Am 24. Juni 2022 jährt sich einer der bekanntesten und wirkungsvollsten politischen Morde in der Weimarer Republik zum einhundertsten Mal. Was zur Jahresmitte 1922 in aller Munde war und bei sehr vielen Deutschen (wenn auch beileibe nicht bei allen) für Abscheu, teils auch Wut gesorgt hatte, ist hundert Jahre später zwar nicht in Vergessenheit geraten, aber doch stark verblasst. (1)
Der nachstehende Beitrag kann nicht alle Facetten des Lebens von Walther Rathenau beleuchten, soll sich aber auf bestimmte Schwerpunkte konzentrieren. Ganz besonders auf Vorschläge und Ideen Rathenaus, welche er bereits vor weit über hundert Jahren zur Diskussion stellte, die aber an Aktualität rein gar nichts eingebüßt haben; als Stichpunkte seien genannt: Einerseits die überragende Bedeutung der „Wirtschaftspolitik“ im Allgemeinen, wobei Rathenau bereits vor Ausbruch und verstärkt während des Ersten Weltkrieges einen Schwerpunkt auf eine ganz „neue Wirtschaft“ legte (z.B. das Konzept der „Gemeinwirtschaft“ und dabei auch die „soziale Frage“ mitdachte); andererseits Rathenaus Betonung bestimmter Aspekte der Außen- und Sicherheitspolitik, vor allem der Europapolitik (zu einem Zeitpunkt, wo es diese Begrifflichkeit noch gar nicht gab). Geradezu zwangsläufig ist natürlich, auch auf den „Vertrag von Rapallo“ einzugehen.
Bei Betrachtung der genuin ökonomischen Analysen und Vorschläge Rathenaus stechen außerdem diejenigen Punkte besonders ins Auge, die heutzutage unter den Stichworten „Energie- und Umweltpolitik“ teils heftig diskutiert werden. Ob man deshalb Walther Rathenau gleich zum Pionier oder Vorreiter für einen Ausgleich von Ökonomie und Ökologie ausrufen möchte, soll hier nicht entschieden werden, aber als eine Anregung, sich mit seinen zukunftsweisenden Vorschlägen zu beschäftigen, sind sie fraglos geeignet.
Vom Prinzip her geeignet, sich mit Fragen des Antisemitismus (im Alltag, aber auch im ideologischen Sinne) zu beschäftigen, sind – zumindest teilweise – auch die Umstände der Ermordung Rathenaus und die Motive der Attentäter vom 24. Juni 1922. (2)
I) Einleitung
Walther Rathenau, der in der Frühphase der Weimarer Republik nur ein knappes Jahr als Minister amtierte (erst für Wiederaufbau, dann als Außenminister), war ein „Politiker“ wider Willen. (3) Auch wenn er – aus verschiedenen Gründen – kein typischer Politiker war und auch gar nicht sein wollte, so war er dennoch von Grund auf ein politischer Mensch; dieser nur scheinbare Widerspruch gehörte zu den wesentlichen Zügen seines Charakters. (4) Diese als Ambivalenz gekennzeichneten gegensätzlichen Wesenszüge gehörten ausdrücklich zu den Grundkonflikten seines Lebens.
Bevor auf Einzelheiten eingegangen werden soll, zunächst ein kurzer Überblick zu den wichtigsten biografischen Daten: 1867: Rathenaus Geburt am 29. September in Berlin, Sohn von Emil Rathenau und Mathilde Nachmann. 1886: Abitur und Anfang des Studiums der Naturwissenschaft, Chemie und Philosophie in Berlin.
1886/87: Studium in Straßburg.
1889: Promotion in Berlin, Thema: Die Absorption des Lichts in Metallen.
1889/90: Studium von Maschinenbau, Elektrotechnik und Elektrochemie in München.
1890/91: Militärdienst. Wollte nicht getauft werden, daher Ende einer gehobenen militärischen Laufbahn .
1899: Mitglied im Direktorium der AEG, leitet den Bau von Kraftwerken.
1901: Von 1901 bis 1914 jedes Jahr ein oder zwei Gespräche von einer Stunde mit Kaiser Wilhelm II.
1902: Verlässt die AEG und wird Direktionsmitglied der Berliner Handelsgesellschaft.
1904: Mitglied im Aufsichtsrat der AEG.
1906: Reise nach Griechenland, die ein Wendepunkt in seinem Leben war.
1907: Veröffentlichung Die Neue Ära. Macht eine (erste) Inspektionsreise durch Deutsch-Ostafrika.
1909: Kauft Schloss Freienwalde und baut eine Villa in Berlin-Grunewald.
1910: Stellvertretender Vorsitzender im Aufsichtsrat der AEG. Vermittelt in der Marokkokrise. Hält Vorträge über demokratische Entwicklung.
1911: Kandidat für den Reichstag, aber ohne Aussicht.
1912: Vorsitzender im Aufsichtsrat der AEG.
1914: Arbeitet im Kriegsministerium in der Kriegs-Rohstoff-Abteilung und plädiert für eine schnelle Beendigung des Krieges. Im „September-Programm“ von Reichskanzler v. Bethmann Hollweg Vorstellungen Rathenaus zur Realisierung eines künftigen „Mitteleuropa“ berücksichtigt.
1915: Verlässt zum 01. April das Kriegsministerium. Vater Emil verstirbt und er wird Präsident von AEG.
1917: Im Frühjahr Erstveröffentlichung Von kommenden Dingen (zahlreiche Auflagen).
1918: Erste Veröffentlichung Gesammelte Schriften in fünf Bänden. Mitarbeit bei der Errichtung des Demokratischen Volksbundes. Kontakte zur Deutschen Demokratischen Partei (DDP).
1919: Veröffentlichung Der Neue Staat, Die Neue Gesellschaft und Der Kaiser.
1920: Teilnehmer der Konferenz in Spa über Reparationszahlungen.
1921: Legt alle Funktionen im Wirtschaftsleben nieder und wird Minister (zunächst für Wiederaufbau).
1922: Verhandelt als Außenminister in Genua über Reparationszahlungen und Wiederaufbau. 16. April Abschluss des „Vertrages von Rapallo“. Wird am 24. Juni ermordet und am 27. Juni im Familiengrab des Berliner Ortsteils Oberschöneweide beigesetzt. (5)
II) Besondere Stationen im Leben Rathenaus
Rathenaus politisches Wirken – zumindest nach außen hin – begann eigentlich erst nach dem misslungenen Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920 mit der Berufung in die Zweite Sozialisierungskommission und entfaltete sich bald darauf in der Reparationspolitik. (6) Er setzte dem populären, aber außenpolitisch aussichtslosen Widerstand gegen die alliierten Reparationsforderungen die Strategie der nur vermeintlichen »Erfüllungspolitik« entgegen, die auf Vertrauensbildung und damit wachsende Einsicht bei Frankreich und vor allem England setzte, um so die tatsächliche Unerfüllbarkeit der Siegerbedingungen glaubhaft zu machen. Gegen großen Widerstand berief ihn Reichskanzler Joseph Wirth daher 1921 zunächst zum Wiederaufbauminister und dann im Januar des folgenden Jahres in sein zweites Kabinett als Außenminister.
Nach guten Anfangserfolgen der Rathenauschen Strategie zerstörte aber die Ersetzung der kompromissbereiten französischen Regierung Briand durch Poincaré (erklärter Gegner aller Reparationsverhandlungen) die Grundlagen der Erfüllungspolitik. (7)
Auf der Wirtschaftskonferenz in Genua im April/Mai 1922 drohte eine neue Isolierung Deutschlands. Durch die Umstände und seine Berater gedrängt, schloss Rathenau in einem Vorort von Genua den seither mit seinem Namen verbundenen Rapallo-Vertrag, der die in die Ferne gerückten Hoffnungen auf einen Ausgleich mit den Alliierten zugunsten einer Verständigung mit Sowjetrussland zurückstellte.
Doch auch diese politische Konzeption steigerte nur den Hass der deutschen Rechten gegen Rathenau, der als Kapitalist Profit scheffle, als Sozialist die Bolschewisierung betreibe und als jüdischer Außenminister Deutschland an die Alliierten und an Russland gleichermaßen verschachere.
Nachdem sich die Drohbriefe und Schmähungen häuften und der deutschnationale Reichstagsabgeordnete Karl Helfferich einen neuen öffentlichen Angriff auf Rathenau gestartet hatte, suchte Rathenau am 23. Juni 1922 die Versöhnung mit seinem wichtigsten wirtschaftspolitischen Gegenspieler Hugo Stinnes. Tags darauf wurde er ermordet.
Rathenaus politisches Engagement hatte ihm Respekt, aber auch neue Feinde eingetragen. Auf der Linken verübelte man ihm seinen Aufruf zur Levée en masse in den letzten Kriegswochen. Im überwiegend nationalistischen und zunehmend antisemitischen Bürgertum wurde das auf außenpolitische Versöhnung bedachte Handeln Rathenaus immer schärfer kritisiert. Der radikalste Sprecher dieser Strömung, in der sich der wirtschaftliche Niedergang der bislang staatstragenden Mittelschichten ein Ventil suchte, war Karl Helfferich.
Er griff am Tage vor Rathenaus Ermordung den Außenminister in einer Reichstagsrede heftig an. Sie gipfelte in der Forderung, die ganze Regierung wegen Ausverkaufs der nationalen Interessen vor einen Staatsgerichtshof zu stellen. Dennoch kamen Rathenaus Mörder nicht aus der parlamentarischen Rechten, sondern aus einem der nach der Auflösung der Freikorps in den Untergrund gegangenen rechtsradikalen Wehrverbände in Deutschland.
Die Brigade Ehrhardt, militärischer Träger des Kapp-Lüttwitz-Putsches vom März 1920, hatte unter ihrem Führer Hermann Ehrhardt und unter dem Schutz bayerischer Behörden in München die »Organisation Consul« (O. C.) aufgebaut. Ehrhardt wurde zwar reichsweit per Steckbrief gesucht, wusste sich aber ob seiner guten Kontakte zum neuen starken Mann im deutschen Militär, dem General Hans v. Seeckt, immer auf der sicheren Seite (auch als er tatsächlich einmal verhaftet wurde).
Unter dem harmlosen Namen »Bayerische Holzverwertungsgesellschaft« rekrutierte diese im ganzen Reich Mitglieder, um nach außen die Landesgrenzen gegen einen erneuten Polenaufstand zu verteidigen und nach innen eine Wiederholung des 1920 misslungenen Staatsstreiches vorzubereiten.
Nachdem Angehörige der »O.C.« bereits an Matthias Erzberger und Philipp Scheidemann Attentate auf verhasste prominente Weimarer Politiker verübt hatten, um das Land zu destabilisieren, bereitete nun eine eigens gebildete Verschwörergruppe monatelang den Anschlag auf Rathenau vor. Am Vormittag des 24. Juni 1922 heftete sich ein starkmotoriger offener Wagen an das kleine NAG- Cabriolet, mit dem Rathenau ins Auswärtige Amt fuhr. An einer nur langsam zu passierenden Kurve überholte der Verfolgerwagen. Die Mörder trafen den wehrlosen Minister mit mehreren Schüssen und warfen eine Handgranate.
Die Nachricht von dem mörderischen Anschlag erschütterte Deutschland wie kein anderes Attentat in der Weimarer Zeit. Im Reichstag kam es zu tumultartigen Auseinandersetzungen, die in einem Chaos mündeten, als ein rechtsradikaler Besucher Helfferich einen schwarz-weiss-roten Blumenstrauß auf das Pult legte. Im Reich marschierten Demonstrationszüge wie seit dem November 1918 nicht mehr. Ein eintägiger Generalstreik unterstützte die Forderung nach wirksamen Maßnahmen gegen die drohende Gefahr von rechts. Der Reichstag reagierte mit einem Gesetz zum Schutz der Republik, das die verfassungsmäßige Ordnung gegen die aufkommende Gegenrevolution schützen sollte, sich aber schnell in eine scharfe Waffe gegen links verwandelte.
Die eigentlichen Mörder wurden nach einer über dreiwöchigen Verfolgungsjagd durch ganz Deutschland auf Burg Saaleck bei Bad Kösen gestellt und starben bei einem Schusswechsel mit der Polizei bzw. durch eigene Hand. Die überlebenden Tatbeteiligten wurden von dem neu geschaffenen Staatsgerichtshof mit zum Teil langjährigen Zuchthausstrafen belegt. Das hinter den Anschlägen vermutete Komplott zum Sturz der republikanischen Regierung hingegen wurde aus außenpolitischen Rücksichten nie einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht, ein Prozess gegen die O. C. führte zu keinem befriedigendem Ergebnis.
Soweit eine eher lexikalische Zusammenfassung der wesentlichen Ereignisse; besonders signifikante Aspekte sollen nachfolgend etwas breiter dargestellt werden.
1) Rathenaus Wirtschaftspolitik
Es ist bekannt, dass Wissenschaft und Technik in Europa und den USA nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 ungeahnte Fortschritte machten. Rathenau spielte eine herausragende Rolle in dem, was man die „Industrielle Revolution“ am Ende des 19. Jahrhunderts nannte. Obwohl er zahlreiche Artikel und Abhandlungen zu ökonomischen Fragen verfasste und veröffentlichte, wird man Walther Rathenau keiner der traditionellen „Schulen“ in den Wirtschaftswissenschaften zurechnen können (zumal er ja von Hause aus studierter Chemiker bzw. Naturwissenschaftler gewesen ist), dennoch wurde er auf jeden Fall durch seinen Vater, der u.a. die über 100 Jahre selbständig existierende Firma „AEG“ gründete und zu wirtschaftlicher Größe führte, in kaufmännischer Hinsicht geprägt und hat ja bereits als Junge die Auswirkungen unüberlegter Wirtschaftspolitik erleben müssen, als ab 1873 der sog. „Gründerschock“ eine erste „Finanzblase“ zum Platzen brachte und eine wirtschaftliche Rezession in Deutschland auslöste. Gleichzeitig nahm das allgemeine Bevölkerungswachstum unaufhörlich zu, was besonders in den Großstädten (so hatte Berlin 1877 eine Million, 1905 schon zwei Millionen Einwohner) zu weiteren sozioökonomischen Herausforderungen führte. In diesem Umfeld begann Rathenau seine Laufbahn als Unternehmer und zwar sowohl im Sinne der heute völlig antiquierten Vorstellung des sog. „ehrbaren Kaufmanns“ als auch als ein Unternehmer/Arbeitgeber mit sozialpolitischen Grundsätzen (vielleicht sogar einem „sozialen Gewissen“). Er vertrat den altmodischen Standpunkt, dass ein gutes Geschäft für beide Seiten (Vertragspartner) ausgeglichen sein müsse. Das führte zu bestimmten Grundsätzen seiner Unternehmens- und Geschäftsphilosophie, aber auch seiner politischen Ansichten, die weit über die Grenzen Deutschlands Beachtung fanden, so dass Rathenau als erfahrener „Weltkaufmann“ neben ökonomischem Erfolg auch Reputation auf politischer Ebene erringen konnte. Das machte ihn gerade nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg für die Weimarer Republik zu einem wertvollen Vertreter, beinahe Aushängeschild einer neuen Außen- und Wirtschaftspolitik.
So war die grundsätzliche Idee wirtschaftlicher Zusammenarbeit dem Einsatz Rathenaus zu verdanken, der besonders vor und nach dem Ersten Weltkrieg großen Einfluss – gerade im europäischen Ausland – in wirtschaftlichen und politischen Belangen besaß, obwohl man (in Deutschland) seine liberalen und demokratischen Reformvorstellungen in einer Gesellschaft mit altmodischen politischen Strukturen nicht verstand.
Dass er trotz all der Skepsis und auch Ablehnung, die ihm als Vertreter eines großstädtischen Judentums praktisch zeitlebens begegnete, gleichwohl eine zutiefst patriotische Grundstimmung hatte, die ihn bereits wenige Tage nach Kriegsausbruch dazu drängte, dem preußischen Kriegsminister persönlich seine Besorgnis über die miserable Rohstofflage im Deutschen Reich mitzuteilen, wird bei der Betrachtung seiner politischen Laufbahn vertieft.
Der Wirtschaftsfachmann und -theoretiker Rathenau war bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein überzeugter Verfechter eines ökonomisch starken und vereinten Europas. Auf Dauer müsse der Kontinent mit den Vereinigten Staaten konkurrieren können. Eine Zielvorstellung, die bis heute Geltung beansprucht. Auch wenn man die rein ökonomischen Betrachtungen jetzt im 21. Jahrhundert nicht mehr ganz so in den Mittelpunkt stellen wird, wie noch vor hundert Jahren, kann man Rathenaus wirtschafts- und auch europapolitische Konzepte als Beginn, zumindest Ursprung, des „europäischen Gedankens“ begreifen. Die Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“ ist zwar schon immer mehr Utopie denn reale Konstruktion gewesen, doch kann Walther Rathenau gerade in Bezug auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit durchaus als ein Vordenker „einer immer engeren Union der Völker Europas“ (so der „Vertrag von Lissabon“ 2007 für die Europäische Union) bezeichnet werden.
Besonders aufgrund seiner zahlreichen Aufgaben und Positionen hatte Rathenau umfassende Verbindungen zu hohen Kreisen der damaligen Wirtschaftselite nahezu weltweit und spezielle Kenntnisse makroökonomischer Zusammenhänge und zusammen mit seinem späteren Engagement in der (zweiten) Sozialisierungskommission erklärt sich, warum Rathenau dann sogar ein eigenes Wirtschaftskonzept namens „Gemeinwirtschaft“ propagierte. Denn im 20. Jahrhundert könne die Wirtschaft nicht mehr allein Privatsache sein, sondern müsse als Gemeinschaftsaufgabe in die Verantwortung aller gestellt werden. Daher war es für Rathenau zwingend, dass der alte Obrigkeitsstaat überwunden werden müsse; gerade die speziellen Bedingungen im Ersten Weltkrieg waren daher ideal für einen weitgehenden „Staatssozialismus“: der künftige deutsche Staat müsse somit mehr intervenieren und dirigieren (als hätte Rathenau 1914/18 die Verhältnisse des modernen Lenkungsstaates im 21. Jahrhundert vorhergesehen). Die Grundannahme in der Theorie des von Rathenau aufgestellten planwirtschaftlichen Modells besagt, dass der Markt und eine zentrale staatliche Planung sich nicht unbedingt ausschließen müssen. Planwirtschaft lasse sich, daran glaubte nicht nur Rathenau, als notwendige Ergänzung zum Marktmechanismus begreifen. Sie könne dabei helfen, sowohl soziale Schieflagen zu vermeiden, als auch der Rohstoff- und Ressourcenverschwendung entgegenzutreten. Und sie sei ein Mittel gegen überzogene Profite. Gleichzeitig bedürfe der neue Staat nicht bloß einer geänderten politischen Struktur, sondern auch der Mitwirkung der gesellschaftlichen Kräfte. Diese Annahme gipfelte dann nicht nur in der Forderung nach einer umfassenden Parlamentarisierung des Deutschen Reiches (also im Prinzip hin zur Republik), sondern auch einer ganz anderen Wertschätzung der menschlichen Arbeit. Dies soll an seinem besonders populären Werk „Von kommenden Dingen“, das bereits 1917 erstmals veröffentlicht wurde, verdeutlicht werden:
„Zu Beginn unsrer Wirtschaftsepoche galt der Satz: Luxus nützt, denn er bringt Geld unter die Leute. Das stimmt zur Not für eine beginnende Gewerbetätigkeit, die mit äußeren Mitteln angefacht werden muß. (…) Unsre Vorstellung muß eine andre sein. Arbeitstage und -jahre, vergeudet für den Endzweck eines kurzen Glanzes oder Genusses, sind unersetzlich. Sie sind der begrenzten Arbeitsmenge der Welt entnommen, ihr Ergebnis ist dem kargen Ertrage des Planeten entzogen. An der Arbeit, die in unsichtbarer Verkettung Alle leisten, sind Alle berechtigt. (…) Wirtschaftlich betrachtet ist die Welt, in höherem Maße die Nation, eine Vereinigung Schaffender; wer Arbeit, Arbeitszeit oder Arbeitsmittel vergeudet, beraubt die Gemeinschaft. Verbrauch ist nicht Privatsache, sondern Sache der Gemeinschaft, Sache des Staates, der Sittlichkeit und Menschheit. “ (8)
Werden aktuell im 21. Jahrhundert zu den genannten Ressourcen „Arbeit“ und „Arbeitsmittel“ auch noch die „Umwelt“ bzw. die natürlichen Lebensgrundlagen hinzugezählt, kann Rathenau beinahe schon als Vordenker eines „Grünen Bewußtseins“ verstanden werden. Er wendet sich dezidiert gegen Verschwendung der menschlichen Arbeit (vor allem für luxuriöse Privatvergnügen), weil er sich der Endlichkeit von Ressourcen und „Produktionsmitteln“ absolut bewusst war. Zum Thema sinnlose Vergeudung für „Konsum“ bzw. „Energieverschwendung“ führt Rathenau weiter aus:
„Überflüssiges, Nichtiges, Schädliches, Verächtliches wird in unseren Magazinen gehäuft, unnützer Mode-tand, der wenige Tage lang falschen Glanz spenden soll, Mittel für Rausch, Reiz und Betäubung, widerliche Duftstoffe, haltlose und mißverstandene Nachahmungen künstlerischer und kunstgewerblicher Vorbilder, Gerätschaften, die nicht dem Gebrauch, sondern der Blendung dienen , Albernheiten, die als Scheidemünze eines erzwungenen Geschenkverkehrs umlaufen; alle diese Nichtsnutzigkeiten füllen Läden und Speicher in vierteljährlicher Erneuerung. Ihre Herstellung, ihr Transport und Verschleiß erfordert die Arbeit von Millionen Händen, fordert Rohstoffe, Kohlen, Maschinen, Fabrikanlagen und hält annähernd den dritten Teil der Weltindustrie und des Welthandels in Atem. (…) Würde die Hälfte der verschwendeten Weltarbeit in fügliche Bahnen gewiesen, so wäre jeder Arme der zivilisierten Länder ernährt, bekleidet und behaust.“ (9)
Ideen bzw. Erkenntnisse für einen schonenden Umgang mit Ressourcen, die erst weit über fünfzig Jahre später richtig populär wurden (Stichworte: der 1968 gegründete „Club of Rome“; der 1972 veröffentlichte Bericht „Die Grenzen des Wachstums“) – und heute besonders mit den Zielen von Nachhaltigkeit und „Verantwortungsethik“ in ein allgemeineres Bewusstsein gerückt sind. (10) Daher postulierte Rathenau ein neues Konzept:
„Wirtschaft ist nicht Privatsache, sondern Gemeinschaftssache, nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Absoluten, nicht Anspruch, sondern Verantwortung.“ (11)
Diese Gedanken führten dann zur Theorie der sog. „Gemeinwirtschaft“. Diese besondere Wirtschaftsform verfolgt vereinfacht gesagt die Idee, den Bedarf einer Volkswirtschaft durch Bündelung bzw. Zusammenfassung aller wichtigen Wirtschaftszweige zu erfassen und abzudecken; weder reiner Kapitalismus (also profitgesteuerte Erwerbswirtschaft) noch sozialistische Vergesellschaftung (mittels Enteignung). Vielmehr sollten alle Gewerbezweige in Zweckverbände zusammengeschlossen werden, die von einer staatlichen Gesamtplanung umfasst sein sollten – die Eigentumsverhältnisse in den Unternehmen blieben aber unangetastet.
Grundidee war einerseits weitgehende „Selbstverwaltung und Selbstverantwortung“ der wirtschaftlichen Akteure; andererseits staatliche Steuerung der wichtigsten Wirtschaftszweige (vor allem durch neu zu schaffende „Aufsichtsbehörden“, welche die Tätigkeit der Zweckverbände steuern sollten; eine moderne Bezeichnung wäre sicher „Koordinierungsstellen“). Ein ganz zentraler Hintergrund (oder auch sein Grundmotiv) war Rathenaus Erfahrung aus seiner Zeit als Leiter der Rohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium.
