionen übernimmt bzw. übernehmen will (nicht nur in Zeiten einer Pandemie). Anders gewendet: Wie viele „Schutzpflichten“ kann und soll ein Staat, dessen Wesensprinzip in der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ begründet liegt, übernehmen, ohne autoritäre Züge anzunehmen? Die von Bismarck geprägte Formel: „patriae inserviendo consumor“ kann auf einmal eine ganz neue, aber auch nicht ganz ungefährliche Bedeutung gewinnen.
3) Justiz
Als letzte große Gruppe der staatstragenden Funktionsträger, quasi als Ergänzung zu den Verwaltungsbeamten, sind die Richter und die Justiz im Allgemeinen zu betrachten.
Ähnlich wie bei den beiden anderen großen Gruppen, hat sich dort ein besonderer „Standesdünkel“ entwickeln können, nicht unbedingt im Sinne eines Korpsgeistes, aber nicht weniger ausgeprägt und arrogant. Rechnet man auch dort die besonders monarchistische Grundeinstellung hinzu, dann wundert es ebenfalls nicht, wenn viele Richter (vor allem an höchster Stelle) nach dem Umbruch vom November 1918 dem neuen Staat und seinen tragenden Institutionen skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Nach wie vor ein Musterbeispiel dieser „Frontstellung“ ist die Resolution des Richtervereins beim Reichsgericht vom Januar 1924 an die Reichsregierung, mit der sich Vertreter der Judikative gegen Rechtsetzungsakte der Reichsregierung bzw. auch des Reichstages wandten und unverhohlen damit drohten, geltendes Recht nicht anzuwenden, solange dies nicht den Vorstellungen der Richter am Reichsgericht entsprach; in der Sache ging es um Probleme der inflationsbedingten Aufwertung bestimmter Forderungen. (41)
Jetzt wäre es zu weit hergeholt, aus dieser „Frontstellung“ generell eine rechte Gesinnung bei der damaligen Justiz zu unterstellen. Viele der Richter, die in den Anfangsjahren der Weimarer Republik oft eigenartige Urteile sprachen (ob bei Entschädigungsansprüchen von Opfern gewaltsamer Unruhen 1919 und 1920 einerseits oder aber andererseits bei der großzügigen Behandlung der Fürsten, als diese enteignet werden sollten), waren in den späten 1930er und 1940er Jahren gar nicht mehr im Dienst, aber zumindest nicht automatisch glühende Anhänger Hitlers; bei der jungen Garde, die erst um 1930 in den Richterdienst eintrat oder sogar erst nach 1933 ihre Examen absolvierten (z.B. an besonderen Fakultäten wie der „Kieler Schule“), war dies naturgemäß anders – dort hat es viele überzeugte Anhänger des Nationalsozialismus gegeben.
Aber auch hier galt, wie bei fast allen anderen Berufsgruppen auch, dass viele Juristen nach 1933 hauptsächlich aus beruflichen Gründen der Karriere wegen in die NSDAP bzw. speziellen Unterorganisationen eingetreten waren (aber besonders schwer fiel es den wenigsten); die Alternative war ein Berufsverbot.
Wenn trotzdem einem großen Teil der Justiz während der NS-Zeit eine ausgeprägte Willfährigkeit vor der nationalsozialistischen Weltanschauung und der zumindest angestrebten NS-Rechtsordnung attestiert wird, wird dies meist mit dem Hinweis auf den sog. „Rechts- oder Gesetzespositivismus“ zu erklären versucht. Als „Positivismus“ wird allgemein eine geistesgeschichtliche Strömung bezeichnet, die eine übernatürliche Erklärung des Seins und der (Um-)Welt ablehnt, und stammt natürlich aus dem 19. Jahrhundert: ein Kind der damaligen Wissenschaftsgläubigkeit. Entscheidend sind demnach allein wissenschaftliche Zusammenhänge und positive Beweise. Dies wirkte sich in der „Jurisprudenz“ durch ein Streben nach einem reinen Normengefüge, sprich positiv gesetzter Begriffe aus – losgelöst von gesellschaftlichen oder auch geschichtlichen Ursprüngen und Bedingtheiten; es genügte die Feststellung gültiger Rechtsbegriffe und geltender Normen, ohne weiter Grund und Zweck der Staatstätigkeit zu hinterfragen.
War demnach eine Norm bzw. gesetzliche Regelung formal wirksam erlassen, galt diese ohne jede Einschränkung – ganz gleich welchen Inhalt sie hatte oder Zweck sie verfolgte. Anschauliche Beispiele: die sog. Nürnberger Rassengesetze 1935 oder die besonders drakonischen Strafen der Militärgerichtsbarkeit nach Kriegsausbruch (ja sogar noch bis weit in den Mai 1945 hinein, die Urteile der Marionettenregierung unter Admiral Dönitz, dessen Spuk ja erst am 23.05.1945 gegen 9.45 Uhr durch die alliierte Überwachungskommission in Flensburg beendet wurde, belegen dies).
Allerdings ist in der rechtsgeschichtlichen Forschung durchaus umstritten, wie weit die Bedeutung des Positivismus in der NS-Zeit tatsächlich reichte. Denn strenggenommen, waren viele Urteile und Verwaltungsakte gar nicht unbedingt dogmatisch konzipiert und begründet, sondern oft lediglich Ausdruck reiner Machtpolitik – losgelöst von normativen Vorgaben. (42)
Das betrifft z.B. auch die Frage der Legalität (nicht nur der Legitimität) der o.g. „Reichsregierung Dönitz“. Diese wäre ja eigentlich nur ein Treppenwitz der Geschichte, wenn nicht Mitte Mai 1945 ein „Gutachten“ vom „kommissarischen“ Reichsinnenminister Wilhelm Stuckart erstellt worden wäre, wonach Deutschland in Gestalt des „Dritten Reiches“ (somit als Völkerrechtssubjekt) durch die Kapitulation staatsrechtlich unberührt geblieben sei (lediglich mangels funktionierender Verwaltung sei bloß vorübergehend eine Handlungsunfähigkeit eingetreten, sog. Fortbestandstheorie). Diese durchsichtige Taktik wurde dann sofort von fast allen (west-)deutschen Staatsrechtlern aufgegriffen, um das „Kontinuitätsproblem“ in konservativem Sinne befriedigend lösen zu können. Als „Identitätstheorie“ fanden diese pseudowissenschaftlichen Thesen sogar Eingang in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (s. 1973 Urteil zum „Grundlagenvertrag“).
Gerade wegen dieser oft außerhalb der eigentlichen Gesetze und Rechtssätze entwickelten Urteile und juristischen Begründungen kann mit Recht behauptet werden, dass viele NS-Juristen eigentlich „antipositivistisch“ gedacht und gehandelt haben, dabei aber immer versuchten, den Anschein strikten Rechtsgehorsams zu wahren. Hilfreich waren dabei viele sog. „Generalklauseln“, mit deren Hilfe auch abstruse Ergebnisse rechtssicher in Urteilen begründet werden konnten (zu diesen offen formulierten Gesetzesbegriffen gehörten besonders die „guten Sitten“, „Treu und Glauben“ oder „allgemeine Verkehrsauffassung“). Letztlich galt jedoch: „Recht ist, was der Führer befiehlt“ oder auch „Recht ist, was dem Volke nutzt“; wer aber dann zur sog. Volksgemeinschaft zählte, bestimmte sich ausschließlich nach den NS-Anschauungen.
