Die folgenden Ausführungen sollen als Ergänzung bzw. Nachtrag zu meinem ersten Beitrag anlässlich der Ermordung des ehemaligen Außenministers der Weimarer Republik, Walther Rathenau, gedacht sein. (1)
I) Vorbemerkung
Für diese Ergänzung gibt es mehrere Gründe: Zum einen die doch relativ verhaltenen Beiträge und Reaktionen in den Medien am 24. Juni 2022 bzw. kurz vor dem hundertsten Todestag Rathenaus (man könnte fast schon von einer stiefmütterlichen Behandlung sprechen, vergleicht man z. B. die öffentliche Anteilnahme beim Tode des Hamburger Fußballidols Uwe Seeler oder als Ex-Tennisstar Boris Becker ins Gefängnis musste) – zumindest wenn man die Ernsthaftigkeit und Relevanz von Rathenaus wirtschafts- und energiepolitischen Konzepten („Gemeinwirtschaft“ und „Ressourcenökonomie“) erkennt und anerkennt; zum anderen, weil an dieser Stelle ein ganz spezieller Aspekt vertieft werden soll, der einen überraschend aktuellen Bezug aufweist, der mit der kürzlich erfolgten erstinstanzlichen Verurteilung eines ehemaligen Offiziers der Bundeswehr zusammenhängt (der Fall des Franco A.).
Bereits vor hundert Jahren gab es nämlich staatsfeindliche Bestrebungen in der deutschen Armee.
II) Einleitung
Natürlich hat es anlässlich dieses besonderen Jahrestages des Attentates auf Rathenau öffentliche Ehrungen und mediale Würdigungen gegeben, was gar nicht abgestritten werden soll. (2) So hat auch Bundestagspräsidentin Bas im Parlament eine sicherlich persönlich engagierte Rede zum Andenken Walther Rathenaus als Politiker und Mensch gehalten. (3) Interessant sind u. a. folgende Passagen aus ihren Ausführungen im Deutschen Bundestag:
„Der Mord war Teil eines rechtsterroristischen Umsturzplans, der die Republik zu Fall bringen sollte. Das Netzwerk reichte in rechtsnationale Kreise und in staatliche Institutionen hinein.“ (4) Gerade dieser letzte Punkt verdient besondere Aufmerksamkeit, denn leider unterlässt es die Bundestagspräsidentin, an dieser Stelle zu konkretisieren.
Es waren ja nicht nur ganz bestimmte Politiker der „Deutschnationalen“, vor allem Karl Helfferich, der (wie schon zuvor im Falle von Matthias Erzberger) „Gift und Galle“ gegen Rathenau gespritzt hatte, und dafür aus den eigenen Reihen Unterstützung erhielt. Es gab neben Anhängern und Unterstützern der DNVP auch in der „Deutschen Volkspartei“ (DVP) weit rechtsstehende Kreise, insbesondere mit besten Kontakten zur Groß- und „Schwer“-Industrie, die nicht nur über viel Geld, sondern auch über glänzende Verbindungen zum (offiziellen) Militär wie zu den auch 1922 im Deutschen Reich noch weit verbreiteten militärischen Geheimorganisationen verfügten.
Schließlich gab es gerade im gesamten militärischen Umfeld sehr viele undurchsichtige Machenschaften und Verknüpfungen zwischen Anspruchsdenken der Armee und Profitinteresse der Wirtschaft (einige Zeit später wurde diese Gemengelage als „militärisch-industrieller Komplex“ betitelt); daher wäre geradezu zwangsläufig die Reichswehr als eine der staatlichen Institutionen zu nennen, die Teil eines (von der Bundestagspräsidentin so umschriebenen) „Netzwerks“ gegen die Republik gewesen ist.
Natürlich nicht die ganze Armee (mit den laut Versailler Vertrag offiziell erlaubten 100 000 Mann) nebst der stark geschrumpften Marine (zusätzlich 15 000 Mann), sondern nur der Teil der „Führungsspitze“, der tatsächlich und ganz konkret rechts- bzw. verfassungswidrige Maßnahmen geplant und auch umgesetzt hat.
Diesem wunden Punkt bei der Reichswehr soll daher im Folgenden vertieft nachgegangen werden. Wie weit die Schatten der Vergangenheit auch heute noch reichen, soll am Ende kurz beleuchtet werden.
III) Die eigenartigen Verbindungen der Reichswehrführung („dunkle Machenschaften“)
Wie bereits im Rathenau-Beitrag angesprochen, hat es schon Monate vor Abschluss des „Rapallo-Vertrages“ (16. April 1922) intensive Kontakte zwischen deutschen Dienststellen nebst hochrangigen Vertretern der Wirtschaft mit der sowjet-russischen Seite gegeben.
Die wichtigsten Gründe für diese doch etwas merkwürdige Annäherung lagen in der unerwarteten politischen Entwicklung des Jahres 1921: Für die Bolschewiki bedeutete die Niederlage im „Polnisch-russischen Krieg“ der Jahre 1919/21 neben materiellen Verlusten einen herben Rückschlag für ihre „geopolitischen“ Pläne (Lenin musste einsehen, dass die Weltrevolution nicht von allen begrüßt wurde und eine völlig rückständige Volkswirtschaft, wie die in Russland während aber auch nach der Zarenzeit, nicht allein mit frommen Sprüchen oder der Drohkulisse des Geheimdienstes und des GULag modernisiert werden konnte).
Für die junge Weimarer Republik bedeutete der Wortbruch der Siegermächte beim Thema „Oberschlesien“, als das ursprünglich vorgesehene Verfahren für die dort anberaumte Volksabstimmung kurzerhand zu Gunsten der polnischen Seite geändert wurde, dass besonders in Frankreich nach wie vor ein großes Misstrauen, gar Hass auf Deutschland vorherrschte. Somit war, kurz gesagt, der aus der Hinterlassenschaft des Ersten Weltkrieges gegründete polnische Staat sowohl für Moskau als auch für Berlin ein Dorn im Auge (und wie jeder Dorn, trübt dieser den Blick).
Die Ablehnung der mittelosteuropäischen Nachkriegsordnung war zumindest der kleinste gemeinsame Nenner für politische wie militärische Kontakte zwischen Berlin und Moskau, die neben der eher formellen Repräsentation, wie der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, von Anfang an auch handfeste Wirtschaftsinteressen umfassten (und ganz insgeheim auch zahlreiche militärische Rüstungsprojekte).
1) Das politische Netzwerk gegen Rathenau
Nachdem Walther Rathenau sein Amt als Wiederaufbauminister aufgrund parteitaktischer Scharaden im Oktober 1921 aufgeben musste, trat eine eigenartige Situation ein: Viele im politischen Berlin (auch in seiner eigenen Partei, der „DDP“) waren eigentlich froh, dass dieser eigenartige jüdische Freigeist aus der ersten Reihe der Entscheidungsträger verschwinden würde (zumindest war diese Hoffnung präsent) – und gleichzeitig wollte Reichskanzler Wirth von der katholisch dominierten Zentrumspartei nicht auf Rathenaus Expertise und Beziehungen verzichten (von dem guten persönlichen Draht, der beide „Außenseiter“ – zumindest zeitweise bzw. oberflächlich betrachtet – verband, abgesehen).
Daraus folgte für einige Monate, dass Rathenau eine Art persönlicher Berater des Reichskanzlers wurde, vor allem um die Kontakte nach London zu pflegen. Vorteil dieser Konstellation: Wirth hätte im Falle negativer Schlagzeilen alle Verantwortung abstreiten können und Rathenau selbst kam diese unabhängige Rolle ganz gelegen, war er doch in keine Kabinettsdisziplin oder parteitaktische Order eingebunden.
Nachteil war natürlich, dass er in seiner Person keinen amtlichen Zugang zu den maßgeblichen Ministerien hatte, man betrachtete ihn eher als Störfaktor, sofern man ihn überhaupt beachtete.
Dann wurde Rathenau – zumindest nach außen – überraschend Ende Januar 1922 auf direkten Einfluss des Reichskanzlers zum Außenminister ernannt; zu einem Zeitpunkt, als einerseits bereits feststand, dass im Frühjahr 1922 eine „Weltwirtschaftskonferenz“ stattfinden würde, andererseits schon seit einigen Wochen in Berlin geheime Verhandlungen zwischen der russischen Delegation unter Führung Radeks und der deutschen Seite abgehalten wurden.
Auch wenn Rathenau zumindest rudimentär von dieser Geheimdiplomatie wusste (als Berater des Kanzlers in Wirtschaftsfragen, die mit den Reparationen zusammenhingen, und auch als Chef der „AEG“ besaß er schon gewisse Informationen hierüber), mussten nun die hohen Beamten im Außenministerium entscheiden, was und wieviel sie ihrem neuen Dienststellenleiter berichten sollten; diese heikle Aufgabe fiel im Wesentlichen „Ago“ v. Maltzan zu, der als vormaliger Leiter des Russlandreferats und dann der gesamten Ostabteilung im Auswärtigen Amt quasi von Amts wegen ein Fürsprecher der „russischen Sache“ (zumindest aus deutscher Sicht) war.
Heikel war diese Einweihung schon deshalb, weil Rathenau (obwohl rein wirtschaftlichen Kontakten zu den Sowjets grundsätzlich nicht abgeneigt, wenn die Rahmenbedingungen stimmten) als „Westler“ galt: Als typisch städtischer Bildungsbürger und noch mehr als Vertreter eines jüdischen Großbürgertums fühlte er sich emotional wie kulturell deutlich eher der Downing Street in London als dem Roten Platz in Moskau verbunden. Diese grundsätzliche Einstellung Rathenaus war natürlich auch in Berlin, sowohl in der Regierung als auch dem Reichspräsidenten bekannt – Friedrich Ebert war ja selbst kein Freund der Bolschewisten -, und erst recht auch den hohen Beamten im Außenministerium.
Eigenartig war jedoch die Rolle des Reichskanzlers; dieser wollte unbedingt einen außenpolitischen Erfolg, allein schon, um von der zum Scheitern verurteilten Erfüllungspolitik innenpolitisch abzulenken; aber er wollte ja auch den von ihm als Außenminister durchgesetzten Rathenau nicht völlig brüskieren.
Keine wirklich einfache Aufgabe für den Abteilungsleiter im Außenministerium, Maltzan, als er im Frühjahr 1922 Rathenau über den „Stand der Dinge“ in Kenntnis setzen musste:
„Gleichzeitig überreichte er seinem Minister ein Papier, in dem noch einmal die bisherigen Ergebnisse seiner zahlreichen Gespräche mit Karl Radek festgehalten waren. In der Summe war das ein Rohentwurf über einen politischen Vertrag, (…) den Maltzan jetzt bald in trockene Tücher bringen wollte. Die Eile hatte mit der bevorstehenden Konferenz in Genua zu tun. Sowohl Maltzan, als auch die russische Seite setzten darauf, schon vor Beginn dieses Treffens Fakten zu schaffen, den angestrebten Vertrag bereits abzuschließen, bevor die Delegationen nach Ligurien abreisten. Ziel war dabei eine Strategie, die Pariamächte Deutschland und Russland gegen die Siegermächte des Ersten Weltkrieges Frankreich und Großbritannien aufzustellen. Doch Rathenau wollte eine solche Frontstellung partout nicht, und deshalb bissen sowohl die Russen als auch Maltzan bei ihm weiterhin auf Granit. (…) Nachdem die russische Delegation Moskau verlassen hatte, um über die Zwischenstation Berlin nach Genua weiterzureisen, versuchte Maltzan erneut und mit Nachdruck einen Vorstoß bei Rathenau, um für einen Abschluss mit den Russen vor Genua zu werben. Doch auch jetzt war ein derartiger Schritt kein Thema für ihn.“ (5)
Zwischenzeitlich wurde auch die Spitze der russischen Delegation ausgewechselt, Litwinow und Tschitscherin für Radek. Rathenau konnte ob dieser überraschenden Personalie den Eindruck gewinnen, er „solle eingeseift werden“.
Doch die jetzt schon über Monate geführten Verhandlungen sollten trotz allem weitergehen (und zwar nicht ergebnisoffen, sondern zielgerichtet und auf ganz bestimmte Ergebnisse fokussiert; egal ob dies die Billigung des Außenministers fand):
„Daß sich anstelle des unwilligen Rathenaus wieder einmal Maltzan den Russen als Gesprächspartner für den Sonntag zur Verfügung stellte, überrascht also kaum. Ein erstes Gespräch zwischen dem Leiter der Ostabteilung und der sowjetischen Genua-Delegation fand am 2. April 1922 (…) statt, (…). In diesem Gedankenaustausch ging es fast nur um Feinheiten in den bisher vorliegenden Entwürfen. (…) Während Maltzan mit den Russen verhandelte, suchte Rathenau nach einer anderen Spur, um die internationale Wetterlage für Deutschland vor Genua günstig zu beeinflussen. Sein Adressat hieß dabei Lloyd George. Dem britischen Premier schrieb er am 2. April 1922 einen gleichermaßen ausführlichen wie eindringlichen Brief (…). Darin erläuterte Rathenau noch einmal die besondere Notlage des Reiches und die Tatsache, daß die enormen Zahlungsverplichtungen für Deutschland eine zu hohe Belastung darstellten. Er beklagte ein weiteres Mal das Auftreten der Reparationskommission in den letzten Monaten, das für sein Land demütigend sei und deshalb auch den Reparationswillen Deutschlands schwäche. (…) Schließlich bat er Lloyd George, doch einmal darüber nachzudenken, ob nach Genua im Rahmen einer Folgekonferenz die Reparationsfrage doch noch auf die Tagesordnung gebracht werden könne. Der Stil des Briefes ist weit weg von jeder diplomatischen Geschmeidigkeit, er ist im Ton direkt. (…) Er beinhaltet in einem Maße persönliche Gedanken Rathenaus wie wenig andere Schreiben seiner Amtszeit als Außenminister und verdient deswegen besonderes Gewicht, weil diese persönlichen Gedanken einwandfrei den Willen dokumentieren, die Probleme des Nachkriegseuropas mit dem Westen und nicht mit dem Osten zu lösen.“ (6)
Kurzum: Wo die meisten der maßgeblichen Beamten im Außenministerium und auch Reichskanzler Wirth eher einen außenpolitischen Prestigegewinn (allgemein für die deutsche Politik oder aber für sich persönlich) suchten, ging es dem Außenminister immer zunächst um die Lösung der drängenden Reparationsverpflichtungen.
Außerdem hätte es in ganz Deutschland keinen anderen politischen Entscheidungsträger gegeben, der, wie es Rathenau vermochte, einen derart eindrücklichen Brief an einen englischen Premierminister zu adressieren.
Nur der damalige Außenminister hatte die Persönlichkeit und auch das notwendige Charisma, so auf einen ehemaligen Kriegsgegner zuzugehen (auch Stresemann, der ja gerne als großer Staatsmann gelobt wird, hatte diese Fähigkeit nicht in dem Umfang wie Rathenau; mit gewissen Abstrichen ist erst Willy Brandt ein halbes Jahrhundert später zu nennen).