Nachdem klar war, wie fragil die Rohstoffversorgung im Deutschen Reich spätestens mit dem Kriegseintritt der Engländer werden würde, war Sparen, Sparen und nochmals Sparen angesagt („aus der Not eine Tugend machen“, ganz im altpreußischen Sinne). „Unsere Aufgabe ist, was an Mengen fehlt, durch Ordnung und Systematik zu ersetzen.“ (12)
Daher erlangte die ressourcenbewusste Durchrationalisierung der Produktion verbunden mit einer speziellen Organisation der Volkswirtschaft eine ganz besondere Priorität in Rathenaus Vorstellungen zu einer „dauer- haften Wirtschaft“. (13) Neben der bloßen Energieeinsparung, die natürlich unabdingbar war, galt es z. B. Sekundärrohstoffe besser zu nutzen oder gar Ersatzstoffe zu entwickeln. Als grundsätzliche Organisationsform forderte Rathenau – in Abgrenzung zu den sonst üblichen Rufen nach „Verstaatlichung“ – eine Neubestimmung der Beziehungen zwischen Wirtschaft und Staat (einschließlich der Gesellschaft als eigenständigem Faktor). Zur Abrundung plädierte er für einen Umbau des Steuersystems: mehr und höhere Aufwands- und Verbrauchssteuern kombiniert mit dem Prinzip einer Besteuerung nach der jeweiligen Leistungsfähigkeit; was natürlich besonders die ostelbischen Großagrarier, aber auch die Eisen- und Stahlbarone nicht begeisterte. (14)
An dieser Stelle kann nicht im Detail auf Rathenaus Model einer „Gemeinwirtschaft“ eingegangen werden; doch für einen Großunternehmer im frühen 20. Jahrhundert waren viele seiner Ansichten erstaunlich. Vor allem aus den Erfahrungen seiner Tätigkeit in der Kriegswirtschaft gleich zu Beginn des Ersten Weltkrieges entwickelte sich sein Credo, dass der „Marktradikalismus“ einer vollkommen freien liberalen Wirtschaft gestoppt werden und statt eines rein individualistischen Denkens (des typischen Kapitalisten) ein neues „Gemeinschaftsdenken“ erprobt werden müsse (gerade in den 1910er und 1920er Jahren hat es viele solch moderner Bewegungen gegeben). Bezogen auf Fragen einer künftigen Volkswirtschaft hieß dies für Rathenau, dass für den Neubau von Fabriken oder anderer Industrieanlagen vorher eine bedarfsgerechte Prüfung und Standortwahl erfolgen müsse; durch Zusammenschluss der wichtigsten Industriezweige möglichst viele Synergieeffekte erreichen; weniger Produktion von Luxusartikeln, stärkere Massenproduktion; Angleichung der Einkommensverhältnisse (zumindest eine Vorstufe der heute aktuellen Diskussion zur geschlechterneutralen Lohnzahlung). Diese kurze Aufzählung ließe sich noch um zahlreiche Punkte ergänzen. (15)
Rathenau hat dabei, wenn man so will, die Grundlagen für eine „ganzheitliche“ Betrachtung vorweggenommen. Er hat nicht nur die besondere Verantwortung für eine sachgerechte Nutzung von Rohstoffen erkannt, sondern auch versucht, die aus seiner Sicht nötigen Konsequenzen in praktische Politik umzusetzen. Allerdings war ihm (schmerzlich) bewusst, dass er als ältester Sohn und Nachfolger des Firmengründers der AEG vorsichtig mit seinen Theorien sein musste; sein Postulat vom „Kapitalismus mit ethischem Antlitz“ konnte sehr schnell (absichtlich) falsch verstanden werden. (16)
Davon abgesehen, sollte sich die praktische Umsetzung seiner Vorstellungen und Absichten noch aus ganz anderen Gründen als sehr viel schwieriger gestalten, als von den (wenigen) Verfechtern der „Gemeinwirtschaft“ grundsätzlich gedacht (neben Rathenau wird insoweit meist noch der spätere Unterstaatssekretär im Reichswirtschaftsamt, Wichard von Moellendorff, genannt; auf dessen genaue Rolle kann hier nicht näher eingegangen werden). Die allgemeinen Widerstände sollten unabhängig von den Ereignissen 1918 andauern.
Sicherlich waren eigentlich mit dem Umsturz der bisherigen staatlichen Ordnung im November 1918 ideale Bedingungen für eine Neugestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland vorhanden: Die neuen Machthaber in Gestalt des „Rates der Volksbeauftragten“ hatten bereits unmittelbar nach ihrer Regierungsübernahme erste Ankündigungen veröffentlicht; besonders im Aufruf vom 12. November 1918, dem Gesetzeskraft zukommen sollte, wurden von Friedrich Ebert und den anderen Volksbeauftragten „sozialpolitische Verordnungen“ versprochen – namentlich Unterstützung der Erwerbslosen, die Bekämpfung der Wohnungsnot und die Sicherung einer geregelten Volksernährung. (17)
Alles Zielvorstellungen, die mit der grundsätzlichen Konzeption einer Gemeinwirtschaft hätten realisiert werden können. Allerdings hatte schon zwei Tage vorher, am 10. November 1918, der Berliner Arbeiter- und Soldatenrat eine Proklamation erlassen, wonach eine rasche und konsequente Vergesellschaftung der kapitalistischen Produktionsmittel gefordert wurde, diese sei notwendig, „um aus den blutgetränkten Trümmern eine neue Wirtschaftsordnung aufzubauen, um die wirtschaftliche Versklavung der Volksmassen, den Untergang der Kultur zu verhüten.“ (18)
Eine Beschlussfassung, die auf den ersten Blick gar nicht so dramatisch bzw. „revolutionär“ klingt; problematisch wird diese Proklamation (zumindest aus Sicht der bürgerlichen Klassen bzw. der Wirtschaft) als dann der russische „Bolschewismus“ gleichsam zum Vorbild genommen wird.
An diesem frühen Zeitpunkt der „deutschen Novemberrevolution 1918“ wird bereits ein Zielkonflikt oder gar ein Spannungsverhältnis zwischen gemäßigteren und radikaleren Auffassungen für eine künftige Wirtschafts- und auch Rechtsordnung Deutschlands sichtbar; zusätzlich durch den Druck wegen der bevorstehenden Friedensverhandlungen entwickelte sich eine brisante Gemengelage, die es liberalen Wirtschaftsfachleuten wie Rathenau erschwerte, sich objektiv in die hitzigen Diskussionen einzubringen und hinreichend Gehör zu finden. So wurde zwar schon im Dezember 1918 eine (erste) Sozialisierungskommission gebildet, allerdings ohne Walther Rathenau zu berücksichtigen. Im Wesentlichen wurden in diesem Gremium allgemeine Fragen für eine geplante „Sozialisierung“ des Kohlenbergbaus und auch der Kaliwirtschaft behandelt. Ergebnis waren im März und April 1919 zwei Gesetze zur künftigen Behandlung der Kohlen- und Kaliwirtschaft, die jedoch gerade nicht „vergesellschaftet“ wurden, sondern lediglich einem „Reichskohlenrat“ und einem „Reichskalirat“ unterstellt wurden. (19)
Dadurch wurde aber nicht nur der „klassische Kommunismus“ (Verstaatlichung durch Enteignung) nicht umgesetzt, sondern wegen der typisch deutschen Neigung zur Bürokratisierung gerade keine gemeinwirtschaftliche Perspektive eröffnet (es fehlte jeder Wille zur Bildung eines politischen Gemeinschaftsbewusstseins; das, was heute u.a. mit dem Merkmal „Nachhaltigkeit“ bezeichnet werden soll). Man könnte auch sagen, Beamtengeist statt Innovationen und kreative Ideen (besonders im Hinblick auf die Schwierigkeit, einerseits über 65 Millionen Menschen in Deutschland mit dem Nötigsten zu versorgen, andererseits die Mittel für künftige Reparationsleistungen zu beschaffen).
Die Arbeit der ersten „Sozialisierungskommission“ verlief dann spätestens ab Frühsommer 1919 im Sande; die Begriffe „Gemeinwirtschaft“ oder „gemeinwirtschaftliche Grundsätze“ fanden dann zwar noch spärlichen Eingang in die Weimarer Reichsverfassung vom August 1919 (s. Artikel 7 Nr. 13, 156 Abs. 2 und 3), hatten aber keine praktische Bedeutung mehr im Verfassungsleben. (20) Die ursprünglich sozialistischen Kräfte vom November 1918 haben im Laufe des Jahres 1919 immer weiter nachgegeben (besonders nach der Wahl zur Nationalversammlung und der ersten richtigen Regierungsbildung), so dass durch den beachtlichen Einfluss der rasch erstarkenden bürgerlichen Wirtschaftselite in den unterschiedlichsten Gremien und Kommissionen das alte liberal-kapitalistische System in seinen Grundzügen mehr oder weniger beibehalten wurde (von einigen kosmetischen Neuerungen, wie dem Acht- Stunden-Tag, vielleicht einmal abgesehen – oft aber auch nur auf dem Papier).
Außerhalb der Verfassungsdiskussionen ging aber das politische Leben in der jungen Weimarer Republik weiter: Nach dem gescheiterten Kapp-Lüttwitz-Putsch im März 1920 musste auf Druck der Gewerkschaften doch noch eine weitere Sozialisierungskommission einberufen werden. In dieser zweiten Kommission ab Mai 1920 wurde dann auch Walther Rathenau als Sachverständiger berücksichtigt; auch wenn es immer noch spürbaren Widerstand besonders aus dem sozialistischen Lager gegen seine Person gegeben hat.
Denn im Gegensatz zum Dezember 1918, als die erste Kommission bestimmt und einberufen wurde, hatte sich Rathenau in der Zwischenzeit als Teilnehmer an den Besprechungen in der „Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen“ im Frühjahr 1919 produktiv einbringen können. (21)
Auch wenn er meist eher als Außenseiter auftrat, der auch unbequeme Ansichten bzw. Wahrheiten in Bezug auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der zu erwartenden Friedensbedingungen äußerte (weil er die Komplexität globaler Wirtschaftstätigkeit besser verstand als die meisten seiner Unternehmerkollegen), konnte Rathenau seinen Ruf als unbestrittener Wirtschaftsfachmann kräftig aufpolieren. Das führte auch dazu, dass er im Sommer 1920 als Experte der deutschen Regierung an der Konferenz im belgischen Spa teilnehmen durfte, auf der insbesondere die Frage der Ausgestaltung künftiger Reparationen behandelt wurde und auf der erstmals seit dem erzwungenen Abschluss des Versailler Friedensvertrages deutsche und Vertreter der Siegermächte persönlich miteinander verhandelten. Insoweit verknüpften sich Rathenaus wirtschafts-und allgemeinpolitischen Ambitionen (hierzu weiter unten).
Anfang September 1920 wurden dann die Ergebnisse bzw. Vorschläge der zweiten Sozialisierungskommission von der damaligen Reichsregierung veröffentlicht; insbesondere sollte erneut vor allem die Neuordnung des Kohlenbergbaus erfolgen: wiederum prallten die unterschiedlichen Auffassungen aufeinander. Aber wegen der zwischenzeitlich verfestigten Eigentumsordnung in der Weimarer Verfassung waren Forderungen nach einer (echten) „Verstaatlichung“ (Vollsozialisierung) doch mehr als weltfremd; aber auch Rathenaus Gemeinwirtschaftsmodell, das am ehesten hätte umgesetzt werden können, wurde von den „Entscheidungsträgern“ der damaligen Reichspolitik nicht wirklich unterstützt. Im Ergebnis wurden somit die rein theoretischen Erkenntnisse auch der zweiten „Sozialisierungskommission“ zu den Akten gelegt und erfuhren keine unmittelbare praktische Umsetzung in der damaligen Sozial- und Wirtschaftspolitik.
Für Walther Rathenau bedeutete die Berücksichtigung, als Regierungsexperte (Sachverständiger) sowohl an der (innerdeutschen) Sozialisierungskommission als auch an der Konferenz in Spa über Einzelheiten der Reparationsfrage teilgenommen zu haben, einen weiteren Schritt in die politische Öffentlichkeit; ob diese Hinwendung zur großen Politik wirklich so freiwillig und begeistert erfolgte, braucht an dieser Stelle noch nicht erörtert zu werden.
Bei der Betrachtung der eher sozioökonomischen Positionen und Überlegungen Rathenaus verdient aber ein Punkt noch besondere Erwähnung, also nicht bloß die rein unternehmerischen Standpunkte und Theorien. Denn daneben war auch die „Bildungspolitik“ für ihn ein besonderes Anliegen; schließlich hätte es für sein Modell der Gemeinwirtschaft auch Mitarbeiter auf allen Ebenen mit einem gewissen Bildungsniveau gebraucht. Für Rathenau war der Zusammenhang von allgemeiner Bildung und politischer Bildung absolut zwangsläufig. Hier gab es jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts und auch unmittelbar nach Gründung der Weimarer Republik noch beträchtliche Defizite. Damals gab es ein spürbares Gefälle an Bildungsmöglichkeiten bzw. -angeboten zwischen städtischen und ländlichen Regionen, wobei zusätzlich auch viele Kinder wegen der konfessionellen Unterschiede benachteiligt wurden. In den stärker katholisch geprägten Landstrichen wurde bei der meist bäuerlichen Bevölkerung kein allzu großer Wert auf qualifizierte Ausbildung bzw. Bildungsabschlüsse gelegt; in den Familien jüdischer Bildungsbürger der (Groß-)Städte hingegen wurde sogar an eine überdurchschnittlich gute Schulbildung für Mädchen gedacht.
Dieses durchaus soziale Gefälle beim Bildungsniveau der Kinder und Jugendlichen im Hinblick auf die soziale Herkunft der Eltern war – wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen – also auch schon vor über hundert Jahren in Deutschland bekannt und hat bis heute im Prinzip nichts an Aktualität verloren (allerdings hat wohl statistisch gesehen die Quote von Mädchen und jungen Frauen mit qualifizierten Abschlüssen deutlich zugenommen – an dieser erfreulichen Entwicklung hätte auch ein modern denkender Unternehmer wie Rathenau regen Anteil genommen – auch wenn ihm nachgesagt wird, einen Groll gegenüber emanzipierten Frauen gehegt zu haben).
Um 1919/22, zur politisch aktivsten Zeit von Walther Rathenau, war es jedoch noch völlig undenkbar, dass Frauen als gleichberechtigte Teilnehmerinnen an den großen Konferenzen hätten mitarbeiten dürfen; dabei wäre gerade bei den heiklen Streitpunkten, wie die Regelung der Nachkriegspolitik in Europa und vor allem beim Thema der Reparationsleistungen, ein weniger testosterongesteuerter Blick durchaus nützlich gewesen.
Jedoch hat Walther Rathenau bei seinen Auftritten auf dem politischen Parkett, unabhängig ob in Berlin oder auf europäischer Bühne, immer versucht, einen sachlichen Rahmen zu wahren und rational statt emotional zu agieren; dies war wegen der ihm oft entgegenschlagenden Wellen von Empörung oder gar Hass und Wut sicherlich nicht immer einfach.
2) Rathenaus Außenpolitik
Wenn weiter oben geschildert wurde, dass Rathenaus politisches Wirken erst im Frühjahr 1920 richtig begonnen habe, ist dies insoweit zu ergänzen, dass er – auch außerhalb seiner Schriften zu wesentlichen politischen Fragen, die teils auf ein großes Interesse stießen – bereits früher Aufträge bzw. Missionen übernommen hatte, die ihn mit politischen Themen, Verhältnissen und Problemen der damaligen Zeit in Kontakt brachten. Als er 1907/08 im Gefolge des damaligen Reichskanzlers v. Bülow gleich zweimal nach Afrika reiste, um die reale Situation in den deutschen Kolonien zu erleben, war er ja nicht bloß als privater Unternehmer gefragt, sondern auch als Wirtschaftsfachmann, auf dessen Expertise die Reichsregierung (mangels eigener Fachleute) große Hoffnungen setzte.
Dass die katastrophalen Verhältnisse in den Kolonien (aber nicht nur in den deutschen, die Engländer, Franzosen oder Belgier waren in Afrika keinen Deut besser) sich bis 1914 nicht wirklich besserten, lag nicht am Desinteresse Rathenaus, sondern an der Unfähigkeit inklusive Arroganz in den Führungsetagen beim Reichskolonialamt und im Auswärtigen Amt. Ein besonders schneidiger Karrierist im Kolonialamt zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der bereits oben kurz erwähnte Karl Helfferich (der allerdings damals mehr mit Matthias Erzberger im Clinch lag).
Rathenaus zweiter Ausflug in die Welt der Politik erfolgte dann unmittelbar nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Auch wenn man Rathenau sicherlich nicht als klassischen Pazifisten wird bezeichnen können (viele Töchter der „AEG“ waren zumindest mittelbar mit der Kriegswirtschaft verbunden), so war er dennoch kein begeisterter Anhänger der damals besonders beliebten Politik des „Säbelrasselns“ und fürchtete einen großen Krieg in Europa.
Als sich schon 1912 die allgemeine (außen-)politische Stimmung immer mehr eintrübte, befürchtete Rathenau, wenn ein großer Krieg in Europa ausbrechen würde, dass dieser durchaus auch zu Ungunsten Deutschlands enden könnte und im Falle einer Niederlage dann extreme wirtschaftliche Belastungen nicht nur auf das Deutsche Reich als Staat, sondern ganz konkret auf die deutsche Wirtschaft zukommen würden.
In einem solchen Szenario würden es die großen Unternehmer sein, die besonders stark zur Leistung von Reparationen herangezogen werden würden (was ja dann auch teilweise ab 1919 eingetreten ist): die Arbeiter- oder die Landwirtschaft wären zu arm, das mittlere Bürgertum hätte auch nicht mehr aufbringen können, dann blieben nur noch die Großunternehmer (die „Industrie“), um die Folgen eines verlorenen Krieges zu tragen – soweit Rathenaus persönliche Befindlichkeiten vor 1914. (22)
Zusammen mit echter Sorge vor den Folgen einer militärischen Niederlage machte sich Rathenau bereits Anfang August 1914 ernsthafte Gedanken um die Rohstoffversorgung im Deutschen Reich. Es war ihm aufgrund seiner Erfahrungen als Unternehmer im Bereich der chemischen Industrie schnell klar geworden, dass für kriegsrelevante Beschaffungs- und Herstellungsprozesse Probleme bei der Rohstoffversorgung auftreten würden; Probleme, an die im Kriegsministerium bzw. der Obersten Heeresleitung niemand gedacht und für Vorrat gesorgt hatte.
„In diesem Sinne unternahm Rathenau sogleich, Anfang August 1914, zwei Vorstöße: einen in weitläufigere Dimensionen führenden, der sein politisches Konzept umriß; ihr Adressat war die politische Führung des Reiches und der Reichskanzler Bethmann Hollweg. Und der Adressat des anderen war das Kriegsministerium, das er auf die zentrale Bedeutung der Rohstoffrage für eine erfolgreiche Kriegsführung hinwies und seine persönliche Mitwirkung bei ihrer Lösung anbot.“ (23)
Dies bedeutete genauer, dass Rathenau (als „Zivilist“) dem Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg den Vorschlag unterbreitete, nach Ende des Krieges an einer Zollunion zwischen Preußen-Deutschland, Österreich, Ungarn, Belgien und Frankreich zu arbeiten.
Diese eher allgemein gehaltenen Vorstellungen Rathenaus zum Thema Zollunion (bzw. „Mitteleuropa-Idee“) fanden dann auch (allerdings abgewandelt) Eingang in das sog. „Septemberprogramm“ des Reichskanzlers, das er am 9. September 1914, auf dem Höhepunkt der bereits damals kriegsentscheidenden „Marneschlacht“, eher ad hoc als offizielles „Kriegszielprogramm“ vorstellte. Besonderes Kennzeichen des Septemberprogramms Bethmann Hollwegs war zum einen eine umfangreiche Annexionsabsicht (genau wie alle anderen „Denkschriften“ zum Thema Kriegsziele, die seit geraumer Zeit von verschiedensten Interessengruppen im Kaiserreich verbreitet wurden), aber mit einem stärkeren wirtschaftspolitischen Fokus, der zwar Deutschland in den Mittelpunkt der kontinentaleuropäischen Wirtschaftspolitik stellen sollte, aber eben gemeinsam mit anderen „Partnerstaaten“, so auch Frankreich, mit dem sofort nach (dem schnell erhofften) Kriegsende ein umfassender Ausgleich erfolgen sollte. Neben Rathenau gilt auch der damalige Direktor der Deutschen Bank, Arthur v. Gwinner, als geistiger Urheber eines solchen Programms zur Frage möglicher Kriegsziele (die jedoch vergleichsweise „moderat“ konzeptioniert waren; im Herbst 1914 gab es teilweise eine Art Überbietungswettbewerb bei der Erstellung von Denkschriften zum Thema „Kriegsziele“, von denen die Autoren auch später nur ungern abrücken wollten).
Wenn allerdings (sogar noch lange) nach dem Krieg der Eindruck erweckt wurde, Rathenau sei auch ein Anhänger/Verfechter eines radikalen Annexionismus gewesen, würde man ihn in eine Ecke stellen, z.B. zusammen mit der „Alldeutschen Partei“, in der Rathenau mit Sicherheit nicht zu verorten ist. Denn im Gegensatz zu den rassistischen und oft auch schon offen antisemitischen Anführern der „Alldeutschen“, gab sich Rathenau keinerlei Überlegenheitsgefühlen hin: Eine Abwertung der verschiedenen Völker Europas war seine Sache nicht, in diesem Punkt gab es in der damaligen Politik des Kaiserreichs ganz andere Protagonisten (allen voran Wilhelm II. selbst).
Aus heutiger Sicht lässt sich natürlich einwenden, dass jede Unterstützung der damaligen Kriegspolitik in Deutschland keine ehrenhafte oder gar sinnvolle Angelegenheit gewesen ist; aber auch (wirtschafts-)liberale Männer, wie Rathenau, konnten sich von den grundsätzlichen Strömungen des damaligen Zeitgeistes nicht völlig frei machen: Der seit den 1880er Jahren auch das Deutschen Reich beherrschende „Imperialismus“ war ja nicht bloß auf den Erwerb möglichst lukrativer Kolonien in Übersee gerichtet, sondern führte auch innerhalb Europas zu einem Wettlauf um den größten Einfluss. Dies führte auf allen maßgeblichen Gebieten (politisch und wirtschaftlich) zu einem ständigen Hochschaukeln der „Großmächte“ (den tatsächlichen wie den bereits vergangenen und den „Möchtegernen“).
Insofern wird man Rathenau einerseits schon zugute halten dürfen, dass er vor 1914 keiner war, der die fast überall im Deutschen Reich greifbare Euphorie und Kriegsbegeisterung unterstützt bzw. bewusst gefördert hat; andererseits sah er es als Verpflichtung an, als der Krieg dann doch – zu einem eher unerwarteten Zeitpunkt – ausgebrochen war, mit möglichst besten Kräften die reichsdeutsche (Kriegs-)Politik zu unterstützen, was dann auch zu seiner Vorsprache bei Kanzler Bethmann Hollweg führte, in der er seine Ideen und Vorstellungen zu einer (künftigen) Zollunion präsentierte – immerhin kann man das Mitteleuropakonzept ja auch als ein Friedensprogramm begreifen, also als ein Ausblick auf eine sinnvolle Gestaltung des europäischen Kontinents nach dem Krieg. Soweit zu Rathenaus politischem Konzept unmittelbar nach Kriegsausbruch.
