Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall versucht ein Teil der ehemaligen Führungskader der DDR den Vorwurf, ihr Staat sei ein Unrechtsstaat gewesen, mit aller Entschiedenheit zurückzuweisen.
So ausdrücklich und wiederholt der ehemalige Partei- und Fraktionsvorsitzende der SED-PDS und deren Nachfolgerin, „die Linke“, Gregor Gysi. Aktueller Anlass war die 2019er Bundestagsdebatte zum Gedenken an den 09. November 1989. (2)
Gysi reagierte auf die Rede des Unionsfraktionsvorsitzenden Brinkhaus (CDU), der die DDR als „Unrechtsstaat“ bezeichnet hatte, der Begriff vom Unrechtsstaat dürfe für die DDR nicht gelten, da dieser Begriff vom ehemaligen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ausschließlich zur Kennzeichnung des NS-Regimes geprägt worden sei. Die Übertragung eines derart eindeutig negativ geprägten Begriffs auf die DDR sei daher unstatthaft: Eine These, die durchaus der Überprüfung wert sein sollte. (3)
Was zu diesem Zeitpunkt (Anfang November 2019) noch keiner ahnen konnte, sollte knapp drei Monate später an Brisanz deutlich zulegen: Die Schuldzuweisungen im Zusammenhang mit der Ministerpräsidentenwahl im Thüringer Landtag (5. Februar 2020). Bei der nun aufflammenden Abgrenzungsdebatte wurde u.a. auch der Begriff vom „Unrechtsstaat“ des Öfteren bemüht. Die Auffassungen hierzu könnten kaum abweichender sein.
Deshalb sollte man auch überlegen, wie derart unterschiedliche „Sichtweisen“ entstehen können; jenseits der parteiideologischen Anschauungen und Gegensätze von CDU/CSU und der Linken.
Gibt es insoweit vielleicht sogar Anlass für einen neuen „Historikerstreit“?
Jedoch hat es sich bei der o.g. Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestags nicht um die erste ihrer Art gehandelt; zumindest alle fünf Jahre gibt sich die Politprominenz die Ehre.
Die letzte größere Veranstaltung war die zum 25. Jahrestag des Mauerfalls 2014, die ein durchaus respektables Medienecho erfahren durfte.
Ausgelöst von dem nach wie vor streitbaren Liedermacher Wolf Biermann; eingeplant, zumindest erhofft vom damaligen Bundestagspräsidenten Prof. Lammert.
Dieser hatte als Veranstalter den Ex-Kommunisten und langjährigen in der DDR aktiven Dissidenten, der 1976 „ausgebürgert“ wurde, natürlich nicht ohne Hintergedanken eingeladen und wurde ob der Stimmgewalt Biermanns auch nicht enttäuscht („Reste der Drachenbrut“ an die Adresse der Linken).
Einen ähnlichen „Eklat“ wollte man 2019 allerdings wohl vermeiden: Nicht nur, dass Lammert nicht mehr im Amt ist, sondern womöglich auch, weil der aktuelle Bundestag in fast jeder Sitzung aus anderen Gründen genug Polemik erfährt (und zwar von Darstellern, die weitaus weniger Bühnenerfahrung und Lebensklugheit besitzen als der besagte Liedermacher). Außerdem hätte sich bei einem erneuten Auftritt Biermanns auch ein Abnutzungseffekt einstellen können.
Dennoch bleibt die wiederholt von führenden Linkspolitikern geäußerte Meinung im Raum, die DDR sei eben kein Unrechtsstaat gewesen. Das führt nun zur Frage, was ist ein „Unrechtsstaat“, welche Merkmale müssen hierfür erfüllt sein? Und wer bzw. welche Instanz wäre überhaupt legitimiert, ein solches (Wert-) Urteil verbindlich zu fällen?
Letzteres hängt natürlich zunächst von dem Kontext ab, in dem der Begriff „Unrechtsstaat“ geäußert wird.
Erfolgt die Äußerung, wie hier, während einer Bundestagsdebatte, könnte theoretisch der Sitzungspräsident bzw. ein/e Vertreter/in eingreifen. Doch auf welcher Grundlage?
Zunächst kann sich der betroffene Abgeordnete auf sein Recht aus Artikel 46 Absatz 1 des Grundgesetzes berufen. Der Linksfraktion dürfte es schwerfallen, eine derartige Äußerung als verleumderische Beleidigung zu interpretieren. Und ein einfacher Verstoß gegen die Geschäftsordnung des Bundestages (sofern ein solcher überhaupt vorliegt) wird nicht ausreichen, einen Redebeitrag, der sich auf das Thema der Debatte, Jahrestag des Mauerfalls, bezieht, zu unterbinden.
