Rechtsanwalt Hans Litten: Strafverteidiger und politischer Aktivist während der Weimarer Republik in Recht und Wirtschaft (OSZ). Aktuell bekannt aus der Serie „Babylon Berlin“.
Im folgenden soll mit Hans Litten ein streitbarer Jurist und politisch unbequemer Zeitgenosse der Weimarer Republik vorgestellt werden. Er war als Rechtsanwalt, besonders oft als Strafverteidiger tätig – dabei ein Gegner des seit Ende der 1920er Jahre vor allem in Berlin aufkommenden Nationalsozialismus und hatte sich den Ruf eines Anwalts des Proletariats erworben. Besonders seine Leidenschaft als juristischer Beistand für sozial eher benachteiligte Personen und seine Unnachgiebigkeit in der Sache machten Hans Litten zu einem gefährlichen Gegner der Nationalsozialisten und auch für Adolf Hitler persönlich. Obwohl eigentlich nur ein „kleiner Anwalt“, wurde er bereits unmittelbar nach der Machtübernahme Hitlers vom NS-Regime verfolgt, verhaftet und „kaltgestellt“.
Dem Fernsehpublikum könnte Hans Litten als eine Nebenfigur in der TV-Serie „Babylon Berlin“ bekannt sein, wo er als Strafverteidiger die Angeklagte im Prozess um die Ermordung eines Regierungsrates vertreten hat; trotz aufopferungsvollen Einsatzes für seine Mandantin konnte er die Vollstreckung der Todesstrafe nicht verhindern (gleichsam als Menetekel oder Parallele zum späteren Untergang der Republik).
I) Die Stellung eines Rechtsanwaltes zur Zeit der Weimarer Republik
Bevor auf die Persönlichkeit Littens eingegangen wird, kurz einige sachbezogene Hinweise: Die Weimarer Republik war, trotz zahlreicher Fehler im politischen Bereich bzw. Unzulänglichkeiten im Verfassungsrecht, ein Rechtsstaat. (1)
Neben der Gesetzgebung und der Verwaltung gibt es nach diesem Modell noch eine dritte Institution (oder auch „Gewalt“), die als Rechtsprechung/Judikative organisiert wird. Die klassische Ausprägung der Vorstellung von der Gewaltentrennung möchte dieser Judikative eine bestimmte, eine kontrollierende Funktion zuweisen, wenigstens in Form des sog. Instanzenzugs (also die Möglichkeit, gegen eine bestimmte Entscheidung Rechtsbehelf bzw. Rechtsmittel einzulegen, so dass z.B. ein Urteil von einer höheren Instanz noch einmal überprüft werden kann).
Um diesen funktionellen Zweck erfüllen zu können, sind Gerichtsverfahren in „modernen“ Staaten stark formalisiert (und drohen aktuell immer stärker „digitalisiert“ zu werden). Dazu gehört, dass den an einem Prozess beteiligten Parteien bestimmte „Rollen“ zugewiesen werden: In einem Strafprozess hat z.B. der Staatsanwalt bestimmte Verfahrensschritte einzuhalten, genauso muss der Strafrichter (oder das Kollegium) vorgeschriebene prozessuale Grundsätze beachten, bevor ein formal korrektes Urteil gesprochen werden kann. Die wichtigste Person für einen Angeklagten im Strafprozess ist aber im Regelfall der Strafverteidiger.
Denn insbesondere in politisch relevanten/motivierten Strafsachen braucht kein Angeklagter mit Wohlwollen bzw. Unterstützung seitens der Vertreter staatlicher Gewalt zu rechnen. (2)
Weiterhin muss betont werden, dass traditionell die Rolle bzw. Stellung des Anwalts (noch mehr des Strafverteidigers) im Gefüge der „klassischen“ Gewaltentrennung eher stiefmütterlich zu nennen ist. Im Gegensatz zu anderen „Rechtskulturen“ (z.B. im angelsächsischen Raum) wurde gerade die Funktion des Strafverteidigers in Deutschland unbedeutender angesehen als die der staatlichen Stellen (Staatsanwälte und Richter). Historischer Hintergrund seit dem frühen 18. Jahrhundert ist, dass im Selbstverständnis des sog. „aufgeklärten Absolutismus“ der Monarch und damit auch abgeleitet seine Beamten und Staatsdiener über ausreichend „Urteilskraft“ verfügten, um unverfälscht und objektiv Recht zu sprechen. (3) In dieser Theorie war daher eigentlich keine weitere Aufgabenwahrnehmung durch Dritte, z.B. Rechtsanwälte, vorgesehen bzw. auch nicht notwendig, zumindest wenn die Gerichte über genug „Sachkunde“ verfügten. Da man aber auch im preußischen Idealstaat in der Praxis nicht ohne Rechtsbeistände auskommen konnte (und später im Deutschen Reich wegen der notwendigen Rechtsvereinheitlichung noch viel weniger), musste man wohl oder übel die Tätigkeit der freien Advokaten anerkennen und dulden bzw. zulassen. (4)
Aber insgeheim blieb den „Staatsabsolutisten“ (und den Anhängern totalitärer Systeme erst Recht) die Berufsgruppe der Anwälte ein Dorn im Auge; die Einschränkung der Rechte des Strafverteidigers in den 1970er Jahren spricht Bände (auch wenn manche der RAF-Anwälte ob ihrer „Selbstverliebtheit“ mit dran Schuld waren) und die Vorbehalte einiger Exekutivorgane gegen Bestimmungen zum Schutz der Berufsgruppe der Strafverteidiger (z.B. in der Strafprozessordnung) halten bis heute an bzw. nehmen sogar wieder zu: besonders südöstlich der Mainlinie ab Unterfranken.
Wie heute immer noch, so waren auch zur Zeit der Weimarer Republik engagierte und kompetente Rechtsanwälte für die Bürger notwendig, um eigene Rechte wahrnehmen oder sich gegen rechtliche Nachteile wehren zu können; daher war auch der Strafverteidiger Hans Litten so wichtig für seine Mandanten.
II) Zur Person Hans Littens
Am 19. Juni 1903 wird Hans Joachim Albert Litten in Halle (Saale) in eine jüdische, deutsch-national gesinnte Familie geboren. Kurz nach seiner Geburt zieht die Familie nach Königsberg, wo sein Vater Professor und zeitweilig auch Dekan an der Juristischen Fakultät der Universität Königsberg ist. Hans Litten wird christlich erzogen, wendet sich aber als Jugendlicher dem Judentum zu. Auf Wunsch seines Vaters studiert er nicht Kunstgeschichte und Literatur, sondern Jura in Königsberg, München und Berlin. Litten schreibt dennoch unabhängig vom Studium Aufsätze über Kunst und Literatur. 1928 läßt er sich als Rechtsanwalt am Berliner Kammergericht nieder, verteidigt dabei zahlreiche Arbeiter, die in Konflikte mit der Berliner Polizei und auch mit den Nationalsozialisten geraten sind. 1931 gelingt es Hans Litten, Adolf Hitler vor ein Berliner Gericht zu laden und ihn mit seinen Fragen bloß zu stellen (Edenpalast-Prozess siehe weiter unten).
Am 28. Februar 1933, noch in der Nacht des Reichstagsbrandes, wird Hans Litten zusammen mit zahlreichen anderen prominenten Oppositionellen wie Erich Mühsam und Carl von Ossietzky in „Schutzhaft“ genommen. Eine formale Anklage wird gegen ihn aber niemals erhoben. Im August 1937 Überstellung in das KZ Buchen-wald, im Oktober 1937 nach Dachau. Alle Bemühungen um seine Entlassung scheitern. Am 5. Februar 1938 finden Mithäftlinge Hans Litten erhängt in der Latrine des KZ Dachau. (5)
III) Zum Wirken des Rechtsanwalts Hans Litten
Wie bereits eingangs erwähnt, galt Litten als „Anwalt des Proletariats“ (der kleinen Leute), so dass er fast automatisch auch mit dem sozialistischen Milieu vertraut war. Doch hat diese tagtägliche Berührung mit „dem Bodensatz der Gesellschaft“ nicht dazu geführt, dass seine Einstellung zur Tätigkeit als Rechtsanwalt negativ berührt worden wäre; denn im Regelfall galten (und gelten auch heute noch) Juristen allgemein zu den Stützen (oder auch zu den Leistungsträgern) von Staat und Gesellschaft – im Gegenteil: obwohl Litten sehr kritisch zu den staatstragenden Schichten der Weimarer Republik stand, war seine juristische Profession über jeden Zweifel erhaben.
