Im Herbst 1932 erschien in erster Auflage der als Heldensaga konzipierte Roman über Horst Wessel. (1)
„Mit dem biographischen Roman »Horst Wessel. Ein deutsches Schicksal« hat der Trivialautor Hanns Heinz Ewers (1871 – 1943) einen spektakulären Beitrag zur ideologischen Verklärung des historischen Horst Wessel (1907 – 1930) in der nationalsozialistischen Propaganda geleistet“. (2)
Dieses – durchaus spezielle – Buch auch neunzig Jahre nach der Erstveröffentlichung zu thematisieren, lässt sich unter mehreren Aspekten rechtfertigen. Da ist der rein kommerzielle Erfolg zu nennen: bis 1934 erschienen ca. 200 000 Exemplare. (3)
Somit ist natürlich auch der Autor Hanns Heinz Ewers von besonderem Interesse (der bereits wenige Jahre nach seinem erfolgreichen Propagandaroman ein erstes Schreib- und dann auch Veröffentlichungsverbot, also somit ein totales Berufsverbot als Schriftsteller auferlegt bekam, wobei bereits im Mai 1933 einige seiner frühen Werke den inszenierten Bücherverbrennungen der „neuen Machthaber“ zum Opfer fielen).
Da ist vor allem die Hauptfigur (oder besser gesagt „Kunstfigur“) zu nennen: der jugendliche Held Horst Wessel, die literarische Beschreibung seiner Laufbahn in der Berliner SA und ganz besonders seines frühen Todes.
Ähnlich wie bei anderen „gefallenen“ Anhängern der NS-Bewegung, wurde er von der nationalsozialistischen Propaganda zu einem „Blutzeugen der Bewegung“ stilisiert. Die Reihe dieser besonderen Heldenverehrung wurde mit Albert Leo Schlageter im Juni 1923 eröffnet, ging über die beim Hitlerputsch am Vormittag des 9. November 1923 vor der Münchner Feldherrenhalle getöteten sechzehn Gefolgsleute Hitlers weiter bis zur fast schon bizarren Mystifizierung des „Hitlerjungen Quex“ (in echt Herbert Norkus, der Anfang 1932 mit knapp 16 Jahren von „Jungkommunisten“, die kaum älter waren als er, tödlich verletzt wurde).
Weiterhin sind auch die recht drastischen Milieu-Beschreibungen in Berlin Ende der 1920er Jahre zu nennen, also – wenn man so will – in gewisser Weise das Lebensgefühl junger Großstädter, aber natürlich auch ganz besonders die politische Radikalisierung – mit interessanten Bezügen bis in die Gegenwart. Dabei ist auch ein Blick auf den politischen Hintergrund in Deutschland zu Beginn der 1930er Jahre zu richten. Neben der Person des Autors sticht aber des Weiteren auch die Entstehungs- und Wirkgeschichte des Romans an sich ins Auge; verbunden mit Goebbels Fehleinschätzung zu eben dieser Person des Autors.
Zu diesen besonderen Umständen der Entstehungsgeschichte und der damit zusammenhängenden Propagandawirkung zählt auch – zumindest aus heutiger Sicht ganz unverhofft – die Funktion eines echten Hohenzollernprinzen. Dieser Prinz August Wilhelm von Preußen (jüngerer Bruder des „letzten Kronprinzen“) tritt sogar zweimal im Zusammenhang mit der Horst-Wessel-Geschichte in Erscheinung.
Somit gibt es gleich eine Handvoll Gründe, die literarische Erzählung, also die „Geschichte“ über Horst Wessel näher zu betrachten – mit dessen Namen heute meist nur noch das gleichnamige Lied in bestimmten Kreisen in Zusammenhang gebracht wird. (4)
Handlung des Romans und zur Hauptfigur
Auf knapp über 280 Seiten beschreibt der Autor in einem komprimierten Ausschnitt vor allem das politische Wirken von Horst Wessel und zwar über einen Zeitraum vom Herbst 1928 bis zum Frühjahr 1930.
Der äußere Aufbau umfasst zwölf Kapitel, zu etwa zwei Drittel „äußere Handlung“ (wie die Schilderung von Straßenkämpfen, Organisation und Durchführung von Aufmärschen etc.), ein knappes Drittel entfällt auf das Geschehen im Zusammenhang mit den Schüssen auf Horst Wessel und seinem Lebensende. (5)
Inhaltlich geht die Handlung noch etwas über den endgültigen Todeszeitpunkt Wessels (der nach dem 14. Januar 1930 noch fast sechs Wochen schwerverletzt im Krankenhaus liegt) hinaus, um z.B. auch noch kurz den Strafprozess gegen seine Angreifer (der real erst im Herbst 1930 stattfand) zu beschreiben und auch kurz zu kommentieren. Zumindest unterschwellig unterstellt der Autor dem Gericht eine gewisse Nachsicht den Angeklagten gegenüber.
Ganz zum Schluss des Romans veröffentlichte Ewers noch ein „Nachwort“, das allein den Zweck der Anbiederung an die Nazis und Hitler ganz persönlich hatte (datiert vom 15. September 1932).
Aufgrund der Erzählperspektive, die Ewers gewählt hat, der sog. „allwissende“, unpersönliche Erzähler, wodurch gelegentliche Rückblenden möglich sind, wird eine Distanz der Hauptfigur zu den Ereignissen erzeugt, die – zumindest aus heutiger Sicht – eigenartig wirkt, da für den unbefangenen Leser dieser Horst Wessel relativ unnahbar bleibt; vor neunzig Jahren war dies möglicherweise anders, da viele Leser durch eigene Erfahrungen als SA-Männer wahrscheinlich einen direkteren Zugang zur Hauptfigur hatten.
Will man eine literaturwissenschaftliche Kategorisierung des Romans vornehmen, würde sich die Einordnung als eine Art „Entwicklungsroman“ anbieten. So werden nicht nur bestimmte Konflikte und deren Lösung beschrieben, sondern auch eine besondere Entwicklung der wichtigsten Figuren geschildert.
Nicht nur in Bezug auf Wessel und seine SA-Kameraden, sondern auch im Verhältnis zu seiner „Mitbewohnerin“, der ehemaligen Prostituierten Erna Jaenichen; denn letztlich brachte ja ein privater Streit zwischen der Vermieterin von der gemeinsam genutzten Wohnung mit eben dieser Erna die späteren tödlichen Ereignisse ins Rollen. Ganz unabhängig von den Gerüchten, Wessel sei (womöglich gar zufällig) in die Auseinandersetzungen rivalisierender Zuhälterbanden geraten. (6)
Jedoch kommt es auch nicht auf die exakte Einordnung in ein bestimmtes literarisches Genre an; wichtiger sind die inhaltliche Beschreibung und Darstellung der damaligen Zustände. Die fast schon alltäglichen Treffen mit den Kameraden, die Planung von Aufmärschen und Demonstrationen, die zwangsläufig einsetzende Verfolgung durch die Polizei und natürlich ganz besonders die Schlägereien mit den Kommunisten (und die immer stärkere Neigung zu Schusswaffen – auf beiden Seiten).
Auch die Beschreibung der finanziellen Probleme, die bereits 1929, bevor die eigentliche Weltwirtschaftskrise einsetzt, deutlich vorhanden waren, gehört sicher zu den glaubwürdigen Szenen in Ewers Roman.
All das war damals für rechte Aktivisten, ganz besonders für SA-Männer, völlig normal, gehörte sozusagen zur Alltagskultur (für die Gegenseite, sprich „Rotfrontkämpfer“, galt genau das gleiche).
Da die Hauptfigur zu Beginn der Erzählung (Oktober 1928) aber gerade einmal einundzwanzig Jahre alt war, ist es schon erstaunlich, wie abgebrüht ihn der Autor darstellt, bis in den Tod. So werden in nur wenigen knappen Sätzen der unmittelbare Ablauf des Attentats geschildert, kurz bevor die Pistolenschüsse auf Horst Wessel abgegeben werden. (7)
Bedenkt man, dass diesen tödlichen Schüssen eine zentrale Bedeutung für die spätere „Heldenverehrung“ Wessels zukommt, erfolgt die Schilderung des Attentats vergleichsweise emotionslos.
Zumindest dann vergleichsweise, wenn man die unmittelbar anschließende Szene nimmt, in der eine Art Umtrunk in der Stammkneipe der Täter geschildert wird. In ausgelassener Stimmung und alkoholisiert feiern die am Überfall auf Wessel beteiligten Männer in schönstem Berliner Jargon ihre Tat.
Allerdings fällt auf, dass jedes Mal, wenn die Attentäter kurz vor dem Überfall auf Wessel zögerten, es eine Frau (Else Cohn, die tatsächlich existierte und 1933 von den Nazis wegen ihrer Beteiligung am Überfall auf Wessel liquidiert wurde) gewesen ist, die ihre Kameraden antrieb (z.B. mit: „Feiglinge seien sie!“).
Die Beschreibung des Autors wirkt auch an dieser Stelle relativ distanziert. Aus heutiger Sicht kann man fast den Eindruck gewinnen, dass die am Überfall beteiligten Männer zumindest teilweise unsicher, beinahe gehemmt gewesen seien, ob sie das Richtige tun würden.
Es bedurfte einer Furie (in Gestalt der Else Cohn), um die zögerlichen Männer anzutreiben: Literarisch und auch sozio-kulturell ein sicherlich interessanter Ansatz, für einen NS-Propagandaroman, der das Opfer heroisieren sollte, doch sehr eigenartig, wie die betont zurückhaltende Schilderung des Tathergangs zur bezweckten Mythisierung des Opfers beitragen sollte.
Deutlich größeres Interesse kann der Autor für seinen Protagonisten wecken, wenn dessen Mitwirken an SA-Aufmärschen geschildert wird, wie z.B. Besprechungen mit „Kameraden“ oder über den Verlauf solcher Veranstaltungen, besonders wenn die Polizei eingreift und die SA-Männer (auch Wessel) vorläufig festgenommen werden. Dabei gewährt der Autor auch Einblicke in das subjektive Gefühlsleben von Horst Wessel. Denn immerhin handelt es sich um einen sehr jungen Mann, der bereits als Jugendlicher in den Sog rechtsradikaler Kreise und Gesinnungen geraten ist.