Seine „kriegswirtschaftlichen Vorschläge“, die man als eine Art Ergänzung des politischen Teils seiner „Agenda“ begreifen muss, waren deutlich erfolgversprechender: Auch hier muss bedacht werden, dass Rathenau eigentlich davon ausging, dass der Krieg innerhalb weniger Monate vorbei sei und er deshalb mit führenden Vertretern im preußischen Kriegsministerium die Idee zu einer Organisation der Rohstoffversorgung entwickelte. Kriegsminister von Falkenhayn bat ihn danach, den Aufbau dieser Organisation auf sich zu nehmen. Am 13. August 1914 wurde Rathenau (obwohl er keine einschlägige militärische Laufbahn absolviert hatte) im Range eines Generals vom Kriegsministerium mit der Leitung der Kriegsrohstoffabteilung (KRA) betraut. (24)
Eine seiner ersten Aufgaben in der neuen Position war es, eine umfassende Bestandsaufnahme der vorhandenen Rohstofflager vorzunehmen; danach wurde für das Beschaffungswesen der kriegsnotwendigen Mittel eine ganz neue Organisationsstruktur entworfen (Blaupause für Rathenaus Gemeinwirtschaftsmodell). Er bekleidete dieses Amt bis zum 31. März 1915. Seine Aufgabe schien zu diesem Zeitpunkt erfüllt. Die Wirklichkeit sah jedoch anders aus.
Anlass für seine Entscheidung, die leitende Tätigkeit in der Kriegsrohstoffabteilung zu beenden, waren der hohe Arbeitsdruck, eine überall blockierende Bürokratie, Intrigen von Industriellen mit der Unterstellung, er würde die AEG bevorzugen, Differenzen über die Frage einer schnellen Beendigung des Krieges und der zunehmende Antisemitismus, welcher der Person Rathenaus entgegenschlug. (25) Da sein Vater, Emil Rathenau, kurz danach verstarb (Juni 1915) und er die Leitung bei AEG übernehmen musste, dürfte es Walther Rathenau auch nicht besonders bedauert haben, den „Regierungsjob“ wenige Wochen zuvor aufgegeben zu haben. Da aber Firmen wie AEG, Siemens, Krupp etc. aufgrund ihrer „Produktpalette“ für die deutsche Kriegsführung unverzichtbar waren, blieb Rathenau natürlich auch nach seinem Ausscheiden aus der Kriegsrohstoffabteilung dem weiteren Kriegsgeschehen verbunden. Wegen der personellen Verflechtung zwischen AEG und der inzwischen zu einem eigenständigen „Amt“ (bis 1918 gab es ca. 2500 Mitarbeiter) aufgewerteten Abteilung hatte Rathenau sogar einen besonders engen Kontakt zu den „Entscheidungsträgern“.
Daher war auch klar, dass – nachdem der schnell erhoffte Sieg bis Weihnachten 1914 ausblieb und ab 1915 der berüchtigte „Stellungskrieg“ begonnen hatte – der Arbeitskräftebedarf in Deutschland zu einem eigenen Problem werden würde. Ab 1915/16 war ein eklatanter Arbeitskräftemangel in der Rüstungsindustrie, im Bergbau und auch in der Landwirtschaft eingetreten. Unternehmen und die Militärbehörden gerieten unter Zugzwang: Von der „Obersten Heeresleitung“ ging hierzu die Initiative für ein Gesetz über den „Vaterländischen Hilfsdienst“ aus, viele Unternehmer/Industrielle forderten den Einsatz von Kriegsgefangenen. Hier begann eines der düstersten Kapitel im Ersten Weltkrieg: die Zwangsrekrutierung ausländischer Arbeitskräfte. „Insgesamt wurden während des Krieges 120000 Franzosen, 100000 Belgier und einige hunderttausend Polen nach Deutschland zur Zwangsarbeit deportiert.“ (26)
Rathenau hatte an dieser besonderen Entwicklung in zweierlei Hinsicht Anteil: Noch unter seiner Regie in der Kriegsrohstoffabteilung wurden erste „Kriegsgesellschaften“ gegründet, die immer weiter ausgebaut werden mussten, je länger der Krieg dauerte, so dass auch ein stetig wachsender Bedarf an Rohstoffen und Arbeitskräften bestand. Außerdem hatte Rathenau selbst eine eigene Fabrik zur Fertigung von Zünderteilen gegründet, in der z. B. mehr als zehntausend Frauen beschäftigt wurden. Mit anderen Worten: Auch der Unternehmer Rathenau brauchte immer mehr (am besten billige) Arbeitskräfte, die der deutsche Arbeitsmarkt nicht mehr hergab (selbst als die Frauenarbeit immer stärker ausgeweitet wurde). Da Walther Rathenau, zumindest bis 1917, einen guten Draht zu Erich Ludendorff hatte, der ja bekanntlich immer mehr an Einfluss gewann, wandte er sich direkt an den neuen starken Mann in der deutschen Armee und unterbreitete ihm verschiedene Vorschläge (ähnlich wie knapp zwei Jahre vorher gegenüber dem Reichskanzler, der aber 1916 bereits von der Obersten Heeresleitung nahezu verdrängt, wenn nicht gar entmachtet worden war – so hatten sich im Kaiserreich während des Kriegs die Prioritäten geändert).
Bei diesen Vorschlägen Rathenaus für Ludendorff ging es u.a. um eine noch stärkere Mobilisierung weiterer ziviler Arbeitskräfte, auch aus den von Deutschland besetzten Gebieten. Wohl wissend, dass dies gegen die Haager Konvention verstoßen würde, setzte sich Rathenau bei der Heeresleitung für eine Zwangsrekrutierung belgischer ArbeiterInnen ein. (27) Auch wenn er natürlich nicht an der konkreten Umsetzung solcher Planungen beteiligt gewesen ist, fürchtete Rathenau nach Ende des Krieges bzw. dem Inkrafttreten des Versailler Vertrages, dass die Siegermächte ihn als Kriegsverbrecher auf die entsprechende Liste setzen könnten, um ein Verfahren gegen ihn zu betreiben (im Ergebnis war Rathenaus Befürchtung haltlos, zeigte aber doch ein schlechtes Gewissen, das vielen seiner Unternehmerkollegen aber offensichtlich fehlte).
An diesem Punkt zeigte sich, wie sehr wirtschaftliche Interessen und kriegspolitische Notwendigkeiten miteinander verknüpft waren, so dass man den Ersten Weltkrieg auch als Beginn einer Reihe von „Wirtschaftskriegen“ im 20. Jahrhundert kennzeichnen kann, die bis heute anhalten. Auch was diesen speziellen Konnex betrifft, hat Rathenaus Person an Aktualität nichts verloren.
Kurz vor Kriegsende, Anfang November 1918, löste Rathenaus Aufruf an die Massen zu einem (zivilen) Aufstand noch einmal besondere Irritationen aus, als aus seiner Sicht die Vorbereitungen und Bedingungen für einen Waffenstillstand (der sog. Notenwechsel zwischen der deutschen Regierung und US-Präsident Wilson zog sich über Wochen hin) zum Nachteil des Deutschen Reiches zu geraten schienen.
Ähnliche Überlegungen waren für Rathenaus Vorschlag Ende Mai 1919 ausschlaggebend, nachdem der Entwurf für den Versailler Vertrag bekannt geworden war, der massive Benachteiligungen enthielt, den Vertrag für den Fall, dass keine wesentlichen Nachbesserungen erreicht werden könnten, abzulehnen verbunden mit einem ganz besonderen, fast schon paradox anmutenden Gegenvorschlag an die Siegermächte: sofortiger Rücktritt aller Regierungsmitglieder (Kabinett und Reichspräsident), Auflösung des Parlaments und eine freiwillige Suspension der Souveränitätsrechte Deutschlands. Rathenau wollte in diesem äußersten Fall die (uneinsichtigen) Siegermächte auffordern, die gesamte Regierungsgewalt in Deutschland zu übernehmen. (28)
Dieser Gedanke eines „umgedrehten“ Ultimatums an die Sieger, „entweder werden die Friedensbedingungen erträglicher gestaltet, wodurch Deutschlands Zukunftsfähigkeit erhalten bleibt, oder ihr müsst selbst die Regierung übernehmen und sehen, wie es dann läuft“, dürfte ein Novum in der europäischen Geschichte darstellen. Selbst nach der bedingungslosen Kapitulation Hitler-Deutschlands am 8. Mai 1945 wurde eine solche Position, dass freiwillig auf Souveränitätsrechte (vorübergehend) verzichtet werden sollte, nicht vorgetragen.
Hier kommt Rathenaus Credo des „ehrbaren Kaufmanns“ offen zum Tragen: Wird die für einen fairen Vertrag normalerweise unerlässliche Ausgewogenheit („Äquivalenz“) von einer der Vertragsparteien, z.B. weil diese unangemessene Vorteile hat („am längeren Hebel sitzt“) bewusst vereitelt, so dass eigentlich ein „Knebelvertrag“ vorliegt, so muss diese wirtschaftlich oder politisch überlegene Seite damit rechnen, dass die unterlegene Seite sich nicht an die vertragsgemäße Erfüllung hält. Nach dem Motto: Diejenigen, die einen unerfüllbaren Vertrag vorsetzen, sollen dann auch die Konsequenzen tragen, wenn der Vertrag (in der als unerfüllbar kritisierten Form) von den Verlierern abgelehnt wird.
Walther Rathenau hat diese, sicherlich „einzigartigen“ Vorschläge, sogar in zwei getrennten, inhaltsgleichen Artikeln veröffentlicht; auch wenn die von ihm gewählten Zeitungen keine „Massenblätter“ gewesen sind, konnte die interessierte Öffentlichkeit diese besondere Publikation zur Kenntnis nehmen. (29) Nachdem dann am 16. Juni 1919 die Siegermächte tatsächlich ihr eigenes Ultimatum an die deutsche Regierung gestellt hatten, war die von Rathenau befürchtete Situation trotz aller Warnungen dennoch eingetreten.
Auch wenn Rathenaus „Gedankengang“ zumindest im Stillen von vielen Abgeordneten in der Nationalversammlung, in der Reichsregierung (z.B. Ministerpräsident Scheidemann) und in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung geteilt wurde, konnte sich kein offizieller „Entscheidungsträger“ zu einer derart weitreichenden Schlussfolgerung durchringen und damit den alliierten Siegern den „schwarzen Peter“ zuschieben. Stattdessen wurde auf die knappe Mehrheit unter den verhandlungsbereiten Politikern gehört, die – natürlich mit gut nachvollziehbaren Argumenten – für die Annahme des (nur wenig nachgebesserten) Entwurfs eines Friedensvertrages plädierten; allesamt mit großen Bauchschmerzen und sicher auch geballter Faust in der Tasche (auch bei den Teilnehmern der Delegation, die am 28. Juni 1919 den Vertrag im geschichtsträchtigen Spiegelsaal des Versailler Schlosses unterzeichneten).
Man könnte auch sagen: Eine kleine Niederlage für Rathenau, eine viel größere für Deutschland (und weil davon auszugehen ist, dass Hitlers Aufstieg direkt mit seiner Hetze gegen den Versailler Vertrag zusammenhängt, dann auch für den Rest Europas und großer Teile der übrigen Welt). Wie bereits kurz angedeutet, hatte Rathenaus Verhalten zum Ende des Krieges und unmittelbar danach für einige Verwirrung Anlass gegeben, so dass er direkt nach den Umwälzungen vom November 1918 weder ein politisches Amt noch sonst eine offizielle Position übertragen bekommen hatte. Im Gegenteil, als sein Name (ohne sein Zutun) als möglicher Kandidat für die Wahl des Reichspräsidenten im Februar 1919 genannt wurde, wurde Rathenau sogar ausgelacht – selbst weniger sensible Naturen hätten ein solches Gelächter als persönliche Schmach empfunden. Aber trotz allem war es für Walther Rathenau auch weiterhin eine Verpflichtung, seine Erfahrung und sein Wissen dort einzubringen, wo seine Person erwünscht war und teils sogar gerufen wurde. Dies hat besonders seine Tätigkeit als Mitglied bei den Tagungen der „Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen“ (ab ca. Februar/März 1919) ausgezeichnet. (30) Obwohl dort nahezu die gesamte Wirtschaftselite des Deutschen Reiches mitgewirkt hat, kam im Ergebnis kaum etwas Brauchbares heraus. Rathenaus Befürchtung war, dass die deutsche Delegation, die nach Versailles entsandt werden sollte, aber ohne echtes Verhandlungsmandat, von falschen Vorstellungen über die wirtschaftliche Tragweite des Reparationsproblems ausgehen würde: unschlüssige Argumente im falschen Kontext, in einer trotzigen Grundhaltung vorgetragen (auch insoweit sollte er Recht behalten). Daher wird es ihn nicht allzu sehr verärgert haben, dass man nicht ihn als Wirtschaftsfachmann zu der aus sechs Mitgliedern bestehenden offiziellen Hauptdelegation ernannt hatte, sondern Carl Melchior (hinter Rathenau und Max Warburg eher aus der zweiten Reihe); zumal sein befreundeter Kollege Warburg vor den Anfeindungen warnte, die jeden bekannten Juden als Mitglied der offiziellen „Friedensdelegation“ treffen würden (ebenfalls eine Befürchtung, die eintreffen sollte).
Das restliche Jahr 1919 und die ersten Monate 1920 beschäftige sich Rathenau teilweise mit seinen zahlreichen Schriften und natürlich mit seinem Konzern, denn die vorhersehbaren Schwierigkeiten, die aus dem Versailler Vertrag auch für AEG resultierten, schlugen sich auf dem heimischen wie auf dem Weltmarkt nieder und verlangten nach einem fähigen und willensstarken Konzernchef. Seiner Berufung in die Zweite Sozialisierungskommission im Mai 1920 folgte die Berücksichtigung in der Delegation für das Wirtschaftstreffen in Spa im Sommer 1920, an der endlich auch wieder Vertreter Deutschlands teilnehmen konnten. Da Anfang Juni 1920 der erste „richtige“ Reichstag gewählt worden war, der zu einem ersten Rechtsruck im Parlament geführt hatte, so dass auch erstmals die „Deutsche Volkspartei“, DVP, mit eigenen Ministern an der Regierungsbildung beteiligt wurde, schwand allerdings Rathenaus Aussicht auf ein Ministeramt, da zum damaligen Zeitpunkt die rechtsliberale Volkspartei zu Rathenau kein gutes Verhältnis hatte; aber auch seine eigene Partei, die linksliberale DDP, wie auch der Verlegenheitskandidat im Amt des Reichskanzlers, der alte Mann Fehrenbach vom Zentrum, hatten kaum Lust auf Rathenaus Anwesenheit am Kabinettstisch.
Da aber in der Weimarer Republik die Regierungen teilweise im Jahrestakt wechselten und bereits im Mai 1921 ein neuer Kanzler mit eigener Regierungsmannschaft antrat, sollte sich auch für Walther Rathenau der langgehegte Traum eines Ministeramtes doch noch erfüllen: Joseph Wirth (Zentrum, dort allerdings dem mehr „sozialen“ Flügel zugerechnet) wollte Rathenau in die Regierung holen, weil er sich von diesem anerkannten Wirtschaftsfachmann neue Impulse vor allem in der festgefahrenen Reparationspolitik erhoffte. Aus Gründen der Fraktionsdisziplin konnte/durfte Rathenau (noch) nicht das Amt des Außenministers übernehmen und musste mit dem eher unscheinbaren Posten des „Wiederaufbauministers“ vorliebnehmen. Aber dies nahm Rathenau nicht krumm, da er sich in wesentlichen Fragen der Wirtschafts- wie Außenpolitik mit Kanzler Wirth, ebenfalls ein eingefleischter Junggeselle wie Rathenau, einig wusste. Obwohl Kanzler Wirth und er aus völlig unterschiedlichen sozialen Milieus stammten und (zumindest oberflächlich betrachtet) auch kulturell nicht unbedingt „kompatibel“ erschienen (ein süddeutscher Katholik und ein preußischer, großstädtischer Jude), gab es zwischen beiden Männern viele Übereinstimmungen im politischen Denken; außerdem waren beide in ihren eigenen Reihen oft recht unbeliebt oder gar in der Minderheit, eine weitere Verbindung in ideeller Hinsicht. (31)
Auch während einer kurzen Unterbrechung im Herbst 1921 blieb Rathenau für Kanzler Wirth eine verlässliche Stütze und kompetenter Berater. So wurde im Oktober 1921 das sog. Wiesbadener Abkommen unter Federführung Rathenaus geschlossen, das eine erste ernsthafte Annäherung mit Frankreich brachte. Als dann im Januar 1922 der Posten des Außenministers (erneut) besetzt werden sollte, kam das Kabinett (natürlich unter deutlicher Mithilfe des Reichskanzlers) nicht mehr an Rathenau vorbei; dieser wurde trotz bestimmter Vorbehalte, die immer noch gegen seine Person vorgebracht wurden, zum deutschen Außenminister ernannt und trat sein wichtigstes Amt für Deutschland Ende Januar 1922 an. Dieser neue Abschnitt in seiner politischen Vita brachte für Rathenau auf jeden Fall noch mehr Arbeit und er setzte sich noch größeren Gefahren für sein Leben aus als bisher. Die Zahl der Drohbriefe und Beleidigungen nahm immer mehr zu (heute würde dies unter dem #hatespeech noch ganz andere Ausmaße annehmen), doch auf einen umfassenden Personenschutz glaubte Rathenau verzichten zu können. Nicht zuletzt wegen seiner zahlreichen Termine. Obwohl Walther Rathenau nur knapp fünf Monate als Außenminister amtierte, gilt sein Wirken über den Tod hinaus als prägend für eine ganze Epoche – dies liegt am Verlauf der Konferenz von Genua im April und Mai 1922 und wird mit dem Namen eines kleinen Vorortes verbunden.
Exkurs: Vertrag von Rapallo vom 16. April 1922
Nicht nur Rathenau selbst hatte, wie mehrfach festgestellt, einen ambivalenten Charakter, sondern auch das gesamte politische Umfeld in Deutschland in den frühen 1920er Jahren war voller Widersprüche, sonst wäre diese äußerst merkwürdige Zuschreibung des Vertrages von Rapallo als beinahe schon einseitige Leistung Rathenaus kaum zu erklären: Jeder aus der näheren Umgebung des Außenministers wusste um die Bedenken (oder zumindest das ungute Gefühl), welche Rathenau in Ansehung der Umstände dieser „Vertragsanbahnung“ hatte, gleichwohl entstand in der Öffentlichkeit nahezu einhellig der Eindruck und die bald „herrschende Meinung“, Rathenau sei für diesen Vertrag eigentlich allein verantwortlich (auch wenn er diesen bloß kraft seiner Funktion als zuständiger Minister unterschrieben hatte). Die bereits kurz nach Vertragsschluss bzw. Konferenzende einsetzende Kritik und Verachtung bekam daher auch (fast ausschließlich) Rathenau ab, da ihm ganz besonders das Stigma des „Erfüllungspolitikers“ anhaftete – bis zu seiner kurze Zeit später erfolgten Ermordung.
Daher sollen wenigstens die wesentlichen Details kurz zusammengefasst werden. (32) Wie alle internationalen Treffen, Konferenzen und Vereinbarungen, die nach dem Diktatfrieden von Versailles (so zumindest die nahezu einhellige Beurteilung in Deutschland, die als kleinster gemeinsamer Nenner zur politischen Grundlage aller maßgeblichen ideologischen Lager wurde; und meist die einzige blieb) ab 1920 stattfanden, war auch die Finanz- und Wirtschaftskonferenz in Genua im Frühjahr 1922 eine Fortsetzung bisher eher unbefriedigender diplomatischer Versuche, die wirtschaftliche Nachkriegsordnung Europas und insbesondere das brisante Thema der Reparationen zu regeln. (33)
Obwohl das von Rathenau maßgeblich vorangebrachte Wiesbadener Abkommen vom Oktober 1921 eigentlich ein positives Zeichen darstellen sollte, bedeutete das im Dezember 1921 formulierte Londoner Kommuniqué schon wieder einen Rückschritt für die Ausgleichsbemühungen auf dem Kontinent (Hintergrund waren, wie so oft kurz nach Bekanntgabe der konkreten Reparationsforderungen, die von Deutschland geltend gemachten Zahlungsschwierigkeiten in einem Bittschreiben vom 14.12.1921). Daraufhin wurde für Anfang Januar 1922 in Cannes eine weitere Konferenz einberufen, die eher kleinteilig bestimmte Detailfragen behandeln sollte. Zur weiteren Sachbehandlung wurde dann die Durchführung einer größeren Fachkonferenz für das Frühjahr 1922 in Genua beschlossen; Schwerpunkt der Genueser Konferenz war eigentlich eine umfassende Aufarbeitung der politisch wie ökonomisch sehr verwickelten Schwierigkeiten bei der Reparationsfrage. Dass dann in einem kleinen Vorort, außerhalb des offiziellen Rahmens, ein separater Vertrag geschlossen werden sollte, war zumindest für die Gastgeber und Initiatoren der Konferenz völlig überraschend.
Aber nicht für die „Insider“ auf Seiten der künftigen Vertragspartner Deutschland und Sowjet-Russland, der späteren Sowjetunion. Denn was kaum jemand außerhalb der unmittelbar beteiligten Personen wusste, war, dass bereits direkt nach Cannes Mitte Januar 1922 (also noch bevor Rathenau zum Außenminister ernannt wurde) ein ganz besonderer russischer Gast in Berlin zu Besuch war: Karl Radek, eine der schillerndsten und undurchsichtigsten Gestalten aus den Reihen der russischen/sowjetischen Kommunisten, von Lenin immer gerne für Missionen in Deutschland ausgewählt (so auch bei der Gründung der KPD Ende Dezember 1918). Kanzler Wirth, zusammen mit einem hohen Beamten des Außenamtes („Ago“ v. Maltzan) und hauptsächlich Radek hatten bis Ende Januar 1922 geradezu konspirativ die Grundlagen für eine ganz spezielle deutsch-russische Zusammenarbeit gelegt, die noch sehr lange andauern sollte (auf ganz unterschiedlichen Sachgebieten). Rathenau war zwar an den allgemeinen Verhandlungen beteiligt bzw. über die grundsätzliche Linie informiert, doch war auch bekannt, dass er Radeks Verhalten (vor allem seinen Agitations- und Propagandatricks) misstraute. (34)
Als dann aber Rathenau Ende des Monats Außenminister geworden war, kamen die Verhandlungen zwischen der deutschen und der russischen Seite zunächst ins Stocken, da einerseits der neue Außenminister als zu „westlich“ eingestellt galt (Rathenau hatte ja bekanntlich gute Kontakte nach London), andererseits Unstimmigkeiten bei wirtschaftlichen Detailfragen aufkamen; man muss sich in diesem Zusammenhang nur einmal die Liste der Personen anschauen, die auf deutscher Seite als Vertreter von Wirtschafts- und Industrieverbänden involviert waren. (35)
Daher vertagte man sich auf Anfang April 1922, auch weil beide Seiten sich auf die Genueser Konferenz vorbereiten mussten (aber eigentlich war der spätere Vertrag von Rapallo schon zu diesem Zeitpunkt unterschriftsreif, doch die Russen wollten auf dem neuen diplomatischen Parkett noch etwas „pokern“ und ihren Marktwert testen). Denn immerhin war die Konferenz von Genua die erste wirklich große internationale Versammlung, auf der alle großen Nationen (außer den USA) gleichberechtigt vertreten waren. Man darf nicht vergessen, dass (das neue, jetzt „sowjetische“) Russland genauso wie das Deutsche Reich bis dahin – vor allem auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 – als Außenseiter bewusst unerwünscht gewesen waren, allerdings aus völlig unterschiedlichen Gründen: Deutschland, weil es als Hauptschuldiger für den Ausbruch und zerstörerischen Verlauf des Weltkrieges galt, dem kein Verhandlungsrecht an der künftigen Friedensordnung eingeräumt werden sollte (besonders aus französischer Sicht); Russland, weil es aufgrund der radikalen gesellschaftspolitischen Umwälzungen zunächst als zu instabil galt, als dass man mit Lenin oder Trotzki ernsthaft verhandeln wollte (hier waren besonders die Engländer dagegen).