Diese „antipositivistischen“ Positionen und Strömungen (im Zivil- aber auch im Strafrecht) waren daher besonders vielgestaltig und führten bewusst zu einer „Umdeutung“ des formal geltenden (Privat-)Rechts im nationalsozialistischen Sinne. (43)
Daher hat sich in neueren Darstellungen vor allem zur Privatrechtsgeschichte in Deutschland der Begriff bzw. die Kategorie vom „völkischen“ Privatrecht während des Nationalsozialismus etabliert, um die Besonderheiten der Rechtsanwendung (durch den „Gesetzgeber“, soweit man hier überhaupt davon sprechen kann, aber auch und besonders durch die Justiz) zu charakterisieren. (44)
„Dafür wurde das Zivilrecht zum Hauptbetätigungsfeld einer ›neuen Rechtswissenschaft‹, die Vorstellungen wie das subjektive Recht oder die allgemeine Rechtsfähigkeit aller Menschen hinter sich lassen wollte. Die Rechtsprechung wurde durch Leitsätze auf eine entsprechende Umwertung des bestehenden Rechts ausgerichtet und eröffnete der NS-Ideologie vor allem auf dem Wege über die Generalklauseln den Eingang ins Zivilrecht. Das dunkelste Kapitel ist sicherlich die Entrechtung der Juden. Ihre Verdrängung aus dem Beamtentum 1933 und selbst das Verbot von Eheschließungen und außerehelichem Verkehr zwischen Juden und Nichtjuden (Nürnberger Gesetze 1935) vermochten Hitlerdeutschland erstaunlicherweise in der damaligen Welt noch nicht zu isolieren, wie die Berliner Olympiade von 1936 zeigte. Mit dem staatlich organisierten Judenpogrom vom November 1938 (von der Bevölkerung daher sarkastisch ›Reichskristallnacht‹ genannt) verschärfte sich die Verfolgung und Demütigung(…), bis endlich 1942 die Deportationen in die Vernichtungslager begannen. Bediente sich die Entrechtung lange der äußeren Formen des Rechts in Gesetz, Verordnungen und Ausführungsbestimmungen, so wurden doch selbst die Mordaktionen noch ›ordentlich‹ verwaltet. Die Frage nach der ›Rechtsauffassung‹ des Nationalsozialismus, die womöglich auch diesen ungeheuerlichen Massenmorden zugrunde lag, geht ins Leere. Schon die NS-Ideologie überhaupt war nur ein unklares Gemenge von Ideen, aus dem sich allenfalls das Führerprinzip, die völkische Idee und der Rassegedanke erkennbar hervorheben. Eine konsistente nationalsozialistische Rechtslehre gab es nicht.“ (45)
Alle Urteile, die unter Berufung auf „typische“ NS-Gesetze erlassen, verkündet und vollstreckt wurden, konnten – rein formalrechtlich – auf damals geltende Rechtsvorschriften gestützt werden, was dem Juristenstand generell zur Exkulpation dienen sollte (es gab nach 1945/49 nur wenige Ermittlungs- bzw. Strafverfahren gegen Richter und Staatsanwälte, die an sog. Unrechtsurteilen mitgewirkt hatten). Die Berufung auf den Satz: „Gesetz war Gesetz“ (ähnlich wie beim Militär: „Befehl war Befehl“) konnte in nahezu allen Fällen zur Straffreiheit von Richtern und auch Staatsanwälten führen; obwohl sich mit Gustav Radbruch, einem der bekanntesten Strafrechtler und Rechtsphilosophen der Weimarer Zeit, direkt nach 1945 ein renommierter Jurist und auch ehemaliger Reichsjustizminister (1921/23) fand, der die maßgebliche Formel vom „gesetzlichen Unrecht“ geprägt hat. (46)
Die umfassende Verrohung des „Rechtsgedankens“ (oder gar der „Rechtsidee“ im Sinne des Naturrechts) fand ja nicht nur auf den Kriegsschauplätzen, dort besonders an der Ostfront, statt:
„Seit dem Beginn des Rußlandkrieges 1941 breitete sich die Rechtlosigkeit auch im Inneren des Reiches immer weiter aus. Wer von der Justiz freigesprochen worden war oder seine Strafe verbüßt hatte, wurde oft genug von der Gestapo anschließend in ein Konzentrationslager gebracht oder erschossen. (…) Hitlers letzter Justizminister Thierack aber ließ 1942 der Gestapo gegenüber Juden, Polen Ukrainern und Zigeunern freie Hand und lieferte sie auch aus dem Strafvollzug zur ›Vernichtung durch Arbeit‹ aus. Zugleich nahm auch die Zahl der gegen Deutsche verhängten Todesurteile sprunghaft zu. (…) Als im Februar 1945, schon im Angesicht der Niederlage, Standgerichte geschaffen wurden, die als Strafe nur die Todesstrafe verhängen konnten, hatte der Terror des Regimes gegen die eigene Bevölkerung seinen Höhepunkt erreicht.“ (47)
Nur um eine ungefähre Vorstellung von den „nackten Zahlen“ zu erhalten: Bis Ende 1944 sollen allein von ordentlichen Gerichten auf dem regulären Staatsgebiet des Deutschen Reiches (inkl. Österreichs) rund 16.500 Todesurteile gefällt worden sein (allein der Volksgerichtshof fällte ab 1937 weit über 5200 Todesurteile); die Straftatbestände, die überhaupt die Todesstrafe vorsahen, wurden nach 1933 von zunächst drei bis 1943 auf 46 erhöht (binnen zehn Jahren also 43 zusätzliche staatlich sanktionierte Tatbestände mit Todesstrafe) – nicht ganz zufällig hing die Inflation bei den verhängten Todesstrafen mit dem miserablen Kriegsverlauf nach dem Fiasko in Stalingrad bzw. dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 zusammen.
Dies waren die „regulären“ Strafverfahren. Was im Verlauf des Kriegsgeschehens, vor allem „im Osten“, an politisch motivierten Tötungen, meist Massenerschießungen, die auch nicht durch die Bücher der Lagerverwaltungen gingen, erfolgten, ist völlig unbekannt. Die o.g. Zahlen beruhen auf statistischen Angaben vom Reichsjustizministerium bzw. des Reichsamtes für Statistik – je schlimmer die Kriegswirren wurden, umso schlechter war die Datenlage. (48)
Jedoch war es nicht nur dem Terror der „Gestapo“ bzw. des „Sicherheitsdienstes“ geschuldet, dass KZ-Haft, Folter und staatlich sanktionierter Mord zur Bekämpfung politischer Gegner, „Andersdenkender“ und „rassischer“ Minderheiten eingesetzt werden konnten, sondern auch die sich eingebürgerte „Normalität des richterlichen Berufsalltags“ hatte zu einer weitgehenden Rechtlosigkeit in Deutschland geführt. Dabei hatten sich – zumindest in den Anfangsjahren des Dritten Reiches – die Buchstaben der maßgeblichen Gesetze im Zivilrecht, aber auch der meisten Normen in den Strafgesetzen, vor allem im Strafprozessrecht (z.B. zur Prozessführung und Beweiswürdigung) überhaupt nicht geändert – die ganz „harten“ Strafvorschriften, wie die „Volksschädlingsverordnung“, sollten ja erst noch im Rahmen der Kriegsgesetzgebung folgen, genau wie die Vielzahl an „Sondergerichten“ (noch vor den „Standgerichten“) –, so dass zunächst bis weit in die Mitte der 1930er Jahre die „Rechtslage“ im Deutschen Reich unübersichtlich, gar verworren zu nennen ist:
„Insbesondere in den Fällen, in denen Juden, Kommunisten und andere vom NS-Regime Verfolgte vor Gericht standen, hatten sich die Richter mit den Widersprüchen zwischen den politischen und ideologischen Forderungen des Nationalsozialismus und der bestehenden Gesetzeslage auseinanderzusetzen. Möglicherweise hätten sie in dieser Situation den Verfolgten zumindest einen gewissen Schutz gewähren können, wenn sie sich Zurückhaltung auferlegt und auf eine Klärung der rechtlichen Unklarheiten durch den Gesetzgeber gewartet hätten. Die Gerichte beschritten jedoch zumeist einen anderen Weg, der (…) keinerlei Distanz, sondern vielmehr eine oft uneingeschränkte Zustimmung zur NS-Politik erkennen läßt.“ (49)
Wenn man dann aber ganz besonders berücksichtigt, dass Hitler und alle führenden Männer des NS- Regimes im Grunde die Juristen und die Rechtswissenschaft insgesamt verachteten, wird die willfährige Speichelleckerei (nicht nur) hoher Richter und Verwaltungsbeamter vor dem NS-System nur noch fragwürdiger und auch erschreckender. Dabei waren es nicht nur die „Praktiker“ in den Behörden und an den Gerichten, sondern auch die allermeisten der „Theoretiker“ an den Fakultäten für Staats- und Völkerrechtswissenschaften, die nahezu geschlossen ins Lager der braunen Machthaber wechselten. Dies hatte natürlich großen Einfluss auf die Studentenschaft.