Im Laufe eines der geschilderten Gefängnisaufenthalte (als stilistische Pausen, in denen die Hauptfigur zu Reflexionen Zeit findet) erfährt der Leser einiges über Wessels Sozialisation und sein politisches Weltbild. An diesem Punkt werden sich viele der zeitgenössischen Leser wiedergefunden haben, da Wessel – in gewisser Weise – prototypisch für hunderttausende junger Männer im Deutschen Reich der 1920er Jahre spricht.
Auch kann Ewers bei solchen Selbstreflexionen viel an NS-Propaganda einbauen. So stellt der Autor einen Vergleich zwischen Wessel und Hitler her:
„So, wie er jetzt auf seiner Pritsche saß, sich alles zurechtlegte und überdachte, stundenlang, ein paar Tage vielleicht – so saß Hitler durch viele Monate in der Festung zu Landsberg am Lech. Und in dieser Zeit wuchs der Führer, ganz still, ganz allein: da ward aus dem Trommler ein Feldherr. (…) So entstand die neue Form, so wuchs, verachtet und verlacht, aus dem Nichts die deutsche Freiheitsbewegung.
Horst Wessel lächelte. So klar war das alles, so einfach und doch so verwirrend für manchen ehrlichen deutschen Mann, der sich nicht einfühlen konnte in die neue Zeit.“ (8)
Auch die gesellschafts-politische Prägung von Horst Wessel wird in einem dieser inneren Monologe nachgezeichnet, wenn er über seine politische Jugendzeit im sog. Bismarckbund mit Vorträgen und Soldatenspielerei sinnierte:
„Freiwilligenverbände, überlegte er, Schwarze Reichswehr – das war ernst genug (…). Ehrhardts Organisation Consul – damals hieß das Wiking – das war Abenteuer, Putschluft, Freikorpsgeist – eifrigstes Betonen des Soldatentums (…). Aber der Kapitän hatte den eigenen Verband zerschlagen. (…) so mußte man das Schicksal in die eigne Hand nehmen.. Und das tat die junge Freiheitsbewegung – so war sie politisches Erwachen! (…)
Der Student [Ewers nennt Wessel oft nur „der Student“, Anm. T.F.] lachte. Er war gewiß soldatisch ausgebildet worden, bei der Schwarzen Reichswehr wie bei der O. C.! Konnte schießen mit jeder Waffe, hatte Fechten beim Korps gelernt, verstand sich gründlich auf Jiu-Jitsu und Boxen. (…) Wann aber hatte er je seine Kenntnisse praktisch verwerten können – ehe er zur S.A. kam?“ (9)
Davon abgesehen, dass, rein zeitlich betrachtet, Horst Wessel weder in der Organisation Consul noch in der Schwarzen Reichswehr als aktives Mitglied beteiligt gewesen sein konnte, und auch der Wiking-Bund (zwar als Auffangbecken für die ehemaligen Anhänger der Brigade Ehrhardt bzw. der Organisation Consul Anfang Mai 1923 gegründet) bereits zum Jahreswechsel 1923/24 kaum noch Einfluss hatte; weder in Bayern noch im preußischen Teil des Deutschen Reiches. Ab 1926 löste sich auch dieser Wehrverband nach und nach auf. (10)
Auch wenn die vom fiktiven Horst Wessel genannten Organisationen 1928/29 keine Strahlkraft mehr hatten, so trifft doch ein Gesichtspunkt an dieser Schilderung zu: die Kontinuität rechtsradikaler Gruppen und Bewegungen während der gesamten Weimarer Republik. Oft existierte ein nahtloser Übergang, wodurch gerade viele junge Männer (teils noch halbe Kinder) ein Auffangbecken hatten.
Man darf ja nicht vergessen, die Hauptfigur war damals gerade knapp über zwanzig Jahre alt. Hatte außer einem abgebrochenen Jura-Studium (daher war er auch ein paar Semester in studentischen Verbindungen) und einigen „Wehrsport-Übungen“ nichts Handfestes vorzuweisen. Und dann bot ihm die Berliner SA (unter dem damaligen Gauleiter Goebbels) die Möglichkeit, sich zu beweisen, Verantwortung zu übernehmen und ein Ziel zu verfolgen bzw. Aufgaben zu erfüllen: Deutschland zu dienen.
Unter diesem – zugegebenermaßen stark verkürzten und gefährlichen – Aspekt entwickelte diese tatsächlich jugendliche Freiheitsbewegung ihre Faszination und zog die Massen junger, oft arbeitsloser Männer Ende der 1920er Jahre an.
Zum Genre eines „Entwicklungsromans“ passt auch die Schilderung der Sozialisation Horst Wessels, sprich die Einflüsse vermittelt durch das Elternhaus, ganz besonders durch den sehr konservativen Vater, der in seiner Eigenschaft als evangelischer Pastor seine Predigten zu deutschnationalen Kampfreden nutzte.
Leider lässt der Autor die Chance ungenutzt, näher auf das „Innenverhältnis“ der Beziehung zwischen Wessel und der jungen Erna einzugehen. In seinen früheren Romanen hätte Ewers ganz andere Schwerpunkte gesetzt.
Es ist daher davon auszugehen, dass die bewusst a-sexuelle Schilderung dieser Beziehung darauf zurückzuführen ist, dass auch Adolf Hitler sich gerne (nach außen hin) als enthaltsam und nur auf ein Ziel fokussiert dargestellt hat: Deutschland zu alter Größe zu führen (und dadurch letztlich zu beherrschen); Frauen- oder „Bettgeschichten“ hätten da nur abgelenkt.
Außerdem hat scheinbar auch Wessels Mutter vor der endgültigen Fertigstellung des Romans großen Einfluss darauf gehabt, dass ihr Sohn tugendhaft und wohlerzogen bei den künftigen Lesern „rüberkam“ – ein (aus damaliger Sicht) unsittliches Verhältnis zu einer Ex-Hure ging da gar nicht. Zum Einfluss der NS-Größen auf den gesamten Roman siehe weiter unten.
Besonderes Interesse würde allerdings die Annahme von Daniel Siemens verdienen, wonach Horst Wessel in den wenigen Wochen vor dem Attentat am 14. Januar 1930 über einen Ausstieg aus der Partei und besonders auch aus der SA nachgedacht haben könnte (hierzu natürlich kein Wort im Propagandaroman von Ewers).
Auslöser für einen solchen Sinneswandel könnten zwei Ereignisse im rein privaten Leben bzw. Umfeld Wessels gewesen sein: der Unfalltod seines jüngeren Bruders und das doch intensivere Liebesverhältnis zu eben dieser Erna. (11)
Zur Entstehung des Romans
Bevor auf die Person des Autors eingegangen wird, sollen die speziellen Hintergründe, die zur Herausgabe des Horst-Wessel-Buches von Ewers geführt haben, beleuchtet werden.
Als Spiritus rector für die geplante „Heiligenvita“ gilt eindeutig Joseph Goebbels, von dem überliefert wurde, dass er noch am Krankenbett bzw. späteren Sterbebett Horst Wessels die Idee zur propagandistischen Ausschlachtung des Überfalls auf den jungen SA-Sturmführer hatte: Der damalige Gauleiter von Groß-Berlin erkannte das propagandistische Potenzial des Falles: „Ein neuer Märtyrer für das Dritte Reich“, notierte er in seinem Tagebuch, unmittelbar nachdem er die Todesnachricht erhalten hatte. (12)
Spätestens bei der pompös gestalteten Beerdigung am 1. März 1930 stand für Goebbels fest, dass Wessels Geschichte zum Nutzen der Partei (und auch ein beträchtliches Stück weit zu seinen eigenen Gunsten) instrumentalisiert werden sollte.
Goebbels erkannte nämlich schon recht früh, dass sich das Zusammenspiel von Gewalt und der öffentlichen Wahrnehmung sehr gut verbinden (also auch vermarkten) lassen konnte, um maximale Publizität zu erreichen.
Unterfüttert wurde diese Idee außerdem noch durch das Medieninteresse am Strafprozess gegen die Attentäter, der im Herbst 1930 stattfand, nahezu zeitgleich mit den vorgezogenen Wahlen zum Reichstag am 14. September 1930 (zum Verlauf des Strafverfahrens siehe Exkurs unten).
Wahltaktisch lässt sich Goebbels Interesse an einer medialen Vermarktung der „Story“ über Horst Wessel daher sicherlich nachvollziehen. Dennoch sollte es noch über ein Jahr dauern, bis diese Idee auch tatsächlich umgesetzt werden konnte.
Erst Anfang November 1931 erhielt Ewers eine Einladung, Hitler in München zu besuchen. Dort wurde vom „Führer“ die Anregung ausgegeben, für die deutsche Jugend und besonders für die SA eine Märtyrergestalt zu schaffen. (13)
Das heißt, dass eigentlich nur allgemein an ein Propagandabuch zur anschaulichen Erbauung gedacht worden war, welches auch Ernst Röhm für seine Pläne, die er mit der SA hatte, in die Karten spielen sollte.
Mangels Alternativen und weil sich anscheinend Ewers in die Story über Horst Wessel regelrecht verbissen hatte, wurde in einer Art „konzertierter Aktion“ von Hitler, Goebbels und Ewers beschlossen, den verstorbenen Horst Wessel zur künftigen NS-Kultfigur zu erheben. (14) Dieses eigenartige Vorhaben sollte aber schwieriger umzusetzen sein, als den Initiatoren bewusst gewesen ist:
„Tatsächlich verlief aber bereits der Schaffensprozeß des Romans alles andere als reibungslos, denn zum einen war Ewers’ Parteimitgliedschaft in der NSDAP eine zeitlang strittig (…). Zum anderen wurde auch sein persönliches und literarisches Vorleben für hinreichend fragwürdig erachtet, um seine Eignung als Verfasser eines parteioffiziellen SA-Romans in Zweifel zu ziehen (…).