Das sind die „Spielregeln“ in einer parlamentarischen Demokratie; im offensichtlichen Gegensatz zur „Debattenkultur“ der DDR-Volkskammer.
Daraus folgt zumindest, dass es nicht das Bundestagspräsidium sein kann, das für die Klärung der Frage, was ist denn nun ein „Unrechtsstaat“, zuständig ist. Genauso wenig eine andere Behörde oder staatliche Organisation (im Gegensatz zu zentralistisch gelenkten Systemen, wo derartige Fragen autoritär entschieden werden: in der DDR besonders durch das „Zentralkomitee“ bzw. „Politbüro“).
Auch wenn, und das soll keinesfalls unterschlagen werden, der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages (eine Verwaltungsbehörde) bereits im April 2009 eine Ausarbeitung zum Thema „Menschenrechtsverletzungen und Verfassungswirklichkeit in der DDR“ der Öffentlichkeit vorgelegt hat.
Eine Kernaussage in diesem Kurzgutachten lautet:
„Die DDR war kein demokratischer Rechtsstaat. Verfassungsfragen besaßen nur im Kontext von Machtfragen eine Bedeutung. Mit der Verfassung von 1968 wurden Grundrechte an die Loyalität zum Sozialismus gebunden und somit mit einem Gesetzesvorbehalt versehen. Dies spiegelt sich in der Verfassungswirklichkeit der DDR wider. Wesentliche Rechte waren in der Praxis eingeschränkt oder nicht vorhanden, Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung“.
In diesem Kurzgutachten der Bundestagsverwaltung wird weiter ausgeführt:
„Das Dogma der Unfehlbarkeit der Partei, das in Art. 1 Abs. 1 als »Führungsrolle der SED« festgelegt war, schloss jede Form der freien politischen Meinungsäußerung aus. Strafvorschriften im Strafgesetzbuch ergänzten die Einschränkung der Meinungsfreiheit. Auch die Versammlungsfreiheit war ein in seiner Substanz eingeschränktes Recht. Sie unterstand den ideologisch-klassenmäßigen Beschränkungen.
Die Justiz war getreu der marxistischen Staatsauffassung ein Instrument des Staates, also nicht unabhängig. Rechte des politisch Andersdenkenden wurden durch den Staatsapparat weder toleriert, noch geschützt. Folter oder „Verschwinden“, die Zufügung von körperlichen und seelischen Schmerzen und Leiden waren aber bis zum Ende des SED-Regimes 1989 an der Tagesordnung.“ (4)
Das sind durchaus heftige und weitreichende Vorwürfe, die die Mitarbeiter des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages erheben und in ihrem Gutachten auch ausführen.
Jetzt könnten natürlich alte und neue SED-Kader einwenden, dass derartige Aussagen bewusst einseitig und lediglich Ausdruck einer Art westdeutscher Siegermentalität seien (ohne zu klären, welcher „Landsmannschaft“ die betreffenden Mitarbeiter des Wissenschaftlichen Dienstes angehört haben).
Ein Vorwurf, der generell in die Richtung abzielt, nach der Wende seien Ostdeutsche grundsätzlich benachteiligt und in ihrer Lebensleistung herabgesetzt worden.
Daher sollen im Folgenden konkrete Einzelheiten betrachtet werden, um pauschale Werturteile zu vermeiden.
Im Übrigen liegt es in der Hand der heutigen und auch künftiger Generationen, sich selbst ein Bild von der DDR als „Unrechtsstaat“ zu machen – unabhängig von Kommissionen oder gar offizieller Organe. Hierzu ist es sicher ratsam, neben der verfassungsrechtlichen Struktur und Organisation der ehemaligen DDR auch die damalige Lebenswirklichkeit heranzuziehen.
Zum einen hat es offensichtlich einen eklatanten Unterschied zwischen dem Verfassungsrecht der ehemaligen DDR und der alten Bundesrepublik gegeben. Die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ des westdeutschen Grundgesetzes und das sozialistische Ideal des Arbeiter- und Bauernstaates und ihrer Marxistisch-Leninistischen Partei laut DDR-Verfassungen von 1968/74 standen in einem unüberbrückbaren Gegensatz.
Dieser Gegensatz lag weniger in den „Buchstaben des Gesetzes“ als in der Realität und den konkreten politischen Umständen begründet.
So hat es (theoretisch) in der 1949er Ausgabe der DDR-Verfassung tatsächlich einen wohlklingenden Art. 9 gegeben, der die Meinungsfreiheit garantieren sollte, doch haben der Gesetzesvorbehalt und ganz besonders die Realität des DDR-Alltags nach 1949 eine ganz andere Entwicklung genommen, s. weiter unten.