Informelle Treffen und Veranstaltungen Mitte der 1930er Jahre führten dazu, dass sich in der Juristerei bestimmte dem NS-Regime freundliche Strömungen und „Schulen“ herausbilden konnten, die von exponierten Mitarbeitern im Reichsjustizministerium gefördert wurden; persönliche Verbindungen unter Jura-Professoren und Dozenten entstanden, die sehr wirkmächtig wurden – und auch noch nach 1949 blieben (bis auf wenige Ausnahmen, wo es tatsächlich Schluss war mit der universitären Laufbahn; aber Lehr- und Studienbücher verkauften sich immer noch).
Neben dem Machterhalt nahezu der gesamten „wilhelminischen“ Eliten während des verfassungsrechtlichen Umbruchs 1918/19, gehört es ebenfalls zu den (rechts-)soziologischen Tatsachen, dass der im Zeitalter des „Wilhelminismus“ propagierte und durchexerzierte Untertanengeist gerade unter der Funktionselite der Juristen nach 1933 zu einer vollständigen Pervertierung des Rechts auf allen Ebenen führte: insoweit liegt unbestreitbar eine Kontinuität vor.
Diese geistige Einstellung verschwand natürlich auch nicht am 8. Mai 1945 auf einen Schlag (unabhängig von der Einteilung der Besatzungszonen). Die Siegermächte ließen sich in der Nachkriegszeit bei der Neubesetzung der Beamten- und Richterstellen auch allzu oft blenden bzw. waren auch einfach überfordert.
Die Seilschaften hochrangiger Juristen in höchsten Verwaltungs- und Gerichtskreisen Westdeutschlands, die auch noch in der Bonner Republik unter Adenauer perfekt funktionierten, verhinderten noch Jahrzehnte lang eine umfassende und ernsthafte Aufklärung der Verbrechen von NS-Richtern und Staatsanwälten:
„Über die Frage, warum Recht und Justiz zu blutigen Instrumenten des NS-Herrschaftssystems pervertierten, gibt es eine Diskussion, deren Wurzeln bis in die Frühgeschichte der Bundesrepublik zurückreichen und die insofern ihrerseits bereits ein Stück deutscher Justizgeschichte ist. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches setzten die westlichen Alliierten zwar die NS-Gesetze außer Kraft, scheiterten aber an der Aufgabe des personellen Neuaufbaus der Justiz. Da die Kriminalitätsrate in den Nachkriegsjahren eminent hoch lag und man vom Berufsrichtertum nicht Abschied nehmen wollte, kehrte das alte Justizpersonal bis auf wenige Ausnahmen an die Gerichte zurück. Politisch Schwerbelastete besetzten in etlichen Fällen sogar wieder Spitzenpositionen. Ob man diese Justiz für demokratiefähig hielt, hing entscheidend davon ab, wie man ihre Rolle im NS-Regime einschätzte und erklärte. Die Mehrheit im Parlamentarischen Rat sah im Unterschied zu SPD und KPD keinen Grund, an den Richtern und Staatsanwälten zu zweifeln. (…) wissenschaftliche Untersuchungen schienen diese Beurteilung zu bestätigen. Sie zeichneten das Bild einer »leidenden Justiz« und schilderten, wie die Gerichte vom NS-Regime entmachtet und von NSDAP, SS und Reichsjustizministerium gelenkt worden waren. (…) Die Justiz sei gegenüber den nationalsozialistischen Unrechtsgesetzen ohnehin »wehrlos« gewesen.“ (50)
Heute wird – dank objektiver wissenschaftlicher Untersuchungen – weniger beschönigend bzw. verharmlosend über die Justiz während der NS-Zeit geurteilt:
„Eine nach dem Kriegsende zunächst sehr zögerlich und in neuerer Zeit – nicht zuletzt als Folge des Beitritts der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik – wieder neu aufgeworfene Frage betrifft die eigentlichen Ursachen, die für die Zerstörung der Rechtsordnung durch den Nationalsozialismus bestimmend geworden waren. Umstritten war das tatsächliche Gewicht eines weitgehend blinden Gesetzesgehorsams der Juristen. Unbefriedigend bewertet wurden auch Rolle und Anteil der Universitäten im Dienste einer grundlegenden »Rechtserneuerung« im Geiste des »Dritten Reiches« sowie der konkrete Umfang individueller Schuld ihrer aktiv an der Zerstörung der Rechtsordnung arbeitenden Mitglieder. Auch aus der zeitlichen Distanz von über 50 Jahren gibt es darauf immer noch keine eindeutigen, wissenschaftlich zureichenden Antworten.“ (51)
Die in den Nachkriegsjahren nur in Fachkreisen verhalten geführte Diskussion sollte der künftigen Justiz-Elite in der jungen Bundesrepublik das maßgebliche Argument, wonach das NS-Recht ein bedauerlicher Exzess des Gesetzespositivismus gewesen sei, liefern, um die Reihen wieder zu schließen und alte Pründe zu sichern. Die nur ungern gehörte Gegenansicht, die durch die damalige Justiz verkörperte Legitimationsfunktion habe eine rassisch-völkische Gesetzgebung gestützt bzw. ermöglicht, da der antiliberale und antidemokratische Grundcharakter dazu geführt habe, jedwede Art von „Gesetzen“ im NS-Staat willfährig zu vollziehen, war daher nicht „salonfähig“.
Im Gegenteil: Bis weit in die 1960er Jahre konnten sich auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung z.B. des Bundesgerichtshofs zu Entschädigungsfragen von Angehörigen bestimmter Opfergruppen Denkmuster, gar Formulierungen aus der NS-Zeit wiederfinden (vor allem bei der Gruppe der Sinti und Roma, was auch jetzt erst der Deutsche Bundestag so richtig begriffen hat, s. Bericht der „Unabhängigen Kommission Antiziganismus“, der erst vor wenigen Wochen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist).
Allerdings geht es hier nicht darum, bestimmte Opfergruppen gegeneinander auszuspielen. Genauso wenig sollte vergessen werden, dass in den o.g. Zahlen zu den verhängten Todesstrafen viele „reinrassige“ Deutsche waren – die Exzesse der militärischen Standgerichte betrafen sowieso praktisch nur Deutsche oder auch sog. Volksdeutsche bzw. „Hilfswillige“, die in der Wehrmacht oder auch in der Waffen-SS gewesen sind.
Eine unumstößliche Tatsache ist daher:
„Jedenfalls hatte der Nationalsozialismus das Rechtsbewusstsein vollständig korrumpiert. Dass dies in dem bekannten Umfang überhaupt geschehen konnte, ist eine der tragischsten und bittersten Erfahrungen der neueren deutschen Rechtsgeschichte.“ (52)
Doch nicht nur in der Justiz konnten sich nach 1945 (zumindest unstreitig auf dem Gebiet der alten BRD) wieder Strukturen und personelle Verknüpfungen/Seilschaften breitmachen, die bereits vor 1945 existierten; ebenso erfolgreich waren ehemalige NS-Juristen beim „Ergattern“ von Spitzenpositionen in der Ministerialbürokratie in Bonn: der ehemalige Referent im Reichsinnenministerium Hans Globke, der an verschiedenen Gesetzesentwürfen und Kommentaren zur Entrechtung deutscher Juden mitwirkte, wurde im Bundeskanzleramt für Adenauer „unentbehrlich“.