Auch im weiteren Verlauf der Besprechungen mit der russischen Delegation ließ der Außenminister keine Zweifel an seiner grundsätzlichen Einstellung bzw. Vorstellung im Hinblick auf das angedachte europäische Wiederaufbauprogramm aufkommen. Mit dieser klaren Haltung verursachte Rathenau jedoch bei der russischen Seite erhebliche Verunsicherung, da diese mit den anderen Gesprächspartnern (wie Abteilungsleiter Maltzan) im Rahmen der bis dahin geführten Verhandlungen über ganz andere Lösungsansätze (wie bei der Frage der Restitution) diskutiert hatten und eigentlich davon ausgingen, der Vertrag sei fix und fertig und könne noch vor Beginn der Konferenz von Genua verbindlich abgeschlossen werden.
Man darf ja nicht vergessen, dass auch die russischen Delegierten unter einem enormen Erfolgsdruck standen:
Nicht nur rein wirtschaftspolitische Impulse waren für die immer noch im Aufbau befindliche Sowjetunion dringend notwendig, noch viel mehr galt es, den machtpolitischen Führungsanspruch der Bolschewiki zu untermauern. Eine Allianz mit Deutschland, dem Heimatland von Marx, Engels oder auch einem Karl Liebknecht (Mitgründer der KPD), sollte eine spürbar gesteigerte Legitimationswirkung für den Kreml mit sich bringen; außerdem hätte man dadurch den westlichen Siegermächten des Ersten Weltkrieges „eins dafür auswischen“ können, dass man das bolschewistische Russland bei den gesamten Friedensverhandlungen 1919 (nicht nur in Versailles) völlig ignorierte – und wie Artikel 116 Abs. 3 des Versailler Vertrages zeigt, sogar bevormunden wollte.
Ob bewusst oder eher instinktiv, Walther Rathenau wollte derartige Winkelzüge nicht mitmachen:
„Eine Separateinigung mit den Russen bedeutete für Rathenau immer eine Frontstellung gegen den Westen. Und zudem hatte in seinen Augen die wirtschaftliche Erschließung des am Boden liegenden Riesenreiches nur dann Chancen, wenn Investitionen aus Amerika und England sowie Frankreich, Italien und Japan getätigt würden – ohne Kapital war auch in Rußland nichts zu holen. Machtpolitische Kalkulationen waren Rathenau in der Russenfrage im Grunde fremd, seine Ziele hießen Genesung Europas und Frieden. (…) Aber nicht nur die Russen reisten von Berlin nach Genua mit der ärgerlichen Erfahrung, daß ein politischer Vertrag mit Deutschland über Rathenau kaum zu erreichen war. Verbittert waren auch die deutschen Oststrategen (…).“ (7)
Bei dieser Entwicklung fällt auf jeden Fall auf, wie unterschiedlich (geradezu konträr) die Motivationen und Bestrebungen im Auswärtigen Amt Anfang April 1922, kurz vor der Weltwirtschaftskonferenz, gewesen sind.
Allein schon deshalb sind alle Lehrbuchdarstellungen, wonach Walther Rathenau die maßgebliche und allein verantwortliche Person für den Abschluss des „Rapallo-Vertrages“ gewesen sei, mit großer Vorsicht zu genießen. Jeder, der die spätere Ermordung des Außenministers in Bezug zu dieser speziellen Rapallo-Politik setzen will, sollte daher nach seiner eigenen „Befindlichkeit“ bei diesem Thema gefragt werden.
Ein weiterer Beleg für die grundsätzlich untergeordnete Rolle Rathenaus beim Thema „Rapallovertrag“ kommt von eher unerwarteter Seite: der als „Nationalbolschewist“ (eine Art linker Faschist) oft diskreditierte Ernst Niekisch berichtet in seinen Lebenserinnerungen von einem Treffen mit dem ehemaligen Reichskanzler Wirth in dessen Schweizer Exil im Spätsommer des Jahres 1935; während der wohl angeregten Unterhaltung (Niekisch war ja kein Unbekannter) äußerte sich Wirth unmissverständlich dahin, dass er allein die treibende Kraft in der sog. Rapallopolitik gewesen sei und gerade nicht Rathenau. (8)
Allerdings wäre es sicher zu weit hergeholt, wenn man pauschal bestimmte Protagonisten in der Regierung von Kanzler Wirth bzw. im Auswärtigen Amt als Drahtzieher für solche Aktivitäten und Interessen, die darauf abgezielt hätten, Rathenau unmittelbar zu schädigen, bezichtigen würde.
Aber was nicht davon ablenken darf, dass es im politischen Berlin der frühen 1920er Jahre Verflechtungen (heute als „Netzwerke“ bezeichnet) gegeben hat, die im Hintergrund wirkten. Dabei sind die speziellen Interessen derart mächtiger Gruppierungen, die auch früher schon viel Einfluss hatten, niemals zu vernachlässigen. Wenn Geld, vielleicht viel Geld im Spiel ist, sind immer bestimmte Faktoren in der Industrie und im Militär zu berücksichtigen; dies zeigt nun mal die Erfahrung über einen langen Zeitraum – von der Familie Krupp bis Albert Speer oder dem Preußischen Kriegsministerium bis zum Oberkommando der Wehrmacht. (9)
2) Das militärische Netzwerk gegen Rathenau
Zu den oben angesprochenen „Oststrategen“ zählten nicht nur (zivile) Beamte und Politiker, sondern ganz klar auch Angehörige der Reichswehr. Vor allem Hans v. Seeckt, der direkt nach dem gescheiterten Kapp-Putsch (obwohl kein ausgewiesener Verteidiger der jungen Weimarer Republik) zum mächtigsten Mann im deutschen Militär (Chef der Heeresleitung) geworden war, verfolgte ganz eigene Vorstellungen und Ziele:
„Wesentlich erfolgreicher als die beiden Rußlandfreunde Maltzan und Wirth war Hans von Seeckt, der im Geheimen eine Kooperation zwischen der Reichswehr und der Roten Armee mit dem Endziel anbahnte, irgendwann einmal die Polenfrage militärisch anzugehen. Die entsprechende Grundlage bildete ein Abkommen, das unter dem Titel »Geheime militärische Abmachungen zwischen Sowjet-Russland und Deutschland« die Absichten seiner Urheber deutlich anzeigt. Es wurde am 3. April 1922 von einer russischen Militärdelegation (…) und führenden Vertretern des deutschen Generalstabes unterzeichnet.“ (10)
Wegen der politischen Brisanz und der Tragweite seines Inhaltes wird der Text dieser Geheimabsprache, die lange Zeit verschwiegen in Archiven vor sich hinschlummerte und theoretisch nur einer kleinen Zahl von Militärhistorikern überhaupt geläufig war, am Schluss des Beitrages angehängt.
Die grundsätzliche Initiative für diese ganz besondere Form der Zusammenarbeit hoher Stellen der Roten Armee mit Vertretern der militärischen Führung der Reichswehr ging wohl auf einen Kontakt des russischen Unterhändlers Viktor Kopp, der schon seit längerem zusammen mit Karl Radek inoffizielle Beziehungen in Deutschland (vor allem wirtschaftlicher Natur) aufbauen sollte, mit dem Reichswehr-Chef v. Seeckt zurück, der vor allem während des polnisch-russischen Krieges geknüpft und intensiviert wurde. (11)
Es hat zum damaligen Zeitpunkt (1920/21) sehr viele hochrangige Vertreter in Wirtschaft, Politik und Militär im Deutschen Reich gegeben, die dem Kreml wohlwollende Unterstützung signalisierten.
Diese spezielle Beziehung reichte bis weit in die Zarenzeit zurück und ging auch noch weit darüber hinaus weiter: Das Schlagwort von der „friedlichen Koexistenz“ fand hier eine Blaupause; hatte vielleicht aber auch von Anfang an einen faden Beigeschmack.
In seiner Rathenau-Biographie wirft Hentzschel-Fröhlings etliche interessante Fragen auf und beleuchtet ganz bestimmte Hintergründe. So verweist der Autor auf die zahlreichen Kontakte zwischen Seeckt und der Reichsregierung in den Jahren 1920 bis 1922.
In der hier besonders interessierenden Abmachung vom 3. April 1922 ist ein Hinweis auf zwei schon früher geschlossene Militärvereinbarungen zwischen der Reichswehr und dem russischen Generalstab enthalten (angeblich datierten diese vom 27. April 1919 und vom 25. März 1921), deren genauer Inhalt aber im Dunkeln liegt. Zur spannenden Frage, wer gegebenenfalls alles Kenntnis von dieser bzw. von diesen Geheimabsprachen (es stehen ja bis zu drei im Raum) hatte, führt Hentzschel-Fröhlings aus, dass aus seiner Sicht Rathenau keinerlei Kenntnis hatte bzw. haben konnte.
Letzteres ist auch absolut plausibel und verwundert überhaupt nicht: Rathenau war weder ein ausgesprochener Militarist noch hätte „seine“ AEG 1921/22 einen direkten Vorteil von den zugesagten Waffenlieferungen etc., die zugunsten der russischen Seite vereinbart wurden, gehabt; mittelbare Verflechtungen über sog. Tochterfirmen oder Kooperationen, z. B. mit Siemens & Halske, sind zwar denkbar, aber als Argument für eine Unterstützung der rechtswidrigen Reichswehrpolitik durch Rathenau persönlich doch zu weit hergeholt.
Selbst beim Abteilungsleiter Maltzan ist sich der Autor nicht sicher, ob oder in welchem Umfang dieser von den geheimen Absprachen zwischen Reichswehr und Roter Armee Kenntnis gehabt haben könnte.
Spannend sind die Ausführungen des Autors darüber:
„[W]arum es überhaupt möglich war, daß Seeckt und seine Militärkamarilla die verfassungsmäßig legitimierte Regierung hintergangen haben, also das Abkommen anmaßend und ohne jede Beteiligung der Exekutive in die Wege leiten konnten. Die von Seeckt sehr erfolgreich durchgeführte, Entpolitisierung der Reichswehr’, die er nach den Geschehnissen des Kapp-Lüttwitz-Putsches 1920 eingeleitet hatte, war mittlerweile abgeschlossen, und zwar in einer autoritären Weise und Zielrichtung, die für einen demokratisch verfaßten Staat unannehmbar war. Seeckts Begriff der Entpolitisierung hatte eine eigene militärische Note, gemeint war hier nur die Immunität der Reichswehr gegenüber den Regeln der Massendemokratie. Politik war für Seeckt keine Sache der öffentlichen Auseinandersetzung, Politik war für ihn ein Wirken im Verborgenen. (…) Im Endergebnis heißt das, daß Seeckt verteidigungspolitisch und damit auch für die Reichswehr eigenmächtig entschieden hat und dabei keine Rücksicht auf die Verfassung nahm. Der Status der Reichswehr als Staat im Staate von Weimar war damit geschaffen. Protegiert wurde Seeckt – das Etatrecht blieb nur formal ein Hindernis – dabei bis zum Oktober 1921 direkt durch den Finanzminister und heimlichen Militärfreund Joseph Wirth. Doch auch nachdem Wirth das Finanzministerium (…) abgegeben hatte, fand der Reichskanzler Mittel und Wege, der Reichswehr Mittel für gesetzlich nicht gedeckte Aktivitäten zufließen zu lassen. Dadurch erhielt Seeckt den Spielraum, den er sich gewünscht hatte. Aus diesem Umstand klärt sich die Frage, wer zu den Mitwissern der deutsch-russischen Absprachen in Militärfragen gehört haben könnte und wem Seeckt Informationen dazu vermutlich vollständig vorenthielt. Im Bereich der Parteienpolitik kam für Seeckt sicher nur eine Person in Frage, der er Vertrauen schenkte: Reichskanzler Joseph Wirth. Direkte Beleg dafür gibt es nicht, (…) ob überhaupt jemand in der Regierung informiert war. (…) Dagegen darf mit Sicherheit davon ausgegangen werden, daß der Reichswehrminister Otto Geßler völlig ahnungslos war. Das gleiche gilt wohl für die anderen Kabinettsmitglieder und vor allem für den Reichspräsidenten Friedrich Ebert, den sowohl Wirth als auch Seeckt unwissend hielten, weil sie dessen starke Vorbehalte gegen die Rußlandkontakte kannten.“ (12)
Insgesamt ist davon auszugehen, dass die geheimen Absprachen zwischen russischen und deutschen Militärbehörden aus Gründen „reiner Zweckmäßigkeit und kühlster Berechnung beschlossen“ wurden. (13) Insbesondere die deutschen Militärs wollten oder mussten diese so geheim wie möglich halten; daher kann ein kausaler Zusammenhang mit dem Abschluss des Rapallo- Vertrages durch zivile deutsche Politiker (wie Rathenau) ausgeschlossen werden – was nicht heißen muss, dass vor allem Kanzler Wirth und andere, die sich eher im Hintergrund hielten, nicht doch (wenigstens in groben Zügen) als Mitwisser gelten können.
Mehr als verborgene Mitwisserschaft wäre für zivile Personen bzw. Politiker auch nicht opportun gewesen, da die besagte Absprache vom 3. April 1922 sich inhaltlich als schwerer Verstoß gegen den Versailler Vertrag darstellte. Nicht nur wegen der Vereinbarungen über umfangreiche Waffenlieferungen, der Zusage von 500 Junker Kampfflugzeugen, der Unterweisung in Kampfgastechnik u.v.m., sondern – und dieser Punkt ist besonders schwerwiegend – weil auch Planspiele zu einem Überfall auf Polen ziemlich konkret fixiert wurden, wie z. B. ein Aufmarschplan für die Rote Armee an der Westgrenze zu Polen inkl. einer künftigen Demarkationslinie, um die verschiedenen Einflussbereiche deutscher und russischer Truppen fein säuberlich abzugrenzen.
„Bilanziert man die Vertragsbestimmungen, so ist nur eine Interpretation möglich. Der deutsche und der russische Generalstab planten (…) eine gewaltsame Lösung der Polenfrage und damit einen Großangriff auf das Europa nach den Pariser Vorortverträgen. Ein waghalsiges Unterfangen. Allein die Unterhaltung von insgesamt 26 Divisionen (…) war derart kostspielig, daß hier nur von einem ganz konkreten Aufmarschplan gesprochen werden kann. Auch die vereinbarte Teilungslinie macht es unmöglich, etwas anderes als feste Vorsätze anzunehmen. Beide Seiten setzten ungeniert auf eine Machtpolitik, wie sie in Europa seit etwa 1880 zur Gewohnheit geworden war. (…) Während dies für Seeckt kaum überraschend ist, so verwundert doch das Verhalten der sowjetrussischen Generalität. Immerhin zeigt sich hier, daß auch sie eher den Idealen der Macht als denen der Revolution nachgingen, wenn es um die Stellung Rußlands als Großmacht ging. (…) Entscheidend ist im Ergebnis, daß eine deutsch-russische Allianz gegen Polen auf der Ebene des Politischen schon Realität war, bevor der Rapallo-Vertrag überhaupt geschlossen war und nicht, wie in Paris vermutet, durch eine geheime Zusatzvereinbarung darin ihren Anfang genommen hat.