Und die späteren Fassungen der DDR-Verfassung (1968, 1974) haben das gesamte „Gemeinschaftsleben“ unter die Herrschaft der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ gestellt, vor allem auch die Meinungsfreiheit.
Dieser kurze Hinweis soll an dieser Stelle genügen.
Wenn also in der heutigen Wirklichkeit des wiedervereinten Deutschland der Begriff vom „Unrechtsstaat“ zwiespältig aufgenommen wird, liegt dies auch an einer verkürzten Darstellung der Realität der ehemaligen DDR. Dies soll an folgenden Aspekten exemplarisch aufgezeigt werden:
I) Die Praxis des sog. Gefangenenfreikaufs im Allgemeinen und im Besonderen die Methode nach der UN-Resolution 1503
Vorweg ist von folgender Prämisse auszugehen: Jeder halbwegs zivilisierte Staat nach Ende des Zweiten Weltkrieges sollte die Unversehrtheit seiner Bürger garantieren (können); unabhängig von Staats- oder Regierungsform. Hierzu zählt insbesondere der Schutz vor Rechtlosigkeit.
Die krasseste Form der Entrechtung ist die Verdinglichung eines Menschen, also wenn dieser wie eine Sache behandelt wird. Eine besonders verwerfliche Form der Verdinglichung ist der sog. Menschenhandel (vgl. § 232 Strafgesetzbuch), dieser geht regelmäßig mit der Ausbeutung einer Person einher: Der Mensch wird als Ware behandelt, deren An- oder Verkauf finanziellen Profit bringen soll.
Die Spielarten sind beim Menschenhandel äußerst zahlreich, genauso wie das Gewinnstreben der am Handel beteiligten Nutznießer unermesslich ist.
1) Jetzt galt sowohl nach dem auch in der DDR angewandten Zivilrecht (bis 1974 war es das alte Bürgerliche Gesetzbuch von 1900) als auch besonders aufgrund völkerrechtlich verbindlicher Vorgaben der Grundsatz, dass Menschen gerade keine Sachen sind.
Folglich sind alle Formen von „Geschäften“, deren Zweck darauf gerichtet ist, einen Menschen als Geschäftsgegenstand („Ware“) zu instrumentalisieren und damit auch zu entpersonalisieren, rechtswidrig. (5)
Soweit die Theorie!
Die in Europa historisch bekannteste Form dieser Art Geschäfte, der Sklavenhandel, wurde bereits auf dem Wiener Kongress 1815 geächtet (auch wenn, wie bei internationalen Vereinbarungen leider üblich, die konkrete Umsetzung in den jeweiligen europäischen Staaten noch lange gedauert hatte). (6)
Selbst im besonders rückständigen Russland unter der Zarenherrschaft war Ende des 19. Jahrhunderts die Sklaverei abgeschafft, auch wenn sich noch bis zur Februarrevolution 1917 zumindest halbfeudale Strukturen aufrechterhalten konnten.
Ob die dann durch die Oktoberrevolution 1917 in Russland an die Macht gespülten Bolschewiki nicht doch durch die Hintertür wieder eine besondere Form der Leibeigenschaft, die des „GULag“, eingeführt haben, darüber lässt sich trefflich streiten. (7)
Zumindest hatte der menschenverachtende Politikstil Josef Stalins unmittelbare Auswirkungen auf die politische und gesellschaftliche Situation in der DDR, dem sozialistischen Bruderstaat, nachdem Stalin erst auf Jalta, dann in Potsdam 1945 seine Vorstellungen zur Neuordnung der politischen Landkarte Europas relativ unproblematisch durchsetzen konnte.
An dieser Stelle kann zumindest festgehalten werden: Trotz langer Anlaufzeit war es spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa generell unzulässig, Menschen als „Ware“ und „Handelsobjekt“ zu behandeln.
Wie sah nun die Lage in der DDR über 50 Jahre später aus?
Bekanntlich hat es ab etwa 1962 bis ins Jahr 1989 relativ offen oder zumindest nicht unter besonderer Geheimhaltung eine große Zahl von Gefangenen in der DDR gegeben, die von der damaligen Bundesrepublik „freigekauft“ worden sind.
