Der Vater der Sowjetunion: Lenin
Vladimir Il’ič Ul’janov, Kampfname Lenin, was so viel bedeutet wie „von Lena stammend“, was sich entweder auf den gleichnamigen sibirischen Fluss bezieht und die Opposition zum Zarentum ausdrücken sollte, weil nur dessen Gegner in die eisige Einöde geschickt wurden und man es unter Oppositionellen als eine Art Ritterschlag betrachtete, wenn man nach Sibirien verbannt wurde, oder eine Huldigung seines Kindermädchens Lena war. Kaum eine historische Figur polarisiert so sehr wie Lenin. Während Karl Marx (1818 – 1883) auch bei Anti-Kommunisten gemeinhin zumindest als großer Philosoph und Humanist Anerkennung findet und Stalin (1878 -1953) selbst für viele Linke die Verkörperung des Bösen ist, gehen bei Lenin die Meinungen weit auseinander: Ein großer Revolutionär und Freiheitskämpfer, jemand, der die Theorie in die Praxis umsetzte, ist er für die einen, ein Verbrecher, der Marx‘ Ideale pervertierte und für den Tod von Abertausenden verantwortlich ist, für die anderen. Also, wer war Wladimir Iljitsch Lenin?
Wladimir Iljitsch Uljanow erblickte am 22. April 1870 in Simbirsk das Licht der Welt und wurde dabei in eine durchaus gut situierte Familie geboren. Sein Vater war ein in den Adelsstand aufgestiegener Schulinspekteur, seine Mutter Tochter eines Gutsbesitzers. Schon während seiner Schulzeit am Gymnasium von Simbirsk beschäftigte der junge Wladimir Uljanow sich mit den Schriften von Karl Marx. Doch der wirkliche Auslöser für sein Engagement in der revolutionären Bewegung ist ein anderes einschneidendes Erlebnis:
Sein älterer Bruder Aleksandr Il’ič Ul’janov (1866 – 1887; eingedeutscht: Alexander Iljitsch Uljanow) war Mitglied des gewaltbereiten Flügels der Narodniki (= „Volksfreunde“), einer sozialrevolutionären Bewegung im Zarenreich. Alexander war im Rahmen seiner Mitgliedschaft an der Planung eines Attentats auf Zar Alexander III. (1845 – 1894) beteiligt, nachdem zuvor schon ein Attentat auf dessen Vater Zar Alexander II. (1818 – 1881) geglückt war. Doch konnte der Plan vereitelt werden. Alexander Uljanow und seine Mitverschwörer wurden verhaftet, vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Kurz bevor er in der Festung Schlüsselburg gehängt wurde, übersetzte Alexander Uljanow Karl Marx’ „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“. Sein jüngerer Bruder, der zu dieser Zeit gerade Abitur machte, erfuhr erst nach der Hinrichtung von alledem, las aber umgehend die angefertigte Übersetzung.
Nach dem Abitur studierte Wladimir Uljanow in Samara Jura und arbeitete dort auch nach dem Abschluss zwei Jahre als Rechtsanwalt. 1893 zog Uljanow nach Sankt Petersburg und arbeitete auch dort als Anwalt, nahm aber auch Kontakt zu revolutionären Kräften auf, primär zu führenden Sozialdemokraten. 1895 gründete Uljanow mit dem aus Konstantinopel (heute Istanbul) stammenden Juden Julij Martow (1873 – 1923; geboren als Julius Zederbaum) den „Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse“, Vorläufer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR).
1895 wurde Uljanow wegen seiner politischen Tätigkeit zu zwei Jahren Gefängnis und drei Jahren Verbannung nach Sibirien verurteilt. 1900 ging er in Exil nach Westeuropa und benutzte erstmals den Kampf- und Decknamen Lenin und veröffentlichte unter diesem Pseudonym die Zeitschriften „Tschto delat?“ („Was tun?“) und „Iskra“ („Der Funke“), in denen er unter anderem sein Konzept einer revolutionären Kaderpartei beschrieb und begründete, warum Bildungsbürgertum und Proletariat in den sozialistischen Parteien zusammenarbeiten sollten.
Im Jahre 1903 fand in London der zweite Parteikongress der SDAPR statt und Lenin setzte sein Parteikonzept durch, was zur Spaltung der Partei in Lenins radikale Bolschewiki („Mehrheit“) und Martows gemäßigte Menschewiki („Minderheit“) führte. Ironischerweise sollte Martow die Bolschewiki nach der Revolution als „Diktatur einer Minderheit“ bezeichnen und ins Exil gehen.