Wenn auch die Planungen der Militärs aufgrund der politischen Realitäten und der desolaten Wirtschaftslage (…) so schnell nicht reifen konnten, so war es doch der Umstand, daß die russische Generalität eine tiefgreifende Abneigung gegen Polen empfand, (…). Im deutschen Generalstab werden solche Optionen bis zum Zweiten Weltkrieg eine Rolle spielen.“ (14)
Für eine gewaltsame Lösung der „Polenfrage“ spricht, dass dieser Punkt tatsächlich sowohl in der deutschen Politik (beim Militär ohnehin) von ganz rechts außen bis weit in die Mitte virulent war, als auch dass z. B. Revolutionsführer Lenin ein bekannter Gegner jeder polnischen Staatlichkeit war (zumindest wenn dadurch früheres russisches Gebiet betroffen wurde; eine strategische Wendung, die auch im Jahre 2022 hinsichtlich der Ukraine hochaktuell geworden ist).
Bekanntlich haben auch Lenins Nachfolger, vor allem Stalin, nie einen Hehl daraus gemacht, Polen nach 1945 allenfalls einen Vasallen-Status zuzuerkennen. Inwieweit diese „Planspiele“ im Frühjahr 1922 realistisch waren, sollte jedoch auch anhand anderer Faktoren abgeschätzt und beurteilt werden:
Dass diese eigenartige Abmachung zwischen der Reichswehr und der Roten Armee vom 3. April 1922 tatsächlich auf dem Papier existiert, ist auf jeden Fall ein Faktum. Inwieweit die dort fixierten Punkte auch umsetzungsfähig bzw. bestimmte Details stichhaltig waren, ist eine andere Frage. So z. B. bei den beiden dort genannten früheren Abmachungen aus dem April 1919 und dem 25. März 1921.
Das letztere Datum ist angesichts des damaligen Kriegsverlaufs zwischen Sowjet- Russland und Polen durchaus glaubhaft, da der Vertrag von Riga am 18. März 1921 geschlossen wurde und für den Kreml einen sichtbaren Rückschlag bedeutete – zumal die damalige politische Führung in Berlin zumindest insgeheim den Russen die Daumen gedrückt hatte, dass diese den unerwünschten Staat „Polen“ (in den Grenzen des Versailler Vertrages, also mit dem sog. Korridor) besiegen würden und im Frühjahr 1921 war auch bereits Hans v. Seeckt der starke Mann in der Reichswehr.
Außerdem gibt auch eine andere als sehr zuverlässig geltende Quelle Hinweise auf einen Bericht, der Anfang April 1921 für Leo Trotzki bestimmt war, aus dem der Umfang geplanter Rüstungsfabriken (eine Art „joint venture“) zwischen russischen und deutschen „Partnern“ hervorging. (15)
Diese und andere historisch überprüfbaren Details haben daher zumindest die Wirkung von Indizien dafür, dass es bereits im Frühjahr 1921 weitreichende Verhandlungen zwischen Roter Armee und der Reichswehr (mit den dahinterstehenden wirtschaftlichen Interessen) gegeben hat, die auch zu einer formellen Vereinbarung geführt haben dürften; ob diese als nachprüfbares Schriftstück in irgendwelchen Archiven gelangt ist, muss jedoch offenbleiben.
Aber für eine noch frühere Absprache aus dem April 1919 treffen alle diese Indizien gerade nicht zu, so dass an der Glaubwürdigkeit dieses Datums doch gehörige Zweifel bestehen.
Zum einen waren zu diesem Zeitpunkt die Verhandlungen in Versailles noch in vollem Gange, so dass nur ein Hellseher genaue Angaben über die späteren Grenzen Polens bzw. die territoriale Gestaltung Osteuropas insgesamt hätte machen können; gleiches gilt für den wechselhaften Verlauf im polnisch-sowjetischen Krieg im Frühjahr 1919.
Zum anderen waren damals ja auch noch überhaupt keine Abrüstungsbestimmungen (außer die lt. Waffenstillstandsvereinbarung vom 11.11.1918 fixierten Räumungen etc.) bekannt, daher auch keine sichere Personalplanung auf deutscher Seite möglich: Die deutschen Generäle, die Anfang 1919 (formal sogar als Angehörige der alten Armee) noch amtierten und eventuell Verträge hätten schließen wollen, waren ja schon ein halbes Jahr später vielleicht gar nicht mehr im Amt (im März 1920 kam es ja nach dem Kapp-Putsch zu einigen personellen Änderungen). Insbesondere hatte Seeckt im Frühjahr 1919 auch noch nicht den überragenden Einfluss wie ab dem Folgejahr, so dass es schwerfällt, hier an eine Kontinuität zu glauben. Also spricht einiges für einen tatsächlich geschlossenen früheren Vertrag aus dem Jahr 1921, aber wenig für einen noch früheren aus 1919 (eventuell gab es damals nur lose Kontakte oder Absichtserklärungen).
Doch solange diese in der Abmachung vom 3. April 1922 genannten vorherigen Verträge nicht tatsächlich als reale Schriftstücke auftauchen und dann auch überprüfbar oder durch andere Beweise endgültig plausibel werden, sind diese Daten mit Vorsicht zu genießen. (16)
Wenn aber bereits im April 1919 ein solch brisanter Geheimvertrag mit der Roten Armee (wenn auch nur als Entwurf) existiert haben sollte oder sonst zu einem Zeitpunkt vor dem offiziellen Abschluss des Versailler Vertrages derartige Besprechungen geführt worden wären, würde dies ein ganz eigenes Licht auf die offiziellen Abrüstungsbemühungen der damaligen „Entscheidungsträger“ der Weimarer Republik werfen: Qui bono?
Festzuhalten bleibt dennoch, dass es ganz eigenartige Verhandlungen und Absprachen zwischen Vertretern der Reichswehr und hohen Angehörigen der sowjet-russischen Generalität ohne Wissen der allermeisten Reichsminister (vor allem des Außenministers) gegeben hat und daher die deutsche Öffentlichkeit auch völlig im Dunkeln gelassen wurde, als dann am 16. April 1922 der Rapallo-Vertrag geschlossen wurde. Daraus ist abzuleiten: Rathenau wurde nicht wegen „Rapallo“ ermordet, sondern obwohl seine Unterschrift diesen Vertrag besiegelte.
Wenn weiterhin der eigentlichen Fragestellung nachgegangen wird, ob zu den staatlichen Institutionen, die ein Netzwerk gegen die Weimarer Republik bildeten und die die Ermordung Walther Rathenaus dadurch förderten, auch bestimmte Personen konkret aus der Reichswehrführung oder dem politischen Berlin gehörten, müssen noch weitere Zusammenhänge und Querverbindungen betrachtet werden.
Dabei ist einerseits zu beachten, dass Rathenaus „Russland-Politk“ stets von wirtschaftlichen Erwägungen geprägt war, die in Gestalt multilateraler Abkommen hätten umgesetzt werden sollen, weswegen unzweifelhaft feststeht, dass er derart kriegslüsterne Planungen, wie in der Abmachung vom 3. April 1922 konkret skizziert, niemals unterstützt oder gar mitgemacht hätte.
Andererseits darf auch nicht vergessen werden, dass Walther Rathenau durch seine zahlreichen Aktivitäten sehr viel Einfluss und Zugang zu diversen Zirkeln und „Gesprächskreisen“ hatte (er saß oft gleichzeitig an ganz verschiedenen Schnittstellen der wirtschaftlichen wie politischen Macht).
Eine solch verwobene Fülle an Kontakten konnte schnell zu einer gefährlichen Frontstellung führen.
3) Rathenau als Mann vieler Angriffspunkte und Eigenschaften
Wenn hier Robert Musils Buchtitel in Bezug auf Walther Rathenau leicht abgewandelt wird, soll damit auf die wirklich riesige Menge an Kontakten dieses nahezu rastlos wirkenden Mannes angespielt und hingewiesen werden. Auch wenn an dieser Stelle nur ein kleiner Teil seines Beziehungsgeflechtes angesprochen werden kann, soll zumindest auf die wichtigsten Kontakte mit militärpolitischer Relevanz kurz eingegangen werden.
Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte das Thema bzw. der Faktor „Krieg“ eine nicht unerhebliche Rolle in Rathenaus Überlegungen und Korrespondenzen gespielt, wirklich wichtig wurde das „Militär“ erst mit Kriegsausbruch. Er war sicherlich kein ausgemachter Pazifist, doch überwog eine tiefe „Friedensgeneigtheit“ seine gesamte Persönlichkeit. Da im ersten Beitrag die Bedeutung Rathenaus für den Aufbau der Kriegsrohstoffabteilung ausführlich dargestellt wurde, kann insoweit darauf verwiesen werden. Hier geht es mehr um persönliche Verbindungen des späteren Außenministers zu wichtigen Entscheidungsträgern in der kaiserlichen Armee, die auch nach 1918 noch großen Einfluss behalten sollten und kraft ihrer Funktion und der Beteiligung an den Entwicklungen in der Reichswehr ab 1919/20 ein Teil des gegen Rathenau gerichteten Netzwerks geworden sind.
So hat es während des Ersten Weltkrieges nicht nur zahlreiche und auch intensive Kontakte Rathenaus zu Erich Ludendorff gegeben (vor allem in Fragen der sog. Kriegswirtschaft und der Steigerung einer effektiven Rüstung), sondern auch schon (eher weitläufig) zu Hans v. Seeckt; beide Männer waren sich also nicht unbekannt, als sie ab 1920 verstärkt miteinander zu tun hatten.
Als aufmerksamer und stets gut unterrichteter Zeitgenosse hatte Rathenau natürlich bereits unmittelbar nach den sich (vor allem in der Hauptstadt) überschlagenden Ereignissen am und kurz nach dem 9. November 1918 die unterschiedlichsten Überlegungen zu Fragen der Zukunftsgestaltung angestellt. Da er ja auch Chef eines der damals größten deutschen Unternehmen war, bekam er natürlich die aufgewühlte Stimmung unter den Arbeitnehmern von AEG beinahe hautnah mit (so besonders im Werk Berlin-Henningsdorf).
Vor allem, um noch weitere Unruhen im Innern des Deutschen Reiches zu vermeiden, aus Gründen der inneren Sicherheit, versuchte Rathenau Freiwillige (die meisten der demobilisierten Kriegsheimkehrer waren einfach nur erschöpft und desillusioniert) als republiktreue Kräfte zu gewinnen, um kein Vakuum entstehen zu lassen. (17)
Die von ihm gewünschten republiktreuen Kräfte konnten jedoch nicht angeworben werden, so dass sowohl die offizielle deutsche Regierung als auch interessierte Wirtschaftskreise (Hugo Stinnes war da besonders rührig) das nahmen, was gerade verfügbar war: die später so berüchtigten Freikorps (die Marine-Brigade II unter Hermann Ehrhardt war nur eines der bekanntesten). Die Rede war von einem „Fonds“ über 500 Millionen Mark, die bereits Anfang Januar 1919 zur Verfügung standen.
Selbst Rathenau war (laut Aussage des späteren Reichskanzlers Brüning) bereit, für die Freikorpsbewegung fünf Millionen Dollar privates Geld beizusteuern. (18) So stark war der Wille bei den führenden deutschen Unternehmern, zuverlässige Männer zu rekrutieren, da die regulären Truppen kaum noch vorhanden waren (bzw. schnell die Abzeichen wechselten und zu den besser entlohnten Freikorps gingen; Ausrüstung und Befehlswege blieben jedoch gleich).
Dieser zunächst etwas merkwürdige Punkt, dass Rathenau auch zu den Financiers der überhandnehmenden Freikorps-Szene zählte, relativiert sich jedoch, wenn man seine wahren Beweggründe kennt. Dem AEG-Chef ging es ausschließlich um die Verhinderung bzw. Ausbreitung von Aufständen, nicht um die (materielle oder gar ideelle) Unterstützung von rechtsradikalen Abenteurern und Landsknechtsgestalten.
Dies erklärt auch Rathenaus Haltung zum Kapp-Lüttwitz-Putsch Mitte März 1920: Einerseits soll er Ludendorffs Teilnahme (eigentlich war es ja sogar eine Miturheberschaft) mit den Worten kommentiert haben:
„Diese preußischen Generäle muß man an die Wand stellen“, andererseits soll er aber auch am 16. März (als die Erfolgsaussichten des Putsches schon bei null lagen) an einer Besprechung mit den Aufständischen in der besetzten Reichskanzlei teilgenommen haben (mit einer Art Beobachterstatus), da er versuchte, mit der legalen Reichsregierung von Kanzler Gustav Bauer zu vermitteln. (19)
Es mag zwar auch insoweit (zumindest auf den ersten Blick) verwirren, dass Rathenau damals Mitte März 1920 überhaupt zu Leuten wie Kapp etc. „Kontakte“ hatte, jedoch war dies vergleichbar mit Diskussionen und persönlichen Besprechungen mit einigen Aktivisten der „Münchner Räterepublik“ im Frühjahr 1919. (20)
Bei all diesen „Missionen“ wollte Rathenau sein unbestrittenes Fachwissen zur Verfügung stellen und dank seiner zahlreichen Verbindungen Kontakte herstellen. Beim Kapp-Putsch war sein Motiv, die Vermeidung eines Umsturzszenarios von links, wenn der rechte Putsch endgültig gescheitert war (was am 16. März 1920 mehr als absehbar war). Sein persönlicher Vorteil: Rathenau kannte sowohl einige der am Putsch beteiligten Offiziere und Zivilisten (so hatte er auch früher hin und wieder mit Wolfgang Kapp brieflichen Kontakt), als auch diverse Mitglieder der offiziellen Regierung und den Reichspräsidenten.
Seine Analyse: „Die Aufstände hatten bewiesen, daß die regulären Truppen der Reichswehr zur Lösung innenpolitischer Aufgaben nicht ausreichten. Neben den politisch wenig zuverlässigen Freikorpsverbänden, die nach den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages ohnehin aufzulösen waren, bot sich als eine Lösungsmöglichkeit die personelle und materielle Verstärkung der Sicherheitspolizei an. Dieser von Rathenau unterstützte Vorschlag wurde vor allem von dem preußischen Innenminister Severing verfochten“. (21)
Der überwiegende Teil der Reichsregierung war jedoch dagegen und besonders die mit diesem Vorschlag intendierte Schwächung der Stellung der Armee führte zu schwerwiegenden Meinungsverschiedenheiten mit der Reichswehrführung.