In einer Zusammenfassung wird über Littens Tätigkeit folgendes festgehalten:
„Der Rechtsanwalt Litten trat in den politischen Prozessen entweder als Verteidiger auf – wenn Kommunisten angeklagt waren; oder als Vertreter der Geschädigten, das heißt der Verwundeten oder der Witwen und Waisen von Getöteten – wenn Nationalsozialisten auf der Anklagebank saßen. Das letztere war eine besonders wichtige Aufgabe, aus einem Grunde, der wieder mit der politischen Situation zusammenhing. Wie ich schon gesagt habe, begannen auch die beamteten Juristen in Moabit dem Druck von rechts zu weichen. Woran man ja sonst überall im Reich während der ganzen republikanischen Zeit gewöhnt war, das trat auch hier ein: man konnte sich nicht mehr darauf verlassen, daß das Recht ohne Rücksicht auf die Partei angewendet wurde. Waren Linke angeklagt, so war Verfolgung unnachsichtlich; sollten sich aber Nationalsozialisten verantworten, so schien die Untersuchung nicht immer lückenlos, manchmal war es, als ob die Staatsanwaltschaft mehr im Interesse der Täter handle als der von der Tat Getroffenen, als ob sie mit der Verteidigung im Bunde sei. Unerklärlich war das schließlich nicht; die Beamten dachten an ihre Zukunft, und die Zukunft gehörten offenbar irgendeiner Art der nationalistischen Reaktion, vielleicht sogar den Nazi selbst. Litten hatte Erfolg. Der heilige Eifer, den er der Sache widmete, der unermüdliche Ernst, mit dem er sich seiner Aufgabe unterzog, die Ausschließlichkeit, mit der er Zeit und Arbeitskraft opferte – so außerordentliche Anstrengungen machten sich bezahlt. Nicht allerdings im materiellen Sinn; meist verdiente er kaum genug, um sein Büro laufend zu erhalten. Aber juristisch für die Wahrheitsfindung lohnte der Eifer sich.“ (6)
Litten wurde also von befreundeten Kollegen anerkennend, und von gegnerischen Parteien (in Strafsachen ist das regelmäßig der Staatsanwalt) eher zähneknirschend bescheinigt, dass er sich auf jeden einzelnen Prozess akribisch vorbereitet habe. Auch sein Auftreten vor Gericht bei Zeugenbefragungen etc. war akkurat und ließ es auch an der gebotenen sachlichen Höflichkeit nicht fehlen; er war keiner der typischen Effekthascher, die in selbstverliebter Manier vor Gericht eine öffentlichkeitswirksame Anwalts-Show veranstalten.
Wenn er außerhalb des Gerichtssaals vor größeren Versammlungen von Arbeitern o.ä. sprach, konnte es zwar schon vorkommen, dass er öffentliche Diskussionen vorantrieb, um das Vorgehen der Nazis zu thematisieren oder auch anzuprangern, aber ihm ging es dabei regelmäßig um den Gewinn neuer Erkenntnisse. Solche konnte er dann in seine Prozessstrategie (z.B. bei konkreten Beweisanträgen) einbauen, was von eher konservativen Berufskollegen missbilligt wurde (aber keinen Verstoß gegen das anwaltliche Berufsrecht darstellte, obwohl Litten unter einer Art „Beobachtung“ stand).
Und in der Sache selbst konnte der Strafverteidiger Hans Litten nicht nur durch juristische Sachkunde, sondern vor allem durch Hartnäckigkeit bei Befragungen und geistige Flexibilität, um z.B. Widersprüche aufzudecken, glänzen; „berufliche Kompetenzen“, die vielen Staatsanwälten, aber auch Richtern fehlten – bzw. außer Acht gelassen wurden, um z.B. politische Vorgaben umzusetzen.
Wohlgemerkt: bereits vor dem 30. Januar 1933 gab es bei den Juristen im Staatsdienst (in der Justiz und im höheren Verwaltungsdienst, also ab Regierungsrat aufwärts) eine ausgeprägte Neigung, die Staatsräson (oder das, was dafür ausgegeben wurde) kompromisslos durchzusetzen. Dies begann bereits zum Jahreswechsel 1918/19, als erste Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit dem Umsturz Anfang November 1918 verhandelt wurden; ging über die Unruhen im Januar und Frühjahr 1919 weiter und gipfelte in den Strafverfahren nach Niederschlagung der „Münchner Räterepublik“ gegen die überlebenden Beteiligten (viele waren ja standrechtlich erschossen worden, ohne dass diese „Kriegsmaßnahmen“ je umfassend untersucht worden wären, obwohl gerade in München die Freikorps Anfang Mai 1919 wie die sprichwörtlichen Berserker bzw. Vandalen gewütet hatten). Spätestens zu dieser Zeit (auf jeden Fall im Zusammenhang mit der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg) wurde bei Hans Litten ein politisches Bewusstsein geweckt, das ihn sein ganzes (leider viel zu kurzes) Berufsleben begleiten sollte.
Es war ja auch kein Zufall, dass die Urteile in politischen Strafsachen völlig unterschiedlich ausfielen, je nachdem, ob „linke“ Arbeiter/innen (vor allem aus dem Milieu der Unabhängigen-SPD oder gar KPD bzw. Spartakus) oder „rechte“ Militärs (egal ob reguläre Armee-Einheiten oder aus einem der zahlreichen Freikorps) angeklagt wurden. Die teils erschreckenden Zahlen hat Emil J. Gumbel in Fleißarbeit gesammelt und in Eigenregie veröffentlicht (mehr als moralische Unterstützung vom damaligen Reichsjustizminister Radbruch durfte der Autor nicht erwarten). Laut Gumbels Recherchen wurden wohl bis zu 300 als politisch motivierte Tötungen zum Nachteil linker Arbeiter bzw. sozialistischer Politiker und Politikerinnen von der deutschen Justiz einfach ignoriert oder, sofern doch Strafverfahren eingeleitet wurden, mit einer teils lächerlichen Milde sanktioniert. (7)
Soweit zu den harten Fakten im Alltag der Justiz während der Weimarer Republik – sowohl zu Beginn (1919) als auch kurz vor dem Ende der kurzen demokratischen Phase (1930/33) ist deutlich zu erkennen, wie die Rechtsordnung von den herrschenden wirtschaftlichen Verhältnissen und dem sich endgültig durchsetzenden Wirtschaftssystem dominiert wurde (das entscheidende Stichwort lautet: „Klassenjustiz“); ein an sich liberal konzipierter Verfassungsstaat geriet unter die Herrschaft bzw. den Machtanspruch eines ökonomischen Systems, das entscheidenden Einfluss auf die staatlichen Eliten ausübte. Störfaktoren wurden entweder verfolgt oder auch damals schon in Einzelfällen ausgemerzt – eine Blaupause, die nach 1933 noch sehr viel stärker zur Geltung kommen sollte. (8)
Auch wenn Litten kein formales KPD-Mitglied war, hatte er doch eine deutliche Positionierung und klare Haltung zur „sozialen Frage“, insbesondere wenn es um negative Auswirkungen der damaligen Rechtsordnung für Angehörige der „Arbeiterklasse“ ging:
„Der Satz von Karl Marx, daß das Recht ein Überbau der sozialen Gegebenheiten sei, erweist seine Richtigkeit besonders in Zeiten verschärfter Klassengegensätze. In solchen Zeiten ändern sich die gesellschaftlichen Grundlagen so schnell, daß die Gesetzgebungsmaschine mit der Entwicklung nicht immer Schritt hält. An einem Prozeß, der monatelang dauert, kann man in solchen Zeiten besonders deutlich beobachten, wie die Verhandlungsweise sich der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung anpaßt.“ (9)
Litten hatte sich zwar den „Ruf“ eines „Anwalts des Proletariats“ erworben, war aber kein unselbständiges Werkzeug der kommunistischen Partei und ihrer Rechtsschutzorganisation, der „Roten Hilfe“. (10) Daher hatte er schon die nötige Unabhängigkeit, frei zu entscheiden, welche Mandate er übernehmen wollte oder auch rein zeitlich bedingt übernehmen konnte (um dem jeweiligen Fall die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen) und welche Prozessstrategie er verwendete. Der Strafverteidiger Litten galt als Verfechter der sog. Konfliktverteidigung, sofern nötig. Diese beinhaltet im Gegensatz zu einer konzilianten Strategie der Verständigung mit Gericht und Staatsanwalt, dass der Verteidiger auch eine härtere Befragung von (Belastungs-)Zeugen durchführt oder – je nach Anlass – auch die Ermittlungsbehörden einschließlich Gericht als Gegner betrachtet. (11)
Zu den bekanntesten Strafverfahren, in denen Litten als Verteidiger aufgetreten war, zählen der, welcher im Nachgang zu den (verbotenen) Protesten vom 1. Mai 1929 stattgefunden hatte und der sog. Edenpalast-Prozess von 1931 (in der ebenfalls bekannten Strafsache „Felsenecke“ / “Fritz Klemke“ wurde er vom Gericht als Verteidiger und auch Nebenklägervertreter ausgeschlossen). Allerdings gab es damals eine ganze Serie von politischen Verfahren, in denen Litten als Anwalt aufgetreten war. Daher sind die folgenden zwei lediglich ganz besondere „Höhepunkte“:
1) Der Prozess wegen der verbotenen Ersten-Mai-Demonstration („Blutmai“ 1929) war nicht nur wegen der hohen Zahl ermordeter Teilnehmer (man kann durchaus von Aktivisten/innen sprechen) aus dem linken Arbeitermilieu (besonders KPD-Anhänger) medienwirksam, sondern auch, weil Litten gegen den damals verantwortlichen Berliner Polizeipräsidenten Zörgiebel eine Strafanzeige erstattet hatte (und zwar wegen Anstiftung zum Mord – gewiss keine Kleinigkeit). Um dem obersten Polizeichef der Reichshauptstadt die Peinlichkeit einer Vernehmung zu ersparen, wurde gegen ihn keine Anklage erhoben bzw. in einem Folgeprozess die von Litten behauptete Tatsache als gerichtsbekannt unterstellt, so dass keine Beweisaufnahme hierzu erfolgen musste. (12)
Warum der Prozess zum „Blutmai“ so hohe Wellen schlug, war klar: Zörgiebel war formal SPD-Mitglied (auch wenn sich August Bebel und Wilhelm Liebknecht sicher im Grab umdrehten) und erteilte einen kaum misszuverstehenden „Schießbefehl“ wohlwissend, dass die Arbeiter ihr Demonstrationsrecht gerade am Tag der Arbeit würden wahrnehmen wollen und nicht kampflos verzichteten, wodurch ein Blutbad gleichsam vorprogrammiert war. Die gleiche Dummheit wie ein Jahrzehnt zuvor bei Gustav Noske; wenn einem hohen SPD-Mann das Blut der Arbeiter an den Händen klebt, freut sich die Reaktion.