Und auch Eduard Dreher, am „Sondergericht“ Innsbruck/Feldkirch ein Anhänger der Todesstrafe auch bei kleineren Vergehen, war in den 1960er Jahren an zentraler Stelle im Bundesjustizministerium, als im Rahmen einer Gesetzesreform 1968 an unscheinbarer Stelle des Einführungsgesetzes zum „Ordnungswidrigkeiten-Gesetz“ eine umfangreiche Amnestieregelung für NS-Kriegsverbrecher platziert werden konnte; „Drahtzieher“ – faktisch und juristisch -, dass dieser Verjährungsskandal ins Gesetz geschrieben wurde und auch (bis zur nächsten Reform) in Kraft blieb, so dass in der Zwischenzeit zahlreiche Verfahren lapidar wegen Verjährung eingestellt wurden, war in erster Linie im Bundesjustizministerium der zuständige Referatsleiter Dreher (dieses besonders perfide Beispiel an „Kontinuität“ gelangte als „Fall Collini“ Jahrzehnte später einem breiteren Publikum als Buch und Film zur Kenntnis). Jedoch in einem wirklichen Rechtsstaat, bei dem die Gewaltentrennung tatsächlich funktionierte, hätte ein derartiger Justiz- und Gesetzgebungsskandal niemals erfolgen dürfen.
Daher sollte gerade dieses spezielle Kapitel des Unrechts der NS-Juristen und ihr Fortwirken auch nach 1949 – neben der allgemeinpolitischen Erinnerung – besonders im Gedächtnis bleiben; wenigstens in der hiervon betroffenen Berufsgruppe der „Rechtskundigen“. (53)
Es ist schon erstaunlich, dass in keiner Studien- oder Prüfungsverordnung für Jurastudenten in Deutschland eine Pflichtveranstaltung zum Totalversagen der deutschen Justiz während der NS-Zeit zum Fächerkanon gehört; es wären ja nicht nur die maßgeblichen Personen (Richter, hohe Beamte und Hochschulprofessoren) zu hinterfragen – auch was ihr Berufsleben nach 1945 betroffen hat –, sondern vielmehr die dogmatischen Strukturen (z.B. in den zahlreichen Verordnungen und Runderlassen), die zu einer effektiven Verkürzung oder gar Aufhebung von Bürger- und Grundrechten bzw. Rechtsschutzmöglichkeiten führten.
Hier begannen die führenden Vertreter des NS-Regimes keine vier Wochen nach Amtsantritt mit der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 (auch Reichstagsbrandverordnung genannt) ihre wahren Absichten zu zeigen – zunächst nahezu unbemerkt vom Publikum und bereits vor der ominösen Reichstagswahl vom 5. März 1933 (als die Gehirnprothesenträger um den ehemaligen Kanzler v. Papen und den Großindustriellen Alfred Hugenberg allen Ernstes glaubten, Hitler als Reichskanzler einengen oder gar steuern zu können).
Die in dieser „Verordnung“ (gestützt auf Artikel 48, Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung, was man nicht vergessen sollte) genutzten „Gestaltungsmöglichkeiten“, um weite Teile des bis dahin geltenden Verfassungsrechts mit einem Federstrich außer Kraft zu setzen, sollten jedem politischen Entscheidungsträger zu denken geben, wie schnell und einfach sich lieb gewonnene Errungenschaften in Luft auflösen können. Bereits in dieser frühen Verordnung wurde die Zahl der mit Todesstrafe belegten Verbrechen deutlich ausgeweitet, so in § 5 der Verordnung vom 28.02.1933 (abgedruckt im Reichsgesetzblatt 1933 Teil I, S. 83).
Müßig zu erwähnen, dass an den heutigen juristischen Fakultäten im wiedervereinigten Deutschland nicht nur keine Pflichtveranstaltungen zur NS-Zeit angeboten werden, sondern auch insgesamt die sog. „Grundlagenfächer“ verkümmern oder ein „sozialwissenschaftlicher“ Bezug meist völlig fehlt. Solange das Rechtssystem in Deutschland noch halbwegs funktioniert (wer aber hinter die Kulissen schauen kann, weiß jedoch, wie schnell ein Kollaps in den Landesjustizverwaltungen droht), mag diese „geistige Ausdünnung“ vielleicht noch tolerabel sein; sobald eine „Ausnahmesituation“ eintritt, braucht sich aber niemand zu wundern, wenn erneut die „Rechtsordnung“ sehr schnell eingeschränkt wird oder teilweise außer Kraft tritt, weil es die besonderen Umstände erfordern (im Februar 1933 war es die Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte; in Zeiten wie diesen wäre es z.B. die Feststellung einer pandemischen Lage).
Auch die seit langem geführten Diskussionen bei geplanten Änderungen von Landespolizeigesetzen oder von Befugnissen des Verfassungsschutzes (entweder zum sog. Gefahrenbegriff oder einer Vorverlagerung von Überwachungsmaßnahmen) zeigen sehr oft, wie schmal der Weg werden kann, der eigentlich zum Rechtsschutz führen soll. Unter dem Eindruck akuter Notlagen (oder das, was von interessierter Seite dafür ausgegeben wird, siehe 1933) können sehr schnell verfassungsrechtliche Standards ins Wanken geraten; selbst solche, die wie im Grundgesetz schon seit über 70 Jahren formal festgelegt waren.
Die oben erwähnte Anmerkung Lorenz v. Steins, Verfassungsrecht entstehe weniger infolge Gesetzesrechts, sondern genuin aus dem „Recht der Verhältnisse“, wurde in ähnlicher Weise von Carl Schmitt aufgegriffen, der als „Souverän“ charakterisierte, wer über den Ausnahmezustand herrsche. Den Schlusspunkt hinter die endgültige Auflösung des normativen Verfassungsbegriffs setzten dann eifrige NS-Juristen, die den Kern einer Verfassung in einer „ungeschrieben-lebendigen Ordnung“ sahen, in der die politische Gemeinschaft des deutschen Volkes ihre Einheit und Ganzheit finden sollte. Damit verlor die Verfassung jede Funktion als Maßstab für die Beurteilung und Begrenzung staatlicher Allmacht. (54)
An dieser Stelle kann daher zumindest festgehalten werden, dass die Frage nach Kontinuitäten sehr heterogen und vielgestaltig betrachtet und beantwortet werden kann. Da in diesem Abschnitt die drei besonderen Strukturmerkmale „Staat, Verwaltung und Justiz“ des Deutschen Reiches, wie es vor 150 Jahren konkret als „Verfassungsstaat“ gegründet wurde, näher untersucht werden sollten, lässt sich unter dieser Prämisse zumindest folgendes festhalten:
Es war weniger der Akt der Staatsgründung bzw. das Resultat der Nationalstaatsbildung als solcher, welche eine besondere „Weichenstellung“ in Richtung der katastrophenbehafteten Entwicklung Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewirkten und auslösten (was dann auch grundsätzliche Fragen für die deutsche Sonderwegsthese aufwirft), als vielmehr mentalitätsbedingte „Eigenheiten“ bei den staatstragenden Funktionseliten beim Militär, in der gesamten Staatsverwaltung und der Gerichtsbarkeit. Diese entweder mit Korpsgeist bzw. Standesdünkel behafteten Gruppen konnten nicht nur ein allzu starkes „Sonderbewußtsein“ (Karl Dietrich Bracher) ausprägen, sondern auch noch, gleich zweimal, ihren „Sonderstatus“ retten oder gar ausbauen: 1918/19 und nach 1933. Der Nexus mit der Nachkriegsentwicklung Westdeutschlands hinterlässt zusätzlich noch einen zwiespältigen Eindruck, diesen besonders fatalen Einfluss antidemokratischer Kräfte wirklich überwunden zu haben.