„Rathenau trat vor allem deshalb für eine Verstärkung der Sicherheitspolizei ein, weil sich die bisher verfügbaren Polizeikräfte als überwiegend zuverlässig republikanisch und demokratisch gezeigt hatten.“ (22)
Dies war ein eindeutiges Bekenntnis Rathenaus zu einer regelbasierten staatlichen Ordnung und zugleich eine derbe Ohrfeige für das Militär und dessen Führung (was dort auch als Affront betrachtet wurde), da die Reichswehr – besonders nach dem Willen Seeckts – gegen jeden politischen Einfluss parlamentarischer Institutionen immunisiert werden sollte.
Eine transparente Trennung/Abgrenzung polizeilicher Befugnisse und militärischer Aufgaben ist nicht nur Merkmal eines modernen Staates (z.B. um kostspielige doppelte Strukturen zu vermeiden), sondern auch Anerkennung der „Volkssouveränität“ laut Artikel 1 Satz 2 der Weimarer Verfassung (Art. 20 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz); für reaktionäre Monarchisten aber auch 1920 noch ein „mentales Problem“. (23)
Auch im Rahmen der im Juli 1920 geführten Verhandlungen im belgischen Spa musste Rathenau feststellen, dass die deutsche Heeresführung immer nur das Thema der Truppenkontingente verfolgte, aber nie die öffentliche Sicherheit im Inneren und besonders eine Verstärkung der Polizeikräfte im Auge hatte. Rathenau wollte jedoch diese sicher wichtige Aufgabe gemeinsam mit den Alliierten angehen, was ihn sofort bei seinen ohnehin zahlreichen politischen Gegnern noch verdächtiger machte.
Die unter Seeckts Ägide geformte Reichswehr charakterisierte Rathenau als eine Art „Söldnerheer“, die im Zweifel wenig Sympathie für die Republik hätte und daher sogar als eine reaktionäre Gefahr zu betrachten sei: „Diese abzuwenden, bedurfte es nach seiner Meinung der »bekannten Mittel der Teilung und Kontrolle«.“ (24)
Bedingt durch solche „Meinungsverschiedenheiten“ konnte sich auch der persönliche Kontakt zu von Seeckt nicht mehr verbessern; er und Rathenau hatten 1920 ein frostiges Verhältnis. Auch durch Rathenaus Übernahme der beiden Ministerämter 1921/22 sollten sich die fundamentalen Gegensätze zwischen diesen beiden Männern nicht mehr auflösen.
„Die sachlichen Spannungen zwischen Rathenau und Seeckt ergaben sich auch aus der unterschiedlichen Betrachtungsweise der vertraglich verbindlich festgelegten Abrüstungsmaßnahmen, deren Unterlaufen durch Stellen der Reichswehr gedeckt wurde. Rathenaus Politik der strikten Einhaltung auch unangenehmer Vereinbarungen wurde durch derartige Maßnahmen diskreditiert.“ (25)
Die alliierten Vertreter der „Internationalen Militär-Kontroll-Kommission“ (IMKK) waren weder dumm noch untätig, und entdeckten immer wieder größere Waffenverstecke, was zu entsprechenden Komplikationen vor Ort und anschließenden Entschuldigungsversuchen auf politischer Ebene führte.
Bereits Anfang Februar 1922 kam es daher zu ernsthaften Kontroversen zwischen Reichswehrministerium und dem kurz vorher ernannten Außenminister. Rathenau musste daher schon kurz nach seiner Amtsübernahme den Kontakt zum britischen Botschafter und dem französischen Vorsitzenden der IMKK suchen und versuchen, die „Wogen zu glätten“ (vor allem beim Thema militärische Geheimorganisationen auf deutschem Boden, die formal außerhalb der Reichswehr standen – auch das war alles bereits im Frühjahr 1922 „aktenkundig“).
Ohne es eigentlich gewollt zu haben, geriet Rathenau in eine auch persönlich sehr undurchsichtige „Zwickmühle“: Er selbst empfand viele der Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrages für schädlich, soweit dadurch auch die Sicherheit und Ordnung im Inneren beeinträchtigt oder gar gefährdet würden. Jedoch war der Außenminister, ähnlich wie bei den wirtschaftspolitischen Themen und besonders den Reparationsfragen laut Versailler Vertrag, auf jeden Fall bemüht, den Alliierten eine notwendige Vertragstreue zu signalisieren; hierfür mussten deutsche Dienststellen auch tatsächliche Anstrengungen unternehmen – die Klagen der Betroffenen wurden dann dem Außenminister zur Last gelegt (Stichwort „Erfüllungspolitik“).
Spätestens seit März 1922 war die Stimmung zwischen Seeckt und Rathenau „äußerst gereizt“. (26) Hinzu kam, dass die grundsätzliche Frage der Schaffung einer reichsweiten Sicherheitspolizei, sog. Polizeifrage, (ein Konzept Rathenaus, aufgrund der Erfahrungen des Frühjahrs 1920) auch nicht wirklich gelöst werden konnte.
Mit diesen -eigentlich innenpolitischen- Bleigewichten im Gepäck, musste Rathenau als Außenminister zur Weltwirtschaftskonferenz von Genua fahren. Zum Verlauf und den konkreten Umständen des Vertragsschlusses von Rapallo kann ebenfalls auf den ersten Beitrag verwiesen werden. Hier sind nur zwei Aspekte erwähnenswert:
Zum einen, dass zwar vordergründig sowohl Rathenau als auch die Reichswehr unter Führung Seeckts (aber anscheinend ohne dass Minister Geßler umfassend informiert gewesen wäre) eine Annäherung mit Sowjet-Russland suchten bzw. wünschten, jedoch aus völlig verschiedenen Ursachen bzw. Motiven; Rathenau wollte engere wirtschaftliche Beziehungen, die intrigante Reichswehrführung wollte militärische Machtpolitik betreiben, mit dem (Fern-)Ziel der Zerstörung Polens.
Und der zweite Aspekt: Rathenau konnte wahrheitsgemäß darauf hinweisen, dass unter seiner Verhandlungsführung militärische Absprachen nie ein Thema waren und im endgültigen Rapallo-Vertrag auch keinerlei militärische Vereinbarungen getroffen worden sind. Ein sog. „Geheimer Zusatzartikel“ betraf lediglich die Modalitäten zur allgemeinen Verzichtserklärung des Deutschen Reiches in Artikel 2 des Rapallovertrages (ganz ohne jeden militärischen Bezug). Dass die relevanten militärpolitischen Absprachen bereits im Wege konspirativer Geheimverhandlungen am 3. April 1922 erfolgt waren, geschah ohne Rathenaus Wissen oder irgendeine Form der Zustimmung.
Dies zu unterstreichen ist schon allein deshalb wichtig, weil es seinem Credo der möglichst korrekten Vertragserfüllung („nach Treu und Glauben“) entsprochen hat; noch in seiner letzten Rede vor dem Reichstag war es ihm wichtig, auf die Erfüllung der Versailler Abrüstungsbestimmungen hinzuweisen – Rathenau setzte sich bis zuletzt für eine umfassende Rüstungsbeschränkung (auf allen Seiten) ein. (27)
Allgemeine Rüstungsbeschränkungen bedeuteten natürlich den Verzicht auf Alleingänge und konspirative Geheimabsprachen wie die vom 3. April 1922. An diesem Punkt setzte sich Rathenaus Überzeugung fort, dass man seine Bereitschaft zur Vertragserfüllung nicht bloß mit schönen Worten, sondern allein durch konkrete Maßnahmen unter Beweis stellen konnte, um dann bei den Alliierten um bessere Bedingungen nachsuchen zu können; die dem völlig entgegengesetzte „Taktik“, gegenüber den Siegermächten (besonders Frankreich) immer nur Beschwerden und Beschimpfungen vorzubringen, dabei insgeheim verbotene Mittel und Wege zu suchen, war nicht nur „treuwidrig“, sondern auch sehr riskant.
Hier haben Seeckt und andere hohe Militärs (aber auch viele hochrangige Vertreter aus Wirtschaft und Politik) die Attitüde des Anspruchsdenkens einer Großmacht, die aber mit der Niederlage lediglich auf Regionalstatus herabgestuft wurde, fortzusetzen und immer noch dieselben Machtspielchen anzuwenden versucht, die sie (bzw. ihre unmittelbaren Vorgänger) bis Sommer 1914 perfektioniert hatten.
Alle spätestens ab 1921 als „Erfüllungspolitiker“ diffamierten neuen „Entscheidungsträger“, an deren erster Stelle Walther Rathenau gerückt wurde (zumindest nach der Ermordung Erzbergers übernahm Rathenau diese zweifelhafte Ehre), wurden gleichsam automatisch als Bedrohung bzw. Gegner der alten Großmacht-Eliten aufgefasst, gegen die dann gegebenenfalls auch mit gewalttätigen Mitteln zum Zwecke physischer Vernichtung vorgegangen werden musste.
An geeigneten Attentätern herrschte kein Mangel, auch insoweit kann auf den ersten Beitrag hingewiesen werden. Allerdings war bereits 1921/22 offensichtlich, dass die konkreten Haupttäter und Gehilfen in ganz bestimmte Strukturen eingebunden sein mussten, die es zu benennen gilt. An dieser Stelle sind dann endgültig die von der Bundestagspräsidentin allgemein beschriebenen „staatlichen Institutionen“ (als Teil eines gegen die Republik gerichteten Netzwerks) näher zu konkretisieren:
„Mit Rathenau sollte einer der Repräsentanten der sogenannten „Erfüllungspolitik“ beseitigt werden. Seine Ermordung war aber »kein isolierter Vorgang, sondern Glied in einer neuen Kette rechter Terroranschläge gegen prominente Parteigänger der Republik«. (…) Es ist nicht auszuschließen, daß der Mord »letztlich in der zwielichtigen Zone des Kleinkrieges zwischen Reichswehr und Republik, zwischen wehr- und nationalpolitischen Erfordernissen, wie sie die Reichswehr auffaßte, und der Verständigungspolitik der republikanischen Regierung« wurzelte.“ (28)
Hier sollen und können nun endgültig „Roß und Reiter“ näher betrachtet und bezeichnet werden:
Da feststeht, wem Rathenau durch seine politischen Haltungen und Überzeugungen entweder direkt im Weg stand oder zumindest als Störfaktor erscheinen musste, ergibt sich ein ziemlich konkreter Kreis an „Verschwörern zum Nachteil der Weimarer Republik“.
An exponierter Stelle sind natürlich bestimmte Einzelpersonen zu nennen: Neben dem bereits mehrfach erwähnten Karl Helfferich oder auch Erich Ludendorff (spätestens nach dessen Auftritt vor dem Untersuchungsausschuss des Reichstags zu den Ursachen des Weltkriegs 1919, als er Rathenau sogar als Saboteur bezichtigte, nur um von eigener Schuld abzulenken), dann all die nach dem Untergang des Kaiserreichs in einer Art Schattenwelt agierenden Republikfeinde, wie Oberst Max Bauer, und alle anderen ursprünglich in der sog. Nationalen Vereinigung 1919 versammelten Personen (nur Hugo Stinnes dürfte außen vor bleiben, da sich beide kurz vor Rathenaus Tod in Sachfragen annäherten).
Neben Einzelpersonen hatte sich Rathenau auch die dezidierte Feindschaft anderer rechtsgerichteter Kreise aus Politik und Wirtschaft sowie von Teilen der Reichswehr und ihr nahestehender Gruppierungen zugezogen, aus denen dann auch seine Mörder bzw. die am Attentat beteiligten Gehilfen stammten. (29)
In seiner speziellen Untersuchung zu Rathenaus Verhältnis zu Militär (und Krieg) kommt der Autor Gerhard Hecker genau zu diesem Fazit, dass es Teile der Reichswehr waren, die in Rathenau eine Bedrohung sahen. Beachtet man die Reaktionen hoher Militärs unmittelbar nach dem Attentat, verstärkt sich der Eindruck von der oben beschriebenen „zwielichtigen Zone“, in der die Reichswehrführung agierte. Einerseits wurde versucht, jeden Verdacht von vorneherein abzuwenden:
„Seeckt und der Chef der Marineleitung, Admiral Behncke, reagierten auf Rathenaus Ermordung noch am gleichen Tage mit einem Erlaß an die Truppe, in dem ein Zusammenhang zwischen Reichswehr und der Ermordung Rathenaus bestritten wurde. »Den Versuch, uns mit Bestrebungen, welche den Mord für politische Zwecke benutzen, […] in Verbindung zu bringen, weisen wir zurück. Der Soldat ist zum offenen, ehrlichen Kampf erzogen und verurteilt den Mord.«“ (30)
Bezeichnenderweise waren es gerade General v. Seeckt und Admiral Behncke, die das Geheimabkommen mit der Roten Armee vom 3. April 1922 namentlich als Bevollmächtigte geschlossen hatten (siehe weiter unten).
Andererseits ließen sich zahlreiche negative Schlagzeilen auch für die Militärführung (Heer und Marine) nicht vermeiden: So wird von Trinkgelagen anlässlich der Nachricht von Rathenaus Ermordung berichtet; bezeichnenderweise auch am Marinestützpunkt Mürwik (dort sollte Admiral Dönitz im Mai 1945 noch knapp drei Wochen als Hitlers Nachfolger residieren). Zahlreiche Garnisons- und auch Wehrkreisführer – bis nach Süddeutschland – zeigten alles andere als pietätvolle Würde oder gar ehrlich empfundene Anteilnahme. (31)
Selbst Rathenaus „Parteifreund“ Otto Geßler, der als formeller Reichswehrminister mit dem getöteten Außenminister am gleichen Kabinettstisch saß, machte – freundlich formuliert – keine „gute Figur“:
„Das Verhalten Geßlers, Seeckts und anderer Stellen der Reichswehr anläßlich der Ermordung Rathenaus war, von Ausnahmen abgesehen, unterkühlt korrekt. Die noch verfügbaren Belege offenbaren aber eine erschreckende Kälte und Gleichgültigkeit gegenüber Rathenaus Schicksal und seinen für diese Republik erbrachten Leistungen. Es ist beschämend zu sehen, in welcher Weise militärische Stellen der Weimarer Republik sich der „lästigen Pflichtübung“ entledigten, Walther Rathenau, und mit ihm einen führenden politischen Repräsentanten, mit militärischem Zeremoniell zu ehren.“ (32)
Dadurch dass Rathenau (nicht erst seit seiner Zeit als Reichsminister) eine Politik der Vernunft und der „Realpolitik“ anstrebte, die seinen Widersachern von Anfang an ein Dorn im Auge war, schuf er selbst die Voraussetzungen, dass er zum absoluten Feindbild der Rechtsradikalen und aggressiven völkischen Nationalisten geworden ist. Erschien er vielen im politischen Berlin eigentlich schon immer als eigenartige Persönlichkeit, so galt er spätestens ab 1921 bis zum Schluss (obwohl er seine Unterschrift unter den Rapallo-Vertrag gesetzt hatte) im rechtskonservativen Milieu sicherlich als Störenfried, und für weite Kreise im deutschen Militär auch als unberechenbarer und schwer kalkulierbarer Faktor.