2) Der zweite, noch weitaus geschichtsträchtigere Strafprozess, in dem Litten als Nebenklagevertreter mehrerer verletzter Arbeiter auftrat, war der Prozess wegen des Überfalls auf das Tanzlokal „Eden“; dieser Vorfall steht im Zusammenhang mit einer Reihe ähnlicher gewaltsamer Auseinandersetzungen im Berlin der Jahre 1930/32. Täter bzw. Tatverdächtige waren stets Nazis (insbesondere SA-Männer, da der Berliner Gauleiter J. Goebbels bekanntlich ein besonders scharfer Hund war), die den „Kampf um die Straße“ immer mehr beherrschten.
Im November 1930 hatte z.B. gleich ein ganzes SA-Kommando besagtes Tanzlokal, das bei Arbeitern beliebt gewesen ist, überfallen, um ordentlich draufzuschlagen (wobei auch mindestens eine Schusswaffe zum Einsatz gekommen ist). Jetzt waren natürlich nicht nur die Berliner SA-Führung, sondern auch die gesamte NSDAP sehr darum be-müht, diesen Überfall, der ja nicht vertuscht werden konnte, insofern herunterzuspielen, als man diese Attacke als eine Spontanaktion einzelner Braunhemden hinstellte. Das eigentliche Problem war die beim Überfall eingesetzte Schusswaffe, da damit offensichtlich gegen das Waffenverbot verstoßen worden war. In diesem Punkt versuchte die Verteidigung der angeklagten SA-Männer auf Notwehr zu argumentieren, was allerdings nur eine fade Schutzbehauptung darstellte, die nicht plausibel nachgewiesen werden konnte.
Um das durchaus relevante Beweisthema, ob zum damaligen Zeitpunkt innerhalb der NSDAP ein striktes Waffenverbot bestand, in der Hauptverhandlung erörtern zu können, hatte Litten den raffinierten Einfall, Adolf Hitler (als Parteiangestellten) und Walther Stennes (seinerzeit hoher SA-Führer in Berlin) als Zeugen vernehmen zu lassen, ob wissentlich gegen das Waffenverbot verstoßen wurde. Die Vernehmung Hitlers fand dann auch tatsächlich Anfang Mai 1931 statt. Das Pikante an dem besagten Beweisthema war nämlich einerseits, dass Adolf Hitler Ende September 1930 im sog. Ulmer Reichswehrprozess einen formellen „Legalitätseid“ abgelegt hatte, wonach ausschließlich mit legalen Mitteln nach der Macht gestrebt werden sollte (dies schloss denknotwendig den Besitz und Einsatz von Schusswaffen aus). Andererseits gehörte Hauptmann Stennes zu den innerparteilichen Widersachern Hitlers, wodurch auf jeden Fall eine Konfliktsituation entstanden war.
Die Zeugenvernehmung Hitlers wird als der eigentliche Höhepunkt in dem gesamten „Edenpalast-Prozess“ betrachtet, da es Litten gelang, den „Führer“ in die Enge zu treiben. Littens Ziel bei dessen Vernehmung war es, zu beweisen, dass Hitler als Chef der NSDAP vom Terror der SA wusste und die Gewalt billigte, dass also die gebetsmühlenhaften Reden von der „Legalität“ bloße taktische Lippenbekenntnisse waren:
„Am 8. Mai 1931, um 9 Uhr in der Früh, so meldet es das Sitzungsprotokoll des zwölften Verhandlungstags, meldete sich als geladener Zeuge der „Schriftsteller Adolf Hitler“ – und stand dann vormittags und nachmittags im Zeugenstand. Erst wurde er vom Vorsitzenden des Schwurgerichts, dem Landgerichtsdirektor Kurt Ohnesorge, vernommen und beantwortete die Fragen in der Pose des geübten Redners, theatralisch und mit einem Wortschwall. „Granitfest“, so Hitler, stünde die Partei auf dem Boden der Legalität. Dann kam Litten, gut vorbereitet. Prozessbeobachter beschrieben seinen Vernehmungsstil als im Ton ruhig und angemessen, in der Sache aber hartnäckig. Litten deckte Widerspruch um Widerspruch der Aussagen des Zeugen auf, trieb den Zeugen mit seinen eigenen Aussagen in die Enge.
Hitler geriet in Bedrängnis, verlor seine Selbstsicherheit, wurde nervös, die Staatsmann-Attitüde zerbrach. Litten bohrte nach, Hitler begann mit hochrotem Kopf zu brüllen, führte sich, wie es damals hieß, auf wie eine »hysterische Köchin«.“ (13)
„Litten hatte nicht wenige Zitate aus der nationalsozialistischen Literatur zur Hand – ‚die Gegner zu Brei zerstampfen‘, ‚von der Revolution des Worts zur Revolution der Tat übergehen‘ und anderes mehr –, er vernahm Hitler mit der ihm eigenen beharrlichen Ruhe, machte ihn ein paar Mal wütend und ließ ihn zwei Stunden lang beträchtlich schwitzen. Ob damals irgendjemand im Saal eine Ahnung hatte, dass er sich selbst das Urteil qualvollen Todes gesprochen hatte?“ (14)
Zumindest wird Hitler diese Stunden der ihn quälenden Befragungen niemals vergessen haben; der hierfür verantwortliche Anwalt konnte aber damals nicht ahnen, welche Konsequenzen dies für ihn haben würde. Interessant ist dabei noch, dass Litten eigentlich keine Vereidigung des Zeugen Hitler wollte, die der Staatsanwalt zuvor beantragt hatte; Grund hierfür war wohl, dass er Hitler keine weitere Gelegenheit zur großen Geste des Legalitätseides geben wollte. (15) Denn mit einer entsprechenden Wiederholung seiner Beteuerung, nur mit legalen Mitteln die politische Macht in Deutschland zu „erobern“, dürfte Hitler gerechnet haben; die erneute Möglichkeit, mit großem Pathos coram publico den seriösen Politiker zu präsentieren, wird Hitler überhaupt veranlasst haben, fern von seinem geliebten München in einer (aus seiner Sicht) relativ uninteressanten, zumindest lästigen Strafsache als Zeuge aufzutreten.
Und dann wurde er von einem außerhalb Berlins (zumindest um 1930) ziemlich unbekannten Anwalt derart in die Mangel genommen, ja sogar in die Ecke gedrängt, womit Hitler niemals gerechnet hatte. Dennoch war Hitler nicht völlig unvorbereitet in den Ring getreten, es gelang ihm – zumindest teilweise – die von ihm gleichsam einstudierten Stereotypen abzuspulen: Mit einer Mischung aus patriotischem Pathos und sophistischer Dialektik und mit der vollkommenen Verachtung der Realität, die Hitler eigen war, konnte er sich dann doch größtenteils aus der Affäre ziehen. Litten hatte ihm aber doch gehörig zugesetzt. Es ging nicht so leicht ab wie in Leipzig, wo ihm die Reichsrichter einfach die Stichworte zu einer Propagandarede geliefert hatten (Moabit war nicht Leipzig).
Grundsätzlich wollte Litten mit seinem Vorgehen aufzeigen, dass die von der Berliner SA insgesamt ausgeübte Gewalt ein wichtiger Aspekt des nationalsozialistischen Programms war und auf direkte Befehle Hitlers und seines örtlichen Statthalters Goebbels zurückzuführen gewesen sind. Dieses Aufdecken und Hinweisen auf die größeren Zusammenhänge einzelner Verbrechen sollte auch bei den weiteren Prozessen, die Litten gegen die Nazis führte, eine zentrale Rolle spielen. Aus diesem Grund soll hier an dieser Stelle noch ein kurzer Hinweis auf einen auffälligen zeitlichen Ablauf erfolgen:
Der hinterhältige, feige und brutale Überfall auf das Tanzlokal „Eden“ wurde am 22. November 1930 ausgeführt, knapp sieben Wochen nach dem Ende des Strafverfahrens gegen „Ali“ Höhler u.a. wegen der Tötung zum Nachteil von Horst Wessel. Wie im Artikel zum „Horst-Wessel-Roman“ kurz ausgeführt (16), hatten nicht nur die Berliner Nazi-Führung bzw. die SA-Kumpanen des getöteten Sturmführers den Eindruck, die Justiz habe in der Strafsache gegen die am Überfall auf Horst Wessel beteiligten Angeklagten viel zu milde Urteile gesprochen, sondern auch über die Grenzen von Groß-Berlin hinaus war der politischen Spitze der NSDAP an einem Zeichen gelegen.
