
Das Erfurter Gipfeltreffen 1970 war das erste Treffen zwischen einem deutschen Bundeskanzler (Willy Brandt, links) und einem Vorsitzenden des Ministerrates der DDR (Willi Stoph).
Ostverträge – Willy Brandt, die Aussöhnung und die Oder-Neiße-Linie
Die sogenannten „Ostverträge“ waren eine Reihe von Verträgen und Abkommen, die in den 1970er Jahren von westlichen Staaten, insbesondere der Bundesrepublik Deutschland, mit Staaten des Warschauer Pakts, vor allem der Sowjetunion und Polen, geschlossen wurden. Diese Abkommen stellten einen entscheidenden Schritt in der Entspannungspolitik während des Kalten Krieges dar und hatten weitreichende Auswirkungen auf die politische Landschaft Europas.
I. Die Entstehung der Ostverträge
Die Entstehung der Ostverträge war das Ergebnis einer komplexen Entwicklung in der internationalen Politik, die auf eine Veränderung der Machtbalance und der Interessen in Europa zurückzuführen war. In den 1960er Jahren begann sich das Kräfteverhältnis zwischen den Supermächten, den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, zu verschieben. Die Gefahr eines nuklearen Krieges und die wirtschaftlichen Herausforderungen des Kalten Krieges führten zu einer wachsenden Bereitschaft zur Deeskalation und zur Suche nach neuen Formen der Zusammenarbeit. (Siehe: „Die Politik des atomaren Gleichgewichts“, Bericht der Bundesregierung, 1971.)
Die Bundesrepublik Deutschland, unter der Führung von Bundeskanzler Willy Brandt, spielte eine Schlüsselrolle in dieser Entwicklung. Brandts Ostpolitik, die von der Idee der „Wandel durch Annäherung“ geprägt war, zielte darauf ab, die Beziehungen zu den Staaten des Warschauer Pakts zu normalisieren und die Teilung Europas zu überwinden. Die Grundlage für diese Politik wurde in den 1960er Jahren gelegt, als erste vorsichtige Schritte zur Entspannung gemacht wurden.
II. Die wichtigsten Verträge und Abkommen
- Der Grundlagenvertrag mit der DDR (1972): Der Grundlagenvertrag, auch bekannt als „Zwei-plus-Vier-Vertrag“, wurde am 21. Dezember 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) unterzeichnet. Dieser Vertrag führte zur völkerrechtlichen Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik Deutschland und zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Er ebnete den Weg für eine intensivere Zusammenarbeit zwischen beiden deutschen Staaten. (Quelle: „Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“, 1972.)
- Der Warschauer Vertrag (1970): Der Warschauer Vertrag, auch als Warschauer Kniefall bekannt, wurde am 7. Dezember 1970 zwischen Bundeskanzler Willy Brandt und dem polnischen Staatschef Władysław Gomułka unterzeichnet. Dieses Abkommen beinhaltete die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen und öffnete die Tür zu einer Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden Ländern. (Quelle: „Warschauer Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen“, 1970.)
- Der Moskauer Vertrag (1970): Der Moskauer Vertrag wurde am 12. August 1970 zwischen Bundeskanzler Brandt und dem sowjetischen Staatschef Leonid Breschnew unterzeichnet. Dieses Abkommen bekräftigte die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland und ermöglichte eine engere Zusammenarbeit in wirtschaftlichen und politischen Fragen. (Quelle: „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Grundlagen der Beziehungen“, 1970.)
- Der Warschauer Pakt (1971): Der Warschauer Pakt, der von Bundeskanzler Brandt und dem sowjetischen Außenminister Andrei Gromyko unterzeichnet wurde, betonte die Verpflichtung beider Seiten zur friedlichen Konfliktlösung und zur Erhaltung des Friedens in Europa. Dieses Abkommen war ein wichtiger Schritt zur Entspannung in den Beziehungen zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt. (Quelle: „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Grundlagen der Beziehungen“, 1971.)
III. Die politischen Auswirkungen der Ostverträge
Die Ostverträge hatten weitreichende politische Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen den Staaten Europas und auf den Kalten Krieg als Ganzes. Sie trugen zur Entspannung und zur Entschärfung von Konflikten bei und trugen zur Stabilisierung Europas bei.