Abgesehen von diesen Schwierigkeiten, die sich weitestgehend im Hintergrund zugetragen haben, sah sich Ewers auch beim unmittelbaren Abfassen des Romans mit erheblichen Problemen konfrontiert. (…) Einerseits will er möglichst nahe an der Wahrheit bleiben, andererseits verlangt man von ihm bestimmte Verfälschungen. (…) In völkisch-nationalen und nationalsozialistischen Kreisen fand das Buch zunächst jedoch durchweg positive Resonanz, während es vom gesamten Spektrum der politischen Linken vehement verurteilt wurde. Die anfängliche Begeisterung der NSDAP und ihrer Anhänger schlug jedoch bald ins Gegenteil um, so daß »Horst Wessel« schließlich verboten wurde.“ (15)
Bevor aber dieser abrupte Sinneswandel eintrat, hatte es zumindest einige Zeit den Anschein, dass die mit der Helden-Saga verbundenen Motive und Ziele der Parteiführung der NSDAP erfüllt werden könnten:
„Der Kampf um die Durchsetzung der nationalsozialistischen Politik basiert auf einer Utopie der gesellschaftlichen Stabilität und inneren Einheit in der Aufhebung aller Klassengegensätze. (…) Der bürgerkriegsähnliche Zustand der deutschen Gesellschaft soll in eine Zeit der nationalen Einheit münden. Der Roman interpretiert die Radikalisierung der Gesellschaft als Phase des Übergangs. Krankheit, Tod und Apotheose Wessels leiten eine gesellschaftliche Zukunft ein, in der eine an den Basiswerten von Arbeit und ‚Kameradschaftsgeist‘ orientierte soziale Ordnung Grundlage des staatlichen Zusammenlebens sein soll. (…) De facto wird die SA zum Garanten der Inneren Sicherheit stilisiert. Mit der Präsenz am Grab Wessels übernimmt die SA quasistaatliche Repräsentativaufgaben. Das offizielle Verbot politischer Manifestationen betrifft den Plan der SA, die Beisetzung im Stile eines Staatsbegräbnisses zu inszenieren. (…) Mit der aus ideologischen Gründen vorgenommen- en Vertauschung von Anlaß und Ursache unterstellt der Text implizit der nationalsozialistischen Partei eine politische Repräsentanzfunktion von umfassendem Charakter. Die Nationalsozialisten werden zu den Vertretern der ‚besseren Deutschen‘, die Partei zum Sammelbecken aller ’national‘ und ‚frei‘, d.h. antikommunistisch, Denkenden erklärt. Das Begräbnis wird zur politischen Demonstration aller ‚unabhängigen Deutschen‘. Die Beerdigung gerät zur Präsenzdemonstration der SA- Truppe und wird zur Dokumentation des Versagens der Polizei als eigentlicher Vertreterin der Exekutive. Die Beerdigung Horst Wessels symbolisiert das Ende der Weimarer Republik.“ (16)
Diese in dem eben zitierten Text unterstellte Utopie (bzw. ideologische Wunschvorstellung) sollte aber dann ausgerechnet von den Auftraggebern des Wessel-Romans selbst zerstört werden und der Autor in Ungnade fallen – natürlich erst nach der „Machtergreifung“ Hitlers und des damit verbundenen Aufstiegs der NSDAP zur (alleinigen) Staatspartei.
Zur Person des Schriftstellers
Der Autor des Horst-Wessel-Romans ist ein gewisser Hanns Heinz Ewers, bürgerl.: Hans Heinrich Ewers. (17) Heute zwar relativ unbekannt, doch in der Zeit zwischen etwa 1900 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs erreichten einzelne Werke Ewers beachtliche Verkaufszahlen; allen voran der 1911 erschienene Roman „Alraune – Die Geschichte eines lebenden Wesens“.
Auch andere Romane und Erzählbände waren populär und hatten ein durchaus dankbares Publikum. Ewers’ „Schwerpunkt“ bzw. sein bevorzugtes Sujet war die sog. „Phantastik“, mit ausgeprägtem Hang zum Obskuren und zur literarischen Dekadenz.
Daher kann man Ewers durchaus als schillernde Gestalt unter den deutschen Literaten um etwa 1910 zählen:
„Ewers hatte sich als Schriftsteller bereits einen beachtlichen Ruf erworben und zählte zur Zeit um den Ersten Weltkrieg zu den auflagenstärksten und meistübersetzten deutschen Autoren.“ (18)
Denn eigentlich begann Ewers seine Schriftstellerkarriere als Autor grotesk-phantastischer Erzählungen. Besonders seine drastischen Darstellungen im sexual-pathologischen Bereich brachten ihm den Ruf eines Bürgerschrecks ein. Auch sein sonstiges, stark antibürgerliches Auftreten ließen ihn als einen Dandy, ein „Enfant terrible“ mit teils androgynen Zügen erscheinen (das Sexuelle und Geschlechtliche nahmen privat wie literarisch breiten Raum ein).
Hier soll nicht die gesamte, durchaus umfangreiche Lebensgeschichte von Ewers interessieren; statt dessen sind drei Abschnitte bzw. Wendepunkte zu nennen.
Zunächst der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, den er aufgrund seiner damaligen Hauptbeschäftigung als Reiseschriftsteller ausgerechnet in Übersee (erst Süd- und Mittelamerika, dann in den USA) erlebte.
In den USA musste er unfreiwillig über fünf Jahre bleiben, da er zunächst eine Rückfahrt per Schiff als zu gefährlich betrachtete; dort begann er unerwartet eine Art Propagandatätigkeit für das kaiserliche Deutschland und geriet nach dem Kriegseintritt der USA unter staatliche Beobachtung und zuletzt auch noch als Kriegsgefangener für über neun Monate in ein Lager zwecks Internierung. In dieser auch körperlich anstrengenden Zeit erfolgte die Wandlung Ewers’ „vom Kosmopoliten zum Nationalisten“ (Wilfried Kugel). Außerdem lernte Ewers während der langen Zeit in den USA auch etliche Deutsche kennen, wie Ernst („Putzi“) Hanfstaengl oder auch Franz von Papen.
Als Ewers dann schließlich Mitte 1920 doch wieder nach Deutschland zurückkehren konnte, fand er nicht nur ein völlig verändertes Land vor, sondern hatte auch enorme wirtschaftliche Schwierigkeiten. Insgesamt wird man sagen können, der Weltkrieg und die Rückkehr in ein Land, das er nicht mehr als seine alte Heimat empfand, stellten nicht nur eine Zäsur, sondern einen extremen Bruch in Ewers’ Welt dar.
Da auch noch kurze Zeit nach seiner Rückkehr Walther Rathenau ermordet worden war, mit dem er seit ca. 1911 zumindest lockere Verbindung hielt (Rathenau pflegte zahlreiche Bekanntschaften mit Künstlern etc., die eigenartigste war die zu dem völkischen Schriftsteller Wilhelm Schwaner ab Ende 1913), dem er großen Respekt zollte und den er als einzige Identifikationsfigur in der Weimarer Republik ansah, verlor Ewers den einzigen Bezugspunkt zur Republik; danach wandte er sich zunächst der Deutschnationalen Volkspartei zu.
Aus dem einstigen Bürgerschreck entwickelte sich mehr und mehr ein Mann in der „Midlifecrisis“ mit antidemokratischem Bekenntnis. So dümpelte die Karriere (und das Leben) von Ewers durch die „goldenen Zwanziger“.
„Das Jahr 1932 markiert eine Zäsur im Romanwerk Ewers’. Vier Jahre nach dem Erscheinen des Romantextes „Fundvogel“ trägt der Autor mit der Publikation gleich zweier expliziter Beiträge zur ‚Zeitgeschichte‘ der veränderten politischen Situation in Romanform Rechnung. Der Roman „Reiter in deutscher Nacht“, der als Gegenentwurf zu Erich Remarques „Im Westen nichts Neues“ verstanden werden sollte, und die weitgehend fiktionalisierte Horst-Wessel-Biographie setzen die in den Vorgängertexten entwickelten Herrschaftsentwürfe in einen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart. Die Geschichte der zentralen Protagonisten stellt in beiden Fällen eine Idealisierung von Schlüsselfiguren der rechtsextremen Szene dar.“ (19)
Beide Hauptdarsteller (Scholz wie Wessel) werden von Ewers zu Vorkämpfern, aber auch zu Märtyrern des Dritten Reiches und zu Erneuerern der geschichtlichen Bedeutung Deutschlands dargestellt.
Ewers wird sowohl wegen des Horst-Wessel-Romans als auch wegen des kurz zuvor erschienenen Freikorps-Romans „Reiter in deutscher Nacht“ zu den „nationalrevolutionären“ Schriftstellern gezählt. Armin Mohler rechnet Ewers (wie auch Arnolt Bronnen) in seinem Standardwerk zur „Konservativen Revolution“ zu den „Sonderfällen“ der nationalrevolutionären Autoren. (20)
„In Fortsetzung der im Freikorpsroman „Reiter in deutscher Nacht“ begonnenen Verherrlichung der rechten Terror-Szene ist auch der nachfolgende und noch im gleichen Jahr erschienene „Horst-Wessel“-Roman einer ideologischen Leitfigur des künftigen NS-Staates gewidmet. Der Roman Ewers’ ist als Beitrag zur Legendenbildung um Horst Wessel konzipiert und soll seinem Verfasser das Benevolens der kommenden Machthaber sichern. (…) Die Wiedergabe der Biographie Wessels stellte Ewers vor ein doppeltes Problem: Die Idealisierung des zentralen Helden, d.h. die Beschönigung der realen Lebensumstände Wessels, fiel sozusagen mit der Notwendigkeit einer literarischen Selbstdistanzierung zusammen. Die von den Zeitgenossen vielbeschworene ‚Sensation‘, die von Ewersschen Texten ausging, war hier in doppelter Hinsicht zu vermeiden.“ (21)
Zu den Problemen, die wegen des früheren Schaffens des Autors für den NS-Propagandaroman auftauchten, siehe weiter unten. Zunächst sollen noch einige spezielle Aspekte zur Arbeitsweise von Ewers am Wessel-Roman verdeutlicht werden:
„Die Biographie Wessels wird nach dem Vorbild der deutschen Nationalbewegung am Ausgang des 19. Jahrhunderts idealisiert. Die Gestalt Horst Wessels erfährt eine romantisierende Neuinterpretation. Der frühe Tod Wessels wird zum Anlaß einer Parallelisierung der Figur mit den Dichtern des Sturm und Drang (…).
In Parallele zu den Vorgängerromanen wird die Gestalt Horst Wessels zur Allegorie deutscher Geschichte. Es ist das Anliegen des Romans, die Politik der Nationalsozialisten als Fortsetzung der bürgerlichen Freiheitsbewegungen des 19. Jahrhunderts darzustellen.“ (22)
Mit solchen Bewertungen sollte doch eigentlich der Autor die Bestsellerlisten im Dritten Reich lange angeführt haben. Umso erstaunlicher, was bereits kurz nach der Erstveröffentlichung des Wessel-Romans einsetzen sollte.