Immerhin hatte die Nazi-Partei Mitte September 1930 bei der vorgezogenen Reichstagswahl einen sog. „Erdrutschsieg“ einfahren können. Daher wäre eine prestigeträchtige Aktion wie der Überfall auf das „Eden“ nicht nur eine bewusste Provokation der alten Ordnung (hier in Gestalt der preußischen Landespolizei bzw. -regierung), sondern auch ein psychologisches Symbol der Rache gewesen.
Gerichtsfest nachweisen ließ sich das nur äußerst schwierig; außer einen klassischen Verräter in den eigenen Reihen zu finden, war die durchaus effektivste Methode, den böhmischen Gefreiten als „Parteiangestellten“ im Zeugenstand so lange zu nerven bzw. auch zu reizen, bis dieser die Nerven verlieren würde.
Ganz aufgegangen ist Littens Taktik zwar nicht, aber eine Blamage bzw. gehörige Demütigung war die provokante Vernehmungsmethode des Anwalts Hans Litten für Adolf Hitler allemal – vor allem weil dieser bisher eine geradezu bevorzugte Behandlung vor deutschen Gerichten und Behörden gewohnt gewesen war. (17)
Abschließend soll, der Chronistenpflicht folgend, noch erwähnt werden, dass es auch bekannte Strafprozesse in Berlin (um 1930 herum) gegeben hat, die ohne Hans Litten als Strafverteidiger durchgeführt wurden. Trotz des zu erwartenden Medienrummels war Litten z.B. nicht als Rechtsbeistand für einen der Angeklagten in der Strafsache gegen „Ali“ Höhler u.a. (z.B. auch Else Cohn) in dem Tötungsdelikt zum Nachteil von Horst Wessel tätig.
Dieses – wegen der Schlagzeilen und des von Goebbels aufgebauschten Interesses – schon als politischer Prozess zu charakterisierende Strafverfahren vor dem Berliner Landgericht im September 1930 wäre eigentlich für einen engagierten und auch fachlich versierten Verteidiger wie Litten geradezu ideal gewesen, um z.B. auch das gesamte gesellschaftspolitische Umfeld und den die Straßen Berlins immer stärker beherrschenden Faschismus zu thematisieren. Dennoch wurde „Ali“ Höhler (der Hauptbeschuldigte) vom damaligen liberalen „Staranwalt“ Alfred Apfel als Strafverteidiger vertreten. (18)
Und auch die anderen Mitangeklagten erhielten, über die „Rote Hilfe“ vermittelt, andere Anwälte als Beistand, wie die spätere DDR-Justizministerin Hilde Benjamin – bis auf den liberalen Anwalt Apfel waren alle von der Roten Hilfe für den „Wessel-Prozess“ organisierten Strafverteidiger „linientreue“ KPD-Anhänger; insoweit gab es wohl bei der damaligen KPD-Führung Zweifel an der politischen Zuverlässigkeit Hans Littens, der ja auch durchaus als Freigeist bzw. gar als Anarchist galt. (19)
IV) Die letzten Jahre bis zum Tod im Februar 1938
Auch ohne die Publicity des Wessel-Prozesses konnte Hans Litten nicht über fehlende Mandate und anwaltliche Tätigkeiten klagen; wie die zu seiner Person existierende Literatur zeigt, hatte der Anwalt Litten bis zum Jahreswechsel 1932 auf 1933 viel zu tun – der Mensch Hans Litten kam dabei oft zu kurz. Die innenpolitische Entwicklung (man kann natürlich auch von einer „Zeitenwende“ sprechen) gleich zu Beginn des Jahres 1933 sollte bekanntlich alles ändern und ins Wanken bringen:
„Auch wenn der politische Umschwung anfänglich vermutlich kaum wahrgenommen wurde, so änderte sich dies schlagartig mit dem Reichstagsbrand in der Nacht von 27. auf 28. Februar 1933 und der damit einsetzen-den Verhaftungswelle. Ab diesem Zeitpunkt begannen die Nationalsozialisten, Tausende politischen Gegner zu inhaftieren und zu misshandeln – eines ihrer Opfer sollte Litten werden.“ (20)
Warum z.B. gerade Hans Litten als prominenter Anwalt der Arbeiterklasse (und damit oft auch der KPD) so vehement verfolgt und brutal behandelt werden würde, ist aus folgender „Logik“ zu sehen.
„Der von Gerüchten aufgebrachte Gedanke, dass es sich beim Reichstagsbrand um einen kommunistischen Aufstandsversuch handle, wurde von Hitler und seinem Gefolge bestärkt. Rudolf Diels, damaliger Leiter der Politischen Polizei, berichtete in seinen Erinnerungen, dass Hitler bei der ersten Besprechung nach dem Brand im Zimmer des Reichspräsidenten völlig unbeherrscht gewesen sei, die sofortige Erschießung jedes kommunistischen Funktionärs gefordert habe und auch gegen Sozialdemokraten und Reichsbanner keine Schonung mehr gelten lassen wollte. Auch Göring reagierte ähnlich irrational (…). Bereits hier dürfte der Gedanke auf-getaucht sein, den Ausnahmezustand zu verhängen, um die erfolgten Verhaftungen zahlreicher Kommunisten nachträglich legitimieren zu können. Diese Festnahmen wurden auf Grundlage von noch aus der Weimarer Republik stammenden »Listen über Personen, die bei Eintritt des Ausnahmezustandes sofort festgesetzt werden müssen« durchgeführt, die Göring mit Namen von linken Intellektuellen und Sozialdemokraten ergänzen ließ und unter denen sich auch Littens Name befand.“ (21)
Da Festnahmen, Vorbeuge- und Präventivhaft auch aktuell wieder zum geläufigen Standardrepertoire der Sicherheitsbehörden in Deutschland gehören, noch folgende kurze Anmerkung:
„Die Schutzhaft des nationalsozialistischen Regimes hatte aber nichts mit einer international als rechtmäßig respektierten Haftpraxis zu tun. Vielmehr wurde sie zumindest seit 18. Februar 1933 gegen Antifaschisten verhängt, denen man nicht einmal eine Straftat vorwarf oder eine solche hätte nachweisen können. Weiteres wurde sie von Exekutivorganen befohlen und war jeglicher richterlicher Kontrolle entzogen, wurde fast völlig unbefristet angeordnet, unterlag keiner Rechtsmittel und wurde in Konzentrationslagern, die keiner gerichtlichen Aufsicht unterlagen, unter menschenunwürdigen Bedingungen vollstreckt. Dieses Schicksal traf nun auch Litten.“ (22)
So begann schon sehr früh Littens Tortur durch den NS-Unterdrückungsapparat:
„Dass dieser Inhaftierung ein fünfjähriges Martyrium in verschiedenen Gefängnissen und Konzentrationslagern folgen sollte, konnte zu diesem Zeitpunkt niemand und vor allem Litten selbst ahnen. Er, seine Familie und seine Freunde dachten, dass sich alles schnell klären würde, es wurde ihnen aber bald bewusst, dass die Situation dieses Mal eine andere war: Die Massenverhaftungen führten zu einem rapiden Anstieg der Häftlinge, den man in drei Richtungen kanalisierte: Die Polizei- und Gerichtsgefängnisse sowie Strafvollzugsanstalten wurden oft weit über ihr eigentliches Fassungsvermögen belegt. In vielen Orten entstanden provisorische Haft- und Prügelstätten, in denen Häftlinge von örtlichen SS- und SA-Stürmen gefangen gehalten und oft grausam drangsaliert wurden. (…) Litten wurde einige Tage nach seiner Verhaftung gemeinsam mit anderen Festgenommenen – Ärzten, Juristen, Journalisten – von dem Polizeigefängnis am Alexanderplatz in das Polizeigefängnis in der Spandauer Wilhelmstraße in Berlin gebracht, das als besonders brutal galt. Für die „Prominenten“, zu denen er in den nächsten Jahren in allen Haftorten zählen sollte, gab es hier Einzelzellen und keine Verhöre.“ (23)
Nach dem Knast in Berlin-Spandau wurde Litten in das ehemalige Zuchthaus in Sonnenburg bei Küstrin verlegt, das von den Nazis kurzerhand wieder in Betrieb genommen worden war. Dort waren besonders brutale SA-Männer als Wachleute eingesetzt, was Litten am eigenen Leib zu spüren bekam. Mehr zufällig wurde er dann wieder nach Spandau zurückverlegt (die extrem schnell zu den neuen Machthabern übergelaufene Justiz im Dritten Reich wollte etliche der alten Fälle aus der Zeit des Straßenkampfes um 1930/32 neu aufrollen, wofür auch die damals beteiligten Anwälte instrumentalisiert werden sollten). Es folgten Stationen im Konzentrationslager Brandenburg, im KZ Esterwegen bei Papenburg im Emsland, im KZ Lichtenburg in Prettin an der Elbe, im August 1937 ging es ins KZ Buchenwald:
„Insgesamt blieb Litten nur zwei Monate in Buchenwald. Grund dafür war die inzwischen durchgebrachte Verfügung, dass alle inhaftierten Juden des Deutschen Reiches – zu denen seit dem Erlass der „Nürnberger Gesetze“ auch „Halbjuden“ und „Vierteljuden“ zählten – in einem Konzentrationslager zusammengefasst werden sollten, nämlich in dem seit Mitte 1934 als „Muster“ geführtes KZ Dachau. (…) Litten kam am 16. Oktober 1937 in Dachau an und wurde auf den Block 6, dem sogenannten Judenblock, wo alle jüdischen Häftlinge zusammengefasst wurden, gelegt. (…) Dass Litten in großer Gefahr schwebte, war ihr nämlich mehr als zuvor bei einem Besuch kurz nach dessen Einlieferung in Dachau bewusst geworden, als Irmgard nicht nur sein schlechter Gesundheitszustand, sondern auch die neue Häftlingskleidung mit dem „Judenstern“ auffiel.