Nun bestand in Genua die Aussicht, dass über das Verhältnis zwischen den kapitalistischen Staaten und der neuen russischen Staatsführung vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht verhandelt werden würde. Doch ergaben sich im Verhältnis zu den westlichen Siegerstaaten noch größere Differenzen und Widersprüche als mit dem ehemaligen Kriegsgegner Deutschland, so dass man auf russischer Seite rasch zur Überzeugung gelangte, nun endgültig mit der deutschen Delegation handelseinig zu werden (die Vertragsentwürfe waren ja schon bis auf abschließende Formulierungen unterschriftsreif).
Für die russische Seite hatte sich auch der Eindruck bestätigt, dass die Deutschen es ehrlicher mit ihnen meinten als Franzosen und Engländer (die mehr auf ihre Rechtspositionen laut Versailler Vertrag pochten, so beim umstrittenen Artikel 116, Abs. 3, wonach sich die Siegermächte ausdrücklich eigene russische Wiedergutmachungsansprüche vorbehielten, also über mögliche russische Forderungen wirksam verfügen wollten: eine spezielle Form eines „Vertrages zu Lasten Dritter“, der nach allgemeinem Rechtsverständnis unzulässig sein würde, wenn nicht die Siegermächte am längeren Hebel der Friedensverhandlungen gewesen wären). Außerdem stellten sich die Russen auf den Rechtsstandpunkt, dass das alte zaristische Russland (Kaiserreich) 1917 völkerrechtlich untergegangen sei, also keine Rechtsnachfolge in Altlasten (z. B. Schulden) aus der Vorkriegszeit eingetreten sei; ein Affront aus westeuropäischer Sicht. Deutschland war an diesem Punkt viel verhandlungsbereiter, da man ja selbst eigene Zahlungspflichten, die aus nach 1914 verursachten Kriegsschäden resultierten, unbedingt vermeiden wollte: also eine Win-Win-Situation!
So entstand dann auch der wesentliche Inhalt des Vertrages, der den Namen des kleinen Vorortes von Genua (wegen des dort gelegenen Hotels der russischen Delegation) erhalten sollte. Vergleicht man den Umfang des Versailler Vertrages mit seinen 440 Artikeln und unzähligen Anlagen mit den gerade einmal sechs Artikeln des „Rapallo-Vertrages“ (und ein Artikel enthielt lediglich formaljuristische Bestimmungen), entsteht schon ein merkwürdiger Eindruck, warum deshalb so viel Wirbel gemacht wurde. Beide Seiten vereinbarten die Aufnahme diplomatischer (konsularischer) Beziehungen, einen gegenseitigen Verzicht auf Erstattung von Kriegskosten und auf Entschädigung für zivile und Kriegsschäden, die Anerkennung der entschädigungslosen Enteignung bisher deutschen Eigentums, das im Nachkriegsrussland belegen war, sofern Russland keine entsprechenden Ansprüche anderer Staaten anerkennt, die Einräumung einer sog. Meistbegünstigungsklausel und die Verpflichtung, sich gegenseitig bei der Entwicklung von Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zu unterstützen.
Doch dabei ging es um sehr viel mehr als einige (ziemlich allgemein gehaltene) Erklärungen, was auch die im Vorfeld langen Besprechungen seit Mitte Januar 1922 in Berlin zwischen Russen und zahlreichen Vertretern der deutschen Wirtschaft erst verständlich macht: Einerseits hatten die russischen Revolutionäre in den beiden Jahren zuvor ihre Macht endgültig gesichert, das bis dahin geltende Konzept der „permanenten Revolution“ (Trotzki) neigte sich dem Ende zu; außerdem war Revolutionsführer Lenin schlau genug zu erkennen, dass die bisherige Form des „Kriegskommunismus“ keine Zukunft haben würde: ein neues Wirtschaftskonzept musste her, was nur mit ausländischen Investitionen umgesetzt werden konnte. Wie alle politischen Extremisten hatte auch Lenin keine Scheu bei der Wahl seiner Partner und Förderer (die deutsche Industrie hatte auch bei den Kommunisten einen guten Ruf), ein internes Gegengewicht war spätestens mit dem Tod Rosa Luxemburgs in der kommunistischen Bewegung nicht mehr vorhanden, die „Komintern“ war schon früh auf seine Linie gebracht worden. Andererseits wollte die Industrie und die gesamte Wirtschaft in Deutschland nach dem Debakel von 1918 endlich wieder Geld verdienen und damit auch Einfluss zurückgewinnen (selbst um den Preis, mit dem denkbar größten Antipoden ins Geschäft kommen zu müssen: „pecunia non olet“).
„Der Vertrag von Rapallo 1922 schuf beiden Ländern den gewünschten Manövrierraum. Für Deutschland bildete der Vertrag ein gewisses Gegengewicht zur Entente in Europa. Es war der erste umfassende Vertrag, den Deutschland nach dem Krieg als gleichberechtigter und souveräner Partner unterzeichnete. Für Sowjetrussland schuf der Vertrag das notwendige Gegengewicht zu dem von Frankreich initiierten cordon sanitaire, der gegen beide Seiten, Deutschland wie Russland, gerichtet war. Deutschlands Ziel war es, mit diesem Vertrag eine Basis zu finden, um die verlorene Großmachtstellung wiederzuerlangen. In der deutschen Intention war der Vertrag von Rapallo weder als »Ost-Option« im Gegensatz zur »West-Option« noch als Kern eines um-fassenden kollektiven Sicherheitssystems gedacht“. (36) Welche weitergehenden Motive die neuen russischen Machthaber im Kreml insgesamt hatten, lässt sich bei dem ganzen Agitations- und Propagandaaufwand, der dort betrieben wurde, nur schwer ausmachen. Neben ausgedehnten Wirtschaftsinteressen hatten die Sowjets auch von Anfang an starke Ambitionen auf militärischer Ebene (die geheime Aufrüstung der Reichswehr gelang mit freundlicher Hilfe der Roten Armee, die von einem enormen Technologietransfer mehr als profitierte: erneut eine Win-Win-Situation).
Die grundsätzliche politische Ausrichtung, die mit dem Rapallo-Vertrag gerade in der Außenpolitik besonders eng verknüpft wird, fällt unter das Schlagwort von der „friedlichen Koexistenz“. Wann dieses epochale Prinzip erstmals in die Diskussion eingebracht wurde, lässt sich schwer festmachen, aber zumindest wurde es inhaltlich (als Idee) vom damaligen sowjetrussischen Außenminister in einer Rede in Genua kurz vor Abschluss des Rapallo-Vertrages als Zielvorstellung verkündet und sollte die Realitäten anerkennen, dass im damaligen Europa verschiedene soziale, wirtschaftliche und politische Systeme vorhanden waren, die trotz dieser Unterschiedlichkeit den allgemeinen wirtschaftlichen Aufbau im Nachkriegseuropa als gemeinsame Aufgabe begriffen. Außer diesem wirtschaftlich-materialistischen Aspekt, der von sozialistischen Theoretikern (neben Lenin hat es besonders von Rosa Luxemburg und Rudolf Hilferding wichtige Vorarbeiten gegeben) bereits kurz vor Beginn des Weltkrieges thematisiert wurde, hat sich hinter dem Stichwort „friedliche Koexistenz“ ein ganzes Sammelsurium unterschiedlicher Interessen auf wirtschaftlichem, militärischem und rein politischem Gebiet verborgen. Zu Walther Rathenau hat es gerade beim Thema der Neuausrichtung einer ganzen Volkswirtschaft durchaus Berührungspunkte gegeben, da ihm ja ebenfalls gravierende Änderungen in der makro-ökonomischen Struktur des Deutschen Reiches vorschwebten. Sein Konzept einer Gemeinwirtschaft, in dem zumindest in Teilbereichen auch staatsintervenistische Eingriffe bis hin zu planwirtschaftlichen Vorgaben vorgesehen waren, deckte sich durchaus mit Lenins „neuer ökonomischer Politik“ in der künftigen Sowjetunion (daher kann Rathenau zumindest teilweise auch als Lenins Ideengeber betrachtet werden).
Daneben galt Rathenau ja auch als Mann des Ausgleichs, sowohl in wirtschaftlichen Belangen als auch zwischen den europäischen Völkern (insoweit inklusive Nordamerika). Daher hatte die Idee des Zusammenwirkens von Staaten mit unterschiedlicher Wirtschafts- und Eigentumsordnung zum Zwecke gemeinsamer Aufbaupolitik für ihn einen großen Reiz – doch sollte nicht vergessen werden, dass Rathenau grundsätzlich eher mit westeuropäischen Partnern vertraut gewesen ist und daher auch einem Ausgleich mit Frankreich und noch mehr mit England zugeneigt blieb; er war bestimmt kein fünftes Rad Moskaus, auch wenn ihm von deutschen Rechtsradikalen (wie dem damaligen Reichstagsabgeordneten Helfferich) pauschal vorgeworfen wurde, deutsches Vermögen an die Kommunisten „verschachern“ zu wollen. (37)
Von all den noch vor seiner Ernennung zum Außenminister im Hintergrund erfolgten Absprachen wusste Rathenau oft nur rudimentär und am Rande, z. B. wenn auch hochrangige AEG-Männer an Besprechungen mit den Russen beteiligt waren. Die wirklich „intimen“ Kontakte hatten andere geknüpft, eine wirklich maßgebliche Einflussnahme seinerseits kann daher ausgeschlossen werden. (38)
Wäre Mitte April 1922 auf der Weltwirtschaftskonferenz in Genua nicht durch größtenteils undurchsichtige Geheimdiplomatie eine merkwürdige Atmosphäre entstanden, wodurch in Teilen der deutschen Delegation der Eindruck erweckt wurde, die Franzosen wollten sich zu Lasten Deutschlands einmischen, hätte Rathenau möglicherweise noch zugewartet, bevor ein solch weitreichendes Abkommen unterzeichnet worden wäre.
Immerhin war sich Rathenau als Unternehmer wie auch als Außenpolitiker bewusst, welche Konsequenzen der Vertrag haben würde, in ökonomischer wie in politischer Hinsicht, und welcher Eindruck bei den Siegermächten, besonders in Frankreich, wo immer noch sehr viel Misstrauen gegen deutsche Politiker herrschte und seit dem Regierungsantritt von Poincaré erneut ein rauerer Wind wehte, entstehen konnte.
Denn die Sorge einer zu engen Bindung zwischen Deutschland und Sowjetrussland (analog zu der zwischen Preußen und dem Zarenreich Anfang des 19. Jahrhunderts) war nicht ganz unberechtigt; manch einem selbsternannten Strategen schwebte sogar ein offizielles Bündnis beider Staaten vor (mit der militärischen Stoßrichtung gegen Polen; Initiator: Radek, der sich auf unmittelbare Weisungen Lenins stützen konnte – gewisse Befürchtungen sind auch 100 Jahre später nicht ganz obsolet, was auch die heutigen Ängste der baltischen Staaten und Polens anlässlich des Ukrainekriegs erklärt). Natürlich waren Rathenau auch die personellen Hintergründe bekannt: Kanzler Wirth nebst einiger Karrieristen im Auswärtigen Amt (und etliche Industrielle, die groß abkassieren wollten) waren die treibende Kraft, Reichspräsident Ebert und andere Sozialdemokraten vom eher gemäßigten Flügel waren statt dessen sauer über das aus ihrer Sicht unabgestimmte Vorgehen der Regierungsspitze (Kanzler und Außenminister) und die übrige Öffentlichkeit war doch einigermaßen erstaunt ob dieser unerwarteten Wendungen. Vielleicht kam sich sogar Rathenau selbst etwas übertölpelt vor; denn so ganz hatte er während der entscheidenden Phase von Genua/Rapallo die Zügel nicht in der Hand.
Betrachtet man seine wenige Wochen später erfolgte Ermordung unter diesem besonderen Aspekt, dass Rathenau für ein derartig umstrittenes politisches Abkommen, dessen Zustandekommen und Abschluss er gar nicht selbst definitiv steuern konnte, als Sündenbock betrachtet werden würde und damit auch ein Mordmotiv (zu den zahlreichen weiteren, siehe unten) entstanden war, kann man eigentlich nur mit dem Kopf schütteln.
Besonders in Bezug auf die angedachte militärische Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee hatte Rathenau weder Einfluss noch war eine solche bewusste Verletzung des Versailler Vertrages in seinem Interesse. An diesem (auch rechtswidrigen) Kapitel der damaligen deutschen Politik hat Rathenau nicht aktiv mitgewirkt, insoweit war im Hintergrund der starke Mann im deutschen Militär, Hans von Seeckt, als graue Eminenz überaus umtriebig; dies wurde aus verständlichen Gründen sehr geschickt vor der Öffentlichkeit (in Deutschland und bei den Siegermächten) verborgen. Für diese Verdunkelungstaktik war es sicher auch nützlich, dass in den politisch rechtsradikalen Kreisen der Rapallo-Vertrag als Ausverkauf deutscher Interessen diffamiert und alle Schuld dem Außenminister angelastet wurde.
Kurz festzuhalten bleibt daher, dass Walther Rathenau nicht nur ein ganz eigener „Wirtschaftsfachmann“ und dann auch Wirtschaftspolitiker gewesen ist, sondern – geradezu als symbiotische Verknüpfung – auch ein außergewöhnlicher Außenpolitiker. Ganz davon abgesehen, dass Rathenau seit Ende der 1890er Jahre auch noch als Autor und Publizist kulturphilosophischer Schriften (teils mit religiösem Einschlag) in Erscheinung getreten ist; ein ganz eigenartiger Teil von Rathenaus Vita, auf den aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden kann, aber seine Widersprüchlichkeit unterstreicht.
Trotzdem ist zu betonen, dass auch diese Veröffentlichungen auf ein (relativ) großes Interesse beim Publikum gestoßen sind (so z.B. seine geschichtsphilosophischen Ausführungen zu „Mut- und Furchtmenschen“, die heute sicher befremdlich wirken, aber um 1900 in einer Zeit des „Fin de siècle“ nicht ganz ungewöhnlich waren; sogar im Kreis seiner späteren Attentäter fanden solche Überlegungen Anklang).
Somit ist jetzt auf die letzte Lebensphase Rathenaus einzugehen.
3) Ermordung
Wie bereits zu Beginn erwähnt, löste Rathenaus Ermordung in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft große Bestürzung aus: „Am 24. Juni aber wurde Rathenau, der vielseitigste, gewandteste, fähigste, unentbehrlichste unserer Staatsmänner, das Opfer ruchloser Mordbuben.“ So lautete einer der zahlreichen Nachrufe – meist aus dem eher liberalen politischen Parteienspektrum. (39) An dieser sicher leicht überschwänglichen Beschreibung, die zu Rathenaus Lebzeiten wahrscheinlich noch nicht erfolgt wäre, stimmt vieles; doch bei der Charakterisierung der Täter als „ruchlose Mordbuben“ lohnt ein genauerer Blick. Zuvor sollte aber zumindest kurz auf die näheren Tatumstände hingewiesen werden.
Dass ein Mann wie Walther Rathenau, reicher Unternehmer, Politiker mit auch sehr unbequemen Ansichten und dann auch noch Berliner Jude, in einer Zeit, in der ein Reserve-Leutnant (zumindest in Uniform) mehr galt als ein Akademiker oder Kaufmann, Anfeindungen ausgesetzt war, ist so verwunderlich nicht – auch wenn dieser Jude selbst gerne die Paradeuniform eines kaiserlichen Offiziers getragen hätte (in Friedenszeiten aber undenkbar). Jedoch hätte Rathenaus Name höchstwahrscheinlich auf keiner Todesliste gestanden, wenn nicht bestimmte Kreise diesen Hass auf seine Person gefördert hätten, indem bewusst Stimmung gegen ihn gemacht wurde. Diese besondere Art von Hetze war jedoch keine einmalige Erscheinung, wie die anderen politisch motivierten Morde in der frühen Weimarer Republik zeigten. Auch wenn die Medienwirksamkeit von Politikern und ihren Botschaften Anfang der 1920er Jahre bei weitem nicht so ausgeprägt gewesen ist, wie in Zeiten sog. Sozialer Medien (also dank Internet), gab es auch damals bereits Reizthemen und „Aufreger“. Ein besonders aufpeitschendes Schlagwort war das vom „Erfüllungspolitiker“, dem alle negativen Entwicklungen seit Unterzeichnung des Versailler Vertrages angelastet wurden. Geradezu prototypisch wurden Matthias Erzberger und Walther Rathenau als solche („bösen“) Erfüllungspolitiker abgestempelt. Doch was sollte eigentlich diese eigenartige Wortschöpfung bedeuten?
Wer einen Vertrag abschließt, verpflichtet sich qua „Tradition“, die übernommene Leistungspflicht zu erbringen (ein Verkäufer, die Kaufsache zu übergeben, der Käufer den Preis zu zahlen; ein Vermieter, z. B. die Wohnung zu überlassen und der Mieter, die Miete zu zahlen, etc.); kleines Einmaleins des Vertragsrechts. Natürlich waren die Umstände, die dem Abschluss des Versailler Vertrages zugrunde lagen, alles andere als fair – vor allem da es ja überhaupt keine Verhandlungen mit der unterlegenen Seite gegeben hatte (weder mit dem Deutschen Reich, noch mit Österreich-Ungarn; im Falle der erst später behandelten Türkei war dies etwas anders), daher auch die Bezeichnung als „Diktatfrieden“.
Doch was waren die Alternativen? Walther Rathenau hat, wie oben beschrieben, eine ganz spezielle Lösung aufgezeigt: Sofern die Siegermächte nicht zu einer fairen Nachverhandlung des Friedensvertrages bereit waren, sollte dieser keinesfalls abgeschlossen werden; statt dessen sollte die deutsche Regierung vollständig zurücktreten, das Parlament sich auflösen und eine temporäre Aussetzung aller Souveränitätsrechte des Deutschen Reiches stattfinden (die Siegermächte hätten dann das Problem gehabt, keine legitimierten Staatsorgane mehr in Deutschland vorzufinden; wie realistisch dieses Szenario tatsächlich gewesen wäre, kann nicht beurteilt werden, auf jeden Fall hätte ein derart drastischer Schritt auch die Weltöffentlichkeit beeindruckt). Bekanntlich war eine (knappe) Mehrheit gegen eine solche Konfrontation, die möglicherweise auch die Fortsetzung von Kampfhandlungen bedeutet hätte, daher wurde Ende Juni 1919 der Vertrag in Versailles in der konkreten Form geschlossen; wohl wissend, dass besonders die Reparationsfrage noch größte Schwierigkeiten bringen würde.
Aber auch die verhandlungsbereiten Politiker, z. B. im Kabinett von Kanzler Wirth 1921/22, konnten ja rechnen und waren auf vernünftige Lösungen aus. So hat – was oft gar nicht bekannt ist – z. B. die Regierung bereits Mitte/Ende März 1922 intern das Scheitern der bisherigen Politik einer möglichst großen Bereitschaft zur Vertragserfüllung eingestehen müssen. (40) Daher diente das Schlagwort vom „Erfüllungspolitiker“ weniger der Erklärung politischer oder wirtschaftlicher Zusammenhänge, sondern ausschließlich der Diffamierung (und sollte davon ablenken, dass auch die Opposition keine Lösung hatte).
Die Heuchelei innerhalb der nationalkonservativen Kräfte und Kreise war mit Händen zu greifen, diente neben der Ablenkung von eigenem Versagen (spätestens seit der Julikrise 1914) auch größtenteils einer selbstgefälligen Außendarstellung. Ähnliches kann über den in diesen Kreisen vorherrschenden Antisemitismus gesagt werden: dieser war oftmals nicht unmittelbar biologisch-rassistisch begründet, sondern eher milieubedingt ressentimentgeladen und über Jahrzehnte in den reaktionären Kreisen tradiert.
Selbst unter Getauften (also „Konvertiten“) gehörte eine gewisse Portion judenfeindlicher Sprüche gleichsam zum guten Ton (man wollte ja dazugehören). Das ging dann im Extremfall soweit, dass z. B. der Attentäter, der Kurt Eisner erschossen hatte, ein Graf Arco-Valley, selbst jüdischer Abstammung gewesen ist; seiner Bewunderung im rechtsradikal-völkischen Lager tat dies keinen Abbruch (als Hitler 1924 kurz mal in der Festung Landsberg ein verlängertes Wochenende verbrachte, waren er und der Eisner-Attentäter beinahe Zellennachbarn). Bei Ernst v. Salomon, wegen Beihilfe am Rathenau-Mord zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt, nimmt es fast schon groteske Züge an, wenn er in seinem „Fragebogen“ über viele Seiten nachzuweisen versucht, dass er keiner jüdischen Familie entstamme. (41)
Allerdings stellt Salomon aus mehreren Gründen, auf die noch eingegangen wird, eine besondere Figur unter den Rathenau-Attentätern dar; vor allem weil auch die psychologische Betrachtung der Attentäter nicht ohne Relation zur damaligen Gesellschaft bzw. politischen Ordnung in der Weimarer Republik erfolgen kann. Denn es sollte nicht vergessen werden, dass die Umwälzungen des 9. November 1918 vielfältige Konsequenzen mit sich brachten, die ganze – bis dahin intakte – „Milieus“ erschütterten (hierzu unten mehr).
Dennoch kann die agitatorische Hetze vieler rechter Politiker durch nichts gerechtfertigt werden; insbesondere wenn es sich – wie bei dem schon mehrfach erwähnten Helfferich – um eine Art „Wiederholungstäter“ gehandelt hat: Der Reichstagsabgeordnete der Deutschnationalen, Karl Helfferich, hatte einen Tag vor der Ermordung des Außenministers im Parlament eine weitere seiner gefürchteten Polemiken gegen die „Erfüllungspolitik“ der Regierung Wirth/Rathenau gestartet und dabei besonders Rathenaus Rolle beim Rapallo-Vertrag ins Visier genommen. Neben vielen haltlosen Unterstellungen, dass die Erfüllungspolitiker schuld an der Geldentwertung und der wirtschaftlichen Not in Deutschland seien, forderte er, dass diese Regierung wegen ihrer verbrecherischen Politik vor einen Staatsgerichtshof gestellt werden müsste. (42)
Inhaltlich, wenn auch verbal nicht so überspitzt, gleicht dies Helfferichs Aufforderung aus dem Jahr 1919: „Fort mit Erzberger!“. Eine Aufforderung, die bekanntlich buchstäblich von Rechtsterroristen umgesetzt wurde. Aus den gleichen Reihen, wie beim Mord an Matthias Erzberger, stammten dann auch Rathenaus Mörder; ganz gleich, dass Helfferichs Hetzrede kurz vor dem Mordanschlag natürlich nicht kausal im Sinne einer strafrechtlichen Zurechnung dieser Tat gewesen ist (außerdem hätte sich Helfferich auf die Vorschrift zur Indemnität in Art. 36 Weimarer Verfassung berufen können). Doch selbst wenn seine Rede nicht als Aufforderung zur Tötung eines bestimmten Regierungsmitglieds gewertet werden konnte – es gab insoweit auch kein strafrechtliches Ermittlungsverfahren -, so hatte sich Helfferich erneut als geistiger Brandstifter betätigt, was auch die heftigen Reaktionen kurz darauf im Reichstag bzw. in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit gegen seine Person verständlich machte. (43)
Zumindest konnten sich die Beteiligten am Attentat (wenigstens in Teilen) einer gewissen Rückendeckung in nationalkonservativen Kreisen für ihr (grundsätzliches) Tun sicher sein. Viele der „Freikorps“-Mitglieder, so auch bei der Brigade Ehrhardt, waren ehemalige Kadetten, die eine Offizierslaufbahn einschlugen oder (wie bei Ernst v. Salomon) einschlagen wollten. Immerhin träumte auch der junge Walther Rathenau von einer „Karriere“ als preußischer Offizier, doch in Friedenszeiten für ihn als Juden aber unmöglich. Viele der extremen Nationalisten, besonders die „Völkischen“, waren im Irrglauben, dass Deutschland von der „Vorsehung“ bestimmt sei, über andere Völker und Staaten zu herrschen (ein Vorwurf, der auch Rathenaus „Mitteleuropa-Konzept“ treffen würde, wenn dieses tatsächlich als chauvinistisch gedacht gewesen wäre); denn dieser Hochmut war zur Zeit des „Imperialismus“ auch im Kaiserreich weit verbreitet, allen voran bei seiner Majestät selbst, aber auch bei allen „Gutbürgerlichen“, und wurde auch in die Weimarer Republik transformiert. Dabei machte die Religion (Christen oder Juden) überhaupt keinen Unterschied, eher die soziale Schichtung. Daher wundert es nicht, dass viele der Mitglieder rechtsradikaler Gruppen, so auch bei der Organisation Consul (als Nachfolgeorganisation der verbotenen Brigade Ehrhardt), einer sehr homogenen Schicht bzw. soziokulturellen Klasse angehörten. Dieselbe Sozialisation erzeugte nahezu identische Weltbilder und Ziele, die dann auch kompromisslos umgesetzt werden sollten; zum nunmehr wiederholten Male (nach den Attentaten auf Erzberger, Scheidemann und anderer sog. „Fememorde“) auch am Vormittag des 24. Juni 1922, als sich Außenminister Rathenau auf dem Weg ins Ministerium befand.