Der dritte Wendepunkt in der Vita des Menschen und Schriftstellers Ewers sollte sich schon kurze Zeit nach dem Erscheinen der beiden „rechtsextremen“ Romane und des damit einhergehenden Erfolges ergeben:
Erst durch ein Schreibverbot (wodurch neue Werke verhindert werden sollten), dann durch ein umfassendes Publikationsverbot (so dass auch die bisher erschienenen Werke nicht mehr legal im Buchhandel erhältlich waren) wurde Ewers von den Nazis im wahrsten Sinne des Wortes „mundtod“ gemacht.
Die Gründe hierfür waren zahlreich:
„»Trotz seines Engagements für die NSDAP verschlechterte sich Ewers’ Verhältnis zu den Nationalsozialisten nach deren Machtübernahme unerwartet schnell. Noch während der Dreharbeiten zur Verfilmung des ‚Horst Wessel‘ kam es 1934 zum Röhm-Putsch und zu jener großen Säuberungsaktion innerhalb der Partei, mit der Hitler sich nicht nur aller unbequemen Mitglieder, sondern auch aller revolutionäraktivistischen Elemente entledigte, derer er nach der erfolgreichen Machtübernahme nicht mehr bedurfte. Vor allem das abenteuerlich-romantisch verbrämte Schlägertum der SA wurde jetzt nicht mehr benötigt, das Ewers gerade in ‚Horst Wessel‘, der auch ein Ruhmesroman der SA sein sollte, noch verherrlicht hatte.«
Ein weiterer sehr gewichtiger Grund dafür, daß Ewers von den Nationalsozialisten und ihrem Umfeld der Unaufrichtigkeit und des Verrats bezichtigt wurde, bestand darin, daß der Antisemitismus als wesentliches Element der NS-Ideologie weder im »Horst Wessel« noch im übrigen Werk Ewers’ zur Geltung gebracht wird, (…). Letztendlich waren es vor allem extrem antisemitische Kreise, die Ewers derart in Verruf brachten, daß seine Schriften 1933 verbrannt wurden.“ (23)
Im „Wessel-Roman“ fällt zumindest auf, dass Ewers es in seiner Glorifizierung des jungen SA-Helden unterlässt, die am Attentat auf Horst Wessel am 14. Januar 1930 beteiligte Else Cohn, die jüdischer Herkunft gewesen ist und deren Beitrag am Geschehen von Ewers deutlich geschildert wird, weder vor noch nach dem Anschlag auf Wessel wegen ihrer jüdischen Wurzeln ausdrücklich negativ zu beschreiben.
Im Gegensatz zu Ewers Kommentaren, welche die „Rote Hilfe“ betrafen. Im Roman werden relativ umfangreich die Unterstützung und auch die Fluchthilfe für die Beteiligten seitens verschiedener kommunistischer Organisationen (Moskaus mächtige Hand) geschildert. Einschließlich der Annehmlichkeiten, die den Haupttäter „Ali“ Höhler in Prag, wohin sich dieser nach der Tat zunächst absetzte, erwarteten: nämlich eine üppige Kommunistin. (24)
Es wäre schon etwas merkwürdig, wenn der Autor bei seinen Recherchen übersehen hätte, dass besagte Else Cohn jüdischer Herkunft war; zumal diese besondere Verbindung zum Kommunismus sonst von rechtsextremen Kreisen gerne hervorgehoben wird.
Stattdessen wird jedoch der damalige Berliner Polizei-Vizepräsident Bernhard Weiß in der Romanhandlung als „Isidor“ und „Nasobem“ übelst beschimpft. (25) Trotzdem war dies den rabiaten Antisemiten um Alfred Rosenberg (zeitweise interner Konkurrent von Joseph Goebbels) anscheinend viel zu wenig, um Ewers zu entlasten oder gar unbehelligt zu lassen.
Der nunmehr von seinen früheren Auftraggebern und vermeintlichen Parteifreunden verschmähte und ins berufliche wie gesellschaftliche Abseits gestellte Ewers (es wurde sogar ein Enteignungsverfahren gegen ihn angestrengt) nahm aber die gegen ihn verhängten Sanktionen nicht tatenlos hin:
„Von nun an wandte sich Ewers, der durch die staatlichen Verbote seine Existenzgrundlage verloren hatte, tatkräftig gegen das Regime, das ihn als beflissenen Heldendichter verstoßen hatte. »Ewers begann in dieser Zeit, auf humanitäre Art privat gegen die Partei zu arbeiten, indem er durch seine noch immer weitreichenden internationalen Beziehungen Ausreisevisa zu verschaffen suchte, seine Wohnung als Unterschlupf für Verfolgte zur Verfügung stellte oder Informationen, die ihm alte Freunde aus der Partei zutrugen, an Betroffene weiterreichte.«
Die radikale, wenn auch nicht eben freiwillig vollzogene Abkehr vom Nationalsozialismus führte auch literarisch zu einem merklichen Orientierungswechsel. Es entsteht eine Reihe von satirischen Texten, von denen einer sogar im Jahr 1943, Ewers’ Todesjahr, (…) veröffentlicht wurde – allerdings zum Glück des Autors postum. »Die Auflage wird natürlich kurz darauf beschlagnahmt und eingestampft. Zwei weitere Geschichten wurden nicht veröffentlicht, sie hätten Ewers wohl das Konzentrationslager eingebracht.« Der einstmals begeisterte Adept der faschistischen Bewegung Hanns Heinz Ewers war als Schöpfer eines nationalen Märtyrers selbst zum Opfer der hochgradig selektiven und skrupellosen Ideologiegeschichtsschreibung der Machthaber geworden.“ (26)
Goebbels Fehlgriff und zu den Gründen, warum der Roman zum Reinfall wurde
Es war allerdings nicht nur der (vermeintlich) fehlende Antisemitismus in Ewers’ Wessel-Roman (und auch in den allermeisten seiner früheren Veröffentlichungen), den man ihm vorgeworfen hat, der maßgeblich zu diesem „Zerwürfnis“ zwischen Autor und Partei bzw. dem nationalsozialistischen „Establishment“ führte.
Hinzu kamen einerseits der Vorwurf, Ewers sei eigentlich bloß eine Art „Konjunkturritter“, der mit seinen beiden rechtsextremen Büchern (dem Freikorpsroman und der Wessel-Biographie) nur schnelles Geld mit dem aufkommenden Nationalsozialismus machen wollte.
Andererseits war aber letztlich Ewers’ Vergangenheit viel gravierender für seinen Absturz. Nicht nur fehlten dem ehemals kosmopolitisch ausgerichteten Reiseschriftsteller und Autor „phantastischer“ Geschichten „die für die NS-Ideologie grundlegenden rassenbiologischen Ansichten; vor allem kann Ewers mitnichten als Antisemit bezeichnet werden, was ihn als Vorzeige-Nazi bereits disqualifiziert.“ (27)
Absolutes „No Go“ war aber ganz besonders sein teils provokanter Nonkonformismus bei der Auswahl der bevorzugten literarischen Themen und in der Gestaltung seines Lebenswandels: neben homo- und auch transsexuellen Neigungen, seiner Lust an „exotischen“ Ritualen (von Voodoo über Hypnose bis zu Nekrophilie) und einer ausgeprägten Experimentierfreudigkeit mit verschiedensten Rauschmitteln, hat dieser Mann kaum ein Laster ausgelassen.
Dieses aus der Zeit der „Dekadenz“ um 1900 stammende Image des „Bad Boys“ war nur schwer mit den konträren Moralvorstellungen der ab 1933 regierenden „Staatspartei“ NSDAP zu vereinbaren. Das Saubermann-Image, das Hitler seiner Bewegung spätestens mit der Machtübernahme überstreifen musste, um die konservativen Deutschnationalen in eine gemeinsame Regierung zu bringen, vertrug keine Paradiesvögel à la Ewers. Doch wie konnte es überhaupt zu einer solchen „Fehleinschätzung“ in der Person des Autors für einen SA-Propaganda-Roman kommen?
Auftraggeber bzw. Initiator dieser besonderen Biographie war NS-Propagandachef Joseph Goebbels, Anfang der 1930er Jahre Gauleiter von Berlin, begeisterter Verfälscher der Wahrheit und fanatischer Bückling Hitlers (im Führerbunker Ende April 1945 treu bis in den Tod).
Weniger bekannt ist, dass Joseph Goebbels selbst – zumindest kurzzeitig – die Neigung zur Schriftstellerei hatte; sein einziges nennenswertes literarisches Werk von 1923 war jedoch eher ein „Flop“.
Ähnlich wie Hitler in der Architektur (besonders bei der Stadtplanung) hätte Goebbels der Menschheit dadurch einen großen Gefallen erwiesen, hätte er nie wieder auch nur eine Schrift veröffentlicht.
Da er aber nun einmal davon überzeugt war, dass die Vita von Horst Wessel unbedingt Stoff für einen Heldenroman über die SA werden musste, zumal das öffentliche Interesse im Laufe des Jahres 1930 ihm Recht zu geben schien, wurde die Suche nach einem geeigneten Autor quasi zur Chefsache.
Es gab zwar viele „Schreiberlinge“ in Reihen der NSDAP, insbesondere in den diversen Parteiorganen, jedoch kaum ernstzunehmende Schriftsteller („Literaten“). Die anerkannten Romanschreiber im rechten Lager waren aber entweder nicht auf Linie der NSDAP oder vertraten eine andere künstlerische Ausrichtung.