(…) Damit war Littens Mithäftlingen im Grunde klar, was passieren würde: In der Nacht von 4. auf 5. Februar 1938 beging er Selbstmord, indem er sich in einer Toilette erhängte und seinem Leiden damit ein Ende setzte. In derselben Nacht entdeckten einige Freunde seinen Leichnam, da sie Litten nicht in seinem Bett vorgefunden und ihn deshalb gesucht hatten. Ein weiterer Häftling, der Arzt Max Nelki, stellte schließlich Tod fest. Offiziell aber wurde erst am nächsten Morgen von dem von der Münchner Justiz hinzugezogenen Arzt Dr. Bernickel der 5. Februar 1938, 0:10 Uhr als Todeszeitpunkt angegeben. Es gab auch eine amtliche Untersuchung, der Littens Mutter, welcher die Todesnachricht von ihrem Sohn 5. Februar durch einen Polizeibeamten mitgeteilt wurde, misstrauisch gegenüberstand.“ (24)
Fast fünf Jahre Martyrium als „Schutzhäftling“ ohne Prozess oder zumindest eine formelle Anklage hatten schließlich ein Ende gefunden; Hans Litten saß während dieser Zeit in sieben Gefängnissen bzw. Konzentrationslagern.
„Zu Littens Todesumstände wurde auch eine Erklärung für die ausländische Presse herausgegeben, da er durch seine Tätigkeit als Anwalt, aber vor allem durch die Bemühungen seiner Mutter nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hatte. Wenige Tage nach Littens Tod fand die Trauerfeier im Münchner Krematorium statt, seine Urne wurde im Kolumbarium, der Urnenhalle des Krematoriums Berlin-Wilmersdorf, und später in einem Gemeinschaftsgrab beigesetzt“. (25)
V) Die Mutter Irmgard Litten und ihr aussichtsloser Kampf
Eine Würdigung von Hans Littens Lebens- und Leidensweg wäre unvollständig, erfolgte nicht ein Wort über seine Mutter Irmgard (26):
„»Keine Löwin wäre imstande, so lange und so ausdauernd um ihr Kind zu kämpfen«, sagte der Schriftsteller Max Fürst über Irmgard Litten. (…) Für Irmgard Litten, die sich bis dahin für eine unpolitische Frau gehalten hat, beginnt ein Jahre dauernder, zäher Kampf mit dem NS-Regime. Der Kampf einer Mutter um ihren Sohn. Vom Tag der Verhaftung an bemüht sich seine Mutter Irmgard, die Lage des Sohnes nach Möglichkeit zu erleichtern. Hans‘ Vater, Fritz Litten, war in Königsberg Rektor der Universität gewesen. Ein konservativer preußischer Beamter mit einflussreichen Freunden in deutschnationalen Kreisen. An diese Leute wendet sich Irmgard Litten jetzt (…). Freisler bemerkte später zu Freunden: »Es wird niemand etwas für Litten erreichen. Hitler lief blaurot im Gesicht an, als er den Namen hörte.« [So eine Mordswut hatte der Diktator auch Jahre später noch auf Litten, Anm. T.F.].
Im Frühling 1938 geht Irmgard Litten in die Schweiz, dann nach Paris. Dort erscheint ihr Erlebnisbericht über den Kampf um Hans zunächst auf Deutsch. Irmgard und der mittlere Sohn Heinz ziehen weiter ins Exil nach London. »Dann hat sie es noch mal auf Englisch geschrieben. ‚A Mother Fights Hitler‘. Zwei Wochen später kam es in den Staaten raus. Unter dem Titel ‚Beyond Tears‘. Mit einem Wahnsinns-Vorwort von der First Lady, Eleanor Roosevelt, die dann geschrieben hat, ‚man kann stolz sein, dass es solche Leute wie Hans Litten und Irmgard Litten gibt‘. Sie war wirklich bekannt«, sagt Patricia Litten [Anm.: Enkeltochter].
Und Irmgard Litten nutzt diese Bekanntheit. Hält in der BBC Ansprachen an die deutsche Nation, appelliert an Frauen, an Mütter in Deutschland, sich dem Krieg zu widersetzen. Und beschäftigt sich 1943 in einer Anthologie deutscher Emigranten aus weiblicher Perspektive mit der Frage, wie die politische Zukunft Deutschlands nach Hitler aussehen könne. (…)
In den letzten Kriegsjahren lebt Irmgard Litten als freie Schriftstellerin und Publizistin in England. Sie kümmert sich um Kriegsgefangene und widerspricht 1945 in ihrer Broschüre »All the Germans – are they really guilty« der Kollektivschuld-These. 1950 muss sie nach Deutschland zurückkehren.
»Die ganze Familie Litten war ja staatenlos. Und sie musste zurück und wollte sich im Süddeutschen niederlassen, wo noch so ein Teil ihrer Familie war. Und da hat ihr die bayrische Regierung alle Ansprüche auf eine Rente, auf eine Pension, auf ein Grundstück, was ihr ursprünglich mal gehört hat, abgesprochen mit der Begründung, sie sei eine Vaterlandsverräterin. Sie war vor dem Nichts, sie war alt, sie war krank, sie war komplett am Ende.« In der Bundesrepublik erscheint Irmgard Littens Buch »Eine Mutter kämpft gegen Hitler« erst viele Jahre später, 1984. In Ostdeutschland ist es dagegen schon 1947 erschienen.“ (27)
Hans Littens Mutter, die nach dem Krieg als „Staatenlose“ (weil von den Nazis ausgebürgert) auch das langjährige Exil in England wieder verlassen musste, in Westdeutschland als „Vaterlandsverräterin“ gebrandmarkt, kam dann die letzten Lebensjahre in Ostdeutschland unter. Ob sie dort aber jemals wirklich angekommen war? Zwar genoss Hans Litten in Ost-Berlin durchaus eine ehrliche Anerkennung, aber das Nachkriegsdeutschland war nicht die Welt von Irmgard Litten; es wundert daher kaum, dass sie keine zwei Wochen nach dem 17. Juni 1953 gestorben ist.
VI) Nachwirken
Dass auch noch heute (wenn auch in bescheidenem Rahmen) der Person Littens gedacht wird, hat mehrere Gründe. Ein ganz profaner ist das Massenmedium Fernsehen, genauer gesagt die erfolgreiche TV-Serie „Babylon Berlin“. (28)
Darüber hinaus gibt es aber auch noch ganz sachliche Gründe: Zum einen existieren gleich mehrere Andenken an Litten, die aus seinem beruflichen Umfeld stammen: Am Berliner Landgericht wurde eine Gedenktafel nebst Büste errichtet; sowohl die Bundesrechtsanwaltskammer als auch der Deutsche Anwaltsverein gedenken seiner Person – ganz speziell hat die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen einen Hans-Litten-Preis gestiftet, da man sich dort besonders der Tradition Littens verpflichtet fühlt.
Zum anderen wurde 2005 in Göttingen das Hans-Litten-Archiv gegründet, das sich insbesondere der Dokumentation zur Geschichte der Solidaritätsorganisationen der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung und der sozialen Bewegungen in Deutschland u.a. widmet und sich vor allem auf das historische Rote-Hilfe-Archiv stützt. (29) Dieser Hinweis ist insofern von politisch-historischer Bedeutung als wegen dieser in der Natur der Sache liegenden Verbindung zwischen dem Litten-Archiv (bzw. dem zugrundeliegenden Trägerverein) und der „Roten Hilfe“ von Sicherheitsbehörden eine extremistische Nähebeziehung konstruiert wurde (oder immer noch wird), die das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) veranlasste, das Litten-Archiv als verfassungs-feindlich einzustufen und im Jahresbericht 2018 zu erfassen. Dieses Politikum ist gleich aus mehreren Gründen erstaunlich: Es waren deutsche „Sicherheitsbehörden“, die durch jahrelanges Wegschauen z.B. den NSU-Terror (temporär) erst ermöglichten oder aber vor lauter „Vertrauenspersonen“ (keine V-Leute im juristischen Sinne) in Reihen der NPD (also bezahlte Spitzel aus dem rechten Milieu) gar nicht mehr wussten, wer dort das Sagen hatte, was zur Einstellung des ersten NPD-Verbotsverfahrens vor knapp 20 Jahren führte.