C) Schluss
Als der damalige preußische König Friedrich Wilhelm IV. die ihm von der Mehrheit der Abgeordneten der Frankfurter Paulskirche im April 1849 angebotene Kaiserwürde brüsk, geradezu erbost abgelehnt hatte (weil diese aus der „Gosse“ stamme), obwohl damit auch die „Lösung der deutschen Frage“ unnötig erschwert wurde, sollte es fast weitere 22 Jahre dauern, bis im Januar 1871 der deutsche Nationalstaat verwirklicht werden konnte – zwar wiederum mit einem Hohenzollern als Träger der Kaiserwürde (und verfassungsrechtlich ähnlichen Kompetenzen), doch zu einem deutlich höheren Preis; vor allem wenn man Bismarcks Blut-und-Eisen-Ideologie 1864/1871 in Rechnung stellt. Hinzu kommt, dass bei der eigentlichen Kaiserproklamation im Versailler Schloss keine offiziellen Vertreter der Zivilgesellschaft geladen waren, ausschließlich Angehörige der Armee und natürlich die Bundesfürsten bzw. ihre Vertreter.
Jedoch beweist dieses Resultat, dass die Reichsgründung gleichsam einer unaufhaltsamen Entwicklung entsprochen hatte: Diese hätte zwar – im Ergebnis ähnlich, aber im Ablauf grundverschieden – auch schon über zwanzig Jahre früher erfolgen können (zumindest nach der sog. Kleindeutschen Lösung), doch inzwischen waren einige Besonderheiten eingetreten, die im Rahmen der weiteren politischen Ereignisse zu berücksichtigen waren; zumindest ein Teil davon sollte im Rahmen der Beiträge zum Thema „150 Jahre Reichsgründung“ angesprochen werden.
Der technisch-wissenschaftliche Fortschritt, wesentlich durch die industrielle Revolution gefördert, fand besonders an den Universitäten Deutschlands teils begeisterte Aufnahme; auf allen Gebieten der heute als „MINT-Fächer“ bezeichneten Fachbereiche wurden im Kaiserreich wichtige Entdeckungen bzw. Erfindungen gemacht (damals wurde über die Grundlagen für den heutigen Wohlstand entschieden, ohne den auch kein Sozialstaat sinnvoll funktionieren kann). Die geradezu grassierende Technikgläubigkeit führte dann – aus heutiger Sicht erst richtig erkennbar – aber auch zu Problemen: von Umweltverschmutzung und Verschwendung natürlicher Ressourcen zu globalen Auswüchsen (Imperialismus) und Wettrüsten, hier besonders beim Flottenbau. Aber auch auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften (auf dem Deutschland vor der Epoche des Nationalstaates ja eigentlich führend war, Stichwort: „Dichter und Denker“) gab es neben Fortschritten auch eher unerfreuliche Entwicklungen: der Beitrag über Treitschke sollte darauf hinweisen.
Die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit im Kaiserreich (beide Freiheitsrechte gehören heute wie selbstverständlich zu den integralen Bestandteilen der Verfassung dieses Landes) waren (und sind in ähnlicher Form auch heute) nicht nur durch staatliche Einschränkungen wie der Zensur bedroht, sondern konnten auch durch individuelle Fehlgriffe in Misskredit geraten, vor allem wenn nicht rationale Gedanken (Theorien und Forschungsansätze etc.), sondern „private“ Befindlichkeiten oder Weltanschauungen in den Vordergrund traten. Bei Treitschke, immerhin ein Universitätsprofessor, kann man gleichsam exemplarisch beobachten und nachvollziehen, was bei Missachtung dieser Rationalitätsprämisse geschieht: Ein – vielleicht gar nicht „radikal“ gemeinter – Ausspruch, wie: „Die Juden sind unser Unglück“, wird von einem „dankbaren Publikum“ aufgenommen und zur Kampfparole stilisiert bzw. zum Untertitel einer Parteizeitschrift auserkoren und kann damit letztlich zur Rechtfertigung millionenfacher Morde dienstbar gemacht werden.
Was vor ca. 140 Jahren, als Treitschke seine Aufsätze publizierte, noch relativ lange dauerte, bis es sich herumsprach und ein Publikum fand, weil die Kommunikation sehr langsam war, kann heute binnen Sekunden weltweit verbreitet werden (und weil die allgemeine Hektik immer größer wird, nehmen sich noch weniger Menschen die Zeit, bestimmte Thesen und Aussagen anhand zugänglicher Fakten zu prüfen, als dies im Kaiserreich der Fall war; die „Diskussionskultur“ war damals insgesamt sachlicher).
Daher soll mit der Person Heinrich v. Treitschkes auch auf die Gefahren hingewiesen werden, die dann entstehen können, wenn die institutionelle Freiheit der Wissenschaft für die Verbreitung von akademischen Irrlehren oder zumindest zweifelhafter Ansichten genutzt wird. Noch mehr als Privatleuten obliegt es Wissenschaftlern, die Inhalte ihrer Forschung und Lehre am Maßstab rationaler (Soziologen würden sagen: diskursfähiger) Argumente auszurichten und zu verbreiten.
Eine ganz andere Richtung verfolgte der Beitrag über Bismarck: Man kann diesen Prototyp des preußischen Junkers mögen oder nicht (für beides gibt es nachvollziehbare Gründe), aber man sollte seine tatsächliche Bedeutung für die gesamte Entwicklung Deutschlands (politisch, gesellschaftlich und ideengeschichtlich) ab den frühen 1860er Jahren kennen. Es waren ja nicht „bloß“ die Staatsgründung oder die Grundlegung für ein modernes Sozialsystem (im positiven) bzw. der „Kulturkampf“ und die anschließenden Anti-Sozialistengesetze (im negativen), die mit seinem Wirken zu verbinden sind; ebenso bedeutsam waren sein Sinn für „Realpolitik“ und die von ihm vertretenen Theorien zum „Wesen des Staates“. Inneren Kämpfen mit sich und teils harten Auseinandersetzungen mit alten Weggefährten (wie den Brüdern Gerlach) war es zu verdanken, dass von Bismarck eine neue Interpretation staatlicher Legitimität ausging. Wie andere politische Denker zur selben Zeit auch (die aber weniger Einfluss hatten), begriff er, dass staatliches Handeln neu zu definieren war.
Obwohl alles andere als ein Demokrat oder gar Republikaner, wirkte Bismarck an einer „modernen“ Staatsauffassung mit, die eingebettet war in ein neues Denken von „Verfassung“ und der allgemeinen Staatslehre. Ohne diese Weiterentwicklung früherer Ansätze aus der Zeit der Aufklärung und neuen Begründungen z.B. zur Rechtsnatur des Staates (als einer juristischen Person bzw. „Gebietskörperschaft“ unabhängig von der Person eines Monarchen), wäre es nur schwer möglich gewesen, unterschiedliche Kompetenzen zu entwickeln und gegeneinander abzugrenzen – hier ist besonders an die Unterscheidung von Eingriffs- und Leistungsverwaltung zu denken.
Man kann ohne Übertreibung sagen, dass ohne Bismarcks Wirken der staatsrechtliche Übergang 1918/19 vom Kaiserreich zur Weimarer Republik (trotz aller heftigen Kämpfe und Verwerfungen) noch weit weniger reibungslos abgelaufen wäre; die alten wilhelminischen Eliten konnten davon ausgehen, dass sie im neuen Staat weiterhin gebraucht werden würden – Eberts Mehrheits-SPD tat ihnen auch diesen Gefallen. Dass aber zumindest ein Teil der alten Eliten noch so autoritär eingestellt blieb, dass diese die Republik nicht nur innerlich ablehnten, sondern nach 1930 sogar aktiv bekämpften, war nicht unbedingt vorherzusehen.
Diese Engstirnigkeit und Borniertheit kann man weder der Reichsgründung noch Bismarck persönlich ankreiden. Zumindest ist festzuhalten, dass der Begriff vom „Staat“ in der deutschen Geschichte eine eigentümliche Entwicklung durchlaufen hat. Das Wesen und die „Rechtsnatur“ des Staates haben sich gerade im Laufe des 19. Jahrhunderts gewandelt; jedoch auch in anderen europäischen Staaten wie in Frankreich. Insoweit kann nur von einer allgemeinen Entwicklung gesprochen werden, die maßgeblich von philosophischen Strömungen geprägt wurden. Besondere Auswirkungen hatten diese Strömungen im Verhältnis von Obrigkeit und Untertanen, so dass heute die Legitimation für staatliches Handeln gegenüber den Staatsbürgern (als Träger eben dieser Staatsgewalt) ganz neu begründet werden muss; diese unstreitig positive Entwicklung wurde (auch) durch die Gründung des ersten deutschen Nationalstaates ermöglicht.