Daher war die Auswahl doch relativ klein; und dank der Kontakte, die Ewers im Laufe der Zeit geknüpft hatte, konnte er sich auf einmal erfolgreich ins Spiel bringen, wofür der Freikorps-Roman, den er 1931 zu schreiben begonnen hatte, als „Leseprobe“ dienen konnte, obwohl seine Person von Anfang an von vielen Seiten argwöhnisch bis belustigend betrachtet wurde:
„Daß Goebbels mit Ewers keine besonders gute Wahl getroffen hatte, was die Außenwirkung seines Hofautors angeht, zeigt auch Bertolt Brechts Essay Die Horst-Wessel-Legende aus dem Jahr 1935. Gerade weil die Argumentationsstruktur des Textes Brechts Interesse verpflichtet ist, über Ewers Goebbels zu treffen, nutzt Brecht die Möglichkeit, den Autor des Wessel-Buches als Pornographen zu diskreditieren. Bis in die Details ist Brecht hierbei auf die Analogieführung von Propagandaminister und Auftragsschreiber konzentriert: »Zur Herstellung einer endgültigen Lebensbeschreibung des jungen Helden suchte Joseph Goebbels einen Fachmann und wandte sich an einen erfolgreichen Pornographen. Dieser Experte, ein Herr namens Hanns Heinz Ewers, hatte unter anderem ein Buch geschrieben, in dem ein Leichnam ausgegraben und vergewaltigt wurde. Er schien hervorragend geeignet, die Lebensgeschichte des toten Wessel zu schreiben. Es gab nicht zwei Leute mit soviel Phantasie in Deutschland.«“ (28)
Nun ist Bertolt Brecht sicher nicht der einzige, der dem Schriftsteller Ewers pornographische Neigungen nachsagte. Auch wenn Brechts Versuch, durch eindeutige Anspielungen auf Ewers literarische Vergangenheit eigentlich Goebbels bzw. die NS-Größen insgesamt, die den Auftragsroman über Wessel initiiert hatten, zu treffen und auch lächerlich zu machen, etwas plump wirken mag (zumal Brecht aufgrund seiner eigenen „Übergrifflichkeit“ gegenüber meist jungen Frauen besser vor der eigenen Tür gekehrt hätte), kann man die Kritik an der Auswahl des Autors, aber auch an der „künstlerischen Umsetzung“ als intellektuelle Ohrfeige für die verantwortliche Führung im Kulturbetrieb des Dritten Reichs bewerten.
Zeigt doch der Roman selbst, verdeutlichen aber auch die gesamten Umstände seiner Entstehung und späteren Rezeption, wie sehr Goebbels und die NS-Propaganda bestrebt waren, Identifikationsfiguren zu schaffen und sich ein positives Image zuzulegen.
„Anfangs, kurz nach seinem Erscheinen im Herbst 1932, fand der Horst-Wessel-Roman (…) eine ganz vorzügliche Resonanz, die für die höchsten Chargen der NSDAP (…) dokumentiert ist. Das als Verlagsmitteilung dem Buch beiliegende Blatt zitiert aus Briefen führender NSDAP-Mitglieder an Hanns Heinz Ewers. Dieser hat offenbar umgekehrt versucht, eine Lobby zu gewinnen, indem er mit beifallheischenden Buchgeschenken bei den einschlägigen Adressen antichambrierte.“ (29)
Diese besonders auffällige Form des Speichelleckens beruhte jedoch (anfänglich) auf Gegenseitigkeit: Ernst Röhm (langjähriger SA-Chef), Baldur v. Schirach (Reichsjugendführer) oder auch besagter Hohenzollern-Prinz August Wilhelm (hierzu weiter unten) überhäuften den Autor mit Lobhudelei; sogar ein Heinrich Himmler (Reichsführer-SS) bedankte sich für das ihm übersandte Exemplar bei Ewers.
Also in den knapp über 1,5 Jahren zwischen Ende 1932 und Jahresmitte 1934 gab es seitens der Parteiprominenz wohlwollende Reaktionen auf Ewers’ Wessel-Roman. Doch ist Ewers – trotz aller kurzzeitigen Versuche, sich den Nazis als überzeugter Parteigänger anzudienen – nun sicherlich kein lupenreiner Nazi gewesen; hier setzten auch seine Gegner an:
Noch vor dem offiziellen Erscheinungstermin startete eine extreme Gruppe innerhalb der rechten Publizistik einen radikalen Feldzug gegen das konkrete Buch, aber noch viel intensiver gegen den Autor.
Regionale Parteiorgane der NSDAP wollten die Vernichtung von Ewers, den sie öffentlich als „Schädling“ anprangerten. Diese gezielte Kampagne hielt über einen längeren Zeitraum an und wurde besonders ab Frühjahr 1933 intensiviert.
Eine besonders treibende Kraft bei diesen ideologisch geprägten „Frontalangriffen“ auf Ewers (die auch dazu führten, dass bestimmte Werke des Autors auf eine berüchtigte schwarze Liste kamen und daher auch bereits von den ersten Bücherverbrennungen betroffen waren), ist ein weit rechts stehender Literaturkritiker namens Will Vesper, der mit Hilfe einer eigenen Literaturzeitschrift die Herabsetzung von Ewers professionell betrieb und mit seinen „Verrissen“ erfolgreich war. Sogar in einem Rechtsstreit, den Ewers wegen dieser Kampagnen im Spätsommer 1933 anstrengte, konnte der geschmähte Autor nicht obsiegen. (30)
Letzten Endes dürfte die wahre Ursache für den gegen Ewers geführten Feldzug im Konkurrenzkampf zwischen Goebbels und Rosenberg zu suchen sein. Mit der Machtübernahme der Nazis erfolgte auch ein Wechsel in der Zuständigkeit für „die Kultur“. Vorher war dies eine reine Parteiangelegenheit und unterstand im Wesentlichen Goebbels zur ausschließlichen Verfügung. Danach wurde das Thema gleichsam eine staatliche Angelegenheit und unterlag somit anderen behördlichen Zuständigkeiten, für die auf einmal Rosenberg, nicht mehr Goebbels alleine verantwortlich war.
Wollte Goebbels wegen des peinlichen Aufsehens, das die Hetzkampagnen gegen Ewers verursacht hatten, vermeiden, im internen Machtkampf angreifbar oder gar erpressbar zu werden, musste der Propagandaminister unbedingt handeln, was die Ausbootung Ewers bedeutete. (31)
Nach einem kurzen, steilen Aufstieg folgte der umso tiefere Fall des Hanns Heinz Ewers. Wobei – von diesen internen Machtspielen im inneren Zirkel der Parteiführung abgesehen – sich ab 1933 auch ein deutlicher Umschwung innerhalb der NSDAP abzeichnete, der alles andere als förderlich für bisherige Aktivitäten der „Sturmabteilung“ gewesen ist.
Was bis dahin auf dem Hintergrund der zahlreichen Landtags- und auch Reichstagswahlen 1930 bis Frühjahr 1933 als ein grundsätzlich schlaues Manöver gelten konnte, um öffentlichkeitswirksam die Wahlkampftrommel zu rühren, von der identitätsstiftenden Wirkung in den eigenen Reihen ganz abgesehen, war nunmehr über Nacht nicht mehr angesagt.
Ab Frühjahr 1933 musste daher die Parole vom „Kampf um die Straße“ aufgegeben werden, da die Brutalität der SA-Schlägertrupps nicht mehr opportun für eine nunmehr staatstragende Partei gewesen ist und spätestens seit Mitte 1934 im Zusammenhang mit dem sog. „Röhm-Putsch“ die SA insgesamt als Machtinstrument ausgedient hatte (bekanntlich hatte sich die Reichswehr intern durchgesetzt).
Daher waren all die „Blutzeugen der Bewegung“ nur noch Relikte einer vergangenen Epoche.
Einzig das Horst-Wessel-Lied (sicher wegen des eingängigen Textes und der schmissigen Musik) hatte diesen geistigen Umbruch überdauert, und die zahlreichen Umbenennungen von Straßen, Orten und Plätzen etc. galten eigentlich nur der „Kunstfigur“ Horst Wessel. Weder der Mensch Wessel, noch viel weniger der Autor Ewers, waren den Nazis auch nur einen Pfifferling wert.
In gewisser Weise kehrte Ewers kurz vor seinem Tod wieder zu einem Teil seiner Wurzeln zurück: als unkonventioneller (oder gar nonkonformistischer) Bürgerschreck.
Der große Unterschied zu seinen Anfängen als Skandalautor in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts bestand jedoch darin, dass es bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs tatsächlich noch ein Bürgertum gegeben hat, das erschreckt werden konnte. Spätestens ab 1933 waren die „Bürger“ selbst der Schrecken.
Exkurs: Der tatsächliche Prozess gegen die Wessel-Attentäter
Wie bereits eingangs erwähnt, wird in der Romanhandlung der Strafprozess gegen die Angreifer Horst Wessels vom Autor tendenziell so geschildert, als habe das Gericht eine gewisse Milde gegenüber den Angeklagten walten lassen:
„Siebzehn Angeklagte saßen auf den Bänken; sie nahmen die Sache nicht sehr ernst; spielten Theater, so gut es gehen wollte – nun ja, was konnte ihnen schon groß geschehen? Ein halbes Dutzend gewiegter Anwälte verteidigte sie, die sich auskannten in kommunistischen Verteidigungen, gottja, schließlich war es doch nur so ein lumpiger Faschistenhund, dem man eine proletarische Abreibung verabfolgt hatte! Daß er dann sechs Wochen später im Krankenhaus gestorben war – was konnten sie schon dafür? Sehr langmütig war der Vorsitzende, zuvorkommend und duldsam.“ (32)
Die Schilderung des weiteren Prozessverlaufs, wie die Befragung der Angeklagten etc., entbehrt nicht eines sarkastischen Untertons, der besonders zum Ende hin deutlich wird:
„Der Staatsanwalt stellte seine Anträge, die Anwälte hielten ihre Verteidigungsreden – sie bedankten sich aufs wärmste bei dem Herrn Vorsitzenden für seine vorbildliche Art der Verhandlungsführung. Und Ali Höhler und seine Genossen gaben durch laute Zurufe ihre Zustimmung zu erkennen. – Wenn das nicht helfen würde!“ (33)
Im Unterschied zur fiktionalisierten Romanhandlung war der Ablauf des realen Strafverfahrens doch um einiges komplexer. (34) Nachdem der als Haupttäter gesuchte Albrecht „Ali“ Höhler freiwillig aus seinem Prager Unterschlupf wieder nach Deutschland zurückgekehrt war und sich den Behörden gestellt hatte, konnte die Staatsanwaltschaft nach Abschluss der Ermittlungen Anklage erheben; aber nicht wegen (gemeinschaftlich begangenen) Mordes, der im Falle einer Verurteilung die Todesstrafe bedeutet hätte, sondern „bloß“ wegen Totschlags und Nötigung.