Zum eigentlichen Tathergang, den Details des Anschlags, kann auf die Beschreibung weiter oben verwiesen werden; im Übrigen hat Martin Sabrow viele Einzelheiten überliefert. (44)
Hier sollen andere Gesichtspunkte erörtert werden:
a) Obwohl die zuständigen Polizeibehörden nicht nur vage über einen bevorstehenden Anschlag auf Rathenau informiert waren (sogar Reichskanzler Wirth hatte im Vorfeld, auf ganz anderen Kanälen, von einem geplanten Attentat auf seinen wichtigsten Minister gehört), wurden am Tag der Ermordung einfachste Sicherheitsvorkehrungen außer Acht gelassen. Zwar hatte Rathenau selbst gegen einen ständigen Polizeischutz interveniert, aber trotzdem hätten „von Amts wegen“ Maßnahmen getroffen werden können (nicht bloß zwei Beamte in Zivil, die oft nur zeitlich sporadisch nach dem Rechten schauten). Ein besonderer Schwachpunkt war der Arbeitsweg, also Rathenaus regelmäßige Strecke von der Wohnung zum Ministerium, wofür er zu allem Überfluss auch noch ein ziemlich unsicheres Fahrzeug nutzte. (45) Die Attentäter konnten die regelmäßige Fahrtstrecke mühelos ausspähen und hatten sich auch noch ein deutlich leistungsstärkeres Automobil organisiert. Natürlich hatte man 1922 noch keine speziell ausgebildeten Personenschützer und auch keine besonderen Kenntnisse zum Schutz ziviler Kraftfahrzeuge, aber eine regelmäßige Überwachung des Wohnbezirks von Rathenau wäre auch damals durchaus möglich gewesen, hätten die zuständigen Polizeivertreter in diesem Punkt mehr Interesse gezeigt und vielleicht auch mehr Initiative ergriffen.
Zumindest etwas merkwürdig ist auch, dass die beiden Hauptattentäter, Fischer und Kern, zwar relativ zeitnah identifiziert und verfolgt wurden, aber trotzdem noch tagelang mit Fahrrädern quer durch Mitteldeutschland radeln konnten, bis sie, vom letztlich planlosen Hin und Her erschöpft, auf der verfallenen Burg Saaleck ihre letzte Zuflucht fanden und dort von einer normalen Polizeistreife eher zufällig entdeckt wurden.
Denn nur weil in diesem Fall einige unvorhergesehene Missgeschicke eintraten und Fischer und Kern – im Gegensatz zu Schulz und Tillessen, die im Vorjahr auch eine ganz andere Fluchtroute nahmen – irgendwann gleichsam die Nerven verloren hatten, konnte die Polizei doch noch die Fährte aufnehmen. Da aber beide Täter beim anschließenden Schusswechsel verstarben, kann von einem erfolgreichen Zugriff nicht wirklich gesprochen werden. Viele wichtige Informationen haben die Mörder mit ins Grab genommen. Wäre der eigentlich relativ gut durchdachte und organisierte Fluchtplan exakt eingehalten worden, hätte den Strafverfolgungsbehörden eventuell erneut eine Fahndungspanne gedroht wie im Jahr zuvor nach dem Erzbergermord. (46)
b) Ähnlich wie im Spätsommer 1921 konnten auch nach dem Rathenaumord die unmittelbar handelnden Täter wie auch etliche weitere Personen (sog. Gehilfen) relativ schnell ermittelt werden, nach denen dann auch mit einem gewissen Fahndungsdruck gesucht wurde. Viele Erkenntnisse zu möglichen Tätern etc. und zur Tatplanung waren spätestens nach dem Anschlag auf Scheidemann Anfang Juni 1922 quasi jedem Dorfpolizisten bekannt, lagen also offen zutage. Es gab ja sogar einen Hauptbelastungszeugen, der nach dem missglückten Anschlag auf Scheidemann gleich bei mehreren Dienststellen der Polizei umfangreiche Aussagen gemacht hatte, ein gewisser Theodor Brüdigam. (47)
Daher war allen Ermittlern sofort klar, dass erneut eine Terrorgruppe als Drahtzieher in Frage kam und die Täter nebst Umfeld in den Reihen der Organisation Consul zu suchen waren. Neben den beiden Haupttätern, die im Rahmen des polizeilichen Zugriffs am 17. Juli 1922 (über drei Wochen nach der Tat) gestorben waren, wurden noch etliche weitere Personen ermittelt (ca. 15), die – sofern sie nicht untergetaucht waren – auch vor Gericht gestellt wurden. Von den beiden toten Haupttätern, Kern und Fischer, ist eigentlich nur Erwin Kern wirklich von Interesse; Hermann Fischer wird allgemein als rohe Gestalt vom Typ „Landsknecht“ beschrieben. Kern dagegen, bei Tatbegehung noch keine 24 Jahre alt, wird als Ideengeber und Anführer bzw. Kopf der Verschwörer betrachtet, der seinen „Kollegen“ auch die passende Motivation vermittelt habe. Für ihn war Rathenau, dessen persönliche Leistungen z. B. als Unternehmer oder auch als Publizist von den Verschwörern (zumindest teilweise) sogar respektiert wurden, die personifizierte Erfüllungspolitik im Sinne des (angeblichen) Ausverkaufs deutscher Interessen, ein willfähriger Vollstrecker des Diktatfriedens von Versailles. Dies ist wenigstens die offizielle Version, denn bei Betrachtung des psychologischen Hintergrunds lassen sich auch noch andere Aspekte deuten.
Zumindest hatte dieser Erwin Kern seine Leute fest im Griff; Fischer, der mit ihm die tödlichen Schüsse auf Rathenau aus dem offenen Wagen heraus abgab, und auch der Fahrer des Tatfahrzeugs, Ernst W. Techow (21 Jahre alt), folgten seinen Anweisungen nahezu bedingungslos. Techow hatte dann im Strafprozess viel Glück (oder gnädige Richter), dass er nicht als Mittäter an einem Mord verurteilt wurde, was normalerweise die (damals noch gültige) Todesstrafe bedeutet hätte, sondern nur eine sehr lange Zuchthausstrafe bekam.
Ob bei der konkreten Verurteilung lediglich als „Gehilfe“ sein relativ junges Alter oder aber auch die Tatsache mitwirkte, dass er sich „freiwillig“ gestellt hatte, also kein unmittelbares Ergreifen durch die Polizei nötig war, kann hier offen bleiben. Denn einen großen „Vorteil“ hatte sein Verteidiger, wie auch die Anwälte der anderen Angeklagten: Weil Fischer und Kern selbst nicht mehr befragt werden konnten, war es einfach, den beiden nahezu die ganze Hauptschuld zuzuschieben.
Diese Verteidigungsstrategie führte dann auch dazu, dass in diesem Prozess, der sich konkret nur mit der Ermordung Rathenaus befasste, also weitere Tatkomplexe, wie die Bildung einer umstürzlerischen Bande (heute wäre der einschlägige Straftatbestand die Bildung einer terroristischen Vereinigung etc.) ausdrücklich aussparte, etliche wichtige Details nicht geklärt werden konnten oder auch gar nicht Gegenstand einer förmlichen Beweisaufnahme waren.
Wenn dann – zumindest bei einzelnen Angeklagten – doch verhältnismäßig hohe Zuchthausstrafen ausgeurteilt wurden, lag dies einerseits daran, dass vor hundert Jahren in Deutschland grundsätzlich eher zu hohe als zu milde Strafen verhängt wurden (die bundesrepublikanische Strafrechtsreform trat erst 1969 in Kraft), andererseits war natürlich die Öffentlichkeit nach den ganzen politischen Attentaten extrem aufgewühlt und man wollte hohe Strafen sehen. Einer der Angeklagten, der dabei (subjektiv) vielleicht etwas schlechter weggekommen ist, war der spätere Schriftsteller Ernst von Salomon, bei Tatbegehung noch keine 20 Jahre alt und würde heute als „Heranwachsender“ sicher noch unter Jugendstrafrecht fallen. Salomons Werdegang bietet sich geradezu an, typische Aspekte eines Rechtsterroristen der Organisation Consul zu untersuchen. Er war zwar kein Angehöriger der ursprünglichen (Marine-)Brigade Ehrhardt, dafür aber bei einem der 1919 zahlreichen weiteren Freikorps; mit gerade einmal 16 Jahren, denn als im Herbst 1918 die von ihm besuchte Kadettenanstalt in Berlin über Nacht geschlossen worden war, stand er ohne Schulabschluss oder irgendeine berufliche Perspektive auf der Straße. Da er in seinem jugendlichen Alter als Kadett bis dahin nur Befehl und Gehorsam kannte, war es gleichsam alternativlos, sich schon früh einem der Freiwilligenverbände anzuschließen (viele junge, entwurzelte Männer taten es ihm Anfang 1919 gleich). Neben etwas Sold und Unterkunft als materielle Gründe gab es natürlich auch echte „ideelle“ Anreize, außer dem jahrelang bekannten Gefühl der Kameradschaft, der maßlosen Enttäuschung über den Kriegsausgang besonders die Aussicht, im militärischen Sinne gebraucht zu werden. Denn als ursprünglicher Kadett wäre auch Salomon wahrscheinlich irgendwann auf die Offizierslaufbahn vorbereitet worden – bei einer Karriere in einem Freikorps konnte er diese Perspektive weiterverfolgen (tatsächlich wurde er später Leutnant).
Aber auch in einem anderen Punkt war Salomons Freikorpskarriere typisch, nämlich bei der Radikalisierung. Denn bereits bei seiner ersten Station als blutjunger Freikorpssoldat hatte er (wie sehr viele andere auch) schnell feststellen müssen, dass Anspruch und Wirklichkeit weit auseinanderfielen. Statt Deutschland gegen den noch immer vorhandenen Feind im Osten (so zumindest die Propaganda) zu verteidigen, war Objektschutz in Weimar (als die frisch gewählte Nationalversammlung erstmals zusammentrat) angesagt. Das hatten sich die Freikorpsmänner anders vorgestellt, so dass die meisten bereits kurze Zeit später ins Baltikum gingen, da dort (zumindest bis Ende 1919) noch echte Kriegsbedingungen herrschten: Artikel 12 der Waffenstillstandsvereinbarung vom 11.11.1918 räumte den Alliierten eine Befehlsgewalt über die deutschen Truppen ein, die zu diesem Zeitpunkt noch auf (ehemals) russischem Gebiet standen. Vor allem die Engländer haben bis Ende 1919 diese Truppen als Bollwerk gegen die Rote Armee, die gegen die zwischenzeitlich unabhängigen baltischen Staaten vorrückte, eingesetzt.
Eine auch völkerrechtlich merkwürdige Konstruktion, dass die eigentlich besiegten Truppen eines Landes laut Waffenstillstandsvereinbarung „unter Waffen“ bleiben sollten, um den Siegern militärische Dienste zu leisten; und zwar insbesondere militärische Dienste gegen einen früheren Verbündeten, gegen den formal niemals der Kriegszustand ausgerufen wurde.
Diese eigenartige Entwicklung, die Alliierten bedienten sich deutscher Truppen, um diese eigenmächtig gegen Verbände der sowjetrussischen Armee einzusetzen, war wohl auch nur nach dem Ersten Weltkrieg möglich, da durch den radikalen Umsturz 1917 und der Niederlage 1918 gleich drei Kaiserreiche von der Landkarte weggefegt wurden und sich entsprechend konfus die politische Großwetterlage gestaltete. Rechnet man noch das Osmanische Reich hinzu, waren es sogar vier frühere Großmächte, die untergegangen waren (und wenigstens zwei, Deutschland und Russland, wollten alles daransetzen, wieder in den Kreis der globalen Hegemonie aufzurücken; Deutschland mittels faschistischen Rassenwahns und Russland per stalinistischer Methoden – bis heute).
Nur weil viele der insbesondere in Lettland kämpfenden Verbände deutscher Freikorps aus Sicht der Engländer als unkontrollierbar galten, verlangten sie von Berlin, dass das Deutsche Reich die Baltikum-Freikorps zurückbeorderte. Denn obwohl die Engländer militärisch den Oberbefehl hatten, „dienstrechtlich“ (also auch bei der Ausstattung und Besoldung) unterstanden sie weiterhin der (neuen) Staatsgewalt in Deutschland. Auch Ernst von Salomon kam so zum Jahreswechsel 1919/20 eher unverhofft wieder nach Deutschland und wartete auf seine endgültige „Demobilmachung“. Wie viele andere Freikorpskämpfer, war auch Salomon ziemlich desillusioniert und hatte natürlich in den Kämpfen gegen die Russen auch schreckliche Momente erlebt; mit sechzehn oder siebzehn Jahren steckt man solche Ereignisse nicht so einfach weg, Tendenzen zu einer chronischen Verrohung sind nahezu zwangsläufig (daher auch die spätere „Kaltblütigkeit“ vieler Attentäter trotz ihres jungen Alters).
Im März 1920 war Salomons Freikorps zwar noch nicht aufgelöst, aber räumlich zu weit von Berlin entfernt, um aktiv für Ehrhardt beim Kapp-Lüttwitz-Putsch einzugreifen (was alle Freikorpsmänner mit Hingabe wollten, da Hermann Ehrhardt als Ikone verehrt wurde und besonders für den jungen Salomon fast zu einem Vaterersatz werden sollte). Ein knappes Jahr 1920/21 versuchte sich Ernst von Salomon – ohne richtigen Schulabschluss oder jede Form von Berufsausbildung (außer Drill des Kasernenhofs und Kampfeinsätzen) – mit Aushilfsjobs, heute würde man es prekäre Beschäftigungen nennen, über Wasser zu halten. In einer Bank im Frankfurter Bahnhofsviertel gelang es ihm, mit Wechselkurstricks Geld für spätere Terroraktionen zu ergaunern; im April 1920 hatte er zufällig Kontakt mit Kern bekommen, die danach, lediglich durch Salomons freiwilligem Kampfeinsatz im Frühjahr 1921 in Oberschlesien unterbrochen, in Frankfurt eine offizielle Ortsgruppe der Organisation Consul gründeten.
Eine wesentliche Aufgabe Salomons war es, Kontakte zur Münchner Zentrale und zu etlichen anderen Ortsgruppen zu halten, wofür er eine beachtliche Reisetätigkeit entwickelte; fast immer mit der Bahn, denn Autofahren konnte er, wie viele andere der Freikorpsmänner und Brigadeangehörigen überhaupt nicht, was auch der Grund dafür war, dass im inneren Kreis der Attentäter kein eigener Fahrer existierte, so dass sowohl das Automobil selbst wie auch ein geeigneter Fahrer erst organisiert werden mussten. In Hermann Ehrhardt sah Salomon zwar keinen klassischen Vaterersatz (denn sein Vater wie auch der Rest der Familie von Salomon waren ja durchaus vorhanden), aber er schaute mit beinahe schon religiöser Verehrung zu diesem Mann hinauf. Letztlich war es bloß seinem ungewöhnlichen Nachnamen geschuldet, dass sich Zeugen an seinen Besuch in Hamburg erinnerten, wo er im Auftrag Kerns einen Fahrer suchen sollte; doch entschieden sich die beiden Haupttäter am Ende für einen anderen Mann, den Studenten Techow.
Daher war eigentlich Salomons „Hauptbeitrag“ (die Suche nach einem geeigneten Fahrer) für das geplante Attentat schlussendlich gar nicht mehr unmittelbar tatrelevant (bzw. kausal), jedoch war er insgesamt an der Planung des Anschlags direkt beteiligt und hatte sich auch den gesamten Tatplan zu eigen gemacht. Außerdem hatte er nach der Tat, gleichsam in bewährter Fluchthelfermanier der alten Brigade, mit großem persönlichen Einsatz versucht, Kern und Fischer bei ihrer sich immer chaotischer gestaltenden Flucht aus Deutschland zu helfen (was letztlich auch von Anfang an so geplant war, aber aus verschiedenen Gründen misslang). Obwohl er dann im Herbst 1922 zusammen mit einigen weiteren Kollegen der Organisation Consul wegen Beihilfe zu fünf Jahren Zuchthaus (und – was ihn am meisten störte – zum Verlust der sog. Ehrenrechte) verurteilt wurde, und später noch wegen Beteiligung an einem versuchten „Feme-Mord“ eine weitere Strafe erhielt, hat seine Bewunderung/Verehrung für Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt nicht nachgelassen. (48)
Dieser ehemalige kaiserliche Marineoffizier ist eigentlich eine viel zu komplexe Gestalt (und wegen seiner tiefen Verstrickung in den rechtsradikalen Sumpf der frühen Weimarer Republik bestimmt auch nicht gerade sympathisch), um ihn in wenigen Zeilen zu beschreiben. Sein beinahe schon legendärer Ruhm bzw. Nimbus der Unbesiegbarkeit beruhte eigentlich auf einer Befehlsverweigerung, weil er nach Internierung der kaiserlichen Hochseeflotte infolge des Waffenstillstandes eigenmächtig mit seinem Schiff quer durch die Nordsee in deutsche Gewässer fuhr und dabei die englische Blockade durchbrach trotz zahlreicher Minen; endlich hatte des Kaisers Marine doch noch einen Seehelden (auch wenn das Timing nicht mehr stimmte), was ihn sogar zu einem (zeitweise) begehrten Gesprächspartner für den Volksbeauftragten Noske (SPD) machte. Ehrhardt wird übereinstimmend gerade nicht als Revolutionär (im rechtsradikalen Weltbild) oder gar als geborener Politiker beschrieben (laut Salomon fehlte ihm jedes rhetorische Talent). Er war, das aber mit absoluter Hingabe, ein kaisertreuer Offizier und, obwohl aus Süddeutschland stammend, preußischen Idealen ergeben (dabei immer wie aus dem Ei gepellt).
In den Lehrbüchern erscheint sein Name zunächst immer in Verbindung mit dem gescheiterten Kapp-Lüttwitz-Putsch im März 1920. Dabei werden oft zwei besondere Aspekte übergangen: Ehrhardt misstraute Politikern ganz allgemein, sogar Wolfgang Kapp und den anderen nationalkonservativen Politikern, die den Putsch vorbereitet hatten. Daraus resultierte seine eigenartige Bereitschaft, am frühen Morgen des 13. März 1920 an der Stadtgrenze Berlins weit über eine Stunde zu pausieren, obwohl dies logistisch nicht notwendig gewesen ist.
Diese besondere Pause war das Resultat eines eigenmächtig formulierten Ultimatums, das Ehrhardt in der Nacht vom 12. auf den 13. März gegenüber zwei Reichswehrgenerälen, die kurzfristig von der SPD-Regierung in das Lager bei Döberitz gesandt worden waren, gestellt hatte. (49) Auf Details braucht an dieser Stelle nicht eingegangen zu werden; aber da Ehrhardt sein Wort als Offizier gegeben hatte, bis 7.00 Uhr an der Charlottenburger Brücke abzuwarten, ob seine Bedingungen (die in der konkreten Form nicht mit Kapp oder Lüttwitz abgesprochen waren) von der Regierung akzeptiert werden würden, ergab sich für die Regierung ein unerwartetes Zeitfenster, das zur Flucht genutzt wurde.
Anders formuliert:
Ohne diese militärisch unnötige Unterbrechung des Vormarsches auf die Berliner Innenstadt (mit dem Regierungssitz) hätte der Regierung die entscheidende Stunde Zeit gefehlt, um aus Berlin flüchten zu können. Vielleicht nicht alle, aber doch die meisten Mitglieder des Kabinetts Bauer/Müller nebst dem Reichspräsidenten Ebert wären dann in die Hände der Putschisten gefallen und festgenommen worden. Die von vielen Studienräten im Geschichtsunterricht wiedergegebene Version, der Generalstreik der mutigen Arbeiter unter Führung der Gewerkschaften hätte zum Scheitern des Putsches geführt, wäre dann nämlich hinfällig, weil im Falle der Gefangennahme der gesamten damaligen Reichsregierung nicht nur die maßgeblichen Politiker, sondern auch die Kommunikation zu den Gewerkschaften weggefallen wäre (auf jeden Fall aber zeitlich stark verzögert worden).
Von der propagandistischen Wirkung der zu erwartenden Bilder, mit Ehrhardt an der Spitze seiner Männer, diversen Regierungsmitgliedern in Handschellen und dann der wehenden Reichskriegsflagge über dem Reichstag oder auf dem Brandenburger Tor, einmal ganz abgesehen; vor allem wäre dann der zu Beginn des Putsches noch unschlüssige Teil des Militärs (und der Beamtenschaft) auf einmal auch mutig genug geworden, sich offen zum Putsch gegen die gewählte Regierung zu bekennen, so dass der Staatsstreich auf einmal eine ganz andere Wendung hätte nehmen können.
Also ohne Ehrhardts Zaudern (vielleicht aber auch eine Art strategischer Weitblick) hätten die Erfolgsaussichten des ansonsten erbärmlichen Putsches abgehalfterter Gestalten deutlich besser stehen können. Da Ehrhardt bekanntlich später niemals wegen seiner Beteiligung am Putsch angeklagt oder wenigstens offziell vernommen wurde, gibt es für die Ereignisse, die in der Nacht vom 12. auf den 13. März 1920 zu den Absprachen zwischen Ehrhardt und den Abgesandten der Regierung führten (kurz vor den besagten Generälen war schon ein Admiral nebst dem jungen Canaris, später wichtigster Geheimdienstler im Dritten Reich, zu ihm geschickt worden, um ihn auszuhorchen), nur wenig bekanntes Beweismaterial – wen wundert es dann noch, dass Ehrhardt unmittelbar nach dem Scheitern des Putsches von der Heeresleitung eine Art Persilschein erhalten hatte, ohne Probleme nach München übersiedeln konnte und dort – obwohl er später per Steckbrief gesucht wurde – seinen obskuren Geschäften nachgehen konnte?