Um diese Grundlage zu schaffen, war – zumindest aus damaliger Sicht – der steinige Weg über die drei Einigungskriege zu nehmen. Ob wirklich liberalere Ansätze und Ansichten – im direkten Vergleich zur konkreten Innenpolitik Bismarcks – möglich gewesen wären, wenn Friedrich III. früher an die Macht gekommen wäre (Herbst 1862) oder wenigstens länger gelebt hätte, bleibt wegen seines frühen Todes naturgemäß eher spekulativ. Völlig auszuschließen war dies aber auch nicht; zu wünschen wäre dies sicherlich, allein schon, weil dadurch der „Brausekopf“ Wilhelm Zwo (Bismarck über den damaligen Thronfolger) zumindest später und eventuell unter anderen, vor allem außenpolitischen Bedingungen, an die Macht gekommen wäre.
Ob eine spätere Thronbesteigung des letzten Hohenzollern auch wirklich ein friedfertigeres Deutsches Reich bedeutet hätte, bleibt ebenfalls im Bereich des Wunschdenkens – die Zuspitzung der gesamteuropäischen Konflikte und Konkurrenzverhältnisse (so besonders bei der Kolonialisierung, die zum „Imperialismus“ ausartete, aber auch in den kapitalistischen Wirtschaftsverhältnissen begründet war), hing ja nicht nur von einer Nation ab. Das Konzert der europäischen Großmächte zur Zeit des Wiener Kongresses war Ende des 19. Jahrhunderts völlig aus dem Takt geraten.
Die Frage, ob die Reichsgründung vor 150 Jahren nun tatsächlich als eine Weichenstellung unter vielen – also wenigstens mitursächlich – für die Katastrophen im 20. Jahrhundert aufgefasst werden kann, lässt sich wahrscheinlich überhaupt nicht objektiv und allgemeingültig beantworten.
Denn genauso gut hätte auch eine bereits 1848/49 erfolgreiche Staatsgründung zu außenpolitischen Konfusionen führen können; obwohl dann ganz andere Politiker bzw. Entscheidungsträger in Verantwortung gestanden hätten. Der Krimkrieg 1853/56 oder die Konflikte zwischen Österreich und der eigenartigen Koalition Frankreichs mit Teilen des künftigen Italiens 1859 wären ganz unabhängig von deutschen Ambitionen für eine „Reichsgründung“ entstanden. Die Außenwirkung dieser Ambitionen war von deutschen (besonders auch preußischen) Politikern nur schwer bis überhaupt nicht einzuschätzen.
Die preußische Militärmonarchie verkörperte idealtypisch das Model reaktionärer Obrigkeit, die einen ganz bestimmten Untertanengeist benötigte und daher auch konditionierte. Spätestens als mit dem Alldeutschen Verein und vielen anderen völkisch-rassistischen Kleinparteien ein bestimmtes gesellschaftspolitisches Klima geschaffen worden war, konnte nach dem verlorenen Weltkrieg, dessen wahren Ursachen und auch die eigentlichen Gründe für die Niederlage niemals aufgearbeitet wurden, eine negative Grundstimmung aufkommen, die als Keimzelle für rechtsradikale Strömungen diente, so dass der Entstehung einer Weltanschauungspartei wie der NSDAP nichts mehr im Wege stand.
Hitler hatte dann auch noch insofern Glück, dass die alten Eliten direkt nach dem November 1918 entweder unglaubwürdig geworden waren oder erst einmal „in Deckung gingen“.
Dort wo solche traditionellen Kräfte nach wie vor gebraucht wurden: Militär, Verwaltung und Justiz gab man sich nur wenig Mühe, die alten Gesinnungen zu verbergen. Insgeheim verharrte ein großer Teil der sog. Funktionseliten quasi im Wartestand, um bei passender Gelegenheit wieder die alten Plätze und Attitüden einzunehmen. Doch auch hier wurden viele vom „böhmischen Gefreiten“ aufs Kreuz gelegt.
Als „Trommler“ hatte Hitler noch in das gleiche Horn geblasen: unbedingte Revision des Versailler Vertrages, vor allem Beseitigung all der militärischen Restriktionen, und Wiederherstellung des alten Gesellschaftssystems. Doch als „Führer“ wurden ihm diese eigentlich reaktionären Forderungen maximal zweitrangig; primäre Ziele der NS-Diktatur ab dem ersten Tag waren Erhalt und Ausbau der eigenen Macht auf allen erdenklichen Ebenen. Der Totalitarismus als Staatsform hielt ab 1934 formal Einzug (spätestens mit dem Tod Hindenburgs), aber die Grundlagen für dieses besonders autoritäre Staatsverständnis wurden schon viel früher gelegt.
Die Reichsgründung von 1871 war sicher nicht die Ursache für Hitlers Aufstieg und für das „Dritte Reich“; bestimmte Prozesse der Ausgrenzung (zunächst des Katholizismus, sofort danach der politischen Arbeiterbewegung), der intellektuellen Nivellierung („Untertanengeist“) und der öffentlichkeitswirksamen Steuerung der Massen (sog. Augusterlebnis 1914) konnten aber als Blaupause für die politische Arbeit der NSDAP dienen. Der Obrigkeitsstaat preußischer Prägung verschwand zwar im November 1918 (zunächst) von der politischen Bühne, aber nicht die Menschen, die diesen Obrigkeitsstaat repräsentierten und auch bejahten, teilweise bedingungslos.
Das Problem staatlicher Allmacht – mag man es bildhaft mit den alttestamentarischen Begriffen von Leviathan oder Behemoth benennen oder moderner als „Legitimationskrisen“ bezeichnen – ist auch weder in Deutschland nach 1945 noch generell in der Welt wirklich gelöst worden.
Thomas Fuchs, Assessor iur., Rechtshistoriker
Anmerkungen
1) Zur Meinungs- u. Wissenschaftsfreiheit: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/zur-meinungs-und-wissenschaftsfreiheit-im-kaiserreich/
Zu Bismarck: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/otto-von-bismarck-der-weisse-revolutionaer/
Zu den „Einigungskriegen“: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/der-weg-zur-reichsgruendung-von-1871-die-drei-einigungskriege/
Und zu Kaiser Friedrich III.: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/kaiser-friedrich-iii-der-99-tage-kaiser-und-die-liberalen-hoffnungen/
2) Das eigentliche Problem mit der These vom „Sonderweg“ ist die Abhängigkeit von weltanschaulichen „Vorverständnissen“, die sowohl Verfechter als auch Gegner der Sonderwegsthese (bewusst, eher sogar unbewusst) zugrunde legen; versucht man, ideologiefrei vorzugehen, kann eine Unterscheidung zwischen rein personengeschichtlichen Abläufen und einer stärker strukturgeschichtlichen Betrachtung der Entwicklungen objektiver sein.
3) Kolb, Einführung, S. VII
4) Vgl. Benjamin Disraeli zitiert nach Kraus, S. 240 m.w.N.
5) Alter, Britische Außenpolitik, S. 77 f.
6) Ders., S. 79.
7) Beyrau, Russische Interessenzonen, S. 66.
8) Beyrau, S. 68. Bekanntlich ist das Schwarze Meer auch heute noch ein militärischer Zankapfel.
9) Dies mag zwar in Berlin als eine Art „Einkreisung“ wahrgenommen worden sein, doch rechtfertigte es im Sommer 1914 nicht den vom damaligen Reichskanzler Bethmann Hollweg initiierten „Sprung ins Dunkle“, der dann von der kaiserlichen Armee im Wege eines Präventivschlages zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte.
10) Vgl. Radewahn, S. 44.