1905 befand Lenin sich noch selbst im Exil, als es in seiner Heimat vermehrt zu Protesten und Streiks kam. Lenin sah seine Zeit gekommen und kehrte heim, jedoch nur kurz. Nach der Niederschlagung der revolutionären Bewegung ging er 1907 erneut ins Exil, diesmal nach Finnland. Er war bei dieser Revolution aber wohl auch nicht mit vollem Eifer bei der Sache, kämpfte er doch noch gegen Gegner in den eigenen Reihen, die Menschewiki, und sympathisierte mit Japan, mit dem das Zarenreich sich im Krieg befand. Auch in späteren Konflikten sollte Lenin für die Feinde des zaristischen Russlands Partei ergreifen. Die Abspaltung der Bolschewiki von den Menschewiki gelang ihm jedoch erst 1912. Die Partei sollte aber bis 1918 noch als sozialdemokratische Partei SDAPR Bolschewiki laufen, ehe sie dann in die Kommunistische Partei Russlands (B) umbenannt wurde. 1912 erschien auch zum ersten Mal die Zeitschrift „Prawda“ („Wahrheit“). Ferner berief Lenin Josef Stalin ins Zentralkomitee.
1914 brach dann der Erste Weltkrieg aus. Lenin befand sich zu jener Zeit in der Schweiz im Exil und widmete sich einmal mehr der Studie der Schriften von Karl Marx. Auch verfasst er in diesen Jahren seine Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“. Bei Konferenzen sozialistischer Gruppierungen forderte er, dass man den Krieg nutzen solle, um daraus einen Bürgerkrieg, eine Revolution zu formen. Durchsetzen konnte er sich damit nicht, dennoch kam der Krieg ihm zugute:
1917 kam es in Russland zur Februarrevolution durch bürgerliche Kräfte. Zeitgleich suchte das Deutsche Reich nach einer Möglichkeit, den Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und das Vereinigte Königreich im Westen und Russland im Osten zu beenden. So schleuste man Lenin im April von der Schweiz mit dem Zug durch Deutschland zurück in die Heimat und unterstützte seine revolutionäre Tätigkeit zudem finanziell. Lenin formulierte die Aprilthesen, in denen er umgehenden Kriegsaustritt, eine Landreform und eine Räteregierung statt der bürgerlichen Übergangsregierung forderte, doch Lenins Versuch, die Übergangsregierung, die am Krieg Russlands festhielt, zu beseitigen, scheiterte zunächst. Der Juliaufstand wurde zurückgeschlagen, und Lenin floh erneut nach Finnland. Doch dann gelang der von Leo D. Trotzki (1879-1940) angeführten Oktoberrevolution die Machtübernahme durch die Bolschewiki und die Einführung der Räterepublik – wegen des in Russland verwendeten Julianischen Kalenders fällt die Revolution in Russland in den Oktober, in anderen Teilen der Welt, die den Gregorianischen Kalender nutzen, in den November.
1918 begann Lenin dann ganz offen oppositionelle Gruppen einschließlich anderer linker Gruppierungen wie den Menschewiki zu verfolgen und eine Diktatur unter Führung der Bolschewiki als Kaderpartei zu etablieren. Gegenüber dem Deutschen Reich löste er seine „Schuld“ entgegen innerparteilicher Widerstände ein und schloss den Friedensvertrag von Brest-Litowsk. Im August 1918 wurde er bei einem Attentat verübt von Fanny Kaplan (1890 – 1918), eine Anarchistin und Sozialrevolutionärin, in deren Augen Lenin die Revolution verraten hatte, schwer verwundet.
Die Festigung der Macht gipfelte in einem Bürgerkrieg, in dem Lenin von der neugegründeten Geheimpolizei Tscheka und dem Militär Gebrauch machte, um konterrevolutionäre Kräfte und andere revolutionäre Strömungen als die Bolschewiki zu bekämpfen. Als die Proteste wegen wirtschaftlicher Notstände anhielten, rief Lenin jedoch eine neue Wirtschaftspolitik aus.
Der Regierungschef Lenin war jedoch angezählt, nicht nur das Attentat hatte ihm schwer zugesetzt; 1922, als der Bürgerkrieg geendet hatte, erlitt Lenin zwei Schlaganfälle. Er musste sich mit seinem politischen Vermächtnis auseinandersetzen, wobei er die Partei vor internen Machtkämpfen um seine Nachfolge und ganz im Besonderen vor Stalins Machthunger warnte. 1923 versuchte Lenin, nachdem er wegen eines dritten Schlaganfalls praktisch regierungsunfähig war, den de facto regierenden Stalin zu entmachten, scheiterte aber. Am 21. Januar 1924 erlag Lenin dann seinem schweren Hirnleiden. Sein Körper wurde entgegen seines ausdrücklichen Wunsches, man möge keinen Personenkult um ihn betreiben, einbalsamiert und wird bis heute in einem Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau öffentlich aufgebahrt.
Literatur und Links
Victor Sebestyen: „Lenin – Ein Leben“, Rowohlt Berlin, Berlin 2017.
Dmitri Wolkogonow: „Lenin – Utopie und Terror“, Econ, Düsseldorf u. a. 1994.
Michael Brie: „Lenin neu entdecken – Das hellblaue Bändchen zur Dialektik der Revolution & Metaphysik der Herrschaft“, Hamburg 2017.
GEO-Artikel zur Oktoberrevolution.