Der zweiter Gesichtspunkt, der in den meisten Darstellungen zum Kapp-Lüttwitz-Putsch und der Beteiligung Ehrhardts daran übersehen wird, ist das liebe Geld, das Ehrhardt zur Verfügung stand, den Putschisten aber fehlte. Denn neben der gleich zu Putschbeginn offensichtlichen Indifferenz weiter Teile des Militärs (aber auch vieler Regierungsbeamter, besonders außerhalb der Hauptstadt) stellte sich den beiden Anführern des Umsturzversuches, aber besonders Wolfgang Kapp, ein veritables Finanzierungsproblem. Der (ehemalige) Mann von der Deutschen Bank war nicht flüssig, aber ohne Geld für ausstehenden Sold auch keine Söldner! Das war eines der Hauptprobleme als damals rechtskonservative Gehirnprothesenträger Revolution machen wollten (Lenin wäre das nicht passiert, der hatte eine gut gefüllte Revolutionskasse und keine Skrupel).
Doch interessanterweise hatte auch Korvettenkapitän Hermann Ehrhardt Zugang zu beträchtlichen Geldmitteln, die von sog. Rechtskreisen (bestimmte Industrielle und Bankiers), die aber nicht direkt mit Kapp in Verbindung standen, bereits kurz nach dem Umsturz 1919 zur Verfügung gestellt wurden. Ehrhardt hätte ohne Weiteres den klammen Putschisten die für Soldzahlungen und andere Beschaffungsmaßnahmen nötigen Gelder zur Verfügung stellen können, doch er unterließ diese finanzielle Unterstützung (auch insoweit gibt es kaum Erkenntnisse über seine Motive). Im Gegenteil: Kapp und seine Mitstreiter waren in derartigen Geldnöten, dass man allen Ernstes Ehrhardt zur Reichsbank schicken wollte, um dort mit Gewalt Auszahlungen zu erpressen; Ehrhardt weigerte sich, auf diese Schnapsidee einzugehen, immerhin war er Offizier und kein „Geldschrankknacker“. (50)
Wer alles von Ehrhardts Geheimfonds wusste, ist auch nicht ganz klar; dass aber zumindest ein Teil dieses Geldes auch für die Finanzierung illegaler Aktionen der späteren Organisation Consul verwendet worden sein dürfte, ist sicher nicht zu weit hergeholt (die offiziellen Umsätze der „Bayerischen Holzverwertungsgesellschaft“ waren keinesfalls ausreichend für derartige Formen der Terrorfinanzierung). Daher kann angenommen werden, dass auch – wenigstens indirekt – für die doch recht aufwändige Finanzierung der Vorbereitungen des Anschlags auf Walther Rathenau Geld mit im Spiel war, das zumindest seinen Grundstock in den großzügigen Terrorspenden deutscher Unternehmer hatte.
Dieser Zusammenhang war den Attentätern im Frühsommer 1922 natürlich völlig gleichgültig, sie hatten ein bestimmtes Ziel im Auge und waren ausschließlich darauf fokussiert.
c) Über die Ziele und Mordmotive der Attentäter ist natürlich auch viel berichtet und geschrieben worden, was dem Ausmaß des Ereignisses auch angemessen sein sollte. Allgemein reicht die Bandbreite von einem ausgeprägten Hass auf Walther Rathenau wegen seiner (angeblichen) „Erfüllungspolitik“; diesen ausgeprägten Hass hat es tatsächlich in weiten Kreisen der Nationalkonservativen gegeben, obwohl eigentlich viel eher Reichskanzler Wirth gemeint war. Dabei wurde der Abschluss des Rapallo-Vertrages gerade von der äußersten Rechten im Parlament quasi als Beleg für die Absicht Rathenaus, deutsches Vermögen an die bolschewistischen Russen zu verschleudern, herangezogen und wider besseres Wissen agitatorisch ausgenutzt, allen voran von Karl Helfferich.
Die im Zusammenhang mit Rapallo angebahnte deutsch-russische Sonderbeziehung beim Militär wurde natürlich gänzlich verschwiegen (dieses „Nebenprodukt“ hätte man ja auch kaum einem Juden als Verdienst zurechnen können). Seine Stigmatisierung als Jude (und Sohn eines reichen Vaters) war ebenfalls willkommen für alle möglichen Begründungen, warum man Rathenau diffamieren dürfe und gegen ihn vorgehen müsse. Das alles waren teils Stereotypen, die über Jahre gegen Rathenau vorgebracht wurden, offen rassistisch-antisemitisch oder versteckt hinter verletzenden Formulierungen (von Konkurrenten innerhalb der Wirtschaft, so Hugo Stinnes, bzw. aber von „Parteifreunden“ oder sonstigen „Liberalen“, wie Gustav Stresemann).
Was innerhalb des Kreises der tatsächlichen Attentäter als Begründung angegeben/vorgegeben wurde, warum gerade Walther Rathenau als Opfer ausgewählt wurde, ist dann aber bei etwas genauerer Betrachtung nicht mehr ganz so eindeutig zu entscheiden. Besonders wenn nach dem psychologischen Hintergrund dieser speziellen Aktion gefragt wird. Die sonst gegen Rathenau vorgebrachten „Gründe“, er trage als „Erfüllungspolitiker“ Schuld an der schlechten wirtschaftlichen Situation, er habe mit „Rapallo“ gegen deutsche Interessen verstoßen, er (und schon sein Vater) würde seit Jahrzehnten hinter einer jüdischen Weltverschwörung stehen und er sei als reicher Jude sowieso ein Krebsgeschwür im Deutschen Reich, lassen sich natürlich auch bei dem einen oder anderen der Täter wiederfinden; gerade viele junge Studenten sangen auf den abendlichen Treffen der zahlreichen rechten Burschenschaften Hetzlieder gegen Rathenau, – doch sollte nicht vorschnell auf eine monokausale Erklärung abgestellt werden.
Nicht immer ist die gängigste Erklärung auch die richtige; nur weil in den Freikorps tatsächlich viel Judenhass vorherrschte, muss nicht jede Handlung einzelner Freikorpsmitglieder zwangsläufig aus rein antisemitischen Gründen erfolgt sein. (51) Wenn man bedenkt, wie undurchsichtig viele Gruppierungen – gerade zu Beginn der Weimarer Republik – zusammengesetzt waren, kaisertreue und weniger kaisertreue Monarchisten, der neue Geldadel unter den Industriellen und extrem rassistisch geprägte Nationalisten, fällt es schwer anzunehmen, es habe immer nur ein einziges Motiv vorgelegen. Auf das Thema „Verschwörungstheorie“ wird weiter unten verwiesen.
Daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn von Erwin Kern, dem „Kopf der Verschwörung“, verschiedene Gründe und Motive bekannt sind oder darüber spekuliert werden konnte, warum er sich für diese Tat zur Verfügung stellte. Zu all den bereits genannten – eher allgemein gebräuchlichen – Gründen (oft wird auch bei ihm zuerst Antisemitismus unterstellt), könnte noch ein ganz anderes „Motivbündel“ hinzugetreten sein, dann nämlich, wenn es zutrifft, dass Kern eine homoerotische Zuneigung für Rathenau empfunden haben soll.
Diese psychoanalytische Deutung einer möglicherweise unterdrückten Homosexualität wird in der einschlägigen Literatur zwar manchmal angerissen, aber nie auf ihre soziologische oder auch juristische Relevanz untersucht. Das mag daran liegen, dass das Thema schwule Rechtsterroristen/Nazis eher unangenehm in vielen Ohren klingt und eigentlich ist die allgemeinsexuelle Orientierung (auch die von Walther Rathenau selbst, dem ebenfalls andeutungsweise homoerotische Neigungen nachgesagt wurden, was aber hier nicht weiter von Interesse ist), eher Privatsache. (52)
Falls aber eine solche Neigung bei Kern vorhanden gewesen sein sollte (angeblich hat er z. B. allgemein zugängliche Veranstaltungen, auf den Rathenau als Redner auftrat, besucht; kann aber auch wegen des späteren Attentats gewesen sein) und Kern hat sich wegen dieser (immerhin in den Bereich der Strafbarkeit gerückten) Veranlagung/Neigung geschämt oder aber er musste einsehen, dass sein Verlangen unerfüllbar bleiben würde, kann dies als Form einer „Überkompensation“ auch zu Mordabsichten geführt haben. Dann wären andere Tatmotive, so auch ein dennoch ausgeprägter Antisemitismus, eher zweitrangig.
Auch bei anderen Beteiligten an der Verschwörung wird immer sofort auf antisemitische Motive geschlossen, wobei diese natürlich nicht gänzlich wegdiskutiert werden können. Als Beispiel sei nur der bereits thematisierte Ernst von Salomon genannt: In seinem bekanntesten Roman (Der Fragebogen, erstmals 1951 bei Rowohlt herausgebracht) gibt es einen Dialog zwischen ihm, seinem guten Freund und „Mitverschwörer“ Hartmut Plaas (ehemaliges Mitglied der Brigade Ehrhardt und der Organisation Consul, im zweiten Weltkrieg dem militärischen Widerstand gegen Hitler zugehörig, wofür er dann im Juli 1944 hingerichtet wurde, da er in Zusammenhang mit dem gescheiterten Anschlag vom 20. Juli 1944 gebracht wurde) und der Lebensgefährtin von Salomons, Ille Gotthelft (jüdischer Herkunft, die Salomon ein knappes Jahrzehnt als seine Ehe- frau ausgab, obwohl er bereits verheiratet war, was natürlich gewisse Risiken mit sich brachte).
Gegenstand des Dialogs war u. a. Rathenaus Ermordung, die zum Zeitpunkt der Romanhandlung schon über 15 Jahre zurücklag, trotzdem immer noch (bis zu seinem Lebensende) Salomons Denken und Handeln beherrschen sollte. Die Rollenverteilung in diesem Dialog war wie folgt: Ille Gotthelft (vielleicht ein Klischee, weil sie ja selbst Jüdin war) übernimmt den Part, Rathenaus Ermordung zu beklagen, so dass sich die beiden Männer für ihr Tun rechtfertigen mussten (ein durchaus geschicktes dramaturgisches Element). Im Wesentlichen haben Salomon und Plaas in diesem Dialog (der etwas an ein klassisches Streitgespräch erinnert) zwei Gründe benannt, die man 1922 für Rathenaus Ermordung an-führte: Erfüllungspolitik und Antisemitismus.
Beide Motive (und das gesamte Konzept, das seinerzeit von den Attentätern entwickelt worden war) werden dann von Salomon kritisch-distanziert hinterfragt. Beim Thema „Erfüllungspolitik“ lässt Salomon seinen Freund Plaas über eine Seite lang Ausführungen machen, was besonders in den rechten Kreisen der sog. „Nationalen Revolution“ Anfang der 1920er Jahre unter diesem Schlagwort alles verstanden wurde und wie einfach es ins Weltbild dieser Nationalrevolutionären passte, jene Erfüllungspolitiker bloß auf Listen zur Liquidierung zu setzen, um zu glauben, damit das Problem lösen zu können. Rathenau sei daher nur einer unter vielen anderen gewesen, dessen Name auf einer dieser absonderlichen Listen gestanden habe. Salomon ergänzte dann, dass ihm die meisten der Namen, die auf ihrer Liste gestanden haben, überhaupt nichts gesagt hätten (mit knapp zwanzig Jahren, von denen er die letzten drei größtenteils als Freikorpssoldat irgendwo im Einsatz war, hatte er wohl tatsächlich nur wenig von den politischen Verhältnissen und den wirklich maßgeblichen Politikern in Deutschland verstanden; diese Form von Ahnungslosigkeit dürfte bei vielen der jugendlichen Attentätern geherrscht haben, was sie besonders anfällig für äußere Beeinflussung machte). Salomon habe am Rathenaumord tatsächlich eher zufällig teilgenommen, aus einem „mechanischen“ Gefühl heraus, Kern „attachieren“ zu wollen.
Er stufte das Ganze als „eine unglaublich leichtfertige Angelegenheit“ ein; immerhin sei ja Rathenau auch nur der einzige Jude gewesen, den sie ermordet hätten. Das war dann für Plaas das Stichwort, seinen Freund daran zu erinnern, dass sie zum damaligen Zeitpunkt schon Antisemiten gewesen seien. Woraufhin Salomon zustimmend hinzufügte, die „ganze nationale Bewegung“ sei damals antisemitisch gewesen, „in den verschiedensten Abstufungen“. Ernst von Salomon lässt seinen autobiographisch geprägten Ich-Erzähler sogar seine ausdrückliche Bewunderung für Rathenaus Positionen zur Judenfrage aussprechen; vor allem besteht Salomon in diesem Dialog darauf, dass Rathenau nicht deshalb getötet wurde, weil er Jude war.
Berücksichtigt man, dass bei Erstveröffentlichung des „Fragebogen“ 1951 fast dreißig Jahre seit dem Attentat vergangen waren, kann man wegen dieses großen zeitlichen Abstands nur bedingt Salomons Glaubwürdigkeit beurteilen; allerdings hatte er bereits 1930 in seinem Erstlingsroman „Die Geächteten“ relativ ausführlich die Hintergründe beschrieben, die (aus seiner Sicht) maßgeblich für das Attentat auf Rathenau gewesen sein sollen; zwanzig Jahre später gab es in Salomons Darstellung keine signifikanten Abweichungen, obwohl ihm angeblich bei Anfertigung des „Fragebogen“ keine Aufzeichnungen aus 1930 mehr zur Verfügung standen (wegen der kriegs- und nachkriegsbedingten Verluste an Hab und Gut durchaus denkbar).
Ob sich dieses Gespräch zwischen Plaas, Salomon und seiner jüdischen Geliebten (oder auch viele andere Episoden in diesem Roman) in der geschilderten Weise zugetragen hat, konnten nach der Romanveröffentlichung nur die noch lebenden Beteiligten bestätigen; von Frau Gotthelft, die sich nach Kriegsende von ihrem langjährigen Gefährten getrennt hat, ist nichts Gegenteiliges bekannt, was für eine gewisse Authentizität der Dialoge spricht; da Salomon seine Zuchthausstrafe schon lange abgesessen hatte und auch aus dem automatischen Arrest, in den ihn die US-Amerikaner im Sommer 1945 gesteckt hatten, längst entlassen worden war (weitere Maßnahmen, z. B. ein Spruchkammerverfahren im Rahmen der Entnazifizierung, hat es gegen ihn auch nie gegeben), gibt es zumindest keine Vermutung, sich (juristisch) entlasten zu wollen. Wegen des sicher nicht einfachen Charakters Ernst von Salomons kann auch nicht abschließend darüber geurteilt werden, welche Motive er hatte, sich nach 1945 für eine Reorganisation der früheren Walther-Rathenau-Gesellschaft einzusetzen.
Ähnliche Schwierigkeiten, die Glaubwürdigkeit der handelnden Personen sicher einzuschätzen, treten bei einer anderen Episode im „Fragebogen“ auf, wenn Salomon schildert, wie sehr sich Kapitän Ehrhardt über das Attentat auf Rathenau aufgeregt habe. Salomon habe kurz nach dem Mordanschlag seinen Mentor, der ja eigentlich immer als der geistige Urheber aller „Aktionen“ der Organisation Consul angegeben wird, persönlich in München aufgesucht. Ehrhardt habe getobt, dass solche Aktionen kontraproduktiv seien und seine ganze Politik zerschlagen würden. Angeblich habe Ehrhardt vergleichbar auch auf das Erzbergerattentat reagiert, da dieser im Sommer 1921 in katholischen Kreisen immer noch Rückhalt gehabt hätte und er, Ehrhardt, sich in München in einem erzkatholischen Umfeld bewege, auf das er Rücksicht zu nehmen habe.
Auch wenn dies natürlich keine Entschuldigung darstellen kann, dürften auch bei Hermann Ehrhardt die nachweislich antisemitischen Äußerungen mehr nach außen zur Schau gestellte Attitüde, also weniger Ideologie und mehr ein allgemeines soziokulturelles Phänomen gewesen sein.
Und – ein Aspekt, der vielleicht in der Forschung zu wenig beachtet wird – schließlich gibt es sogar Überein-stimmungen bzw. Überschneidungen bei Rathenau und Teilen der nationalistischen Bewegung in Hinblick auf die Sozial- und Wirtschaftsordnung, auch wenn ihm dies selbst wahrscheinlich gar nicht bewusst gewesen sein dürfte: Rathenaus Idee eines Ausgleichs zwischen traditionellem Kapitalismus und dem im Weltkrieg ausprobierten „Staatssozialismus“ im Wege eines gemeinwirtschaftlichen Modells konnte sowohl bei links- wie rechtsautoritären Weltanschauungen Interesse hervorrufen (sowohl bei Lenin, als auch z. B. bei Albert Speer noch zwanzig Jahre später). Die jeweilige Umsetzung der Rathenauschen Theorien in der Sowjetunion oder dann im Dritten Reich hätte diesem zwar überhaupt nicht gefallen, aber zeigt, wie schnell eine an sich gut gemeinte Idee, die ideologisch eher in der Mitte des Spektrums angesiedelt war („liberal“), auch von extremistischen Kräften adaptiert und radikal abgeändert werden konnte (damit war die ursprüngliche Idee auch dem Einfluss des Urhebers entzogen, zumal wenn dieser, wie im Falle Rathenaus, gar nicht mehr am Leben war). Hinzu kommt, dass in den Kreisen der sog. Nationalrevolutionären der späten 1920er Jahre eine gewisse Durchlässigkeit (oder auch Fluktuation) bestand: Man wechselte zwischen den Lagern, z. B. Rechtsradikale oder sogar Nationalsozialisten wurden überzeugte Kommunisten („Scheringern“ nach Richard Scheringer, dessen Übertritt 1931 zur KPD auch für andere zum Vorbild wurde, z. B. für Bruno v. Salomon, dessen jüngerer Bruder Ernst ebenfalls Sympathien für mit ihm im Zuchthaus einsitzenden Kommunisten hatte und ab den späten 1950er Jahren in Ost-Berlin gern gesehen war).
Auch insoweit lässt sich eine Besonderheit bei vielen der politischen „Extremisten“ in der Zeit der Weimarer Republik feststellen, dass sie niemals wirklich in dieser „neuen“ Ordnung angekommen waren oder aber auch, dass diese neue Ordnung für viele Menschen, zumindest subjektiv, kein wirklicher Fortschritt gewesen ist. Modern formuliert: Die offizielle Politik der Weimarer Republik hatte es versäumt, viele der skeptischen oder zweifelnden Bürger „abzuholen“ und „mitzunehmen“, wie man heute sagen würde. Dann war es natürlich – zumindest zeitweise und für bestimmte Gruppen – relativ einfach, negative Stimmung gegen die Republik an sich oder gegen ganz bestimmte Repräsentanten zu machen und meist krude, aber auch teils fundierte Umsturzpläne zu entwickeln. Denn so ganz aus der Luft gegriffen war die von Hermann Ehrhardt ausgeheckte Idee für ein Umsturzszenario nicht: Betrachtet man sich bloß die von der SPD herausgegebene Zeitung „Vorwärts“ (Berliner Volksblatt) direkt nach dem Rathenau-Anschlag; es wurde eilig eine Sonderausgabe gedruckt, mit der die Massen mobilisiert werden sollten. Das Titelblatt endete mit dem agitatorischen Aufruf: „Massen, haltet Euch bereit“. (53) In der normalen „Abendausgabe“ des Vorwärts vom 24.06.1922 wurde dieser Massenaufruf schon wieder weggelassen und mehr auf sachliche Information wert gelegt.
Wäre eine derartige Mobilisierung der Massen außer Kontrolle geraten und ein blindwütiger Mob gegen die Polizei und andere Staatsorgane vorgegangen, so hätte durchaus ein „linker Aufstand“ drohen können (1923 in Sachsen und Thüringen war dies dann sogar einmal der Fall), so dass ein von den Attentätern erhofftes Chaos nicht ausgeschlossen war. Dann wäre ja – so die Logik von Ehrhardt und anderen Republikgegnern – die grundsätzliche Bedrohungslage für die „staatliche Ordnung“ vorhanden gewesen und das Militär (besonders die immer noch zahlreich vorhandenen Freiwilligenverbände) hätte gerufen werden müssen; ganz im Gegensatz zum gescheiterten Kapp-Lüttwitz-Putsch zwei Jahre zuvor. In der Fachliteratur hat sich für dieses geplante Szenario daher bezeichnenderweise der Begriff von der „Provokationstheorie“ gebildet. Denn beim schnell gescheiterten Kapp-Lüttwitz-Putsch hatten die revoltierenden Soldaten nur relativ wenig Rückhalt in der Bevölkerung, aber auch in den eigenen Reihen waren die Putschisten rasch in der Unterzahl.
Um diese fehlende Legitimation später zu erhalten, war das ganze Umsturzszenario von der O. C. und Ehrhardt persönlich konzipiert worden; dass dieses Terrorkonzept dann letztlich (erneut wieder) nicht aufgegangen war, in der konkreten Planung wahrscheinlich auch gar nicht aufgehen konnte, war von den Attentätern natürlich nicht erwartet worden und führte dann schließlich auch zum Untergang der O. C. bzw. zum Bedeutungsverlust für Hermann Ehrhardt in der rechtsradikalen Szene der Weimarer Republik. In einer fachwissenschaftlichen Untersuchung gelangt die Autorin zu folgendem Fazit:
„Als Organisation betrachtet, bietet die O. C. ein kümmerliches Bild und hebt sich durch nichts von anderen konventikelhaften Verbänden jener Zeit ab. Nicht wegen, sondern trotz ihres organisatorischen Aufbaus konnte die O. C. zu einer gewissen Bedeutung gelangen, denn der Name Ehrhardts und seiner Brigade erwies sich in einer Atmosphäre von Unsicherheit und Bedrohung noch immer als zugkräftig genug, um das Vertrauen einflußreicher Leute aus Politik und Wirtschaft wie auch die Hoffnung junger und tatendurstiger Männer zu erwecken, die seine Sache unterstützen wollten.“ (54)
Allerdings stand ein noch viel schlimmerer Rattenfänger als Nachfolger für Korvettenkapitän Erhardt bereits in den Startlöchern: der „böhmische Gefreite“. Und nicht nur beim rein militärischen Rang gab es zwischen Hitler und den Männern um Ehrhardt gravierende Unterschiede; die gegenseitige Abneigung beider Männer war dermaßen ausgeprägt, dass Ehrhardt während des sog. „Röhm-Putsches“ im Sommer 1934 Deutschland fluchtartig verlassen musste, weil ihn Hitlers Mörderbanden verfolgten und verhaften wollten (eine Liquidierung wäre dann zwangsläufig erfolgt). Wäre Hermann Ehrhardt, wie viele andere „Intimfeinde“ Hitlers, der staatlich organisierten Mordnacht vom 30. Juni auf den 1. Juli 1934 zum Opfer gefallen, würde man seinen Tod bedauern? Auf den ersten Blick sicher nicht, denn sowohl Ehrhardts Absichten als auch seine konkreten Methoden und Handlungen in der Zeit vom Frühjahr 1920 bis Ende 1922 waren im Ergebnis nicht nur (juristisch) rechtswidrig, sondern auch politisch und moralisch katastrophal. Aber dennoch hatte Ehrhardt, hatten auch einige der Männer um Ehrhardt, etwas, was den meisten der späteren Männer im Widerstand gegen Hitler und den Nazis fehlte: einen glanzvollen Namen, dessen Nennung allein schon oft Ehrfurcht einflößte (klingt in heutigen Ohren sicher kitschig, aber in den 1920er und 1930er Jahren war dieses psychologische Moment noch stark ausgeprägt).
d) Stattdessen würden heutzutage viel stärker sog. „Verschwörungstheorien“ entworfen und diskutiert; dies soll hier ausdrücklich unterbleiben. Aber ein Punkt, der bereits damals in der jungen Weimarer Republik von Interesse gewesen ist, das bis heute anhält, ist die Verstrickung des „Staates“ in geheimdienstliche Aktivitäten und welche Strukturen in bestimmten „Sicherheitsbehörden“ vorherrschen. Denn wenn (auch nur teilweise) die These zutrifft, dass sich die Reichsregierungen ab den frühen 1920er Jahren bestimmter Gruppierungen aus dem Milieu der „Freiwilligenverbände“ (besonders der O. C.) bedient haben sollten, um eine nach dem Versailler Vertrag an sich verbotene „geheime Abwehr“ (also ein Nachrichtendienst bzw. eine Spionageorganisation) aufzubauen, würden bestimmte personelle und auch organisatorische Verstrickungen in ein ganz eigenes Licht geraten. Hermann Ehrhardt, der diese Planung bestätigt haben soll, käme auf einmal eine ganz neue Bedeutung zu; die Pläne zur Errichtung einer (militärischen) Abwehrorganisation wären gleichsam die Kehrseite der Planungen zur sog. „Schwarzen Reichswehr“. Diese in der Tat ganz eigene Welt der Geheimdienste hat bereits vor über hundert Jahren im Verborgenen gewirkt und war voller Intrigen und Machtspiele. Wer hieran möglicherweise alles ein Interesse hatte und bei der Installierung entsprechender Strukturen mitgewirkt hat oder auch bloß mitwirken wollte, kann hier nicht weiter untersucht werden.