Seine soziale Herkunft (reicher Erbe eines Großkonzerns) und die jüdische Abstammung, unter der er selbst lange Zeit am meisten zu leiden hatte, waren für viele seiner Gegner zusätzliche Argumente, ihn – zur Not mit allen Mitteln – kaltzustellen bzw. dann auch zu beseitigen.
Würde man sich vorstellen, Rathenau hätte vom Inhalt des Vertrages vom 3. April 1922 in irgendeiner Art Kenntnis erlangt, kann man durchaus davon ausgehen, dass er deswegen seinen Rücktritt erklärt hätte; die Wahrscheinlichkeit, dass die Hintergründe nicht ans Tageslicht gekommen wären, dürfte gleich null sein.
Spätestens dann wäre der ganze illegale Spuk der Reichswehr aufgeflogen, mit unabsehbaren Konsequenzen (die Besetzung des Ruhrgebiets durch Franzosen und Belgier wäre nicht nur früher erfolgt, sondern mit viel größerer Härte; gerade diese beiden Länder hegten besonderes Misstrauen gegen deutsche Abrüstungsversprechen, da die zahlreichen Waffenfunde und die getarnte Weiterführung von Geheimorganisationen dort aufmerksamer verfolgt wurden, als z.B. in London oder in den USA).
Im Falle, dass Rathenau exakte Kenntnis über den tatsächlichen Umfang der illegalen Aktivitäten der Reichswehr erlangt hätte, wäre er nicht mehr nur als „Störenfried“ wahrgenommen worden, sondern hätte sich als echtes Problem und Risiko für seine Gegner im „militärisch-industriellen Komplex“ dargestellt.
Die zwielichtige Zone, in der die Reichswehr agierte, wurde zumindest auch von Reichskanzler Wirth geduldet oder gar aufrechterhalten, um seine gesamte politische Richtung einer umfassenden Öffnung nach Osten hin zu decken bzw. zu tarnen. (33) Des Weiteren steht fest, dass zumindest Teile der Armeeführung wegen der illegalen Kontakte und Bestrebungen mit Russland allen Grund hatten, Störfaktoren zu minimieren oder gar gänzlich auszuschalten.
Aufgrund der zahlreichen Kontakte zwischen aktiven und ehemaligen Militärangehörigen (aus dem Heer und der Marine) sind diverse Querverbindungen bekannt. Daher ist es sogar denkbar bzw. nicht auszuschließen, dass die von Ernst v. Salomon geschilderte Diskussion mit Ehrhardt aus dem Sommer 1922 zutreffen kann, wonach der ehemalige Korvettenkapitän und Freikorpsführer unverblümt behauptet hat, dass seine Organisation lediglich Teil der im Aufbau befindlichen militärischen Abwehr (also ein „Geheimdienst“) gewesen sei. Da dies natürlich nur unter Umgehung der offiziellen Politik möglich war und wegen bestimmter „organisatorischer Sachzwänge“ (es ging ums Geld) wurde diese spezielle Aufgabe der Reichsmarine übertragen, die – nach den Worten Ehrhardts – dafür auch besonders prädestiniert gewesen sei. (34)
Der Autor betont des Weiteren die Rolle Hans v. Seeckts in der damaligen Szene. Dieser wird als eine Art Schnittstelle zwischen offiziellen staatlichen Stellen (in der Reichsregierung und der Ministerialbürokratie) und den nicht-staatlichen Organisationen (die in einer Schattenwelt agierten, zu der ausdrücklich die „OC“ zählte) beschrieben. (35)
Aber auch Karl Helfferich wird in einem Dialog zwischen Salomon und Hermann Ehrhardt thematisiert. Dieser soll Salomon danach gefragt haben, ob der als Rathenau-Gegner bekannte DNVP-Abgeordnete etwas mit dem Attentat zu tun hätte. Salomon bestritt jeden Zusammenhang mit Helfferich, vor allem habe dieser auch nicht das Attentat finanziert. (36)
Warum Ehrhardt allerdings nach einer möglichen Verstrickung Helfferichs in das Attentat fragte, bleibt offen; entweder hatte Ehrhardt einen bestimmten Grund oder es war lediglich der damals allgemeinen Erregung geschuldet (immerhin hatte sich ja Reichskanzler Wirth direkt nach der Ermordung Rathenaus im Reichstag sehr weit aus dem Fenster gelehnt).
Bei der Schilderung all dieser Details, die der Autor des Fragebogen (immerhin beinahe 30 Jahre nach der Tat) in seinem Roman wiedergibt, sollte man zwar einerseits etwas vorsichtig sein, dem Autor vorschnell alles zu glauben (die Möglichkeit, dass die nach 1945 noch lebenden Akteure versuchten, sich gegenseitig zu entlasten, bestand natürlich grundsätzlich immer – aber auch die umgekehrten Fälle, in denen sich NS- Funktionäre und Aktivisten auf Kosten Dritter reinzuwaschen suchten, sind bekannt), andererseits hat Salomon nach dem Zweiten Weltkrieg auch keine unmittelbaren Vorteile mehr, bestimmte Vorgänge und Zusammenhänge zu verschleiern oder seine eigene Rolle zu beschönigen (dieser Punkt wurde auch im ersten Beitrag bereits genannt).
Hinzu kommt, dass weder von Zeugen (wie dem erst 1971 verstorbenen Ehrhardt und anderen OC-Angehörigen, wie Friedrich Wilhelm Heinz, der zusammen mit Salomon 1921/22 im Großraum Frankfurt/M. aktiv war und nach 1949 sogar noch einen eigenen Nachrichtendienst aufbauen konnte) oder in Dokumenten gegenteilige Aussagen/Beweismittel vorgebracht wurden, noch – und dieser Punkt ist ebenfalls wichtig – dass einschlägige Untersuchungen in literatur- oder geschichtswissenschaftlichen Arbeiten eklatante Widersprüche zu Salomons Darstellungen erbracht hätten. (37)
Insoweit kann daher festgehalten werden, dass es interessierten Kreisen innerhalb der geschilderten „zwielichtigen Zone“ der Reichswehr und der halblegalen Atmosphäre in der Reichspolitik ein Leichtes war, gemeinsame politische Konzepte zu schmieden und auch ein Attentat vorbereiten zu lassen.
Alle Personen und politischen Verbindungen, die im Zusammenhang mit den rechtsradikalen Kreisen rund um die Organisation Consul standen, implizieren daher auch einen Bezug zu den späteren Rathenau-Attentätern. Diese eigenartige Mischung lässt sogar für eine ganz bestimmte Interpretation schlüssigen Spielraum:
Waren die tatsächlichen Attentäter und ihre Gehilfen somit nur nützliche Werkzeuge (eine Art fremdgesteuerte Marionetten) in den Händen derjenigen, die im Hintergrund faktisch die Fäden gezogen haben?
Die von Salomon geschilderten Listen mit Namen möglicher Ziele (heute als „Feindeslisten“ bekannt) wurden von außen in die Frankfurter Zelle der „OC“ hereingetragen. Aber allen war klar, dass die betreffenden Zielpersonen ausgeschaltet werden mussten: eine Ablehnung war undenkbar. Wegen des in diesem speziellen Milieu üblichen Unterordnungsverhältnisses und eines eigenartigen Befehlsgehorsams (die maßgeblichen Beteiligten entstammten alle entweder unmittelbar der Kadettenanstalt oder waren zumindest im Weltkrieg in Befehlsketten eingebunden – modern gesprochen: stark internalisierte Gewaltmuster), konnten sich die wahren Drahtzieher sicher sein, dass die OC-Mitglieder, die für den Mord an Rathenau ausgewählt worden waren, den Mordauftrag ohne Zögern ausführen würden; je weniger diese jungen Männer, die von einer nationalen Tat träumten, von den wahren Motiven in der Führung der Reichswehr und der „großen Politik“ wussten oder Zusammenhänge ahnten, umso besser für eine erfolgreiche Umsetzung der Attentatspläne.
Fragt man klassisch, wem eine Tat den größten Nutzen bringt, liegt die Antwort schnell auf der Hand: Es hat im Frühjahr 1922 eine bestimmte Interessengruppierung in der Reichswehr und in Teilen der Exekutive gegeben, die mit rein ökonomischen Motiven bestimmter Industrieller/Großkapitalisten übereinstimmten, um mit offiziellen Vertretern Sowjet-Russlands inklusive der Roten Armee zu kooperieren. Um „gute Geschäfte“ abzuschließen, wurden Verstöße gegen den Versailler Vertrag offen in Kauf genommen – bis zu Aufmarschplänen gegen das in Moskau wie in Berlin gleichermaßen verhasste Polen.
Fazit: Walther Rathenau wurde vor einhundert Jahren letzten Endes Opfer einer machtversessenen, geradezu intransigenten Clique aus hohen Vertretern der Reichswehr, aus Teilen der Politik und von Großunternehmern bzw. des Kapitals.
Dies schonungslos zu benennen, sollte 2022 zum 100. Todestag Walther Rathenaus auch von der Politik endlich ohne Umschweife erfolgen.
Wenn aber auch hundert Jahre nach der Ermordung Rathenaus immer noch der Mantel des Schweigens über die Hintermänner ausgebreitet wird, wundert es nicht, dass auch die geheimen Absprachen zwischen Reichswehr und Roter Armee nie so wirklich thematisiert worden sind (bis auf wenige Ausnahmen). Würde dies vorbehaltlos geschehen, wären die Strukturen, innerhalb derer die Täter, Gehilfen und Hintermänner agierten, aufzudecken und die maßgeblichen Zusammenhänge darzustellen. Dann wären nicht nur die sonst üblicherweise zuerst genannten antisemitischen Ressentiments gegen Walther Rathenau, sondern auch spezielle Interessen aus dem Komplex „Militär, Politik und Wirtschaft“ zu spezifizieren. (38)
Eins ist ja ebenfalls deutlich nachzuweisen: Außer der bewusst emotionsgeladenen Rede von Reichskanzler Wirth vor dem Reichstag einen Tag nach dem Attentat, dem fast schon überbordenden Trauermarsch und all der schönen Reden auf den Ermordeten (meist von Politikern, die zu Rathenaus Lebzeiten ihm nicht unbedingt um den Hals gefallen sind), ist wenig getan worden, die komplexen Hintergründe wirklich aufklären zu wollen.
Selbst Reichsjustizminister Gustav Radbruch konnte im Ergebnis wenig ausrichten (andere haben es nicht einmal versucht); oft wurde aus „außenpolitischer Rücksichtnahme“ eine schonungslose Aufklärung unterlassen bzw. war eine solche unerwünscht.
Denn immerhin galt es 1922, die erfolgreiche „Vertragsanbahnung“ zu den Sowjets nicht zu gefährden bzw. nach Möglichkeit noch weiter auszubauen (die illegalen Kontakte zu den Sowjets gingen in den folgenden Jahren auch nach Lenins Tod Anfang 1924 munter weiter).
Da aber auch alle danach folgenden Reichsregierungen (unterschiedlich intensiv) die Kontakte nach Moskau unterstützten und beim Thema „Schwarze Reichswehr“ und den verbotenen „Geschäften“ mit der Roten Armee die Augen zudrückten oder höchstens halbherzig vorgingen (so während der Großen Koalition 1928/30), so konnte sich die Reichswehrführung in ihrem illegalen Tun ziemlich sicher sein.
Auch hierzu kann als Nachweis die Autobiographie Ernst Niekischs (eine sonst eher aus anderen Zusammenhängen bekannte Person der Zeitgeschichte) herangezogen werden:
„Eines Tages, es war im Jahre 1928, erhielt ich eine Einladung, in der Infanterieschule in Dresden über deutsche Außenpolitik zu sprechen. (…) Ich trug meine außenpolitische Auffassung vor, die die Locarno-Politik Stresemanns verwarf und die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion forderte. Mit dieser Forderung bewegte ich mich im Rahmen jener Reichswehrpolitik, welche schon längst enge Beziehungen zu den militärischen Stellen der Sowjetunion angeknüpft hatte. Ich warnte die jungen Offiziere, sich durch die Verführungen des Westens beeinflussen zu lassen (…). Die Offiziere stimmten mir zu (…). Seit dieser Zeit rissen meine Verbindungen zur Reichswehr nie mehr völlig ab (…). Die Offiziere griffen zwar niemals in die Diskussion ein, gaben aber ihr Einverständnis zu erkennen, daß ich immer wieder darauf zurückkam, den Draht nach Moskau nicht abreißen zu lassen. Im Sommer 1932 hatte ich eine Einladung zu einem Vortrag nach Allenstein (…).
Mein Vortrag war gut besucht, und es war bemerkenswert, wie in der unmittelbaren Nähe des Schlachtfeldes von Tannenberg ein weitgehendes Verständnis für die Politik der Ostorientierung vorhanden war (…).
[General Heldt] sagte mir, daß in weiten Kreisen der Generalität ein starkes Mißtrauen gegen die Bindung an den Westen vorhanden sei und daß man sich nur aus der Zusammenarbeit mit dem Osten die Rückgewinnung der deutschen Souveränität verspreche.“ (39)
Wie man sieht, gibt es eine deutliche Kontinuität in weiten Teilen der Reichswehr in der Frage einer direkten Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und ganz offen bei militärischen Kontakten; egal ob 1928 (Große Koalition) oder 1932 zur Zeit der Präsidialregierungen.
Weiterhin beschreibt Niekisch in seinen Lebenserinnerungen einen Besuch bei Seeckt; das Gespräch zwischen diesen völlig unterschiedlichen Männern offenbarte, dass Seeckt an seiner Ostorientierung festhielt, obwohl er sicher kein Bolschewist gewesen sei, habe er versucht, „unter dem Winde der bolschewistischen Weltrevolution gegen den Westen aufzukreuzen.“ (40)
Die von der hohen Generalität angestrebte Zusammenarbeit mit dem Osten kann aber einzig und allein nur auf dem Hintergrund betrachtet werden, dass dies als Mittel zum Zweck der Wiedererlangung einer Großmachtstellung des Deutschen Reiches dienen sollte. Was aber geschehen sollte, falls Deutschland diese „geopolitische Stellung“ wieder innehaben würde, war in dieser „Strategie“ zumindest nicht offen ausgesprochen. Unter Hitler war dann klar, dass nach Wiedererlangung der militärpolitischen Souveränität Deutschlands der nächste Weltkrieg vom Zaun gebrochen werden würde. Mit der dann eigentlich zwangsläufigen Konsequenz, dass auch der bisherige „strategische Partner“ Russland (Sowjetunion) zum Gegner und somit Angriffsziel werden musste – ganz davon abgesehen, dass Hitler die slawische Rasse von vornherein als Feind und minderwertig betrachtet hat. Ein Punkt, der wohl im August 1939 (Abschluss des „Hitler-Stalin-Paktes“) in Moskau übersehen wurde.