Die Normalisierung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und ihren östlichen Nachbarn führte zur Anerkennung der Grenzen und schuf die Grundlage für wirtschaftliche und kulturelle Austauschprogramme. Dies förderte die Integration Europas und trug zur Überwindung der Teilung des Kontinents bei. (Quelle: „Gemeinsame Erklärung von Bundeskanzler Brandt und dem sowjetischen Ministerpräsidenten Kossygin“, 1970)
Die Ostverträge hatten auch eine wichtige Symbolik. Der Warschauer Vertrag und der Warschauer Pakt zeigten die Bereitschaft der Bundesrepublik Deutschland, historische Verantwortung zu übernehmen und die Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Diese Gesten der Versöhnung trugen dazu bei, das Vertrauen in Deutschland zu stärken und die Befürchtungen vor einer deutschen Remilitarisierung zu mildern.
IV. Langfristige Bedeutung
Die Ostverträge waren ein Meilenstein in der Geschichte der europäischen Diplomatie und ein wichtiger Schritt zur Beendigung des Kalten Krieges. Sie ebneten den Weg für weitere Entspannungspolitik, darunter die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und die Unterzeichnung des Helsinki-Abkommens im Jahr 1975. (Siehe: „Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)“, 1975.)
Die Ostverträge trugen dazu bei, die Angst und das Misstrauen zwischen Ost- und Westeuropa zu überwinden und legten den Grundstein für eine engere Zusammenarbeit und Integration in einem geteilten Kontinent. Sie leisteten einen wichtigen Beitrag zur Schaffung eines Europas, das auf Verhandlungen, Diplomatie und wirtschaftlicher Kooperation basierte, anstatt auf Konfrontation und militärischer Eskalation.
Wertung
Die Ostverträge waren ein bedeutender Schritt in der Geschichte der internationalen Beziehungen und der europäischen Integration. Sie halfen, die Spannungen des Kalten Krieges zu mildern und legten den Grundstein für eine Ära der Entspannung und Zusammenarbeit zwischen Ost- und Westeuropa. Die Politik der „Wandel durch Annäherung“, die von Willy Brandt und anderen europäischen Staatsmännern verfolgt wurde, trug dazu bei, die politische Landschaft Europas zu gestalten und trug zur Überwindung der Teilung des Kontinents bei. Die Ostverträge sind somit ein bedeutendes Kapitel in der Geschichte der europäischen Diplomatie und des Kalten Krieges.
Literatur
Jürgen Bellers: Deutsche Ostpolitik 1970–1990. Diskussionspapiere des Faches Politikwissenschaft der Universität GH Siegen. Univ. Siegen 2003. DNB
Carole Fink, Bernd Schaefer: Ostpolitik, 1969–1974, European and Global Responses. Cambridge University Press, Cambridge [u. a.] 2009.
Andreas Grau: Gegen den Strom: Die Reaktion der CDU/CSU-Opposition auf die Ost- und Deutschlandpolitik der sozial-liberalen Koalition 1969–1973. Droste 2005.
Dirk Kroegel: Einen Anfang finden! Kurt Georg Kiesinger in der Außen- und Deutschlandpolitik der Großen Koalition. (Studien zur Zeitgeschichte, Bdand 52); Oldenbourg, München 1996. (Volltext online verfügbar).
Gyuzel Muratova: „Warum haben wir aufeinander geschossen?“ Studien zum Rußlandbild in der deutschen Prosaliteratur von Stalingrad bis zur neuen Ostpolitik der BRD (1943–1975). Diss. Univ. Duisburg-Essen, 2005. DNB
Karsten Rudolph: Wirtschaftsdiplomatie im Kalten Krieg. Die Ostpolitik der westdeutschen Großindustrie 1945–1991. Frankfurt am Main / New York 2004.
Wolfgang Schmidt: Die Wurzeln der Entspannung. Der konzeptionelle Ursprung der Ost- und Deutschlandpolitik Willy Brandts in den fünfziger Jahren. In: VfZ 51 (2003) (PDF; 5,7 MB), S. 521–563.