Wie aktuell auch (wieder), geht es bei solchen speziellen Fragen um viel Geld (immer ein geeignetes Motiv). Daher könnte auch bei einem bestimmten Teil im damaligen deutschen Militär die Ansicht entstanden sein, Politiker, die eventuell als Störfaktoren wahrgenommen wurden, zu „bearbeiten“. Als ein solcher Störfaktor für bestimmte Aktivitäten hoher Militärs (oder auch für einige hohe „Manager“ aus der Rüstungsindustrie) hat Walther Rathenau mit Sicherheit gewirkt. Mit Geld, von dem Walther Rathenau selbst genug hatte, war dem Außenminister nicht beizukommen, daher hätten auch Überlegungen in Betracht kommen können, ein solches Problem anders zu lösen; Personen, die skrupellos genug waren, diese Interessen auch mit einem Mord durchzusetzen, gab es nach der Niederlage von 1918 sicher genug. Ein weiterer Ansatz ist die Verstrickung staatlicher Stellen in und mit rechtsradikalen Organisationen, wie bereits 1919, als Adolf Hitler ja zunächst nur zur Beobachtung der von Anton Drexler gegründeten „Deutschen Arbeiterpartei“ abkommandiert worden war, um dann wenig später dort als „Führer“ der (umbenannten) NSDAP eine ganz eigene Rolle zu übernehmen. Wer glaubt da an Zufälle, dass im Spätsommer 1921, nachdem Hitler den internen Machtkampf in der NSDAP endgültig für sich entschieden hatte, ausgerechnet ehemalige Offiziere aus der Brigade Ehrhardt, mit dessen Wissen und Unterstützung, den Aufbau und die vorübergehende Führung von Hitlers Sturmabteilung („SA“) übernommen hatten?
Bekanntlich hatte auch Ernst Röhm beste Kontakte in die Reichswehr, außerdem gab es zahlreiche Fälle von „Personalfluktuation“, wo also Offiziere aus der frisch gegründeten Reichswehr (wegen der Limitierung laut Versailler Vertrag ohnehin wenig attraktiv) ausschieden und zu anderen Organisationen wechselten; Stichwort: „schwarze Reichswehr“. Oft zu deutlich besseren finanziellen Konditionen; Geld war ja irgendwie immer vorhanden. (55) Sofern bei den involvierten staatlichen Stellen der fatale Irrglaube geherrscht haben sollte, dass durch Zusammenarbeit oder Unterstützung eine Kontrolle der rechtsradikalen Organisationen möglich sei, haben sich die verantwortlichen Männer in Militär und Politik gründlich getäuscht: Geld und Logistik waren den Verschwörern und Rechtsterroristen wie immer willkommen, als Gegenleistung gab es Umsturzversuche, terroristische Anschläge und dann auch Mord und Totschlag. Dieselbe Fehleinschätzung gab es ein Jahrzehnt später erneut, als die Deutschnationalen im Januar 1933 mit Hitler eine Koalitionsregierung gebildet haben, um den „Führer“ einzuengen oder gar zu steuern.
Da bekanntlich die tatsächliche Entwicklung eine ganz andere Richtung genommen hat, lässt sich auch an diesem Punkt nur mit Bedauern festhalten, dass – auf längere Sicht betrachtet – die Ermordung Rathenaus, obwohl Adolf Hitler hieran überhaupt keinerlei Anteil hatte, den Aufstieg des Faschismus in Deutschland doch förderte. Nicht nur, weil mit dem Tod Rathenaus einer der einflussreichsten Politiker der frühen Weimarer Republik (und bestimmt auch des gesamten ersten Drittels des 20. Jahrhunderts) verloren gegangen war, sondern auch die extremen Verwerfungen, die das Hyper-Inflationsjahr 1923 bringen sollte, damit vorgezeichnet waren. Was der Untergang der Monarchie, die als Beleidigung der nationalen Ehre aufgefassten Bedingungen des Versailler Vertrages und was auch die terroristischen Ereignisse 1920 bis 1922 letztlich (noch) nicht geschafft hatten, der inflationsbedingte Ruin des gesamten Mittelstands im Herbst 1923 gab der Republik den Rest: Hitler und seine Anhänger waren in diesem Zusammenhang lediglich Resteverwerter.
4) Schlussbetrachtungen
Die bereits geschilderte Ambivalenz bzw. Vielschichtigkeit von Rathenaus Charakter führte zwangsläufig zu Fehlinterpretationen, Missverständnissen oder gar bewussten Verdrehungen und Verunglimpfungen seiner Person bzw. vieler seiner Handlungen (oder auch Unterlassungen). Wenn er z. B. 1907/08 die deutschen Kolonien in Afrika besuchte (u. a. als zumindest informeller Berater der Reichsregierung), dann geschah dies wahrscheinlich sogar aus drei Gründen und Motiven: Einerseits wollte er seine grundsätzlichen politischen Ambitionen untermauern, weshalb er in zwei offiziellen „Denkschriften“ seine kolonialpolitischen Konzepte festhielt und an die Regierung übermittelte (wofür Rathenau mit zwei Ehrungen bzw. Orden des Kaisers – teils nach heftigen Kontroversen – ausgezeichnet wurde). Andererseits war Rathenau bei jeder Auslandsreise auch immer als Unternehmer und Firmenlenker aktiv, soll heißen er informierte sich über die jeweiligen Absatz- oder Produktionsmöglichkeiten für die „AEG“ (eine Praxis jeder Wirtschaftsdelegation bis heute).
Dann kam aber bei Walther Rathenau noch eine Besonderheit hinzu: sein Wissensdrang neben dem Bedürfnis, Zusammenhänge erkennen zu wollen. Dieser letzte Punkt war gleichsam die Quelle für Rathenaus ausgedehnte schriftstellerische, philosophische Tätigkeit und Ambitionen. Wer aber Negatives zu Rathenaus Engagement im Bereich der „Kolonialpolitik“ sagen wollte, der unterstellte ihm entweder Eigennutz bzw. Geltungsdrang oder verunglimpfte ihn – denn was hatte auch ein Jude in der kaiserlichen Außen- und Kolonialpolitik zu suchen (außer natürlich beim „Schacher“, so ein bis heute tradiertes antisemitisches Stereotyp)?
Dass sich aber auch nichtjüdische Industrielle und Unternehmer sehr stark in der Kolonialpolitik des Kaiserreichs engagierten, ohne den akademischen Hintergrund Rathenaus, war natürlich bekannt, wurde aber nie thematisiert; im Gegenteil: Karl Helfferich und andere Lobbyisten der Groß- und Finanzindustrie aus der Zeit vor 1914 entwickelten geradezu eine Perfektion darin, ihre ausbeuterischen Absichten zu verschleiern.
Ein ähnliches Motivbündel, wie bei den Afrikareisen, war auch maßgeblich bei Rathenaus Vorstoß Anfang August 1914, als er sich aus freien Stücken an Reichskanzler und Kriegsministerium wandte, um auf offensichtlich zu erwartende Probleme in der Kriegswirtschaft (aber auch im Hinblick auf die politisch zu verantwortenden Kriegsziele) hinzuweisen. Einerseits konnte man sein kurz darauf einsetzendes Engagement in der Kriegsrohstoff- Abteilung (KRA) als beinahe schon kriminelle Unterstützung eines verbrecherischen Angriffskrieges bewerten, denn immerhin verstieß der Einmarsch deutscher Truppen in Belgien gegen völkerrechtliche Bestimmungen und die eigentliche Kriegsführung war schon im August/September 1914 mehr als grenzwertig (z. B. das massive Bombardement von Lüttich oder die schreckliche Verwüstung der Universitätsstadt Löwen) und verstieß oftmals gegen die Haager Landkriegsordnung. (56) Selbst wenn Rathenau natürlich nicht an den Kriegshandlungen beteiligt gewesen ist, so führten dennoch seine organisatorischen Maßnahmen zu unmittelbaren Auswirkungen für das Gesamtgeschehen.
Andererseits lässt sich sein Verhalten Anfang August 1914 gerade psychologisch ganz anders deuten; nicht nur die allgemeine „vaterländische“ Grundstimmung und die fast überall im Kaiserreich herrschende Kriegsbegeisterung hatten auch (zumindest ein Stück weit) den Großbürger Rathenau erfasst, sondern insbesondere auch den assimilierten Juden, dem noch zwanzig Jahre zuvor eine Offizierslaufbahn ob seines Verzichts, zum Christentum zu konvertieren, verwehrt worden war, hatte (eine Art umgekehrte Psychologie bzw. Überkompensation) nun ganz besonders starke patriotische Gefühle – Walther Rathenau war an diesem Punkt nicht der einzige deutsche Jude, der genauso empfand und sich besonders überschwänglich „national“ gebärdete. Und zu allen sonstigen Motiven, die Rathenau zur Unterstützung der deutschen Kriegswirtschaft im August 1914 veranlassten, kam auch hier wieder der Unternehmer in ihm durch. Seine „AEG“ hatte mit Ausbruch des Krieges sofort einen Umsatzeinbruch (geschätzt werden über 20%) zu verkraften; rein ökonomisch musste dieser Wahnsinn schnellstmöglich beendet werden; und zwar durfte Deutschland nicht der Verlierer sein (Rathenau wusste ja schon 1912 die negativen Folgen einer Niederlage abzuschätzen). Aber auch an diesem Punkt konnten Rathenaus Gegner ansetzen (zumindest den Versuch wagen), ihm unlautere Absichten bzw. Machenschaften zu unterstellen, indem der Verdacht geweckt wurde, „er habe seine Stellung als »jüdischer« Organisator der KRA zugunsten der AEG missbraucht“. (57)
Und noch ein Beispiel, wie Fehlinterpretationen und Verunglimpfungen Rathenaus wahre Absichten in Verruf bringen sollten oder zumindest dafür sorgten, das eigentliche Verständnis zu erschweren, waren seine Theorien im Bereich der „Gemeinwirtschaft“. So haben – zumindest zeitweise – linke Politiker und Gewerkschafter wie rechtsextreme Agitatoren seine speziellen volkswirtschaftlichen Vorstellungen bekämpft: Entweder als zu staatszentriert bzw. als Verkörperung eines „Ständestaates“, oder aber auch als zu antiliberal oder sogar als marxistisch beeinflusst. Dies betraf besonders den Aspekt der „Planwirtschaft“, deren inhaltliche Konkretisierung tatsächlich sehr vage blieb und vor allem durch den sog. „Kriegssozialismus“ überlagert wurde.
Dann wurde ihm bei seinen Thesen zur Bekämpfung von „Luxus“ (im Sinne von Verschwendung) oder der Einschränkung des (bisherigen) Erbrechts vorgeworfen, er als Erbe eines Firmenimperiums, der selbst immense Reichtümer angehäuft habe, wolle anderen das verbieten, was er selbst als Privileg genießen würde. Dabei wurde natürlich gerne übersehen, dass das Thema „Ressourceneffizienz“ und Vermeidung von unnützen Kosten bzw. unnötigem Verbrauch im privaten wie öffentlichen Sektor letztlich alle Bürger etwas angeht oder wenigstens angehen sollte. Nicht ohne Grund war es der mit Händen greifbare Rohstoffmangel zu Beginn des Krieges, der Rathenaus Entschluss bestimmte, sich an die Entscheidungsträger im Deutschen Reich zu wenden; ohne dabei unmittelbar an eigene Vorteile zu denken. Dass er dann ziemlich rasch mit der Übernahme der Leitung der auf seine Anregung hin überhaupt erst gegründeten Rohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium betraut wurde, war eher dem Mangel an fachlich versierten Angehörigen im deutschen Militär denn einer Geltungssucht Rathenaus geschuldet (soweit bekannt, erhielt er für seine dort geleistete Tätigkeit kein reguläres Gehalt).
Erst nach seinem Ausscheiden aus dem Kriegsministerium wurde ab Spätherbst 1915 seine Tätigkeit dort überhaupt einer (nur wenig interessierten) Öffentlichkeit bekannt; vorher wurde dies bewusst verschwiegen. Das Thema „ressourcenbewußter Umgang mit Rohstoffen und effiziente Steuerung von Energieverbrauch“ (heute kurz „Nachhaltigkeit“) wurde dann immer mehr zu einem besonderen Anliegen Rathenaus, entsprang aber keinem Imponiergehabe oder gar exzentrischer Bevormundung bzw. Besserwisserei – ein leicht zu erhebender Einwand seiner Gegner, die ihn lieber diffamierten als selbst Lösungen anzubieten.
Denn obwohl viele der von Rathenau vertretenen Ideen und Konzepte (gerade beim Thema „Gemeinwirtschaft“) zumindest für damalige Ohren „phantastisch“, gar utopisch klangen, war er doch Realist genug, um seine Lösungsvorschläge mit rationalen Argumenten zu unterlegen. Daher muss er auch als „Realpolitiker“ begriffen werden, der – ähnlich einem Bismarck – immer innerhalb eines bestimmten Koordinatensystems (u. U. auch innerhalb eines „Wertekanons“) agierte. Geprägt durch seinen speziellen unternehmerischen Hintergrund – und obwohl er kein Jurist war – hatte für ihn das kaufmännische Grundprinzip der Vertragstreue („pacta sunt servanda“) größte Priorität. Gerade diese Verbundenheit zu klassischen Rechtsprinzipien machte Rathenau auch zu einem glaubwürdigen Politiker, einem ehrlichen Makler auf internationalen Konferenzen (Schaumschläger gab es auf vielen Seiten genug, ob in Frankreich, in Russland oder auch in Deutschland, z. B. Ludendorff und später Hugenberg, um nur zwei der größten Blender zu nennen).
Doch wie auch bei anderen großen Männern der Geschichte, wurde auch Walther Rathenau selbst von seinen eigenen Leuten „hinters Licht geführt“, so bei den konspirativ geführten Geheimverhandlungen zwischen Kanzler Wirth (und einigen wenigen hohen Ministerialbeamten) und der russischen Seite (deren Hauptakteur Karl Radek an Durchtriebenheit kaum zu überbieten gewesen ist); dass dann gerade das ohnehin mit Republikgegnern durchsetzte Militär faktisch der größte Nutznießer der deutsch-sowjetischen „Entspannungspolitik“ werden sollte, ist an bodenloser Ironie kaum noch zu überbieten. Von solchen Kreisen und „Typen“ hatte Rathenau sicher keinen Dank zu erwarten.
Dieser Dank blieb ihm, zumindest zu Lebzeiten, auch von den anderen europäischen Politikern versagt (der Engländer Lloyd George dürfte die einzige Ausnahme sein). Als Rathenau am 19. Mai 1922 seine Schlussrede mit einem bekannten Zitat von Petrarca (bedeutender italienischer Humanist Mitte des 14. Jahrhunderts) im italienischen Original, als Ausdruck seiner Hoffnung auf Frieden in Europa und der Wertschätzung für die Gastgeber in Genua, beendete, brandete zwar spontaner Beifall der Konferenzteilnehmer auf, doch davon hatte er letztlich gar nichts. Denn besonders in Frankreich hatte man den deutsch-russischen Vertrag von Rapallo als Affront aufgefasst und auch Rathenau bis zu seinem Tod misstraut. Daher braucht die sturköpfige Haltung der Franzosen (und Belgier) zum Jahreswechsel 1922/23, als die zugesagten Reparationslieferungen aus Deutschland um ein Paar Tonnen zu gering ausfielen, nicht zu wundern; die Dummheit, mit der man in Paris die weitere Situation dann ab Januar 1923 eskalieren ließ, aber schon.
Doch mit Rathenaus Ermordung war der einzige Mann von internationalem Format, der doch noch etwas Einfluss gehabt hätte, um vielleicht über London deeskalierend einzuwirken, für immer verschwunden. Und die völlig überforderten Figuren, die dann ab Spätherbst 1922 in Deutschland für ein knappes Jahr die Reichsregierung bildeten, schafften es lediglich, dass dank der Hyperinflation auch die letzten Bürger aus der Mittelschicht das Vertrauen in die Republik endgültig verloren hatten. „Demokraten“ waren, wie bereits das Wahlergebnis vom Juni 1920 gezeigt hatte, ohnehin schnell in der Unterzahl.
Demnach bleibt nur noch zu fragen, welche Bedeutung kann Walther Rathenau hundert Jahre nach seiner Ermordung aktuell noch beigemessen werden? Rathenaus Vorstellungen einer europäischen Zoll- und Wirtschaftsunion als Grundlage von Wohlstand und Frieden für den gesamten Kontinent sind im Prinzip noch immer allgemeingültig, auch wenn sich der Wohlstandsbegriff in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt hat. Aber eine moderne Interpretation des Ausgleichs von Ökonomie und Ökologie kann und sollte durchaus auf Rathenau Bezug nehmen.
Die Idee einer „friedlichen Koexistenz“ (auch wenn Rathenau nicht ihr geistiger Urheber ist, aber wegen „Rapallo“ wird sein Name noch lange damit in Bezug gebracht werden) in Verbindung mit multilateralen Verträgen über friedenssichernde Maßnahmen in Europa sind heute so wichtig und wieder aktuell wie in der Nachkriegszeit 1918 bis 1922. Um wenigstens einen kurzen Ausblick auf die Situation in Deutschland, aber auch ganz Europas im Jahre 2022, also hundert Jahre nach Rathenaus Ermordung, zu geben, sollen nur zwei Aspekte herausgegriffen werden: Seit Ende Februar 2022 tobt (zwar momentan räumlich begrenzt) wieder ein Landkrieg in Europa, der bisher bereits schwere materielle Verwüstungen verursacht hat. Irgendwann wird auch dieser sinnlose Krieg beendet werden (müssen). Wie sollen dann die (ehemaligen) Kriegsparteien miteinander umgehen? Welche Art von Friedensvertrag, sofern es überhaupt einen klassischen, formellen Vertragsschluss geben wird, sollte es sein? Eine Wiederholung von Brest-Litowsk (März 1918) bzw. noch in extremerer Form die Pariser Vorortverträge (der von Versailles im Juni 1919 ist ja nur der bekannteste), also sog. „Diktatfrieden“, oder eher eine Variante des Vertrages von Rapallo 1922, wo die beteiligten Parteien sich auf Augenhöhe und ohne Vorbedingungen begegneten?
Sofern die wirtschaftliche Vernunft siegen soll, wäre eine Wiederentdeckung bestimmter Ideen Walther Rathenaus zum Thema eines wirtschaftlichen Ausgleichs sicher nicht verkehrt. Ähnliches lässt sich beim zweiten Mega-Problem, der Energiewende in Verbindung mit dem notwendigen Umbau der Infrastrukturen, das zwar auch mit dem Ukraine-Krieg unmittelbar zusammenhängt, aber tatsächlich viel länger zurückreicht und noch ganz andere Ursachen hat, sagen. Bedenkt man, dass bestimmte Überlegungen Rathenaus im Bereich einer „gemeinwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung“ bereits vor weit über hundert Jahren einem doch verhältnismäßig breiten Publikum vorgestellt worden waren und daraufhin zwar außer sehr vielen Bedenken und Ablehnungen nichts wirklich Konstruktives unternommen wurde, bleiben auch ganz aktuell beim Thema „Energiewende“ Zweifel an der Fähigkeit und am Willen, wirklich eine zukunftsorientierte Volkswirtschaft zu entwickeln.
Und obwohl kein studierter Jurist, ist Rathenaus Credo von der Rechtsverbindlichkeit eines Vertrages jedem Rechtsgelehrten ein Vorbild. Daher kann auf jeden Fall festgehalten werden, dass Walther Rathenau trotz aller Widersprüche in seiner Persönlichkeit oder gar bestimmter Fehler, die ihm unterlaufen sind, ein feiner Mensch gewesen ist. Selbst hundert Jahre nach seinem Tod ist weit und breit kein würdiger Nachfolger in Sicht!
Hier geht es weiter zum Teil II. Walther Rathenau, ein Nachtrag zum 100. Todestag
Autor: Thomas Fuchs, Assessor iur., Rechtshistoriker
Anmerkungen
1) An Literatur zur Person Walther Rathenaus und besonders zu seiner Ermordung mangelt es dabei sicher nicht; dennoch scheint seine Bedeutung hundert Jahre nach seinem Tod äußerst gering geworden zu sein. Entweder mangelt es heutigen Akteuren an Vorstellungskraft, Rathenaus Ideen und Konzepte auf aktuelle Problemlagen (die globalen Auswirkungen ungebremsten, „sinnfreien“ Wachstums einschließlich inkludierter Konsequenzen für Klima und Umwelt bzw. Weltgesundheit, aber auch beim Thema „Krieg“ bzw. Versagen der Außenpolitik) zu übertragen, oder (und dies wäre noch verhängnisvoller) vielen Entscheidungsträgern fehlt schlicht die notwendige Kenntnis von Rathenaus umfassenden Beiträgen und Wirkungen.
2) Konkret zur Ermordung Rathenaus soll auf die beiden Darstellungen von Martin Sabrow, siehe unten im Verzeichnis, und meinen Beitrag hier verwiesen werden: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/politische-morde-in-der-weimarer-republik/
3) Hier wird mit „Politiker“ der moderne Partei- oder Berufspolitiker als Typus gemeint.
4) Ignatz Bubis beschrieb Rathenau anlässlich des 75. Jahrestages seiner Ermordung als eine ambivalente Persönlichkeit. Trotz der wiederholt erlebten Ausgrenzungen, gar Anfeindungen, weil er Jude war, fühlte sich Rathenau doch auch als glühender Patriot.
5) Vgl. zu vorstehendem Überblick: v. Beek, S. 22f.
6) Vgl. insgesamt die Zusammenfassung auf der Homepage der Walther-Rathenau-Gesellschaft: http://walther-rathenau.de/walther-rathenau/
7) In ähnlicher Situation 1948 hat Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg geschickter agiert, die Erfahrung aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zwang schließlich auch Frankreich, seine retardierende Haltung in der Deutschlandpolitik zu überprüfen. Politische Einsicht und wirtschaftliche Notwendigkeit gleichermaßen führten Ende 1948 zum Einlenken Außenminister Bidaults, vgl. Grabbe, S. 393.
8) Rathenau, S. 89f.
9) Rathenau, S. 92. Die von ihm erörterten „Wertbegriffe“ ähneln der von Aristoteles behandelten Unterscheidung zwischen dem natürlichen Gebrauch einer Sache und der Verwendung dieser Sache als Tauschobjekt bzw. Mittel zum Gelderwerb, s. Aristoteles, Politik, 1. Buch, 9. Kapitel (z.B. ein Schuh als Fußbekleidung, zum Schutz und zum Laufen, oder als unverschämt teures „Designerstück“, für das besonders wertvolle Materialien an sich nutzlos verschwendet werden). Obwohl Rathenau sicherlich durch seine bildungsbürgerliche Erziehung den „schönen Künsten“ nicht abgeneigt gewesen ist, vielmehr sogar in seiner Jugend künstlerische Interessen pflegte, waren ihm die in seinen Kreisen gerne zur Schau getragenen luxuriösen Dinge zuwider. Nachteil: Das von ihm am Tag seiner Ermordung genutzte Kraftfahrzeug war nicht unbedingt „sportlich“ (vgl. weiter unten); hätte Rathenau einen auch schon 1922 produzierten „PS-Protz“ genutzt, wäre er vielleicht seinen Mördern entkommen oder weniger schlimm verletzt worden (rein spekulativ; allerdings waren auch die Attentäter keine Kfz-Spezialisten).