Auch wenn Hans v. Seeckt bereits im Herbst 1926 seinen Rücktritt als Chef der Heeresleitung einreichen musste (wegen eines Skandals im Zusammenhang mit dem ältesten Sohn des letzten Kronprinzen „von Preußen“), hatte die von ihm mit äußerstem Nachdruck verfolgte Politik einer nahezu unbegrenzten Zusammenarbeit mit dem Osten (also der Sowjet-Union) nachhaltige Konsequenzen und dauerhafte Beziehungen bewirkt, die noch lange nach seinem Ausscheiden und auch nach der Machtübernahme Hitlers andauerten.
Außerdem war Seeckt die treibende Kraft bei der erfolgreichen Immunisierung der Reichswehr gegenüber den ab 1919 neu geltenden Staatszielbestimmungen der Republik und Demokratie (Stichwort: Staat im Staate).
Nach 1933 änderte sich an dieser Ausnahmestellung der Reichswehr im offiziellen Staatsgefüge nur wenig; außer die Umbenennung in „Wehrmacht“, die 1935 erfolgte.
Als Hitler 1934 immer mehr auf die Armeeführung zuging und gleichzeitig seine Partei-Armee, die „Sturm-Abteilung“, in die zweite Reihe verbannte bzw. völlig entmachtete (s. „Röhm-Putsch), wusste nun auch die Wehrmacht, dass sie als Armee unter dem Hakenkreuz gebraucht werden würde; dieses Sonderbewusstsein hielt dann auch im „Oberkommando der Wehrmacht“ Einzug: bis zum 8. Mai 1945.
IV) Linien und Strukturen der Kontinuität nach 1945
Nach dem totalen Zusammenbruch aller staatlichen Ordnung (und genau betrachtet auch der „Staatlichkeit“ an sich, zumindest im klassischen verfassungsrechtlichen Sinne) infolge der bedingungslosen Kapitulation im Mai 1945 standen zunächst die Siegermächte, dann auch die ersten deutschen zivilen Behörden vor dem Riesenproblem, woher die große Zahl an „Mitarbeitenden“ für die neuen Dienststellen nehmen, wenn es kaum unbelastete ehemalige Staatsdiener gegeben hat (und auch nicht geben konnte).
Dieses Problem stellte sich zunächst beim Thema „Streitkräfte“ nur im Hinblick auf die neuen nachrichten-dienstlichen Organisationen (traditionell als „Geheimdienste“ bezeichnet), die bereits kurz nach Kriegsende in allen Besatzungszonen eingerichtet wurden. Die jeweils zuständigen Militärgouverneure mussten bei der Rekrutierung dieses speziellen Personals meist über die eindeutig braune Vergangenheit der künftigen Mitarbeiter hinwegsehen (bestes Beispiel: Reinhard Gehlen).
Nach Gründung der alten BRD wurde dann noch weniger Rücksicht auf die NS-Vergangenheit hoher Beamter, auch solche im Bereich von „Sicherheit und Ordnung“, aber auch von Richtern genommen (dies galt, wenn auch bei weitem schwächer ausgeprägt, sogar für die „Personalgewinnung“ in der Sowjet-Zone bzw. der späteren DDR).
Da aber in beiden deutschen Staaten ab 1949 zunächst keine Streitkräfte vorgesehen waren, könnte man durchaus meinen, dass es auch keine Fortsetzung der oben skizzierten speziellen Ideologie, wie sich diese in der Reichswehr bzw. Wehrmacht ausgeprägt hatte, gegeben hätte.
Allerdings hatten sich die alten „Verbindungen“ nicht schlagartig aufgelöst, bloß weil am 8. Mai 1945 der Vertragstext zur bedingungslosen Kapitulation unterzeichnet wurde. Bekanntlich haben auf dem Gelände der Marinesportschule Flensburg-Mürwik (sog. Sonderbereich Mürwik) noch einige Unverbesserliche unter dem Kommando von Großadmiral Dönitz, der als Reichspräsident von Hitler die „Nachfolge“ übertragen bekommen hatte, eine Art Miniatur-Reichsregierung bis zum 23. Mai 1945 aufrechterhalten; dies hatte zwar faktisch keine wirkliche Bedeutung, signalisierte aber schon den Versuch, alte Strukturen (nach außen hin sichtbar) zu bewahren bzw. eine Art Option zu bieten.
Hierzu zählt z.B. auch, dass bereits zeitnah nach 1945 aus versprengt übriggebliebenen Einheiten ehemaliger SS- und anderer Verbände, die nicht von den Alliierten interniert wurden oder aber recht schnell wieder freigelassen worden waren, eine illegale Organisation unter der Bezeichnung einer „Bruderschaft“ gegründet werden konnte, die besonders unter Führung eines gewissen Alfred Franke-Grickschs sich den Kampf um Europa auf die Fahne geschrieben hatte.
Dieser Franke-Gricksch zählte bis 1934 zum Umfeld von Gregor Strasser, einem der „linken Widersacher“ Hitlers innerhalb der damaligen NSDAP. Diese spezielle Strömung der „Bruderschaft“ orientierte sich in ihrer Ideologie nach wie vor an der besonders in der Reichswehrführung bis 1933 propagierten „Synthese zwischen preußischem Adler und russischem Bär“. (41)
Dies wird auch als soldatisch geprägter preußischer (nationalistischer) Sozialismus bezeichnet und variiert die von Oswald Spengler propagierte Forderung nach einem „Preußentum und Sozialismus“ (so der zum geflügelten Wort verselbständigte Titel eines berühmten pseudo-geschichtswissenschaftlichen Buches Spenglers).
Im Prinzip gehörte auch diese Strömung bzw. Spielart national-bolschewistischer Ideologie zum weiten Kreis der sog. „Nationalrevolutionären“, die auch unter dem Sammelbegriff der „Konservativen Revolution“, deren unterschiedlichen Ausprägungen die gesamte Weimarer Republik begleiteten, gefasst wird. (42)
Da diese grundsätzlich „rechts-konservativen“ Weltanschauungen besonders in bestimmten Teilen des Soldatentums starken Rückhalt hatten (von normalen Kriegsheimkehrern über die Freikorps, zur „Schwarzen Reichswehr“ und „Stahlhelm“ bzw. allen möglichen Kampfbünden), kann es nicht verwundern, dass diese geistigen Strömungen, die zwar grundsätzlich durchgehend faschistisch, aber nicht immer unbedingt Hitler und der NSDAP zugeneigt sein mussten, teilweise gab es im soldatisch geprägten Milieu große Ablehnung gegenüber dem „böhmischen Gefreiten“, so dass sogar einige der späteren Widerständler aus der nationalrevolutionären Szene stammten, nicht über Nacht verschwunden, vielmehr auch nach dem Untergang des NS-Regimes noch vorhanden waren und sogar auf eine Art Renaissance hofften – vor allem dann ab den frühen 1950er Jahren unter dem Sammelbegriff des „Dritten Wegs“ (vermeintliche Neutralität als Basis für eine Wiedervereinigung Deutschlands meist auf völkisch-ständischer Grundlage).
Diese sog. Bruderschaft an dieser Stelle zu erwähnen, ist deshalb von Interesse, weil besagter Franke-Gricksch in direkter Verbindung zu dem ehemaligen Kommandeur der Elitedivision „Großdeutschland“, Hasso von Manteuffel, stand, der wiederum Ende der 1940er Jahre enge Kontakte zu Konrad Adenauer hatte. Die alten militärischen Seilschaften sollten noch bzw. wiederum bis zur Gründung der Bundeswehr 1955 gut bis sehr gut funktionieren.
Besagter General Manteuffel scheint wohl eng in die Adenauerschen Pläne einer raschen Wiederbewaffnung bzw. des Wiederaufbaus einer westdeutschen Armee eingebunden gewesen zu sein; und zwar bereits Ende 1949, also einige Jahre vor den in der Öffentlichkeit lebhaft geführten Diskussionen um die Wiederbewaffnung der BRD (somit der Einführung der Bundeswehr). Manteuffel war dann auch noch in der Gründungszeit der Bundeswehr politisch aktiv (und zwar damals als Bundestagsabgeordneter für die FDP). Die oben beschriebene „zwielichtige Zone“ zwischen Streitkräften und politischen Entscheidungsträgern war daher auch im (West-)Deutschland der Nachkriegszeit wieder greifbar.
Jetzt kann an dieser Stelle die sicherlich interessante Frage nach personellen, aber auch strukturellen (organisatorischen) Kontinuitäten bzw. Parallelen in der Armee und besonders der Armeeführung vor und nach 1945/ 1949 nicht angemessen verfolgt werden. Dies beginnt eigentlich schon mit dem Datum der offiziellen Gründung der westdeutschen Nachkriegsstreitkräfte am 12.11.1955: der 200. Geburtstag des preußischen Generals v. Scharnhorst – auch der endgültige Name „Bundeswehr“ musste sich gegen die ebenfalls kursierende Bezeichnung „bundesdeutsche Wehrmacht“ durchsetzen.
Viele Kasernen und Einrichtungen der Bundeswehr wurden mit Namen zweifelhafter Personen geschmückt. Und natürlich musste besonders bei höheren Dienstgraden auf ehemalige Angehörige der Wehrmacht und sogar auf SS-Offiziere zurückgegriffen werden; zwecks Überprüfung wurde ein spezieller Personalgutachterausschuss eingerichtet (im Jahr 1959 waren von 14.900 Bundeswehroffizieren 12.360 bereits in der Reichswehr oder Wehrmacht zu Offizieren ernannt worden. Etwa 300 Offiziere entstammten der Waffen-SS). Erst langsam hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass die „Wehrmacht“ (besonders ab 1939) keine traditionsbegründende Vorbildfunktion haben konnte/durfte.
Festzuhalten ist aber auf jeden Fall, dass die 1955 gegründete und ab 1956 langsam aber kontinuierlich wachsende Bundeswehr (die ja eigentlich als Folge des Nato-Beitritts der alten BRD 1954 konzipiert wurde) als Parlamentsarmee unter dem Grundgesetz errichtet wurde. Diese verfassungsrechtliche Einbindung ist der eklatante Unterschied zur Reichswehr der Weimarer Republik.
1919 bei der Ausarbeitung der Weimarer Verfassung (WV) wurde in Anbetracht der nahezu gleichzeitig in Versailles abgehaltenen „Verhandlungen“ auf eine spezielle Regelung zum Thema „Wehrpflicht“ und zur Armee bzw. den Streitkräften insgesamt verzichtet; eine genauere Regelung sollte einem späteren Gesetz vorbehalten bleiben. Daher finden sich in der damaligen Verfassung außer sog. Verweisungsnormen (so die Artikel 6 Nr. 4, 79 und 176 WV) keine materiellen (inhaltlich relevanten) Vorschriften; alles Weitere wurde dann im Wege von Verordnungen bzw. einfachen Reichsgesetzen geregelt.
Aufgrund dieser sehr niedrigschwelligen Einbindung der Streitkräfte in das Verfassungsleben braucht dann das besonders unter Seeckt entwickelte Sonderbewusstsein in der Reichswehrführung auch nicht wirklich zu wundern: Wer hätte denn in den 1920er Jahren gegen eine sich selbst abschottende Generalität politisch oder verfassungsrechtlich vorgehen können?
Entweder waren nahezu alle Parteien, die bis Mitte 1930 in Regierungsverantwortung standen, in das korrupte Spiel der Reichswehrführung irgendwie involviert, oder aber die Justiz war auf diesem Auge blind (in den Strafverfahren gegen die damaligen politischen Attentäter wurde diese brisante Frage nach Querverbindungen zu staatlichen Institutionen wie der Reichswehr bewusst ausgeblendet; selbst als auf Betreiben von Justizminister Radbruch ein spezielles Verfahren gegen die Organisation Consul zumindest eingeleitet wurde, versickerte dies im Sande). Als dann ab Mitte 1930 die Präsidialkabinette von Hindenburgs Gnaden etabliert wurden, war der Reichstag schon praktisch bedeutungslos.
Dieser Fehler wurde später unter dem Grundgesetz, nachdem der politische Wille zur „Wiederbewaffnung“ deutlich artikuliert worden war, erfolgreich vermieden. Zumindest nach und nach wurden im Wege der Verfassungsänderung die maßgeblichen Rechtsgrundlagen für die „Streitkräfte“ im weitesten Sinne in das Grundgesetz eingefügt. Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich bereits mehrfach mit der Rechtsfrage nach den Befugnissen der Bundeswehr beschäftigt und wichtige Impulse setzen können.
Daher kann durchaus mit Recht festgestellt werden, dass die heutige Bundeswehr in einem sicheren verfassungsrechtlichen Rahmen agiert; dieser muss aber (auch das haben die Erfahrungen der Vergangenheit gezeigt) immer wieder überprüft und abgesichert werden. Denn eins ist auch klar: Bei einem derart sensiblen wie prestigeträchtigen Bereich, wie den Streitkräften, können immer wieder organisatorische Schwachstellen auftreten (wie in jedem selbstreferentiellen System) oder einzelne Personen besondere Probleme bereiten, die nicht nur das allgemeine Ansehen der Bundeswehr, sondern ganz besonders das Vertrauen in die Integrität der Truppe erschüttern können. So haben in den letzten Jahren immer wieder einmal Skandale, besonders im Zusammenhang mit den sog. Kommando Spezialkräften (KSK) dazu beigetragen, eine große Nähe zu rechtsextremen Kreisen zu vermuten.
Diese nachweislichen Missstände innerhalb der KSK wurden aber immer bloß als „bedauerliche Einzelfälle“ nach außen dargestellt, von einem größer angelegten Netzwerk wagt niemand innerhalb der Bundeswehrführung zu sprechen (nahezu alle seit Herbst 2009 im zuständigen Fachressort verantwortlich amtierenden MinisterInnen und StaatssekretärInnen scheinen in vielen Detailfragen überfordert, benötigen viel Zeit für Sitzungen von Untersuchungsausschüssen, einer musste gar wegen Plagiats der Doktorarbeit zurücktreten, so dass wenig Impulse von politischer Seite für die Neuausrichtung der „inneren Führung“ in der Bundeswehr zu erwarten sind).
Zu letzterer Fallgruppe rechtsextremistischer Umtriebe in der Bundeswehr ist nun aber auch ganz aktuell ein seit 2017 laufendes Strafverfahren hinzugekommen, das im Sommer 2022 zumindest in erster Instanz vor dem Oberlandesgericht Frankfurt/M. mit einer Verurteilung geendet hat: der Fall des Franco A. (43)
Dieser Fall erreichte zumindest zeitweise eine bundesweite Aufmerksamkeit in der medialen Öffentlichkeit, weil nicht nur der Hauptanklagepunkt, Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat, die einem Offizier der Bundeswehr zur Last gelegt wurde, eher selten ist, sondern sehr viele weitere Details zum Kopfschütteln veranlassen. Insbesondere hätte die Karriere dieses Offiziers eigentlich gar nicht beginnen dürfen, da seine damalige Abschlussarbeit an der Militärschule (in Frankreich!) unter dem Titel „Politischer Wandel und Subversionsstrategie“ offen rechtsextremes, antisemitisches und rassistisches Gedankengut enthalten hat, was den französischen Prüfer Anfang 2014 auch dazu veranlasste, die Arbeit als rassistisch einzustufen und als nicht bestanden zu werten, sprich Franco A. war eigentlich durchgefallen. Doch der deutsche Dienstherr von Franco A. sah keine Anhaltspunkte für eine rechtsextreme Gesinnung und stufte die inkriminierten Äußerungen des Prüflings als leicht fahrlässige Sorgfaltsfehler ein.