Es waren „Verfassungsschutz“-Behörden, die zwar viel Geld z.B. in die Observation einer ostdeutschen Punkband gesteckt haben, es aber niemand „anstößig“ fand, wenn ein inzwischen ausgemusterter Präsident des BfV einer (ebenfalls ausrangierten) AfD-Politikerin Tipps für einen reibungslosen Umgang miteinander gegeben hat. Besonders eigenartig ist es aber, wenn 1950 die Mutter Littens von der damaligen Staatsregierung des Freistaats Bayern als „Vaterlandsverräterin“ diffamiert wurde und 2018 der damalige Bundesinnenminister, der qua Funktion Dienstvorgesetzter des BfV ist, derselben Partei (die sich angeblich dem „C“ verschrieben hat) angehört und für seine oft deftigen Äußerungen bekannt gewesen ist: Zufall oder ideologische Kontinuität? Zumindest gehen in der „Ordnungszelle“ Bayern teilweise immer noch die Uhren anders.
Stellt man sich nur für einen kurzen Augenblick vor, Litten hätte die NS-Zeit überlebt und nach 1949 in der alten BRD (vielleicht sogar noch mit Wohnsitz in Bayern) Ansprüche auf Entschädigung gestellt. Freiwillig hätten die zuständigen Ämter (z.B. für Lastenausgleich o. nach dem Bundesversorgungsgesetz etc.) keinen Pfennig bewilligt, so dass der Zug durch die Instanzen hätte folgen müssen. „Letzte“ Instanz in vielen Entschädigungsfällen war damals meist der Bundesgerichtshof (die Verwaltungs- oder auch Sozialgerichtsbarkeit war Anfang der 1950er Jahre noch nicht so ausgeprägt wie heute). Vom BGH in Zivilsachen sind in dieser Zeit die unwürdigsten Entscheidungen getroffen worden, wenn es um die Bewertung von Repressionshandlungen des NS-Unrechtsstaates ging (besonders im 4. Senat), so dass Ansprüche, die Verfolgte des Regimes oder ihre Angehörigen einklagen wollten, schlanker Hand abgelehnt wurden (so oft bei Sinti und Roma, aber auch bei anderen Opfergruppen). Bei Litten hätten die vormals noch braunen Richter beim BGH ein überwiegendes Mitverschulden unterstellen können, weil er es ja gewagt hatte, den Führer zu blamieren (die Dogmatik zu den entsprechenden Vorschriften zum Schadenersatz ist wachsweich; wenn man weiß, wer hierzu die führenden Lehrbücher geschrieben hat, wie z.B. Karl Larenz, wundert dies gar nicht).
VII) Das führt abschließend zu folgendem Resümee
Die Frage, was machte Litten für Hitler gefährlich bzw. warum wurde Litten bereits kurz nach der Machtübernahme der Nazis „aus dem Weg geräumt“, führt unmittelbar zu einer viel grundsätzlicheren Problematik: Hitlers Autorität – genauer gesagt, die Angst vor einem nachhaltigen Autoritätsverlust (mit allen politischen Folgen) – das machte die Gefährlichkeit des „kleinen Anwalts“ für den großen Diktator aus. Auf heutige Verhältnisse bezogen, könnte man Littens Vorgehen und seine Absicht als Versuch der Delegitimierung von „Macht und Gewalt“ bewerten. Hitler musste im Zuge der Vernehmung als Zeuge im Edenpalast- Prozess seine Demaskierung befürchten. Dabei waren nicht bloß die zwei oder drei Stunden im Zeugenstand als lästige Pflichtübung zu sehen: Ging es bei der impertinent wirkenden, provokativen Befragung Hitlers durch den Anwalt Litten nicht vielleicht um es etwas ganz anderes, politisch viel Wichtigeres? Etwas, das Hitler im wahrsten Sinne demontieren und entlarven konnte?
Denn entweder war der Überfall der SA-Mannschaft auf das Tanzlokal Eden „strategisch“ geplant, also in einem größeren parteipolitischen Zusammenhang zu sehen, oder es war die spontane Übergriffshandlung von einigen durchgeknallten, nicht kontrollierbaren Schlägertypen und Kriminellen. Bei der ersten Variante wird man Hitler zumindest als geistigen Anstifter zu bewerten haben, denn die Berliner SA wurde damals von Goebbels geleitet, der ja auch der zuständige Gauleiter der NSDAP gewesen ist. Schlägertruppe und Partei unterstanden demnach einem der treuesten und willfährigsten Gefolgsleute Hitlers; da liegt eine strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Hitler sehr nahe, auch nach den damaligen juristischen Vorgaben, wie über den „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ laut §§ 110, 111 im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 (RStGB).
Sollte aber eine solch öffentlichkeitswirksame Aktion, wie der Überfall auf das Eden, tatsächlich völlig ohne jede Koordinierung durch vorgesetzte Parteistellen möglich gewesen sein, was bedeutete das für die von Hitler geforderte unumschränkte Stellung als „Führer“? Hätte er noch genug bzw. hätte er überhaupt Autorität in seiner Bewegung oder galt dann sein Wort nur bedingt? Wollte Adolf Hitler jeden Eindruck von Führungsschwäche vermeiden, durfte er sich vor Litten bzw. dem Gericht und der Öffentlichkeit keine Blöße geben – aber auch keine Anhaltspunkte für eine mögliche Strafbarkeit, die Anlass für ein Ermittlungsverfahren gegen ihn oder die Partei hätten sein können.
Einerseits brauchte Hitler das von ihm erstrebte Image des „Saubermanns“ (heute wäre die Formulierung: ein lupenreiner Demokrat), um seine „Legalitäts“-Taktik in künftigen Wahlkämpfen aufrecht zu erhalten. Andererseits durfte nicht der geringste Zweifel an seiner unbedingten Führereigenschaft aufkommen – wie hätte sonst ab 1933 der Mythos „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ erfolgreich entstehen und verbreitet werden können, wenn schon ein kleiner Advokat den Zeugen Hitler 1931 in seiner Glaubwürdigkeit entscheidend erschüttert hätte? Eines der wesentlichen Strukturmerkmale des NS-Regimes wäre nachhaltig ins Wanken geraten: die totale Wesenseinheit von Volk und Führer, der dadurch ohne jedes Regulativ seinen Willen verabsolutieren konnte; die wesentliche Bedingung eines totalitären Regimes. (30) Nur so konnten „Führerworte“ eo ipso „Gesetzeskraft“ erlangen, ohne ein weiteres Gesetzgebungsverfahren o.ä. einzuhalten; nicht einmal per Akklamation in einer Show-Veranstaltung wie dem (großdeutschen) Reichstag oder einem inszenierten Parteitag in Nürnberg.
Was war das besondere Merkmal an dieser Wesenseinheit von Volk und Führer und an dieser Ausprägung totaler Macht? Folgt man dem als Kronjuristen des Dritten Reiches bezeichneten Carl Schmitt, war für Hitler eine derartige Totalität Voraussetzung der alleinigen Souveränität (nämlich Souveränität als höchste, nicht abgeleitete Herrschermacht). Und nach Schmitts bereits 1922 erfolgter Definition zum Wesen des Souveräns gehört, dass (allein) der die Souveränität im verfassungs- und staatsrechtlichen Sinne besitzt, wer über den Ausnahmezustand verfügen kann (Schmitt, Politische Theologie – Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität).
Hitlers Anspruch auf alleinige, unbegrenzte Führerschaft konnte demnach nur dann angenommen werden, wenn nur der Führer zwischen Normalzustand und Ausnahmezustand unterscheiden bzw. entscheiden konnte, welcher Zustand vorherrscht. Nur wenn diese Konstellation bzw. dieser Zustand vorherrschte, konnte es den starken, den totalen Staat geben. (31)
Ohne starken Staat wäre auch die Figur von der „Volksgemeinschaft“ sinnlos; dann bräuchte es keine biologistische Selektion nach guten und minderwertigen Rassen: Hitlers Rassenwahn wäre hinfällig gewesen.
Das machte also in Wirklichkeit die Gefährlichkeit des Hans Litten für Adolf Hitler aus: Denn wäre es Litten oder einem anderen wachen Geist gelungen, Hitlers angestrebtes Charisma nachhaltig zu zerstören, was hätte das für seine weitere Karriere bedeutet? Denn immerhin gab es ja sogar innerhalb der NSDAP eine nennenswerte Opposition (die Brüder Strasser, ein Stennes u.ä.), von anderen Gegnern im rechten Lager, die nur zu gerne Hitler Anfang der 1930er Jahre den Rang abgelaufen hätten, ganz zu schweigen.