10) Zum Merkmal „Nachhaltigkeit“ wird Rathenau teilweise sogar als Leitbild einer „Energetischen Gemeinwirtschaft“ herangezogen (Ziel: eine die Naturressourcen schonende, sozial nachhaltige Wirtschaft), vgl. Hellige, S. 87. Allerdings sollte nicht vergessen werden, dass zumindest ein Teil von Rathenaus Abneigung gegen Verschwendung/Vergeudung aus seiner Zeit in der „Kriegsrohstoffabteilung“ stammt.
11) Rathenau, S. 95.
12) Hellige, S. 90.
13) Vgl. im Überblick bei Hellige, S. 94 – 103. Der Terminus „Gemeinwirtschaft“ wird von Rathenau wohl 1913 erstmals genutzt, ist jedoch viel älter und wurde bereits ab den 1860er/1870er Jahren von einigen konservativen Sozialpolitikern verwendet. Adolph Wagner dürfte der bekannteste „Nationalökonom“ gewesen sein, der „gemeinwirtschaftliche Systeme“ formulierte und 1876 in einem Lehrbuch dem akademischen Publikum vorstellte, vgl. Hellige, S. 93.
14) Vgl. Schölzel, S. 215f. Außerdem wurde die Idee der Stärkung von „Berufsverbänden“ oder gar die Errichtung ständischer Berufsparlamente erwogen; ders., S. 220f.
15) Vgl. im Überblick Euler, S. 269ff. Obwohl viele der von Rathenau thematisierten Punkte auch von anderen Wirtschaftswissenschaftlern geteilt wurden (und heute meist als Konsens gelten), ist bisher niemals ein flächendeckender Versuch zur Umsetzung einer „Gemeinwirtschaft“ in der Praxis unternommen worden; allenfalls punktuell bzw. temporär.
16) Vgl. bei Schölzel, S. 97 am Ende.
17) Vgl. Huber, S. 7.
18) Vgl. Huber, S. 5.
19) Vgl. Apelt, S. 360.
20) Im Grundgesetz sieht es ähnlich auch, s. Art. 15, 74 Nr. 15.
21) Beispiele bei Peter Krüger, Deutschland und die Reparationen, S. 111f., 117ff.
22) Federn-Kohlhaas, S. 220 („die Sieger werden die Auftraggeber für unsere Industrie und wir werden Lohnsklaven“).
23) Gall, S. 178f.
24) Ders., S. 180
25) Bedenkt man, wie wichtig die Tätigkeit Rathenaus gerade zu Kriegsbeginn gewesen ist, um einen schon wenige Wochen oder Monate später drohenden Rohstoffmangel wegen der britischen Seeblockade zu verhindern, da keiner der hochdekorierten preußischen Militärs bis dahin auch nur ansatzweise Ahnung von den Problemen der besonderen Rohstoffversorgung für eine moderne Kriegsführung hatte, ist es zumindest fahrlässig zu nennen, wie despektierlich man von offizieller Seite mit ihm umgegangen ist. Diese Blasiertheit ist bedauerlicherweise kein Einzelfall: Das Kaiserreich hat nicht zuletzt wegen eines ausgeprägten Standesdünkels den Krieg verloren und dadurch millionenfaches Leid zu verantworten. Hätten die verantwortlichen Entscheidungsträger auch auf „Bürgerliche“ (wie Rathenau) gehört, wären die Chancen deutlich größer gewesen, diesen Krieg früher zu beenden – ganz von den merkwürdigen Umständen seiner Entstehung und des konkreten Ausbruches abgesehen (Stichwort: Julikrise 1914).
26) Janz, S. 79.
27) Vgl. im Zusammenhang bei Gall, S. 192f. Ein wunder Punkt in Rathenaus Vita; in einer später verfassten „Apologie“ versuchte er, das Thema mit Belgien „zurechtzurücken“, indem er die wesentlichen Vorwürfe gegen sich abstritt und darauf verwies, dass er ja schon im Frühjahr 1915 wieder aus dem Kriegsministerium ausgeschieden sei, vgl. bei Harttung, S. 20 (dort sind Auszüge aus seiner Verteidigungsschrift abgedruckt). Jedoch vergaß Rathenau dabei, auf seine später erfolgte Beteiligung an sog. Kriegsgesellschaften hinzuweisen; in seiner Position konnte er schlecht zwischen unmittelbarer oder bloß mittelbarer Beteiligung unterscheiden, denn als „Konzern“ wurde auch bei der AEG am Schluss zusammengerechnet: „Gesamtbilanz“.
28) Siehe Wiedergabe bei Federn-Kohlhaas, S. 195f. Und nahezu im Wortlaut bei Harttung, S. 304.
29) Die beiden Zeitungen waren „Die Zukunft“ v. 30.05.1919 und ein nicht näher bezeichnetes „Abendblatt“ vom 31.05.1919, vgl. Nachweise wie in Anmerkung 28). Obwohl die in diesem Artikel geäußerten Ansichten zweifellos eigen- und einzigartig waren (kein anderer traute sich damals, derart weitgehende Bedingungen zu formulieren), wird diese Episode von den Biographen Rathenaus kaum erwähnt (Ausnahme die Freundin seiner Mutter, Etta Federn-Kohlhaas); allenfalls ein ganz kurzer Absatz nebst einer Fußnote, wie bei Schölzel, S. 269 und etwas ausführlicher bei Hentzschel-Fröhlings, S. 63.
30) Dieses besondere „Beratergremium“ wurde in Grundzügen bereits Anfang 1919 in Zusammenarbeit zwischen dem damaligen Reichsschatz-, dem Reichswirtschafts- und dem Außenamt installiert; von Anfang an bestand Uneinigkeit über die Besetzung, vgl. Peter Krüger, a.a.O., S. 104ff., 115ff. (die wichtigsten Sitzungen, an denen Rathenau teilgenommen hat, waren am 10. bis 12. und am 15. März 1919).
31) Wirth war in der Zentrumspartei bis 1933 und dann in der westdeutschen CDU ab 1949 oft umstritten und vertrat Mindermeinungen bzw. Außenseiterpositionen; sein größter Gegenspieler war Konrad Adenauer.
32) Sowohl zu Rathenaus Außenpolitik und speziell zum Rapallo-Vertrag gibt es unzählige Literatur; für die Betrachtung der Zusammenhänge mit Rathenau ist vielmehr interessant, dass Reichspräsident Ebert (SPD) eigentlich gegen eine zu einseitig empfundene Bindung an Sowjetrussland war, dagegen Kanzler Wirth und einige hohe Beamte buchstäblich alles daransetzten, außenpolitisches Renommee zu erlangen; Rathenau musste das Gefühl beschlichen haben, zwischen den Stühlen zu sitzen.
33) Ausführlicher Überblick zum gesamten zeitlichen Ablauf der Konferenzen bei Peter Krüger, Außen-politik, S. 151 bis 183.
34) Vgl. Schölzel, S. 335ff. Zu Radek braucht man nur zu wissen, bei wem er sich ab ca. 1910 in der linkssozialistischen Szene überall unbeliebt gemacht hatte: Wenn derselbe Mann sowohl Rosa Luxemburg als auch Fritze Ebert zum Gegner hatte (um 1914 die zwei bekanntesten „Roten“ im Kaiserreich, die sich bekanntlich schon vor dem 1. Weltkrieg nicht mehr grün waren), sagt dies viel über seinen Charakter aus; dass dieser Mann dann im April 1917 im Gefolge Lenins auf Betreiben und Kosten des deutschen Militärs nach Russland reisen konnte, um dort Weltrevolution zu machen, lässt die gesamte Geschichte der Jahre 1917 bis Anfang der 1920er Jahre in einem eigenartigen Licht erscheinen. Selbst Rathenau hat sich wohl um 1919, als Radek in Deutschland inhaftiert war, kurzzeitig von diesem Mann blenden lassen; nicht so Stalin: Radek fand im Nachfolger Lenins seinen Meister in Sachen Täuschung, wurde in einem der berüchtigten Schauprozesse Ende der 1930er Jahre verurteilt und starb in einem der unzähligen Lager von Stalins „GULag“. Eigenartig ist auch, dass im Frühjahr 1922 besonders viele bürgerlich-konservative Männer aus Wirtschaft und Politik der Weimarer Republik fast schon um die Gunst Radeks buhlten; diese besondere Zuneigung konservativer PolitikerInnen aus Deutschland für russische Autokraten hat lange überdauert, siehe Strauß (und viele weitere CSU-Würdenträger), Kohl, Merkel – zumindest bis Ende 2021. Doch noch sehr viel eigennütziger sind die Motive eines ehemaligen SPD-Kanzlers, der sich seine besondere Loyalität dem Kreml gegenüber auch noch „fürstlich“ entlohnen lässt.
35) Vgl. Schölzel, S. 337ff.
36) Paech/Stuby, S. 170.
37) Ein nach 1917 gerne verwendetes antisemitisches Stereotyp: Juden als minderwertig bezeichnete Rasse würden absichtlich eine andere als minderwertig eingestufte Rasse (Slawen), die dann auch noch mit einer eigenen „Weltanschauung“, dem Kommunismus, gleichgesetzt wird, beim Ausverkauf deutscher Interessen unterstützen. Der aus dem Mittelalter tradierte „Antijudaismus“ (Juden als Christusmörder, Brunnenvergifter oder auch Hostienschänder) hat ab Ende des 19. Jahrhunderts eine Anpassung an den nunmehr modernen Zeitgeist des Industriezeitalters erfahren; die „Glaubensjuden“ wurden den „Rassejuden“ angepasst, aus einem mehr religiösen Antijudaismus wurde der ideologische Antisemitismus, der auch propagandistisch viel besser als Verkörperung eines Feindbildes taugte (nicht nur der böhmische Gefreite wusste diese semantische Klaviatur geschickt zu bedienen).
38) „So wissen wir heute, wie sich von 1920 bis zur Jahreswende 1921/22 die zunächst vor allem wichtigen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion entwickelten, die schon am 6. Mai 1921 zu einer vertraglichen Regelung und zur Erhebung der beiderseitigen Handelsmissionen in den Rang diplomatischer „Vertretungen“ geführt hatten. Wir wissen, daß die Ostabteilung des Auswärtigen Amtes im Sommer und dann zielbewusst seit Ende Oktober 1921 an einer politischen Ausgestaltung der wirtschaftlichen Verbindung arbeitete, daß gleichzeitig und parallel zu diesen mehr oder weniger sichtbaren Hauptsträngen die Leitung der Reichswehr einen Sonderfaden nach Moskau spann, um – unterstützt von Reichskanzler Wirth, aber ohne Kenntnis des Reichspräsidenten, der meisten Kabinettsmitglieder und der Öffentlichkeit – eine enge rüstungswirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit mit der Roten Armee anzubahnen. Wir kennen die Protagonisten der aktiven Rußlandpolitik und ihre jeweiligen Absichten. Wir kennen die eigenartige Zwischenstellung Walter Rathenaus, der (…) den Vertrag von Rapallo unterzeichnet hat, der jedoch von seinem Amtsantritt bis zur Konferenz von Genua stets zwischen dem Kurs Maltzans und einer politischen Alternative schwankte, über die wir inzwischen ebenfalls informiert sind.“ (Graml, S. 368f.)
39) Zitiert nach Frölich, S. 23 mit weiteren Nachweisen.
40) Vgl. Schulin S. 121.
41) In vielen Fällen diente das ganze Gehabe einer ästhetisierenden Selbststilisierung auf hohem Niveau; besonders unter den Schriftstellern im seinerzeit rechten Milieu.
42) Vgl. Sabrow, Rathenaumord, S. 81 m.w.N.
43) Dennoch konnte sich Karl Helfferich (zumindest in seinen Kreisen) lange Zeit großer Beliebtheit und Unterstützung erfreuen; trotz aller Fehlleistungen während seiner Zeit in der Kolonialabteilung des Außenamtes, der Verstrickung im Bau der Bagdadbahn, dem ruinösen Konzept der Kriegsanleihen, seiner Mordhetze gegen Erzberger usw. Selbstverständlich war ein solcher Mann auch Vorstandsmitglied der Deutschen Bank (selbst Wolfgang Kapp, der Putschist von 1920, war in der Chefetage dieses ehrenwerten Instituts beschäftigt, obwohl er einige von Rathenaus Ideen unterstützte). Beinahe wäre Helfferich sogar noch als Retter der deutschen Währung Ende 1923 in die Geschichtsbücher eingegangen.
44) Z. B. bei Sabrow, Rathenaumord, S. 86ff.; meine Darstellung (s. o. Anmerkung 2) als PDF, S. 23 m.w.N.
45) Rathenaus Wagen war nämlich (nach heutigen Maßstäben eher untere Mittelklasse) aus dem eigenen AEG-Konzern der Marke „NAG“ (zuerst „Neue“, ab 1915 „Nationale Automobil-Gesellschaft), die auf die Produktion kostengünstiger Fahrzeuge ausgerichtet war; was ja Rathenaus Credo vom Ressourcensparen entsprach, so wurden z. B. ab 1907 sogar Elektromobile in Serie gebaut und das Auto sollte ja auch für die breite Masse der Bevölkerung irgendwann erschwinglich werden (ein Gedanke, der später bei der Gründung von „Volkswagen“ unter ganz anderen Vorzeichen wieder aufgegriffen wurde). Die schlichte Ausstattung von Rathenaus Wagen ist z. B. auf einer Fotografie dokumentiert; s. bei Sabrow, Verschwörung, S. 85. Dagegen handelte es sich beim PKW der Attentäter um einen Wagen des bekanntesten deutschen Herstellers von „Premiumfahrzeugen“, der leistungsstärker ausgestattet und stabiler konstruiert war.
46) Aus verständlichen Gründen haben die späteren Beschuldigten/Angeklagten eine andere Darstellung vor- gezogen, wonach die Mörder isolierte Einzeltäter gewesen seien, die keine perfekt funktionierende Flucht geplant hätten; betrachtet man die Umstände dieser Flucht aber nur etwas eingehender, wird deutlich, wie genau tatsächlich das gesamte Attentat auf Rathenau geplant und auch für die Flucht der Haupttäter gesorgt worden war – doch derartige Verbrechen besitzen auch für die Täter immer unvorhersehbare Risiken; vgl. hierzu bei Sabrow, Rathenaumord, S. 183ff.
47) Vgl. bei Sabrow, Rathenaumord, S. 63ff.
48) Von und über Ernst v. Salomon gibt es eine Unmenge an Literatur; neben seinen eigenen Büchern, Aufsätzen und sonstigen Beiträgen (wie den Drehbüchern zum Dreiteiler „08/15“) auch viel Sekundärliteratur (Zeitgeschichte, Politik- wie Literaturwissenschaften). Sein privater Lebensweg ist ebenfalls höchst ambivalent: Vom jugendlichen Rechtsterroristen und Aktivisten beim sog. Landvolk (gefolgt von einer Zeit des Abtauchens in Frankreich Anfang der 1930er Jahre und des Beginns seiner schriftstellerischen Tätigkeit), über die Zeit einer Art „inneren Emigration“ nach 1933, während dessen er über zehn Jahre seine jüdische Lebensgefährtin, Ille Gotthelft, als Ehefrau ausgegeben und versteckt hatte, nach 1945 entschiedener Anti-Amerikaner mit besten Kontakten nach Ost-Berlin. Wegen der Beteiligung am Rathenaumord bis Ende 1927 inhaftiert, ab Frühsommer 1945 vom US-Militär interniert (nach ca. 1,5 Jahren ohne Angabe richtiger Gründe aus dem „Arrest“ entlassen). Gab als Staatsangehörigkeit an, „preußisch“ zu sein, war ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre in der westdeutschen Anti-Atomwaffenbewegung und der sog. Deutschen Friedens-Union tätig, war mit Ernst Rowohlt, in dessen Verlag er Mitte der 1930er Jahre einigen Mitarbeitern, die verfolgt wurden, aushelfen konnte, aber auch mit Renate Riemeck befreundet, der Adoptivmutter von Ulrike Mein-hoff (später RAF), zu der es wohl auch lose Kontakte gab (zumindest hat Salomon 1972 an Meinhoff appelliert, sich zu stellen). Wenn eins auf Ernst v. Salomon zutrifft, dann, dass er überhaupt in keine „Schublade“ gesteckt werden konnte. Er wusste um die Schuld, die er wegen der Ermordung Rathenaus auf sich geladen hatte, daher ist es sicher nicht einfach, zu entscheiden bzw. zu unterscheiden, ob und was in den fünfzig Jahren, die er noch nach dem Mord leben sollte, bloß als Rechtfertigung erscheint oder was als echte Sühne gewertet werden kann; sein ausgeprägter Hang zur Provokation macht die Entscheidung nicht einfacher.
49) Im Überblick bei Gabriele Krüger, S. 51 – 55.
50) Dies., S. 57.
51) Bekanntlich bevorzugen die Ermittlungsbehörden lieber einfache (monokausale) Zusammenhänge und Begründungen. Dass dabei aber die eigentliche Strafverfolgung vernachlässigt wird, hat in der jüngeren Vergangenheit die Mordserie des sog. „NSU“ gezeigt, wo die Polizei jahrelang in eine völlig falsche Richtung „gedacht“ und einen Hintergrund angenommen hatte, der von Vorurteilen geprägt gewesen ist.
52) Allerdings wäre das Thema „Homosexualität“ (egal ob bei Kern als Täter oder Rathenau als Opfer des Attentats) dann von einer juristischen Brisanz gewesen, hätte es deswegen ein Ermittlungsverfahren nach dem seinerzeit sehr ominösen § 175 Strafgesetzbuch alter Fassung gegeben. Strafverfahren nach dem sog. Schwulen-Paragraphen waren nicht nur im Kaiserreich, sondern auch noch in der Weimarer Republik ein gefundenes Fressen für die Boulevard-Presse. Niemand wollte in so ein Verfahren (auch nicht als Zeuge) hineingezogen werden, bereits Andeutungen im Vorfeld eines möglichen Ermittlungsverfahrens waren sehr unangenehm; lieber wurde der Mantel des Schweigens ausgebreitet.
53) Zur Ausgabe des „Vorwärts“ siehe z.B.: https://www.die-weimarer-republik.de/wp-content/uploads/2020/09/Bild_Vorw%C3%A4rts_Rathenau.jpg Andere Ausgaben sind in unterschiedlichen Archiven einsehbar.
54) Gabriele Krüger, S. 81.
55) Passend zur „schwarzen Reichswehr“ gab es im Reichshaushalt auch „schwarze Kassen“, wo illegal am Parlament vorbei die rechtswidrige Finanzierung der verbotenen Aufrüstung erfolgte. Mit Wissen und Unterstützung durch die zuständigen Ministerien in der Reichsregierung (1927/28 im Kabinett Marx z. B. durch den Reichskanzler selbst, Außenminister Stresemann, Reichswehrminister Geßler und Groener nebst Finanzminister Köhler). Der auch damals schon existierende „Rechnungshof“ hat weggeschaut. Korruption und Vorteilsnahme im Amt sind nicht erst im 21. Jahrhundert straf- und verfassungsrechtlich ein Problem.
56) Wie töricht besonders das Verhalten des deutschen Besatzungsregimes gerade in Belgien gewesen ist, zeigt z. B. die Behandlung des bekannten belgischen Historikers Henri Pirenne, der ohne Rechtsgrund jahrelang in deutschen Lagern interniert wurde: ein Zivilist! Prof. Pirenne hatte ja nicht nur an deutschen Universitäten studiert, sondern galt bis 1914 als ausgesprochen deutschfreundlich. Wegen des herrischen Auftretens der deutschen Armeeführung und oft übertrieben harter Vergeltungsmaßnahmen gegenüber vermeintlichen „Heckenschützen“ war das Ansehen Deutschlands in Belgien während des Weltkrieges sehr stark beschädigt und es braucht nicht zu wundern, dass im Rahmen der Reparationsforderungen neben Frankreich vor allem auch Belgien zu den Hauptakteuren zählte: so bei der Besetzung des Ruhrgebiets Anfang 1923. Eine derartige Eskalation der Reparationsfrage wollte Rathenau ja immer unbedingt vermeiden.
57) Schölzel, S. 226.
Literatur
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Aristoteles: Politik. Übersetzt von J. H. v. Kirchmann, Philosophische Bibliothek, Band 7, Leipzig, Verlag der Dürr’schen Buchhandlung, 1880. https://www.projekt-gutenberg.org/aristote/politik/chap002.html
van Beek, Jacobus: Walther Rathenau (1867-1922) – Die Mission eines unverstandenen deutsch-jüdischen Europäers, Kok-Kampen 2003 (verfügbar im Internet): https://www.altreformiert.de/beuker/geschichte/texte_hefte/Rathenaubuch.pdf
Euler, Heinrich: Die Außenpolitik der Weimarer Republik 1918/1923, Aschaffenburg 1957.
Federn-Kohlhaas, Etta: Walther Rathenau. Sein Leben und Wirken, Dresden 1927.
Frölich, Jürgen: Der organisierte Liberalismus und Walther Rathenau. Neun Jahrzehnte einer schwierigen Beziehung, in: Hense/Sabrow (Hrsg.): Leitbild oder Erinnerungsort? Neue Beiträge zu Walther Rathenau, Berlin 2003, S. 15 – 30.
Gall, Lothar: Walther Rathenau. Portrait einer Epoche, München 2009.
Grabbe, Hans-Jürgen: Die Deutsch-Alliierte Kontroverse um den Grundgesetzentwurf im Frühjahr 1949, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (VfZ), Band 26 (1978), S. 393 – 418.
Graml, Hermann: Die Rapallo-Politik im Urteil der westdeutschen Forschung, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (VfZ), Band 18 (1970), S. 366 – 391.
Harttung, Arnold (Hrsg.): Walther Rathenau Schriften. Mit einem Vorwort von Golo Mann, 1. Aufl., Berlin 1965 (unveränderte 2. Aufl. 1981).
Hellige, Hans Dieter: Dauerhaftes Wirtschaften contra Wirtschaftsliberalismus: Die Entstehung von Rathenaus Wirtschaftsethik, in: Hense/Sabrow (Hrsg.): Leitbild oder Erinnerungsort? Neue Beiträge zu Walther Rathenau, Berlin 2003, S. 85 -105.
Hentzschel-Fröhlings, Jörg: Walther Rathenau als Politiker der Weimarer Republik, Husum 2007.
Huber, Ernst Rudolf: Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Band 4, Deutsche Verfassungsdokumente 1919 – 1933, 3. Aufl., Stuttgart u.a. 1992.
Janz, Oliver: 14 – Der Große Krieg, Frankfurt/M. 2013.
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Krüger, Peter: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, 2. Aufl., Darmstadt 1993.
Paech, Norman/Stuby, Gerhard: Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen, 1. Aufl., Hamburg 2001.
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Sabrow, Martin: Der Rathenaumord. Rekonstruktion einer Verschwörung gegen die Republik von Weimar, München 1994.
Sabrow, Martin: Die verdrängte Verschwörung. Der Rathenau-Mord und die deutsche Gegenrevolution, Frankfurt 1998.
Schölzel, Christian: Walther Rathenau. Eine Biographie, Paderborn u.a. 2006.
Schulin, Ernst: Walther Rathenau. Repräsentant, Kritiker und Opfer seiner Zeit, 2. Aufl., Göttingen 1992.