Die Disziplinarbehörde der Bundeswehr bescheinigte ihm die erforderliche Einstellung zur Werteordnung des Grundgesetzes, er durfte die Abschlussprüfung wiederholen. Franco A. bestand dann die Ehrenrunde vor allem wegen besonders guter Leistungen im militärischen Teil der Prüfung. Zur Zeit der kaiserlichen Kadettenanstalten gab es auch derartige Abschlüsse ehrenhalber, oft sogar nach Fürsprache des Kaisers, wenn ein Prüfling eigentlich beim Lehrstoff versagte, aber bei den rein soldatischen Übungen glänzen konnte: „propter barbarum“. (44)
Bereits Friedrich der Große verlangte von seinen „Kerls“, dass sie „anständig“, also ohne Widerworte, auf dem Schlachtfeld sterben sollten. Dies wurde dann gleichsam zur Devise der preußischen Offiziere: Zu lernen, ehrenhaft (ohne zu murren) zu sterben. (45) Doch anstatt sich wie ein guter Soldat ins Glied einzureihen, versuchte Franco A., nachdem er die Offizierslaufbahn eingeschlagen hatte, sich noch ein zweites wirtschaftliches Standbein zu schaffen. Er verkleidete sich als syrischer Bürgerkriegsflüchtling, beantragte Asyl, wurde sogar als ein Bürgerkriegsflüchtling anerkannt und ihm wurde sog. subsidiärer Schutz gewährt, so dass er dann auch noch Sozialleistungen abkassierte.
Wenn dies nicht alles realiter geschehen wäre, könnte man an eine besonders perfide Satire denken; doch damit war das Doppelleben des Franco A. noch lange nicht beendet. Nun begannen, so die Erkenntnisse der Ermittlungsbehörden und der Bundesanwaltschaft, die Vorbereitungen kruder Anschlagspläne des Franco A..
Hier ist besonders von Interesse, wie bereits vor über hundert Jahren bei den Anschlägen der OC auf verschiedene Politiker der Weimarer Republik, wer war konkret an den Planungen beteiligt, gab es ein „Netzwerk“ und wie ausgeprägt waren die Kontakte zu anderen Rechtsextremisten, nach welchen Kriterien wurden sog. „Feindeslisten“ erstellt, wo kamen die Waffen und auch das nötige Kleingeld her?
Viele dieser Fragen zum äußeren Tatgeschehen sind in diesem aktuellen Strafverfahren bisher nur oberflächlich beantwortet worden, ob in der Revision (in der lediglich Rechtsfehler gerügt werden können) neue Erkenntnisse erbracht werden, bleibt somit erst einmal offen. Ebenfalls nur ansatzweise geklärt werden konnten die Motive und geistigen Voraussetzungen für die Franco A. zur Last gelegten Anschlagspläne; vor allem: welchen ideologischen Strömungen ist oder war Franco A. zugänglich bzw. zugeneigt?
Soweit man den Medienveröffentlichungen folgen kann, war wohl schon früh eine gewisse Neigung zur Verherrlichung der NS-Zeit bei Franco A. vorhanden bzw. wurde von Verwandten gefördert. Es hat sich wohl schon ziemlich früh bei Franco A. eine Art Überlegenheitsgefühl der arischen/deutschstämmigen Rasse bzw. Nation eingestellt, welche unter allen Umständen verteidigt werden müsse, was – militärisch zu Ende gedacht – eigentlich nur einen globalen Rassenkampf bedeuten würde. Ähnliche Denkmuster finden sich auch bei anderen Rechtsterroristen (in den USA, Neuseeland oder Norwegen – aber auch in Halle oder Hanau).
Sofern dies alles zutrifft, hätten die geistigen Vordenker der völkischen Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts und erst recht die Chefideologen des Nationalsozialismus ihre helle Freude an diesem jungen Mann. Viele dieser nationalistischen und völkischen Einschläge finden ihre Blaupause in der nationalrevolutionären Bewegung in der Weimarer Republik. Daher wundert es auch nicht, dass die meisten der Offiziere der damaligen Reichswehr (Wehrmacht) offen mit dieser republikfeindlichen Gesinnung sympathisierten; diese grundsätzliche Weltanschauung haben die meisten der Offiziere, die das Kriegsende erlebten auch nach 1945 noch beibehalten: Trotzdem haben erst die West-Alliierten, dann die verschiedenen Dienststellen der jungen BRD diese Männer wieder reaktiviert bzw. rekrutiert.
Es wäre dann auch kein Zufall, wenn ein Offizier der Bundeswehr (eher unbewusst, denn so ausgeprägte kognitive Fähigkeiten wird man dem Angeklagten Franco A. dann doch nicht zutrauen dürfen) auf ideologischen Bahnen früherer Anhänger eines militärischen Sonderbewusstseins wandelte. Eine gewisse Faszination für „Ruhm und Ehre“ und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer staatlichen Elite (ausgedrückt durch die Uniform, Paraden, Orden etc.) wird bei vielen Anwärtern einer Offizierslaufbahn vorhanden sein. Die Frage ist nun, wie weit braucht es eine spezielle Motivation für diesen Dienst an der Waffe (z.B. auch um auf gefährliche Auslandseinsätze zu gehen), wo fängt aber eine pathologische Obsession an?
Jetzt wäre es höchstwahrscheinlich zu weit hergeholt, Franco A. in eine unmittelbare Nachfolge bestimmter Angehöriger der Reichswehr zu stellen. Aber gewisse Parallelen zu den damals vorherrschenden Anschauungen sind deutlich erkennbar. Hatte doch besonders der sog. „soldatische Nationalismus“ starke Ausprägungen in der Reichswehrführung und sich dann, wie oben gezeigt, auch noch lange nach 1945 erhalten können.
Vom konkreten Fall des Franco A. abgesehen, ist aber mindestens genauso frappierend, dass bei den deutschen Prüfern und den Beteiligten der Disziplinarbehörde in Deutschland, die bei der positiven Beurteilung des späteren Angeklagten mitgewirkt hatten, so wenig Fingerspitzengefühl bzw. historisches Verständnis vorhanden zu sein scheint. Scheinbar hat niemand das verstörende Verhalten des Franco A. so richtig Ernst genommen oder gibt es (zumindest versteckt) sogar Sympathie bzw. Unterstützung bei einschlägigen Dienststellen der Bundeswehr für die Haltung des Franco A.?
Bei den französischen Prüfern/Ausbildern hatte Franco A. mit weniger Nachsicht zu rechnen. Insoweit würde sich in bestimmten Reihen der Bundeswehr nur die bereits erkennbare mangelnde Fehlerkultur wie bei den Missständen innerhalb der KSK wiederholen.
Im Augenblick (bis über eine Revision des Angeklagten entschieden wird) ist somit festzuhalten, dass auch im Falle des Franco A. seitens der Verantwortlichen in der Bundeswehr einschließlich des „Militärischen Abschirmdienstes“ erfolgreich weggeschaut wurde, so dass diese eigenartige Bedrohung überhaupt erst entstehen konnte – auch an diesem Punkt ist eine zu nachsichtige Personalführung zu monieren. „Zwielichtige Zonen“ sind im Zweifel auch heute noch bei den Streitkräften vorhanden.
V) Der Geheimvertrag vom 3. April 1922
Der folgende Text stammt aus der Dissertation von Jörg Hentzschel-Fröhlings, die finanziell besonders von der Konrad-Adenauer-Stiftung und inhaltlich-fachlich von der Walther-Rathenau-Gesellschaft gefördert und unterstützt wurde, daher sicherlich als solide akademische Arbeit betrachtet werden kann. Der Vertragstext wird bis auf Eigennamen der russischen Vertreter und einigen grammatikalischen Fehlern unverändert/ungekürzt übernommen und ist dort auf den S. 297 – 299 wiedergegeben:
Fundort: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, R23689, Film L096480-483. Text im Wortlaut:
Abschrift.
Geheime militärische Abmachungen zwischen Sowjet-Russland und Deutschland
Vorliegender Vertrag wurde am 3. April 1922 von bevollmächtigten Vertretern des Generalstabs der russischen Roten Armee und bevollmächtigten Vertretern des deutschen Generalstabs geschlossen. Die bevollmächtigten Vertreter der russischen Roten Armee waren: (…); die bevollmächtigten Vertreter des deutschen Generalstabes General der Infanterie Seeckt, Admiral Benke, Oberstleutnant Scharf und Major Petter.
Die bevollmächtigten Vertreter beschlossen, nachdem sie ihre Vollmachten geprüft und für genug befunden haben, folgende Abmachungen:
1. Der deutsche Generalstab verpflichtet sich, der Armee der russischen föderativen Sowjetrepublik (R.S.F.S. R.) Waffen und Munition für 180 Infanterieregimenter gemäss dem Etat A (Nr. 556/88 vom 4. März 1921) zu liefern. Die für die Bewaffnung und Ausrüstung nötigen Gegenstände müssen durch den deutschen Generalstab in monatlichen Zwischenräumen auf eigene Rechnung und Verantwortlichkeit und mit den Hilfsmitteln des deutschen Generalstabes geliefert werden. Der dritte Teil der gesamten Waffen und Munition muss russischen Modellen entsprechen (russisches Dreiliniengewehr Modell 1891), die übrigen Waffen und Munition deutschen Modellen (Mausergewehr Modell Nr. 89). Gleichzeitig verpflichtet sich der deutsche Generalstab, unter den angegebenen Bedingungen die schwere- und die Feldartillerie für die Bewaffnung von 20 Infanterie-Divisionen nach dem Etat A [s. o.] zu liefern.
Die gesamte Menge an Waffen ist in der Konvention vom 25. März 1921 nicht vorgesehen.
2. Der deutsche Generalstab verpflichtet sich, bei der Organisierung der russischen Kriegsflotte im Baltischen und Schwarzen Meer mitzuwirken,
a) durch Ergänzung des Kaders der deutschen Marineinstrukteure bis zu der in der Konvention vom 25. März 1921 vorgesehenen Höhe;
b) durch Reorganisierung und Ausbildung des Personalbestandes der russischen Kriegsflotte entsprechend den Forderungen und Erfahrungen der neuesten Zeit;
c) durch Durchführung einer völligen Reparatur der Kriegsschiffe der russischen Flotte entsprechend der Angaben des Chefs der Marineverwaltung der R.S.F.S.R.
3. Der deutsche Generalstab verpflichtet sich, ausser den bereits gelieferten Flugzeugen Russland in kürzester Zeit noch 500 neue Flugzeuge vom Typ „Junker“ mit der entsprechenden Menge von Reserveteilen zu liefern.
4. Der deutsche Generalstab verpflichtet sich, die technischen Truppen der russischen Roten Armee mit technischen Materialien für 180 Infanterie-Regimenter nach dem Etat [s. o.] zu versehen. W.G.W. 81 verpflichtet sich auch, 150 drahtlose Feldstationen zu liefern.
5. Der deutsche Generalstab verpflichtet sich, den russischen Generalstab über die Ergebnisse der letzten Versuche und technischen Erfindungen im Gebiet des Gaskampfes zu informieren, sowie 60 russische, vom russischen Generalstab nach Deutschland gesandte (…) Instrukteure in der Gastechnik zu unterrichten und auszubilden.
6. Der deutsche Generalstab verpflichtet sich, nach Russland die notwendige Zahl von Technikern zu schicken, um die Produktion der schon in Russland bestehenden Kriegsindustrie zu vergrössern und um noch im Jahre 1922 die neuen Waffenfabriken in Tula (2. Tulaer Fabrik), Samara und Petersburg einzurichten und in Betrieb zu setzen.
7. Der russische Generalstab bestätigt seinerseits die früher geschlossenen Verträge, nämlich vom 27. April 1919 und vom 25. März 1921, die mit dem vorliegenden Vertrag ein Ganzes bilden, und verpflichtet sich, bei der Regierung der R.S.F.S.R. darum nachzusuchen, dass die tatsächliche Übergabe von 20 Kriegsschiffen aus dem Bestand der russisch-baltischen Flotte entsprechend der Beilage 2 zum Abkommen vom 25. März 1921 sofort erfolge. In Anbetracht der politischen Lage bleiben jedoch diese Schiffe in russischen Häfen.
8. Der russische Generalstab garantiert dem deutschen Generalstab die Möglichkeit, nach Russland 3 deutsche Fabriken nach Wahl des deutschen Generalstabes zu verlegen, und zwar eine Fabrik für Flugzeuge und Motoren, eine Fabrik für Giftgase und eine Geschützfabrik unter der Bedingung, dass die Armee der R.S.F.S.R. in vollem Umfange die Produktion der genannten Fabriken ausnutzen kann.
Gleichzeitig wird der Generalstab der R.S.F.S.R. die deutschen Offiziere und Fachleute an der Beteiligung und der Arbeit in den eben errichteten Waffenfabriken in Afghanistan nicht hindern.
9. Der russische Generalstab verpflichtet sich, an der Westgrenze wenigstens 18 Infanterie- und 8 Kavallerie-Divisionen zu unterhalten, wobei ein Drittel dieser Truppen dem Etat B (Nr. 557/69 vom 4. März 1921) entsprechen muss.
Ausserdem müssen diese Truppen in Gebieten konzentriert werden, wie sie durch den grundlegenden Operationsplan nach der Abmachung vom 25. März 1921 vorgesehen sind.
10. Der russische Generalstab verpflichtet sich, bis zum August 1922 die Leistungsfähigkeit der Alexander- und der Nikolaibahn auf 12 Züge täglich zu steigern. Ausserdem müssen die im Dreieck Minsk-Krakau-Petersburg liegenden Zweiglinien ihre Leistungsfähigkeit in gleichem Masse vergrössern.
11. Entsprechend dem politischen Abkommen verpflichten sich der deutsche Generalstab und der russische Generalstab zur Ausarbeitung eines gemeinsamen Plans, der Russland den Zugang zur Ostsee eröffnet.
Schon jetzt wird dem Abkommen entsprechend eine Demarkationslinie zwischen den Truppen der R.S.F.S.R. und den deutschen Truppen über Solis-Wolmar-Ostrow festgestellt.
12. Die vertragschliessenden Seiten verpflichten sich, dieses Abkommen geheimzuhalten.
Vorliegendes Abkommen wird in zwei Exemplaren in deutscher und russischer Sprache ausgefertigt. Bei Meinungsverschiedenheiten gilt der deutsche Text als verbindlich. Zur Bestätigung versehen die vertragschliessenden Teile vorliegendes Abkommen mit ihrer eigenen Unterschrift und dem beigedrückten Siegel.