Der Prozess fand Ende September 1930 vor heimischer Kulisse am Landgericht Berlin- Mitte statt. Im Mittelpunkt der Beweisaufnahme standen die Vorgeschichte um den Streit zwischen der Vermieterin Elisabeth Salm, die ebenfalls angeklagt wurde, und dem späteren Opfer und seiner Lebensgefährtin (Erna Jaenichen) und die von den Angreifern geplante „Gegenwehr“ (die sog. „proletarische Abreibung“).
Da es das Gericht vermeiden wollte, dass der Strafprozess zu einer politischen Propagandaveranstaltung umgewidmet werden würde, wurde absichtlich nicht der Schwerpunkt auf die politischen Aktivitäten Wessels gelegt, mit denen er natürlich den Kommunisten ihre Gebietsansprüche in Berlin-Mitte streitig machen wollte.
Für diese bewusst entpolitisierte Verhandlungsführung des Gerichts spricht auch die relativ kurze Dauer der gesamten Verhandlung: knappe fünf Tage.
Wie sooft bei nicht ganz eindeutigen Abgrenzungsfragen bei der Unterscheidung von Mord (wenn die Tötung mit „Überlegung“ ausgeführt wurde) und dem einfachen Totschlag, kam es auf die Frage an, welcher Entschluss ursprünglich gefasst worden war, woraus sich dann auch die Art des Vorsatzes ableiten ließe.
Da es der Anklage, also dem Staatsanwalt, nicht gelang, für den Entschluss zum Überfall auf Wessel auch den Willen zur Tötung (bis zur Reform des Strafgesetzbuchs 1941 gab es die bis heute bekannten „Mordmerkmale“ des § 211 Abs. 2 wie Heimtücke oder Habgier nicht ausdrücklich im Gesetz) bei den Angreifern nachzuweisen, war demnach tatsächlich ursprünglich bloß eine – wenn auch schwere – Körperverletzung beabsichtigt und die geplante „Abreibung“ lief dann aus dem Ruder. (35)
Rein juristisch (nach der Gesetzeslage von 1930) kann so argumentiert werden; wobei die Hürde, dass der Schütze Ali Höhler vorab eine Pistole mitgenommen hatte, nicht einfach zu nehmen ist.
Hier wird die Verteidigungsstrategie der Anwälte angesetzt und auch gefruchtet haben, dass sich der gesamte Sachverhalt in einem ganz bestimmten Umfeld zugetragen hatte, in einem Milieu, das bekanntlich von Gewalt geprägt war. Das Mitführen der Pistole war somit nicht automatisch mit einem Tötungsvorsatz verbunden, so dass man bei Höhler auch nicht zweifelsfrei von „Überlegung“ ausgehen konnte. Der tatsächliche Schuss erfolgte dann aus der spontanen Situation, die – so die Verteidigungsargumentation – weder genau vorhersehbar gewesen noch mit einer Tötungsabsicht herbeigeführt worden ist.
Da bereits dem Schützen keine „Überlegung“ nachzuweisen war (oder nicht nachgewiesen werden sollte), waren die anderen am Überfall auf Wessel beteiligten Angeklagten höchstens wegen Beihilfe zum Totschlag zu verurteilen, was dann auch die teils relativ milden Strafen (sogar zur Bewährung) erklärte.
Ganz „sauber“ erfolgte die juristische Bewertung des Tatgeschehens wohl nicht, eher kann das Ergebnis als ein politischer Kompromiss zu sehen sein: Der Staat hat es nicht zugelassen, dass Kommunisten einfach einen SA-Mann über den Haufen schießen (daher die Bestrafung), aber eine tiefere Einmischung in die Hintergründe und Konflikte der beteiligten Parteien sollte auch vermieden werden. Nach dem Motto: Wasch‘ mir den Pelz, mach‘ mich aber nicht nass.
Seit der Strafrechtsreform der Nazis Anfang September 1941, wodurch die sog. Mordmerkmale in § 211 StGB eingeführt wurden, hat es ein Staatsanwalt deutlich einfacher, den Tatbestand des Mordes vor Gericht zu beweisen; in der Strafsache gegen die am Überfall auf Wessel beteiligten Angeklagten hätte jeder NS-Jurist das Vorliegen wenigstens eines der gesetzlichen Mordmerkmale nachweisen können: entweder „niedrige Beweggründe“ oder aber ganz sicher die „Heimtücke“. (36)
Zwingendes Strafmaß war dann bei Verurteilung wegen Mordes immer: die Todesstrafe. Die Gefolgsleute von Hort Wessel hatten natürlich den Prozess genau verfolgt; für sie war das aus ihrer Sicht viel zu milde Urteil skandalös und schrie nach „Wiedergutmachung“.
So kamen nach 1933 mindestens acht Personen, die als verdächtig galten, am Überfall und der Tötung Horst Wessels beteiligt gewesen zu sein und größtenteils im Herbst 1930 auch verurteilt worden waren, ums Leben.
Neben einem Schauprozess im Jahre 1934 gegen drei Männer, die 1930 im ersten Verfahren nicht angeklagt waren, und der nun erwartungsgemäß mit Todesurteilen gegen zwei der nachträglich Angeklagten endete, musste auch der ursprünglich zu milde Schuldspruch nachträglich „korrigiert“ werden: Bereits Anfang Mai 1933 wurde die wegen Beihilfe zu einem Jahr Haft verurteilte Else Cohn (im Roman hatte sie ihre Genossen immer wieder angefeuert) von offiziell unbekannten Tätern ermordet.
Im Herbst 1933 folgte dann die Erschießung des Haupttäters „Ali“ Höhler, der ja noch offiziell in Haft saß. Um diesen „Rachemord“ überhaupt begehen zu können, musste ein ganz besonderes Szenario entworfen werden: Während eines Häftlingstransportes wurde der Gefangenentransporter auf offener Strecke zum Anhalten gezwungen und der Gefangene Höhler wurde von einem eigens gebildeten Exekutionskommando zum Tode verurteilt und noch vor Ort erschossen. (37)
Erst in den 1960er Jahren wurde die Identität der Beteiligten zweifelsfrei festgestellt. Es handelte sich dabei meist um hohe SA-Führer, insbesondere auch um den späteren SA- Obergruppenführer Prinz August Wilhelm (genannt „Auwi“) von Preußen. Mutmaßlich ging die Ermordung von Höhler sogar auf eine Anweisung Hitlers zurück.
Da der Hohenzollernprinz aber bereits 1949 verstorben war, konnte gegen ihn in der späteren Bundesrepublik kein wirksames Strafverfahren mehr wegen der Höhler-Ermordung eingeleitet werden.
Exkurs: Der Nazi-Prinz und die Horst-Wessel-Geschichte
Doch war die nachweisliche Beteiligung von Prinz Auwi an der Exekution des Haupttäters am tödlichen Überfall auf Horst Wessel, besagten Albrecht („Ali“) Höhler, nicht der einzige Berührungspunkt mit dem glorifizierten Romanhelden.
Bereits eingangs wurde erwähnt, dass – zumindest für heutige Leser – ganz überraschend auch die Person des realen Hohenzollernprinzen August Wilhelm von Preußen in der Heldensaga über Horst Wessel funktionalisiert wurde. Noch auf dem Sterbebett, so die Schilderung im Roman, setzt sich Wessel vehement bei „Doktor Goebbels“ für die Aufnahme des Kaisersohnes in die SA (und auch in die Partei) ein:
„Wieder einmal saß Doktor Goebbels bei dem Kranken, hielt seine Hand, sah ihn an mit seinen großen dunklen Augen, diesen Augen, die so leidenschaftlich brennen konnten, wenn er in Riesensälen die Massen zum Freiheitskampfe aufrief, und die nun so lieb, so jungenhaft dreinblickten. »Er war wieder bei mir, der Prinz«, sagte der Kranke, »ihr müßt ihn aufnehmen.« Goebbels wiegte den Kopf. »Es wird kaum gehen, Horst! Die Jugend kämpft in unseren Reihen, Arbeiter und Studenten. Wir dürfen die Bewegung mit nichts belasten, das nach Reaktion riecht!«
Der junge Sturmführer gab nicht nach. Dieser Hohenzollernprinz August Wilhelm sei schon letzten August auf dem Nürnberger Parteitag erschienen (…). Wie und wo er nur könne, arbeite er für Hitler und seine Bewegung, erziehe seinen Sohn zu einem echten Nazijungen. O ja, die Bedenken seien wohl verständlich! Aber man dürfe ihn nicht zurückweisen – jeden ehrlichen Deutschen nähme der Führer auf, da sei kein Unterschied: Prinz oder Arbeiter! Und wenn er, Horst, seinen Sturm aus bekehrten Rotfrontlern gebildet habe, mit roter Schalmeienkapelle durch die Gassen gezogen sei – dann müsse man auch des Kaisers Sohn erlauben, im braunen Hemde mitzumarschieren in ihren Reihen. »Tun Sie`s, Doktor«, bat er, »sprechen Sie darüber mit dem Führer. Sagen Sie ihm, daß es mein letzter Wunsch sei – « Er unterbrach sich, zögerte einen Augenblick, lachte dann. Fuhr fort: »Ich meine (…), daß Sie keinen bessern, aufrichtigeren S.A.-Mann bekommen werden als den preußischen Prinzen August Wilhelm!“ (38)
Und auch bei der späteren Beerdigung wird im Roman die Anwesenheit des Nazi- Prinzen besonders hervorgehoben:
„Hinter der Mutter stand, sehr groß und schlank, der Hohenzollernprinz, wehrte nicht den Tränen, die ihm über die Wangen rollten. Einer preßte in heißer Erregung seinen Arm, ein breitschultriger, mächtiger Bursch vom fünften Sturm, der Schipper Bruno – Stand und Beruf, Geburt und Erziehung, alles versank an diesem offenen Grabe. Eines nur blieb: einiger, deutscher Glaube in tiefstem Schmerz. (…)
Hauptmann Goering nahm Horsts Sturmkappe, (…) warf sie hinab auf den Sarg. (…)
Dann sprach Joseph Goebbels. Und er sprach, wie er nie zuvor gesprochen hatte. (…)
»Und alle, alle S.A.-Männer werden antworten wie aus einem Munde: ‚Hier!‘ — Denn die S.A. — das ist Horst Wessel!«.“ (39)
Aus heutiger Sicht ist die Wirkung, die mit dieser pathetischen Stimmung erzeugt werden sollte (und wohl auch in weiten Kreisen tatsächlich erzeugt worden ist), nur schwer nachvollziehbar. Doch indem sich Prinz August Wilhelm von Preußen so bewusst in den Dienst der angestrebten „Volksgemeinschaft“ stellt bzw. stellen lässt, brauchten sich die damals lebenden Hohenzollern auch nicht zu wundern, wenn der politische Gegner Prinz Auwi als „Braunhemd“ öffentlich bloßstellte.
Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang noch folgende Bewertung:
„Der Nationalsozialismus erweist sich in der Perspektive des Romans als eine Sonderform eines durch die bürgerliche Revolution erneuerten Monarchismus. Die Vorlage dieses Interpretationsversuches ist vermutlich Oswald Spenglers Konzept des Cäsarismus als einer posttraditionellen totalitären Herrschafts- und Regierungsform.“ (40)
Nimmt man diese Deutung ernst, wonach der Autor das künftige „Dritte Reich“ als moderne bzw. geläuterte Form des monarchischen Gedankens interpretierte, würde dem gesamten persönlichen Umfeld des ehemaligen Kaisers eine ganz andere, deutlich politischere Rolle und auch Funktion zukommen, als es sonst üblicherweise in den Darstellungen zur Weimarer Republik der frühen 1930er Jahre der Fall ist.
Die Episode um Nazi-Prinz „Auwi“ erhält natürlich ganz aktuell dadurch zeitgeschichtliche Brisanz, da ja das heutige Haus Hohenzollern immer noch sog. Restitutionsansprüche (ersatzweise Schadenersatz) gegen den Staat bzw. staatliche Behörden geltend macht (mögliche Rechtsgrundlage: das Ausgleichsleistungsgesetz aus dem Jahr 1994). Dieser durchaus skurrile Rechtsstreit dauert jetzt schon einige Zeit an. (41)
Von besonderer Bedeutung ist hierbei § 1 Abs. 4 des Ausgleichsleistungsgesetzes, wonach Ansprüche ausgeschlossen sind, wenn der Enteignete oder sein Rechtsnachfolger dem nationalsozialistischen System „erheblichen Vorschub“ geleistet hat. Juristischer Dreh- und Angelpunkt ist also dieses Tatbestandsmerkmal.
Und an dieser Stelle wird nun die Story um Horst Wessel interessant:
Unterstellt man die oben geschilderte Darstellung im Roman als wahr, dann ist ja wohl offensichtlich, mit welcher Hingabe der jugendliche Held um seinen Prinzen kämpft. Dieses Betteln um Aufnahme eines „Anwärters“ wäre dann völlig belanglos, ginge es um irgendeinen unbedeutenden Mann von der Straße; hier ist es aber ein echter Hohenzollernprinz. Wenn aber in einem offiziellen Propagandaroman ein realer Angehöriger des letzten deutschen Kaiserhauses hofiert und fast als Heilsbringer dargestellt wird, muss schon eine besondere Beziehung zwischen dem Umworbenen und den Nazis vorgelegen haben.
Jetzt würde dieses schwärmerische Umwerben allein noch kein aktives Vorschubleisten im Sinne des Gesetzes darstellen; aber es kommen noch weitere Umstände hinzu:
Der Ewers-Biograph Kugel hat beim Verlag, der das Wessel-Buch herausbrachte, folgendes recherchiert:
„Ein Informationsblatt des Cotta-Verlags zitiert aus Zuschriften an Ewers bezüglich des Romans. (…) Prinz August Wilhelm von Preußen: »Heute durchflog ich Ihr ‚Horst-Wessel‘-Buch, und abends bei Dr. Goebbels wurden uns daraus einige Stellen vorgelesen. Das ließ mir mit erschütternder Deutlichkeit in meisterhafter Weise wieder lebendig werden, wie in jenen Wochen sich für uns damals alles um den einen Pol bewegte: ‚Wird unser Horst durchkommen?‘ Sie haben so prachtvoll geschildert, was Horst und mich zu Freunden machte, als er schon vom Tode gezeichnet war. Ich nehme das Buch jetzt mit nach Holland, wohin ich zum Kaiser fahre.«“ (42)
Aus dieser Zuschrift des Hohenzollernprinzen ergibt sich ja wohl eindeutig, wie nah er dem verstorbenen Horst Wessel stand und nicht nur welche Sympathien er den Nazis allgemein entgegenbrachte, sondern auch welche politischen Intentionen er verfolgte. Und dann kommt noch ein ganz besonderer Aspekt hinzu:
Wie bereits ausgeführt, ist der Nazi-Prinz auch an der Ermordung des echten „Ali“ Höhler im September 1933 in der Nähe von Frankfurt/Oder beteiligt gewesen (seinerzeit noch im Range eines SA-Gruppenführers, später wurde er dann noch zum „Obergruppenführer“ befördert, der zweithöchste Rang in der SA, und diesen Titel führte der Nazi-Prinz lange Jahre bis „zum Untergang“).
Nimmt man all diese Informationen zusammen, erhärtet sich zumindest das aus anderen Quellen bereits vermittelte Bild, dass Prinz August Wilhelm v. Preußen aktiv kämpferisch für den Nationalsozialismus eingetreten ist und dabei nicht nur Wahlkampf für Adolf Hitler gemacht hat, sondern die Nazi-Ideologie verinnerlicht hatte und nach außen vertrat. Als prominentes Mitglied des Kaiserhauses war ihm dieses Image bewusst und die Außendarstellung kam ihm sehr gelegen. Er war daher nicht nur der nützliche Idiot, der vom bösen Hitler instrumentalisiert wurde, sondern aktives Mitglied in der SA und der Partei – an prominenter Stelle.
Dies ausgerechnet in der Wessel-Saga untermauert und bestätigt zu finden, verleiht dem Ewers-Roman – auch neunzig Jahre nach der Erstveröffentlichung – noch zusätzlich eine pikante Note.Das besondere Kapitel „Die Hohenzollern und die Nazis“ in der an Absonderlichkeiten sicher nicht armen deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts bleibt somit aktuell.
Autor: Thomas Fuchs, Assessor iur., Rechtshistoriker
Anmerkungen
1) Zum historischen Horst Wessel gibt es zahlreiche Nachweise.
Hier im Forum z. B. Bernd Kleinhans, https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/horst-wessel/
Auch bei Wikipedia können zahlreiche Nachweise und Weblinks etc. zu Wessel und seinem gesamten Umfeld nachgeschlagen werden. Gegenstand dieses Artikels soll aber der Propaganda-Roman von Hanns Heinz Ewers sein und die Abweichungen zwischen realer Person und Kunstfigur.
2) Stockhorst, S. 7.
3) Vgl. bei Delabar, S. 229.
4) Neben der hier beschriebenen Biographie von Ewers hat es nahezu zeitgleich noch zwei weitere Wessel-Biographien gegeben: Erwin Reitmann – Horst Wessel. Leben und Sterben, Berlin 1932. Außerdem von der Schwester: Ingeborg Wessel, Mein Bruder Horst. Ein Vermächtnis, München 1934 (von derselben bereits ein Jahr zuvor ein Bildband; beide Bücher der Schwester wurden im Franz Eher Verlag herausgebracht, dem Parteiverlag der NSDAP). Von der insgesamt völlig missglückten Kinoverfilmung, die auf Ewers Vorlage beruhen sollte, dann aber doch stark abgewandelt werden musste, braucht erst gar nicht gesprochen zu werden.
5) Eine ausführliche lexikalische Zusammenfassung des Romaninhalts findet sich bei Hillesheim/Michael, S. 182ff. Hier in diesem Beitrag werden nur einzelne Episoden thematisiert.
6) Dieser Aspekt, wahrscheinlich auch mehr ein absichtlich gestreutes Gerücht der KPD zwecks Ablenkung, wird von Ewers auch nicht weiter vertieft. Allerdings widmet Ewers im 4. Kapitel der Episode, in der Wessel die „Dirne“ Erna aus den Fängen ihres prügelnden Zuhälters befreit, mehrere Seiten, siehe Ewers, S. 89ff.
(Damit hatte Wessel rein praktisch gesehen einem Luden ins Handwerk gepfuscht, was in diesen Kreisen nicht gerne gesehen wird – damals wie heute).
7) Ewers, S. 216 unten bis S. 217 in der Mitte (knapp eine halbe Seite).
8) Ewers, S. 50. Die zitierte Stelle kann auch als Kostprobe für Ewers Schreibstil gelten (seine Einordnung als „Trivialautor“ ist zumindest in diesem Roman durchaus gerechtfertigt). Historisch ungenau ist der Vergleich mit Hitlers Festungshaft in Landsberg insoweit, als es sich dort um einen sehr lockeren Vollzug gehandelt hatte, in dem auch zahlreiche Besucher gestattet waren. Und schließlich ist die Etikettierung als „Freiheitsbewegung“ ein beliebter Trick aller faschistischen Gruppen Europas während der beiden Weltkriege.
9) Ders., im Zusammenhang auf S. 48 – 52.
10) Dass der reale Horst Wessel in einer Jugendorganisation des Wiking-Bundes beteiligt gewesen ist, soll aber gar nicht abgestritten werden; allerdings waren dies höchstens „Wehrsportübungen“. Vor der offiziellen Gründung des Wiking-Bundes hatte Hermann Ehrhardt bereits 1921 eine Zeitschrift mit dem Titel „Der Wiking“ herausgebracht; zu dieser Zeit hatte der ehemalige Freikorpsführer tatsächlich noch großen Einfluss. Die politische Bedeutung von Ehrhardt war jedoch spätestens ab Ende 1923 stark rückläufig, so dass er auch keine neuen Anhänger mehr gewinnen konnte; dies gelang stattdessen Hitler nach seiner Haftentlassung und der Wiederzulassung der NSDAP – trotz des dilettantischen Putschversuches am 9. November 1923.