11) Siehe z.B. Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Soci%C3%A9t%C3%A9_G%C3%A9n%C3%A9rale_du_Cr%C3%A9dit_Mobilier
In dem aktuellen Buch von Katharina Pistor, Der Code des Kapitals, S. 167 – 169, werden die Hintergründe dieser Bank dargestellt und auch die Kritik, die Karl Marx bereits 1856 ganz konkret an deren Geschäftsgebahren übte, aufgenommen. Über 150 Jahre bevor die Phrase „too big to fail“ in aller Munde war, hatte dieser Mann der Theorie die Praktiken künftiger Finanzverbrecher bereits erkannt und benannt.
12) Vgl. Radewahn, S. 46 f.
13) Geiss, S. 113 f. – An diesem Beispiel soll auch gezeigt werden, wie komplex die europäische Politik im 19. Jahrhundert gestaltet war und wie symbolträchtig politische Handlungen und Willenserklärungen erfasst wurden, siehe die Kaiserproklamation vom 18. Januar 1871. Aber auch noch direkt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hat insbesondere der damalige französische Ministerpräsident Clemenceau während der Verhandlungen in Versailles besonderen Wert auf symbolische Gesten und Bezüge gelegt, was die antideutsche Stimmung bewusst verstärkte. Seine Kollegen aus den USA und Großbritannien ließen ihn gewähren.
14) Lutz, S. 5.
15) Dito.
16) Ders., S. 8.
17) Der Zeitraum 1867 – 1870 war für die Habsburger insgesamt (auch innenpolitisch) viel zu verworren, um eine kohärente und in sich schlüssige „Agenda“ zu entwickeln und konsequent umzusetzen; außerdem darf auch der „deutsche Nationalismus“ in Österreich um 1870 nicht unterschätzt werden. Eine zu starke Annäherung mit Paris oder gar ein (Offensiv-)Bündnis von Frankreich und Österreich gegen Preußen und das restliche Deutschland hätten der Sargnagel für die Habsburger Monarchie sein können. Dieser wurde dann erst knapp 50 Jahre später in die steirische Eiche gehauen.
18) Zu dieser in älteren Darstellungen verbreiteten „Stagnationsthese“ vgl. Gall, S. 23 ff.
19) Vgl. Gall, S. 27.
20) Gall, S. 27.
21) Gall, S. 28.
22) Zitiert nach Gall, S. 28.
23) Natürlich waren für Bismarck die Bedingungen für die Reichseinheit nach den Siegen im Herbst und Winter 1870/71 offensichtlich besser als 1866; jedoch hatte auch die kleine Finanzspritze für den bayrischen König ihren Anteil: Geld regiert die Welt; die „Märchenschlösser“ sind heute noch beliebte Urlaubsziele.
24) Der Politikwissenschaftler Graf Kielmansegg hat hier interessante Aspekte angesprochen, auch im Vergleich zu vorherigen und späteren Epochen (durch Vergleich bestimmter Systembedingungen), ders., S. 119 ff. Er zeigt, dass die „deutsche Frage“ in dem damals maßgeblichen politischen Umfeld Europas als „offen“ galt, so dass eine gewisse „Systemelastizität“ vorlag, die Bismarck geschickt nutzte.
25) Während dieser Zeit erfolgte eine noch stärkere Zunahme der Spannungen als in den Jahren zuvor, sprich seit der Inthronisation Wilhelms II., vgl. Geiss S. 240 – 276. Ab Ende der 1890er Jahre nahmen die teils völlig sinnfreien Äußerungen Kaiser Wilhelms II. immer mehr zu, wodurch wiederholt die „diplomatische Etikette“ empfindlich gestört wurde. Ab 1905 vergrößerten sich dann auch die Spannungen mit England wegen des Flottenbaus, es folgten die sog. Marokkokrisen, gleich zwei Balkankriege und zu guter Letzt der ominöse „Kriegsrat“ vom 8. Dezember 1912 (ein Schwerpunkt der Arbeit Fritz Fischers). Sicher kann man nicht ein einzelnes Detail überbewerten und zur alleinigen Ursache für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges machen (was vielfach Fritz Fischer angekreidet wurde); doch gebündelt ergibt sich schon eine „Motivationskette“, die von relativ wenigen Personen geknüpft worden war. Zumindest unter diesem Aspekt erscheint es nachvollziehbar, dass die Siegermächte des Ersten Weltkriegs im Versailler Vertrag ein sehr hartes Verdikt aussprachen. Aber auch insoweit lohnt ein genauerer Blick: Das Land, das die härtesten Konsequenzen und auch Strafen für die Verantwortlichen am Ausbruch des Weltkrieges forderte, die französische Republik, hätte aber selbstkritisch die eigene Geschichte betrachten sollen. Knapp hundert Jahre vor der Friedenskonferenz in Versailles stand Frankreich selbst unter Anklage und wurde auf dem Wiener Kongress 1815/1820 abgeurteilt, sowohl völkerrechtlich als auch politisch (dabei fielen die politischen Konsequenzen doch recht moderat aus, sieht man einmal vom persönlichen Schicksal Bonapartes ab). Jetzt können nicht auf wenigen Zeilen all die eigenartigen Umstände und Auswirkungen des Versailler Vertrages behandelt werden, zumal die Siegermächte im Frühjahr 1919 nicht einmal im Traum daran denken konnten, dass sich in einem Münchner Bierkeller eine rechtsextreme Splitterpartei (die „DAP“) gründen würde, aus der bereits kurz später die „NSDAP“ folgte, deren wichtigste ideologische Parole, neben dem ausgeprägten rassisch-völkischen Antisemitismus, die Propaganda gegen „Versailles“ sein würde.
26) Unklug ist aber auf jeden Fall der gegenüber den jeweiligen Minderheiten geäußerte Chauvinismus; sei es der bürokratische Versuch einer „Germanisierung“ der polnischen Minderheit in den östlichen Gebieten, die Benachteiligung der dänischsprachigen Minderheit im Norden oder aber die bewusst mindere Stellung Elsaß-Lothringens als sog. „Reichsland“, das erst 1911 eine „Landesverfassung“ erhielt und dadurch ein fast vollwertiger „Bundesstaat“ inkl. Stimmrecht im Bundesrat wurde.
27) Vg. Willoweit, S. 207. Von Kants zahlreichen Werken sind hier interessant: „Metaphysik der Sitten“, „Kritik der reinen Vernunft“ oder „Kritik der Urteilskraft“ (KdU). In diesem Werk wird allgemeingültig das „Denken“ charakterisiert: „Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken.“, Kant, KdU, S. XXV. In Kants Argumentation für seine Lehre von der Urteilskraft nimmt das Reflektieren eine wichtige Rolle ein, als hätte er bereits um 1790 den emotionslosen Befehlsempfänger vom Typ eines Adolf Eichmann vor Augen gehabt bzw. als abschreckendes Beispiel vorweggenommen. Es wundert daher auch nicht, dass Hannah Arendt für das ihr eigene Gespür für das politische Urteil auf die Grundlagen Kants Bezug genommen hat. Sie sah im Politischen einen Bereich, der außerhalb grundsätzlicher Aprioritäten lag; für sie hatte die reflektierende Urteilskraft wesentlich gesellschaftliche Bezüge, vgl. Meder, S. 165.
27a) Vgl. Grimm, S. 131 nebst Zitat von Stein.
28) Im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten v. 1794 wird dies im Zweiten Teil, 13. Titel, § 1 wie folgt definiert: „Alle Rechte und Pflichten des Staats gegen seine Bürger und Schutzverwandten vereinigen sich in dem Oberhaupte desselben“. Anders formuliert: Der Monarch verkörperte den Staat, was aber nicht zur Verwechslung führen darf, der König sei der Staat; selbst im französischen Absolutismus unter Ludwig XIV. hat es noch andere „Gewalten“ gegeben, die ihre traditionelle Stellung zu wahren suchten. Der in jedem Schulbuch aufgeführte Satz „Ľ état c‘ est moi“ ist daher nicht ganz zutreffend.