Und man sollte auch nicht vergessen, dass Adolf Hitler 1931 noch staatenlos gewesen ist; selbst wenn eine Abschiebung als unerwünschter Ausländer in sein Geburtsland (Österreich) gescheitert wäre, hätte er im Falle einer erneuten strafrechtlichen Verurteilung unter sog. „Polizei-Aufsicht“ (§§ 38, 39 RStGB) gestellt werden können oder die zuständige „Polizeibehörde“ (heute: Ausländeramt) hätte auf dem einfachen Verwaltungswege eine Überwachung o.ä. veranlassen können. All diese möglichen Unannehmlichkeiten wird auch Hitler im Hinterkopf gehabt haben, als er sich im Zeugenstand mit dem Strafverteidiger anlegte, was daher auch seine Dünnhäutigkeit oder gar Gereiztheit gegenüber Litten erklären dürfte. Als sich dann nach der Machtübernahme die nunmehr völlig problemlose Möglichkeit zur späten Rache am aufmüpfigen Anwalt bot, ließen sich die neuen Machthaber nicht zweimal bitten: Litten musste weg.
Ansätze bzw. Anhaltspunkte für mutmaßliche Unterstellungen gegen Litten gab es genug, daher konnte er problemlos in Schutzhaft genommen werden (wobei auch irgendeine fadenscheinige Verurteilung mit der Folge von Strafhaft absolut denkbar gewesen wäre; dies unterblieb 1933 wahrscheinlich noch, da erst in den Folgejahren die letzten Reste des formalen Rechtsstaates abgebaut werden konnten). Mit jedem Monat, in dem die staatlich exekutierte Rechtlosigkeit zunahm, verringerte sich die Aussicht für unliebsame Personen oder gar „Volksschädlinge“, dass sie ihre natürlichen Rechte und dann auch ihr Leben behalten konnten. Litten, der sich gerne auf die theoretischen Grundsätze von Karl Marx berief, musste am eigenen Leib erfahren, dass die bisherigen Klassengegensätze ab 1933 um eine neue „Ebene“ erweitert wurden: die bürokratisch basierte und fundierte Rassenideologie. Und diese Politik der besonderen Klassen- und Rassenverfolgung bedurfte für die praktische Umsetzung eines speziellen Funktionärsapparates, der weit über die bis dahin bekannten Repressionsorgane aus kaiserlichen Zeiten hinausging und mit „Verwaltungsmassenmördern“ wie Rudolf Höß oder Adolf Eichmann endete.
Zu dieser Zeit war Hans Litten aber schon nicht mehr am Leben: damit eine der doch relativ wenigen und seltenen Personen, die in der Lage waren, etwas Hoffnung für die „Menschen in finsteren Zeiten“ (Hannah Arendt) zu organisieren.
Thomas Fuchs, Assessor iur., Rechtshistoriker
Anmerkungen
1) Zumindest wenn man den formalen Charakter betrachtet, insbesondere die sog. Gewaltentrennung. Diese auf den theoretischen Arbeiten Montesquieus vor nunmehr ca. 300 Jahren basierende Lehre kann aber nur auf dem damaligen historischen Hintergrund der autokratischen Verhältnisse in Frankreich richtig verstanden wer-den. Ein bloßes Festhalten an den rein statischen Merkmalen einer Dreiteilung der sog. Staatsgewalt auch noch drei Jahrhunderte später ist zumindest einmal zu hinterfragen. Werden z.B. die einschneidenden politischen Veränderungen im 20. Jahrhundert beachtet, ist festzuhalten, dass in vielen Ländern Europas totalitäre bzw. faschistische Systeme unter formaler Aufrechterhaltung des sog. Gewaltenteilungsprinzips etabliert werden konnten. Dieses wurde aber im Herrschaftsbereich des Sowjet-Imperiums nahezu gänzlich aufgegeben: In der bolschewistischen Theorie der „Sowjets“ (ursprüngl. „Räte“) war eine Teilung in getrennte Organe für Gesetzgebung, Verwaltung und auch Rechtsprechung nicht vorgesehen. In dieser Theoriefrage unterscheiden sich z.B. auch die Ansichten Rosa Luxemburgs, die ein unverfälschtes Rätesystem bevorzugte, von denen der russischen Bolschewiki. Es wird jedoch auf jeden Fall deutlich, wie überraschend einfach es war, den ursprünglich angedachten Schutz bürgerlicher Freiheiten und auch universaler Rechte durch die Gewaltenteilung einfach auszuhebeln und zu überlisten; der materielle Gehalt des Prinzips der Gewaltenteilung war daher nur unvollkommen ausgestaltet (eigentlich bis heute). Im „Dritten Reich“ gelang die Entrechtung der Bevölkerung (allen voran der Minderheiten) trotz Fortgeltung der alten Weimarer Verfassung vor allem im Wege des sog. „dual state“: der Normen- und der Maßnahmen-staat gingen einfach ineinander über, wurden ununterscheidbar. Näheres siehe bei Ernst Fraenkel („Der Doppelstaat“, dt. 1974) oder Giorgio Agamben („Homo sacer“, dt. 2002, S. 37f.). Daraus folgt, dass der Grundsatz der Gewaltenteilung und das gesamte Rechtsstaatsprinzip dann anfällig für Manipulationen und Willkür werden, wenn diese lediglich formale Kriterien berücksichtigen sollen (z.B. auch wenn Anhörungs- u. Beteiligungsrechte nur als lästige Pflichtübungen abgehakt oder Grundrechte zeitlich limitiert werden: Demonstrationsrecht und Meinungsfreiheit für 30 Minuten). Wer daher nachvollziehen möchte, wie es möglich wurde, dass in Deutschland nach 1933 ein umfassendes „Lagersystem“ errichtet wer-den konnte, wird feststellen, dass der bloß formale Rechtsstaat dies nicht zu verhindern wusste.
2) Ganz gleich, ob im Kaiserreich, der Weimarer Republik, der NS-Zeit oder im Nachkriegsdeutschland bis weit in die 1970/80er Jahre: War „Justitia“ oft auf dem rechten Auge blind (bestes Beispiel der Hitler-Ludendorff-Prozess 1924), wurden Angeklagte, die eher dem linken Milieu zugerechnet wurden, „mit der vollen Härte des Gesetzes“ konfrontiert (zur Zeit der „Sozialistenverfolgung“, der Aufruhr und Aufstände 1919/20 bis zu den Studentenprotesten und Aktionen der Friedensbewegung in der alten BRD; die in dieser Beziehung ebenfalls unerträglichen Zustände in der DDR können aber keine Entlastung darstellen, anderenfalls würde aus zweimal Unrecht plötzlich Recht).
3) Die historische Entwicklung des „modernen“ Staates und seiner Organisationsprinzipien beginnt im 17. Jahrhundert mit ersten Arbeiten englischer und französischer Autoren, wie Hobbes und Locke bzw. Montesquieu und Rousseau; in Deutschland sind mit leichter zeitlicher Verzögerung als erste Pufendorf und Leibnitz zu nennen – Kant folgt in der zweiten Hälfte des 18. und mit Hegel schließt sich der Kreis im frühen 19. Jahr-hundert. Leicht überspitzt lässt sich sagen, dass seit fast 200 Jahren die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem „Staatswesen“ stagniert oder gar rückläufig zu sein scheint. Zumindest wenn man Karl Marx bloß als „linken“ Hegelianer betrachtet, andernfalls hätten zwar Marx und im Schlepptau Friedrich Engels schon eine eigenständige Weiterentwicklung der „Staatslehre“ unternommen, die aber krachend gescheitert ist – unabhängig davon, ob Marxens Theorie oder aber die bisherigen Versuche einer praktischen Umsetzung für dieses Scheitern verantwortlich waren/sind. Im 20. Jahrhundert gab es dann überhaupt keine nennenswerte eigen-ständige wissenschaftliche Beschäftigung mit dem „Staat“ als „gesellschaftsbildendes Wesen“ (Aristoteles); lediglich abgeleitete Theorien (und Theoretiker, zu denen man wohl auch Carl Schmitt wird zählen müssen) über „Systeme“ oder „Kommunikation“ etc. Ganz im Gegensatz zur (partei-)politischen Beschäftigung nebst Vereinnahmung des Staates für ideologische Zwecke (vom italienischen Faschismus bis zum sowjetischen Stalinismus oder Maoismus); auf diesem ganz eigenen partei-ideologischen Gebiet hat das 20. Jahrhundert sehr viele Stilblüten hervorgebracht. Zugespitzt in der neuartigen, erst unter den Bedingungen totalitärer Herrschaftssysteme überhaupt funktionierenden Staats- bzw. Regierungsform der sog. „Bürokratie“, die laut Hannah Arendt die tyrannischste aller Staatsformen sei. Arendt bezeichnet diese neuentstandene Staatsform der „Bürokratie“ daher auch als „Niemandsherrschaft“, vgl. Arendt, Macht und Gewalt, S. 39f. (ihr Argument: durch die spezielle Konstruktion der Niemandsherrschaft mit unübersichtlichen Entscheidungsebenen und völlig intransparenten Strukturen soll es unmöglich gemacht werden, die letztlich verantwortlichen Stellen zu ermitteln und haftbar zu machen; wo niemand Verantwortung trägt, ist auch keiner „Schuld“). Nunmehr, in der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts hat dank der pandemisch grassierenden Gleichgültigkeit bei der Mehrheit der Bevölkerung (besonders in West-Europa), die durch die totale „Ver-Digitalisierung“ der Zivilgesellschaften ausgelöst worden ist, eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Fragen des National-Staates kaum noch eine wirkliche Chance. Nutznießer dieser „regressiven Nivellierung“ sind alle vermeintlichen Heilsversprechungen.