Folgende Hinweise scheinen angebracht:
Der eingangs des Vertragstextes genannte deutsche Admiral müsste wohl „Behncke“ lauten (eine bei der Schreibweise von Personennamen immer vorhandene Fehlerquelle, die aber die Authentizität des Dokuments an sich nicht berührt). Auch bei der Verwendung des Begriffs „deutscher Generalstab“ sollte man sich nicht stören, obwohl ein solcher formal ab 1919 bis zum Ende der Weimarer Republik nicht mehr existierte:
Zum einen war diese Bezeichnung noch immer in den Köpfen der deutschen Militärs („Heeresleitung“ war ja nur eine schwache Umschreibung), zum anderen dürfte eine Herabsetzung der Führung des deutschen Militärs nicht gewollt gewesen sein. Wenn auf Seiten der Russen der Begriff „Generalstab“ gebräuchlich war, musste auch für die deutschen Vertragspartner eine solche Bezeichnung verwendet werden; anderenfalls hätten ja noch Zweifel an der Zuständigkeit aufkommen können.
Ansonsten spricht der Inhalt des Vertragstextes für sich. Ein Vergleich mit dem Geheimabkommen, das Hitlers Außenminister Ribbentrop am 23. bzw. 24. August 1939 (ebenfalls mit den Sowjets) geschlossen hat, wäre aufschlussreich. Nach fast zwanzig Jahren war damit die von Russland und Deutschland gleichermaßen verfolgte außenpolitische Stoßrichtung, die Versailler Nachkriegsordnung zu stürzen, vollendet; eine knappe Woche später begann der deutsche Feldzug gegen Polen.
Autor: Thomas Fuchs, Assessor iur., Rechtshistoriker
Anmerkungen
1) https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/walther-rathenau-100-jahre-nach-dem-attentat/
2) In den überregionalen Zeitschriften etc. und den Nachrichtensendungen hat es um den 24. Juni 2022 herum pflichtgemäße Berichte gegeben. Doch teilweise wirkten diese wie aus der Retorte (immer dieselben Formulierungen, beinahe schon Textbausteine). Besonders auffällig: Der Beitrag des Wissenschaftlichen Dienstes des Dt. Bundestags zum 100. Todestag gleicht bis auf ganz geringe Änderungen dem Beitrag zum 90. Todestag von Walther Rathenau; engagierte Berichte gehen anders.
3) Ohne der Bundestagspräsidentin ihre Ernsthaftigkeit absprechen zu wollen, doch formal betrachtet, ist sie für eine solche Rede „nicht zuständig“, denn Rathenau war niemals Abgeordneter im Reichstag (weder 1912 noch 1920 – ihm wurde jeweils ein aussichtsreicher Wahlkreis vorenthalten, so dass er auf eine Kandidatur verzichtete). Die heutige FDP als verbliebenes Feigenblatt des politischen Liberalismus ist sich auch nicht sicher, wie sie mit dem Freigeist Rathenau umgehen soll: Den ab 1969 als Außenminister amtierenden Walter Scheel konnte man zwar noch als Anhänger Rathenaus bezeichnen, seinem langjährigen Nachfolger Genscher fehlte ein solcher Bezug (man kann auch sagen, Genscher ignorierte Rathenau). Dass die heutige FDP-Führung lieber ausgelassen Hochzeit auf Sylt feiert und für schöne Selfies fast jede Geschmacklosigkeit in Kauf nimmt, ist Beweis genug für einen völligen „Kulturwandel“ hin zur „Spaßpartei“ (nur äußerst schwer vorstellbar, dass Rathenau hier Mitglied geworden wäre).
Ein ganz anderes Beispiel des Umgangs der nachkriegsdeutschen Politik mit Rathenau hat der damalige Bundesaußenminister Willy Brandt gegeben, als er sich Anfang Oktober 1967 an der FU Berlin in einer Rede zum 100. Geburtstag des ehemaligen Außenministers Rathenau auf dessen Verständigungsbemühungen mit Russland bezogen (insbesondere die Fähigkeit zur Vertrauensbildung) und Hoffnung auf zivilisierte Lösungen bestehender West-Ost-Konflikte geweckt hatte; in dieser Rede hat der zuständige Fachminister im Rahmen seiner Ressortkompetenz gesprochen und seinen Vorgänger auch konkret charakterisiert (trotz aller Unterschiede in der Persönlichkeit dieser beiden Politiker, so nimmt man Willy Brandt seine ernst gemeinte Anteilnahme ohne jeden Zweifel ab). Die aktuellen Reden und Beiträge zum 100. Todestag klingen oft verdächtig ähnlich/gleichlautend und irgendwie unpersönlich; 2022 hört man von der aktuellen Außenministerin keine Bezugnahme auf Rathenausche Ideale – sind diese am heutigen Amtssitz in Vergessenheit geraten?
4) Abgedruckt u.a. in: Das Parlament, 72. Jahrgang, Nr. 26-27 vom 27. Juni 2022, S. 9 (Keine Entwarnung für die wehrhafte Demokratie).
5) Hentzschel-Fröhlings, S. 235.
6) Ders., S. 236.
7) Ders., 237f.
8) Siehe Niekisch, S. 275.
9) Aktuell können solche Verquickungen besonders im Hinblick auf das 100 Milliarden schwere „Sondervermögen“, welches außerplanmäßig für die Bundeswehr geschaffen werden soll, entstehen.
10) Hentzschel-Fröhlings, S. 238.
11) Ders., S. 207.
12) Ders., S. 240f.
13) Ders., S. 241. Hentzschel-Fröhlings schließt sich im Übrigen dem berühmten US- Diplomaten und Historiker George F. Kennan an, der bereits in den 1950er Jahren davon überzeugt war, dass die geheime militärische Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee völlig unabhängig von den politischen Bemühungen im damaligen Außenministerium erfolgte. Solange zivile Politiker nicht dazwischen funkten, konnten wirtschaftspolitische Abkommen etc. aller Art geschlossen werden; dies interessierte die hohen Militärs nicht.
14) Ders., S. 242f. Deutliche Parallelen sind bei der russischen Großmannssucht seit 2014 erkennbar.
15) Im Überblick bei Schieder, S. 27 – 29.
16) Auch der 1922er-Vertrag blieb lange unbekannt bzw. unbeachtet (gäbe es wirklich offene Archive, würden bestimmte Unklarheiten längst einer Klärung zugeführt werden können; auf die Gefahr mancher Peinlichkeit).
17) Vgl. Hecker, S. 479.
18) Dito.
19) Vgl. Hecker, S. 480 f.
20) Siehe hierzu Niekisch, S. 58f.; und bei Hentzschel-Fröhlings, S. 66f.: Rathenau, eine Persönlichkeit mit vielen Eigenschaften (und Widersprüchen).
21) Hecker, S. 481.
22) Dito.
23) Dies wurde dann ab 1933/34 aber deutlich einfacher, denn streng dogmatische und systematische Vorgaben zählten danach nicht mehr: Für Polizei, SA und auch den Sicherheits-Dienst der Gestapo galt seitdem nur noch der „Führerwille“ (und dieses „Tatbestandsmerkmal“ war wachsweich). An der rasanten Aushöhlung des „Rechtsgedankens“ haben bezeichnenderweise auch viele namhafte deutsche Juristen mitgewirkt; an erster Stelle Carl Schmitt, der bereits 1933/34 in mehreren Aufsätzen, u.a. „Der Führer schützt das Recht“; „Nationalsozialistisches Rechtsdenken“, einen neuen rechtswissenschaftlichen Denktypus propagierte. Folge war eine Entkoppelung von Richter und Gesetz. Aber auch bis heute fortwirkende Generalklauseln, wie die „Öffentliche Daseinsvorsorge“, wurden in der NS-Zeit eingeführt (so von Ernst Forsthoff) und auch viele weitere Entwicklungen auf dem Gebiet des Zivilrechts (und im Arbeitsrecht), sogar im Steuerrecht, nahmen damals ihren Aus-gang, was dann nach 1945 selbst in den dicksten juristischen Lehrbüchern kaum noch erwähnt wurde.
24) Hecker, S. 483.
25) Ders. S. 487.
26) Ders., S. 490.
27) Vgl. Hecker, S. 497.
28) Ders., S. 498.
29) Vgl. Hecker, S. 509.
30) Ders., S. 498.
31) Vgl. Hecker, S. 499f.
32) Ders., S. 501.
33) Vgl. Hentzschel-Fröhlings, S. 196.
34) So die Darstellung bei Salomon, S. 332; auf S. 328 beschreibt Salomon die allgemeinen Aufgaben der OC, so z. B. bei der Errichtung illegaler Waffenlager und Durchführung von Aktionen in den besetzten Gebieten des Rheinlandes (zwischen den Zeilen wird auch die Verstrickung in den Waffenhandel erwähnt).
35) Ders., S. 333.
36) Ders., S. 329f.
37) Neben biographischen Darstellungen, die Salomon und die Freikorps bzw. konkret Ehrhardt behandeln, gibt es besonders in den Literaturwissenschaften etliche Beiträge zu Salomons Rolle als Schriftsteller am Ende der Weimarer Republik (besonders zu seinem 1930 erschienenen „Erstling“ Die Geächteten, der explizit die Vorgeschichte/Hintergründe des Rathenauattentats behandelt). Auch seine Bezugnahme auf die „Landvolkbewegung“ Ende der 1920er Jahre hat bei anderen Autoren Widerhall gefunden. Man wird diesen Mann (ob als Schriftsteller oder als politischen Aktivisten) sicher nicht mögen müssen, viele finden seine ironischen, gar sarkastischen Zwischentöne (besonders im Fragebogen) sogar unerträglich, aber seine Beschreibungen und Wertungen völlig zu verschweigen bzw. zu übergehen, nur weil man ihn unsympathisch findet, wäre Unsinn.
38) Diesen speziellen Blick wird man in den allermeisten Darstellungen zu Rathenau vermissen. Auch in den umfangreichen Beschreibungen, die Martin Sabrow zum Rathenaumord gibt, wird dies im Wesentlichen unter-lassen. Dabei ist noch folgendes aus kriminologischer Sicht interessant: Viele der damaligen Verflechtungen zwischen Militär, Politik und Wirtschaft würden heute eindeutig die Merkmale sog. Organisierter Kriminalität erfüllen („Staatskriminalität“).
39) Niekisch, S. 170f.
40) Vgl. Niekisch, S. 172.
41) Siehe Pittwald, S. 31f. mit weiteren Anmerkungen.
42) Zum Thema „Konservative Revolution“ (KR) kann bis heute die erstmals 1950 von Armin Mohler heraus-gebrachte Darstellung „Die Konservative Revolution in Deutschland 1918 – 1932“ als Standardwerk betrachtet werden. Nicht um den Autor besonders zu loben oder die mit der KR verbundene Ideologie zu beschönigen (viele „Gedanken“, die von Autoren der KR geäußert und vertreten wurden, sind heute einfach nur noch abstrus und wirken wie aus der Zeit gefallen, in den 1920er Jahren waren sie aber beliebt und gehörten zum damaligen Diskurs; aber selbst ernstzunehmende bzw. bekannte Autoren, wie Ernst Jünger, Gottfried Benn oder auch ein Stefan George und viele andere renommierte Wissenschaftler, haben sich durch „ungeschickte“ Äußerungen, teils auch unverhohlene Anbiederungen an die Nazis, kompromittiert), ist auf diese geistige Strömung während der Weimarer Republik kurz hinzuweisen, sondern – und hier reicht ein Blick in das umfangreiche Inhaltsverzeichnis des Buchs von Mohler – wie zahlreich und auch meinungsstark die dort aufgeführten Autoren und Werke gewesen sind. Besonders interessant ist, dass sogar ein Exkurs zu „Rapallo“ als Teil der Literatur zu nationalrevolutionären Bewegungen (National-Bolschewismus) erfolgt. Walther Rathenau, obwohl sicher kein Vertreter der KR, wurde aber oft gerade wegen der mit dem Rapallo-Vertrag verknüpften Sonderbeziehung zu Sowjet-Russland rezipiert, vgl. Mohler/Weissmann, S. 294f.
43) Zum Hergang des Falls von Franco A. und die gegen ihn eingeleiteten Terrorermittlungen: https://de.wikipedia.org/wiki/Terrorermittlungen_gegen_Bundeswehrsoldaten_ab_2017
Zum Urteil des OLG Frankfurt/M. aus dem Juli 2022:
44) So sollen auch Paul v. Hindenburg und Erich Ludendorff, ebenfalls Absolventen der preußischen Kadettenanstalt, wegen schlechter schulischer Leistungen beinahe durchgefallen sein (der eine in Latein, der andere in Mathe); nur aufgrund guter soldatischer Tugenden wurden sie zur Offizierslaufbahn zugelassen: weitere Entwicklung und Resultate sind bekannt.
45) Eine solche mentale Einstellung kann natürlich auch schnell zu Auswüchsen und Sinnlosigkeiten führen; prägnantes Beispiel: im Herbst 1914 wurde diese internalisierte Todesbereitschaft an der „Westfront“ (besonders in der sog. Marneschlacht) stark übertrieben. Die danach einsetzende Verherrlichung der gefallenen Soldaten ist dann natürlich auf einen dankbaren Nährboden nationalistischer Kreise gefallen. Dieser besondere Mythos wurde dann auch auf die Freikorps übertragen und ist sogar noch bei den Rathenau-Attentätern nachweisbar: lieber den Heldentod (zur Not auch durch die eigene Hand, wie Hermann Fischer auf der Burg Saaleck) sterben, als sich gefangen nehmen zu lassen.
Literatur
Hecker, Gerhard: Walther Rathenau und sein Verhältnis zu Militär und Krieg, Boppard a. Rhein 1983. (Militärgeschichtliche Studien, Bd. 30, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Verbindung mit dem Historischen Seminar der Universität Freiburg)
Hentzschel-Fröhlings, Jörg: Walther Rathenau als Politiker der Weimarer Republik, Husum 2007. (Zugleich Universität Wuppertal, Dissertation 2005)
Mohler, Armin /Weissmann, Karlheinz: Die konservative Revolution in Deutschland 1918 – 1932. Ein Handbuch, 6. Aufl., Graz 2005.
Niekisch, Ernst: Erinnerungen eines deutschen Revolutionärs. Erster Band: Gewagtes Leben 1889 – 1945, Köln 1974.
Pittwald, Michael: Ernst Niekisch: Völkischer Sozialismus, nationale Revolution, deutsches Endimperium, Köln 2002. (Zugleich Universität Osnabrück, Dissertation 2000)
Salomon, Ernst von: Der Fragebogen, 17. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2003 (Taschenbuch).
Schieder, Theodor: Die Probleme des Rapallo-Vertrags. Eine Studie über die deutsch- russischen Beziehungen 1922 – 1926, Köln u. Opladen 1956.