29) Vollständiger Name: Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord https://de.wikipedia.org/wiki/Charles-Maurice_de_Talleyrand-P%C3%A9rigord
30) Willoweit, S. 296.
30a) Kraus, S. 211.
31) „Kupiert“: gestutze Ohren o. Schwänzen bei Tieren.
32) Vgl. Kraus, S. 219f.
33) „Das Mitspracherecht, welches das Bürgertum von König und Adel verlangte, wünschte es der großen Masse der Besitzlosen, der Tagelöhner und Analphabeten nicht einzuräumen.“ (Mann, S. 382).
34) Vor allem wenn, wie in der Ära Bismarcks, so unterschiedliche Signale gesetzt wurden: Einerseits wurden die Grundlagen für ein modernes Sozialversicherungssystem geschaffen (um die „soziale Frage“ anzugehen), andererseits wurden erst die katholischen, dann die sozialistischen „Minderheiten“ verfolgt bzw. von einer echten politischen Teilhabe ausgeschlossen (um durch Erzeugung eines Feindbildes parteipolitische Gegensätze auszunutzen).
35) Während des Kapp-Lüttwitz-Putsches im März 1920 war es ja kein Zufall, dass der starke Mann im Truppenamt des Heeres, General Hans von Seeckt, für eine Abschottung der „regulären“ Armee von den politischen Ereignissen sorgte. Die Reichswehr sollte sich aus allem heraushalten und gerade dadurch ihren Sonderstatus behalten.
36) Abgedruckt bei Schoeps S. 345.
37) Dito, S. 356f.
38) Kroeschell, S. 202.
39) Ders., S. 202f.
40) Politisch wie soziologisch interessant waren die ursprünglichen Auslöser für die studentischen Demonstrationen: Der höchst umstrittene Schah-Besuch einerseits, die vielfältigen Kundgebungen gegen den Vietnamkrieg andererseits, haben geradezu eine gesellschaftsunkritische Polizei erfordert, um die öffentliche Sicherheit und Ordnung (nach damaliger Lesart Ende der 1960er Jahre) und die Staatsräson (sowohl Persien als auch die USA waren ja mit der alten BRD befreundete Länder, mit denen auch umfangreiche wirtschaftliche Beziehungen verknüpft waren) mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten. Aber auch aktuell gibt es zumindest Tendenzen in Teilen der Landespolizei, wie in Hessen, wo sogar ein ganzes SEK (in Frankfurt/M.) aufgelöst werden musste, oder diverse sog. Chatgruppen mit zweifelhaften Inhalten in mehreren Bundesländern, die auf interne Abschottung, gar „Chorgeist“ deuten. Gleiches gilt für unbefugte Datenzugriffe und bestimmte „Einsatztaktiken“, wie Einkesselung bei Demonstrationen oder das sog. Racial Profiling – was natürlich regelmäßig bestritten wird. Und zum speziellen „Teambuilding“ gehört es natürlich auch, wenn bei größeren Einsätzen im öffentlichen Raum das Nutzen von Handys mit Videofunktion durch Privatpersonen untersagt wird, weil dies eine „Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes“ darstellen würde: Polizeibeamte wollen ungestört in der Öffentlichkeit ihre Kommandos erteilen, ohne spätere Möglichkeit einer Überprüfung der Rechtmäßigkeit; wer trotzdem privat filmt, begeht nach dieser „Rechtsauffassung“ eine Straftat, die den Einsatz weiterer Zwangsmittel rechtfertigen soll, was meist zusätzlich mit sog. Widerstandshandlungen verbunden wird: doppelt bestraft, hält besser. Da dies gleich in mehreren Bundesländern angewandt wird, kann von Zufall keine Rede mehr sein. Ein großer Unterschied zwischen den 1960/70er Jahren und heute besteht natürlich in der technischen Ausstattung (betrifft damals die alte BRD und die DDR, im Gegensatz zum wiedervereinigten Deutschland), denn die „moderne Technik“ würde einem „Polizeistaat“ ganz andere Möglichkeiten eröffnen – da erscheint der sog. „Datenschutz“ oft nur als beschönigendes Feigenblatt.
41) Abgedruckt bei Kroeschell, S. 262f.
42) Siehe den Beitrag zum Skandalurteil: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/ein-skandalurteil-oder-der-ganz-normale-wahnsinn-im-dritten-reich/
43) Vgl. Kroeschell, S. 264f.
44) Vgl. Schlosser, S. 196 – S. 199.
45) Kroeschell, S. 267.
46) Zur „Radbruchschen Formel“: https://de.wikipedia.org/wiki/Radbruchsche_Formel
47) Kroeschell, S. 268.
48) Siehe zum Ganzen: Angermund, S. 57 – 72 (besonders die fundierten Zahlenangaben).
49) Angermund, S. 61.
50) Ders., S. 73f. Dasselbe Grundproblem wie bei den Berufsrichtern trat nach 1945 (noch deutlich verstärkt) bei der Masse von Beamten auf. Besonders der US-Militärgouverneur, der zusammen mit dem britischen und französischen Kollegen die Beratungen des Parlamentarischen Rates „beaufsichtigte“ und alle drei genehmigten dann am 12.05.1949 den vorgelegten Entwurf des „Grundgesetzes“, hatte vom bisherigen Berufsbeamtentum im Deutschen Reich keine Ahnung, da er aus einem völlig anderen Rechtssystem stammte, so dass es für „Spitzenkräfte“, die sehr schnell wieder politischen Einfluss erlangten, leicht war, die Gestaltung des künftigen „öffentlichen Dienstes“ Westdeutschlands in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Formulierung in Artikel 33 Abs. 5 des Grundgesetzes („hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums“) ist eine höchst blumige Beschönigung für das Fortgelten autoritären Gedankenguts, welches nach wie vor vom „Obrigkeitsstaat“ geprägt war. Ebenso wohlwollend wie gönnerhaft (gleichsam zur Belohnung) hat der Verfassungsgeber des Grundgesetzes in Art. 131 und 132 die „alten Recken“ unter den Beamten und Richtern bedacht; man könnte auch sagen: „Danke für Nichts“.
51) Schlosser, S. 200.
52) Ders., S. 201.
53) Neben der fast unüberschaubaren allgemein-historischen Literatur zur NS-Zeit soll gerade im Zusammenhang mit der Justiz u. Rechtswissenschaft im Dritten Reich auf folgende Autoren hingewiesen werden: zum einen die beiden „Klassiker“ Ernst Fraenkel („Der Doppelstaat“) und Franz Neumann („Behemoth“ – Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933 – 1944), beide langjährige Kenner der damaligen Rechtspraxis des Dritten Reichs; zum anderen auf spezielle Veröffentlichungen wie den v. Franz Jürgen Säcker her-ausgegebenen Sammelband „Recht und Rechtslehre im Nationalsozialismus“, Klaus Anderbrügge („Völkisches Rechtsdenken. Zur Rechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus“) und Bernd Rüthers („Die unbegrenzte Auslegung“) und zahlreiche Schriften Rudolf Wassermanns als ausgewiesenem Praktiker zur Entwicklung der Justiz nach 1945 oder auch auf Michael Stolleis (speziell zur Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland) und Ilse Staffs Überblick zur „Justiz im Dritten Reich“. Zusätzlich zu dem nachfolgenden Literaturverzeichnis.
54) Vgl. im Zusammenhang Grimm, S. 139f. Die Idee der NS-Juristen von einer ungeschrieben-lebendigen Ordnung erinnert stark an die Anfänge der „Historischen Rechtsschule“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Damit wäre nur ein weiteres Mal unterstrichen, dass die gesamte NS-Ideologie überhaupt keine eigenen geistigen Wurzeln entwickelt hat oder auch gar nicht entwickeln konnte, sondern sich wahllos aus dem Fundus deutscher (europäischer) Ideengeschichte bediente – alles stümperhaft vermengte und versaute. Die angebliche Elite der deutschen Geisteswissenschaften schaute dabei oft bloß unberührt zu.
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