11) Vgl. Siemens: „Es ist nicht ausgeschlossen, dass die tödlichen Schüsse Horst Wessel trafen, als er gerade aus dem braunen Milieu aussteigen wollte.“ (https://www.spiegel.de/geschichte/nazi-ikone-horst-wessel-a-948281.html). Auch neunzig Jahre später sehen sich Neonazis, Hooligans etc. oft vor ähnlichen Situationen gestellt: private Ereignisse führen dazu, dass der eine oder andere gerne aus dem bisherigen Milieu/Umfeld aussteigen möchte, doch der Absprung fällt schwer – entsprechende Aussteigerprogramme (ohne staatliche Repression) können dann sinnvoll sein. Speziell zu Erna Jaenichen: https://de.wikipedia.org/wiki/Erna_Jaenichen
12) Vgl. Siemens, wie Anm. 11.
13) Vgl. Stockhorst, S. 26.
14) Dies., S. 25. Siehe auch bei Schuster: https://www.welt.de/kultur/article5055981/Wie-die-Nazis-das-Buebchen-Horst-Wessel-verklaerten.html
15) Stockhorst, S. 26f. mit zahlreichen Nachweisen.
16) Brandenburg, S. 280 – 282 mit zahlreichen Nachweisen.
17) Zu und über Ewers gibt es ebenfalls zahlreiche Veröffentlichungen; hier können nur wenige Aspekte des Menschen und Schriftstellers aufgegriffen werden. Interessanter, leider kostenpflichtiger Artikel:
https://www.spiegel.de/geschichte/hanns-heinz-ewers-einer-der-erstaunlichsten-dichter-des-kaiserreichs-a-00000000-0002-0001-0000-000173991082
18) Stockhorst, S. 7.
19) Brandenburg S. 245. Der letzte Roman, bevor Ewers sein Sujet vorübergehend radikal änderte, war „Fundvogel“, in dem es u.a. um eine Geschlechtsumwandlung ging: so fundamental war der berufliche „Wechsel“.
20) Mohler, S. 526.
21) Brandenburg, S. 270f.
22) Dies., S. 271f.
23) Stockhorst, S. 28 mit entsprechenden Nachweisen. Zumindest vor seinem Gesinnungswandel ab etwa 1923/24 galt Ewers sogar als „Philosemit“, exemplarisch im Roman Vampir von 1920 wird der Traum einer, heute geradezu grotesk anmutenden, jüdisch-germanischen Weltherrschaft (s. Brandenburg, S. 182) nicht nur thematisiert, sondern zu einer Vision; zumindest kann Ewers vor 1920 keinesfalls als Antisemit bezeichnet werden. Dies war ja dann ab 1933 der neuralgische Punkt, den seine Gegner gegen ihn verwenden konnten.
24) Vgl. bei Ewers, S. 223f.
25) Siehe bei Ewers, S. 157 – 160. Zu Bernhard Weiß (Polizei-Vizepräsident von Berlin):
https://de.wikipedia.org/wiki/Bernhard_Wei%C3%9F_(Jurist)
Interessant sind die dort genannten 60 erfolgreich geführten Prozesse gegen Goebbels (bzw. andere NS-Funktionäre), meist wegen Beleidigung oder aber zivilrechtliche Unterlassungsansprüche („Der Mann, der Goebbels jagte“ heißt eine Doku-Sendung über Weiß). Ein Beweis, dass auch in der Weimarer Republik gegen rechte Hetzkampagnen Rechtsschutz möglich war. Allerdings hatte er natürlich den großen Vorteil, dass er als profunder Jurist die Rechtslage besser kannte als seine faschistischen Gegner und daher auch bei den Gerichten Gehör fand (im Gegensatz zu anderen Repräsentanten der Weimarer Republik, siehe die zahlreichen Prozesse, die Friedrich Ebert führen musste, was sich dann letztlich auch auf seine Gesundheit auswirkte).
Weiß musste nach 1933 emigrieren und wollte 1949 nach Berlin zurückkehren, wo er wegen seiner unbestrittenen fachlichen Kompetenzen eine Beraterfunktion vom (West-)Berliner Bürgermeister Reuter angeboten bekam; sein Krebsleiden vereitelte diese späte Aussöhnung.
26) Stockhorst, S. 29 mit weiteren Nachweisen.
27) Dies., a.a.O.
28) Vgl. bei Delabar, S. 230 – 231; besonders dort die Anm. 87.
Die rituelle Beschreibung von Nekrophilie erfolgte nicht nur in Ewers’ Drama „Das Mädchen von Shalott“, sondern scheint auch in anderen Textstellen ansatzweise durch (hierzu Brandenburg, S. 138 m.w.N.). Daher braucht es auch nicht zu wundern, wenn Ewers als Politpornograph lächerlich gemacht wurde.
29) Stockhorst, S. 81.
30) Sehr ausführlich bei Stockhorst, S. 83 – 88.
31) Vgl. dies., S. 91.
32) Ewers, S. 281.
33) Ders., S. 284; vgl. zudem S. 282f.
34) Zum tatsächlichen Verlauf des Strafverfahrens siehe Überblick bei Siemens:
http://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/hoehler-albrecht-u-a/
35) Vergleichbare Konstellationen sind bis heute anzutreffen: Gewaltaffine Jugendliche treffen besonders in Großstädten aufeinander bzw. suchen bewusst die Auseinandersetzung mit der Polizei; eine Verkettung oft unglücklicher Umstände führt dazu, dass zufällige Opfer (gar Unbeteiligte) zu Schaden kommen. Mitursächlich sind dabei fast regelmäßig „berauschende Substanzen“; im Berliner Milieu, in dem Wessel und auch seine Angreifer verkehrten, wurde die Neigung zur Gewalt meist durch Alkohol verstärkt.
36) Seit vielen Jahren gibt es daher unter Strafjuristen die Forderung, den aus der NS-Zeit stammenden Mord-Tatbestand in seiner konkreten Ausgestaltung zu reformieren; getan hat sich bisher überhaupt nichts, der Rechtsprechung blieb es notgedrungen vorbehalten, durch restriktive Auslegung und dann beim Strafmaß einige Korrekturen vorzunehmen.
37) Vgl. bei Siemens (Anm. 34) oder bei Schuster: https://www.welt.de/kultur/article5055981/Wie-die-Nazis-das-Buebchen-Horst-Wessel-verklaerten.html
38) Ewers, S. 229 und besonders S. 230.
39) Ders., S. 260f. – In diesem schwülstigen Pathos fühlte sich Ewers wohl.
40) Brandenburg, S. 275.
41) Zur aktuellen Situation und auch zur Rolle der Kaisersöhne, auch von Prinz „Auwi“, während der NS-Zeit und welche Auswirkungen deren offen aggressives und kämpferisches Eintreten für das NS-Regime auf die maßgebliche Rechtslage hat, mein Beitrag: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/hohenzollern-streit/
Inzwischen gibt es sogar eine separate Wikipedia-Seite:
https://de.wikipedia.org/wiki/Entsch%C3%A4digungsforderungen_der_Hohenzollern
Laut Sachstand vom Mai 2022 sind die ohnehin grotesken Vergleichsverhandlungen gescheitert, so dass nun-mehr endgültig die Justiz übernehmen darf: https://www.sueddeutsche.de/kultur/hohenzollern-kulturpolitik-1.5579012
Es besteht aber wegen der eingeschränkten Geschichtskenntnisse vieler (auch hoher) Richter die Gefahr, dass die maßgebliche Perspektive zu stark nur auf die Person des ältesten Kaisersohns, des Kronprinzen, verengt wird; die jüngeren Söhne des Ex-Kaisers und somit auch jüngeren Brüder des Kronprinzen (vor allem „Auwi“ und Eitel Friedrich) waren nachweislich noch viel leidenschaftlichere Nazis. Wegen der Ungültigkeit des sog. Hausgesetzes der Hohenzollern ab 1919 und weil die „privaten“ Testamente aus den 1930er Jahren z. B. nach § 134 BGB nichtig, also unwirksam sind, bestand beim Tod des Ex-Kaisers 1941 eine ganz normale Erbengemeinschaft (mit zahlreichen prominenten Nazis bestückt); schwierig, hier von unbescholtenen Bürgern zu sprechen (so wurde „Auwi“ nach 1945 mehrfach verurteilt – die Vollstreckung eines weiteren offenen Haft-befehls wurde durch seinen Tod 1949 verhindert). Bei verständiger Würdigung liegt das Merkmal des „Vorschubleistens“ – zumindest wenn auf die Gesamtzahl der Erbberechtigten geblickt wird – vor. Die Aktivitäten des Nazi-Prinzen „Auwi“ haben dem heutigen „Chef“ des Hauses Hohenzollern einen Bärendienst erwiesen. Dieser kann sich daher bei seinem Urgroßonkel bedanken.
42) Nachweis bei Brandenburg, S. 275 Anm. 567.
Literatur:
Brandenburg, Ulrike: Hanns Heinz Ewers (1871 – 1943). Von der Jahrhundertwende zum Dritten Reich. Erzählungen, Dramen, Romane 1903 – 1932, Frankfurt/M. 2003 (zugl.: Mainz, Univ., Diss., 2002).
Delabar, Walter: Was tun? Romane am Ende der Weimarer Republik, 2. Aufl., Berlin 2004.
Ewers, Hanns Heinz: Horst Wessel. Ein deutsches Schicksal, Stuttgart u. Berlin 1932 (1934).
Hillesheim, Jürgen/Michael, Elisabeth: Lexikon nationalsozialistischer Dichter. Biographien – Analysen – Bibliographien, Würzburg 1993.
Mohler, Armin /Weissmann, Karlheinz: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918 – 1932. Ein Handbuch, 6. Aufl., Graz 2005.
Schuster, Jacques: Wie die Nazis das Bübchen Horst Wessel verklärten, auf Welt-online: https://www.welt.de/kultur/article5055981/Wie-die-Nazis-das-Buebchen-Horst-Wessel-verklaerten.html
Siemens, Daniel: Der Prozess gegen Albrecht Höhler u.a. wegen der Ermordung des Berliner SA-Führers Horst Wessel, in: http://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/hoehler-albrecht-u-a/
Siemens, Daniel: Nazi-Ikone Horst Wessel. „Christussozialist“ im Straßenkampf, auf Spiegel-Online vom 09.10.2007: https://www.spiegel.de/geschichte/nazi-ikone-horst-wessel-a-948281.html
Stockhorst, Stefanie: Hanns Heinz Ewers als Prophet ohne Zukunft. Bedingungsanalyse des gescheiterten Propagandaromans »Horst Wessel«, Wetzlar 1999 (Schriftenreihe und Materialien der Phantastischen Bibliothek Wetzlar Band 56).