4) So war die Abneigung Friedrichs d. Gr. gegen den gesamten Juristenstand, besonders die Anwälte, deutlich ausgeprägt: Im Müller-Arnold-Fall ließ der preußische König die (aus seiner Sicht renitenten) Richter in den Kerker werfen und den Anwälten den Robenzwang auferlegen, damit diese schon von weitem erkannt werden konnten.
5) Vgl. Überblick zur Person Littens auf: https://www.hans-litten.de/sein-leben/
6) Der damalige Anwaltskollege Rudolf Olden im Überblick auf: https://www.hans-litten.de/sein-leben/der-junge-anwalt/
7) Zu den Zahlen im Überblick bei Möller, S. 188ff. Erstaunlich ist, dass Gumbel ungestraft von „Morden“ sprechen konnte, obwohl ja teilweise auch Vertreter der „Staatsmacht“ involviert waren. Denn 50 Jahre später wurde 1975 der auch heute noch bekannte (West-)Berliner Verleger Klaus Wagenbach wegen Beleidigung und übler Nachrede in einem für ihn finanziell fast ruinösen Strafprozess in zweiter Instanz zu einer Geldstrafe verurteilt. Er hatte die Erschießung von Benno Ohnesorg 1967 und die Georg v. Rauchs Ende 1971 als „Mord“ bezeichnet – geschossen hatten jeweils Polizeibeamte in Uniform. Von all den peinlichen Verrenkungen des Berufungsgerichts, der Staatsanwaltschaft und vor allem des damaligen Berliner Polizeipräsidenten ganz abgesehen (und dass belastende Beweise manipuliert und unzulässige Gutachter herangezogen wurden), konnte der Schütze im Falle Ohnesorg, ein gewisser Kurras, Jahrzehnte später als Stasi-Spitzel enttarnt werden, so dass in dem damaligen Possenspiel der Berliner Justiz ein Mörder, der auf der Gehaltsliste des MfS stand, reingewaschen wurde. Das letztlich freisprechende Urteil hat für den Stasi-Mann Kurras entlastend festgestellt, dass nicht ausgeschlossen werden konnte, Kurras habe sich im Moment der Abgabe des tödlichen Schusses in einem „psychogenen Ausnahmezustand“ befunden, beim Schützen im Fall v. Rauch hieß das entlastende Zauberwort: „Putativnotwehr“ (impliziert eine starke Nähe zum „finalen Rettungsschuss“). Das Strafverfahren gegen Wagenbach wurde 1976 von Heinrich Böll, Rudi Dutschke, Erich Fried u.a. in Buchform dokumentiert. Hätte Hans Litten seinerzeit noch gelebt und als Verteidiger für den Angeklagten tätig sein können, hätte er seinen Job sicher nicht schlechter verrichtet als der damalige Strafverteidiger (ein späterer Bundesinnenminister, der in dieser Funktion auf einmal als Law-and-order-Verfechter seinen dritten Frühling erlebte).
8) Nach 1945/49 hat der Begriff „Klassenjustiz“ auf dem Boden der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ vermeintlich seinen Schrecken verloren – oder etwa doch nicht so ganz? Denn wer kann sich Stundensätze bei den Honoraren sog. „Spitzenanwälte“ von bis zu 1000 Euro (netto) leisten? Bezieher/innen von „Bürgergeld“, „Wohngeld“ oder Darlehen nach dem „BaföG“ wohl eher nicht; für die gilt nach wie vor sog. „Armenrecht“ (heute verbrämt als Beratungs- u. Prozesskostenhilfe – Opferanwälte bedanken sich).
9) Das Zitat findet sich auf der „Wikipedia“-Seite zu Hans Litten.
10) Zur Roten Hilfe während der Weimarer Republik: https://de.wikipedia.org/wiki/Rote_Hilfe_Deutschlands
11) Besonders in politischen Verfahren seit den späten 1960er Jahren von bestimmten Anwälten eingeführte bzw. ausgebaute Strategie, um die Gegenseite mürbe zu machen, mit dem Ziel z.B. durch unzählige Befangenheitsanträge die Objektivität des Gerichts nachhaltig zu erschüttern: befangene Richter müssen vom Verfahren abgezogen werden oder es gibt einen absoluten Revisionsgrund.
12) Zur Taktik Littens, Zörgiebels Verhalten strafgerichtlich überprüfen zu lassen: https://www.hans-litten-archiv.de/news/204-gedenken-92-jahre-weddinger-blutmai
13) Zitiert nach Heribert Prantl: https://www.sueddeutsche.de/politik/prantls-blick-hitler-hans-litten-1.5289321
14) Zitiert aus: https://www.deutschlandfunkkultur.de/ns-opfer-irmgard-und-hans-litten-der-lange-kampf-einer-100.html
15) Vgl. bei Pfaffenhuemer, S. 48
16) Mein Artikel zum Propaganda-Buch über Horst Wessel: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/propagandaroman-horst-wessel/
17) Außer der beinahe schon huldvollen Behandlung durch das Münchner Landgericht im Frühjahr 1924 nach dem dilettantischen Putschversuch vom 9. Nov. 1923 zählen dazu bereits vorherige (für bayrische Verhältnisse) durchaus milde Urteile wegen Landfriedensbruchs, die rasche Gestattung erneuter politischer Betätigung nach seiner überaus fixen vorzeitigen Haftentlassung nebst der flinken Wiederzulassung der NSDAP zunächst in Bayern, aber auch das gnädige Wegschauen der bayrischen Finanzbehörden in den Steuerangelegenheiten des „Schriftstellers“ Hitler. Ohne Prophet sein zu wollen, wäre es durchaus denkbar, dass es auch 2022 noch Strömungen in den bayrischen Landespolizeibehörden inkl. Gefahrenabwehr geben könnte, die einem ganz bestimmten „Rechtspopulisten“ die Verhängung von „Vorbeuge-Gewahrsam“ nach dem Bayr. Polizeiaufgabengesetz (zur Zeit wegen der sog. Klima-Kleber in aller Munde) ersparen würden. Als „linksaktivistisch“ eingestufte Demonstranten können heute in Bayern bis zu 60 Tage in Präventivhaft genommen werden (ob- wohl doch ein „moderner“ Verfassungsstaat den Habeas-Corpus-Grundsatz kennen sollte), ein rechtskräftig verurteilter Krimineller wie Hitler wurde in der damaligen Ordnungszelle Bayern hofiert und salonfähig gemacht. Ob sich die Zeiten wirklich geändert haben?
18) Zu Apfel s. hier im Forum: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/alfred-apfel/
19) Zu diesem Thema habe ich entsprechende Informationen bei Mitarbeitern des Hans-Litten-Archivs in Göttingen einholen können, bei denen ich mich an dieser Stelle ausdrücklich bedanken möchte.
20) Zitiert nach Pfaffenhuemer, S. 57.
21) Dies., S. 58f.
22) Dies., S. 60.
23) Dies., S. 60f.
24) Zusammengefasst bei Pfaffenhuemer, S. 72 – 77.
25) Dies., S. 78.
26) Zu Irmgard Litten: https://de.wikipedia.org/wiki/Irmgard_Litten
27) Zusammengefasst aus: https://www.deutschlandfunkkultur.de/ns-opfer-irmgard-und-hans-litten-der-lange-kampf-einer-100.html
28) Zur schauspielerischen Darstellung in der Serie „Babylon Berlin“: https://www.hans-litten-archiv.de/news/58-pressemitteilung-babylon-berlin-wuerdigt-rote-hilfe-anwalt-hans-litten
29) Zur Seite des Hans-Litten-Archivs: https://www.hans-litten-archiv.de/
30) Ein Aspekt, den besonders Hannah Arendt in den Vordergrund ihrer Arbeit gestellt hat.
31) Dies ist insoweit völlig paradox, weil es aufgrund der Eigenart als einer permanenten Bewegung überhaupt keine echte Stabilität und Konstanz in Hitlers politischer Konzeption geben konnte.
Literatur
Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (dt. Erstausgabe 2002), 13. Aufl., Frankfurt/M. 2021.
Arendt, Hannah: Macht und Gewalt (dt. Erstausgabe 1970), 13. Aufl., München 1998.
Barth, Tobias und Hoffmann, Lorenz: Der lange Kampf einer Mutter um ihren Sohn, Deutschlandfunk-Kultur v. 05.05.2021, online auf: https://www.deutschlandfunkkultur.de/ns-opfer-irmgard-und-hans-litten-der-lange-kampf-einer-100.html
Möller, Horst: Die Weimarer Republik. Eine unvollendete Demokratie, 10. Aufl., München 2012.
Paech, Norman: Hans Litten – ein Rechtsanwalt im Kampf gegen den Faschismus: https://www.vdj.de/portrait-hans-litten
Pfaffenhuemer, Laura: Hans Litten. Ein Anwalt zwischen den politischen Extremen in der Weimarer Republik, Diplomarbeit, Wien 2016. (https://phaidra.univie.ac.at/open/o:1330253)
Prantl, Heribert: Hitler im Kreuzverhör, Süddeutsche Zeitung v. 25.04.2021, online auf: https://www.sueddeutsche.de/politik/prantls-blick-hitler-hans-litten-1.52893