Hierbei ist es zunächst vollkommen gleichgültig, ob es sich bei den Häftlingen um solche gehandelt hat, die aufgrund eines halbwegs „fairen“ Strafprozesses, also in zulässiger Art und Weise, verurteilt worden waren oder aber völlig willkürlich verhaftet und aus rein politischen Gründen abgeurteilt wurden (Stichwort „Bautzen“). Die zuletzt genannte Vorgehensweise hatte bereits seit Errichtung der Sowjetischen Besatzungszone eine traurige Tradition. Oft durch Denunziantentum ausgelöst, meist einhergehend mit großflächigen Enteignungen (z.B. die sog. Bodenreform).
Folgende Zahlen zum „Freikauf“ sind wohl unstreitig:
In o.g. Zeitraum wurden insgesamt 33.755 politische Häftlinge von der alten BRD „freigekauft“, zusätzlich sollen bis zu 250.000 ausreisewillige DDR-Bürger (Menschen, die zwar schon einen Ausreiseantrag gestellt, aber noch keine strafrechtliche Verfolgung seitens der Staatsorgane zu erwarten hatten) gegen finanzielle Zuwendungen Westdeutschlands die DDR verlassen haben.
Lässt man die zuletzt genannte Gruppe außen vor und konzentriert sich auf die „echten“ Fälle von Häftlingsfreikauf, muss objektiv festgestellt werden, dass fast 34.000 Menschen von der damaligen DDR-Führung als unmittelbare Devisenbringer („Handelsware“) angesehen und benutzt worden sind: eine moderne Form von Menschenhandel.
Die direkte Kaufsumme soll mindestens 3,4 Milliarden DM betragen haben; zusätzlich zu der unweit größeren Gruppe von „normalen“ Ausreisewilligen, bei denen der innere Zusammenhang für einen klassischen Kaufvertrag fehlt (juristisch „Synallagma“ genannt), sind wohl insgesamt 8 oder gar bis zu 9 Milliarden DM von westdeutschen Stellen an die DDR gezahlt worden. (8) Ein über viele Jahre lukratives Geschäft!
2) Die UN-Methode 1503 und das unerschrockene Eintreten für Menschenrechte durch Brigitte Klump
Dieser eben in kurzen Worten skizzierte Häftlingsfreikauf war also über lange Jahre die (halbwegs) offizielle Verfahrensweise zwischen der DDR, die ja bekanntlich den „Antifaschismus“ als Staatsdoktrin aufgenommen hatte und daher unmöglich ein Unrechtsstaat gewesen sein konnte, und der alten BRD im Hinblick auf Häftlingsfreikauf und beschleunigte Ausreiseverfahren.
Für dringend benötigte Devisen wurden eigene Staatsbürger (beachte den Wortlaut der Präambel der DDR-Verfassung von 1968: es gab ein eigenes DDR-Staatsvolk) dem westlichen Klassenfeind überlassen.
Doch irgendwann hat diese spezielle Form des „Ost-West-Handels“ nachgelassen; und zwar noch lange vor dem Mauerfall im Herbst 1989.
Es stellte sich nämlich seit etwa 1980 heraus, dass es neben bzw. außerhalb dieser „speziellen Geschäftsbeziehung“ zwischen der DDR und der alten BRD noch eine ganz andere, rechtlich wie moralisch zulässige Möglichkeit gegeben hat, DDR-Bürgern legal zur Ausreise bzw. Übersiedlung nach Westdeutschland zu verhelfen.
Es handelte sich um die sog. UN-„Methode“ 1503. Diese basierte auf einer Resolution des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen (ECOSOC, ausgeschrieben: Economic and Social Council) aus dem Mai 1970.
Die juristischen Grundlagen sind in deutscher Übersetzung als Anhang beigefügt (der Text ist, wie viele völkerrechtliche Dokumente, relativ lang und schwer verständlich).
Als 1973 beide deutschen Staaten der UNO beigetreten sind, war diese spezielle Resolution also bereits drei Jahre in Kraft, hatte sich aber lange Zeit (scheinbar) nicht herumgesprochen.
Bis – und jetzt wird es für alle Politikwissenschaftler interessant – eine „kleine Hausfrau“ durch reinen Zufall auf diese Resolution aufmerksam gemacht wurde. Dies war 1980.
Wer auf (statistische) Zahlen Wert legt, kann also diesen Zeitpunkt pointiert als den Beginn des Untergangs der DDR charakterisieren.
Aber der Reihe nach:
Sinn und Zweck der UN-Resolution 1503 (XLVIII) vom 27. Mai 1970 ist es, ein Verfahren zu eröffnen, das der Feststellung dient, ob in einem Staat ein „Gesamtzusammenhang schwerer und zuverlässig belegter Menschenrechtsverletzungen“ besteht.
Wie sich aus dem Begriff Gesamtzusammenhang ergibt, liegt die Bedeutung von Einzelbeschwerden nur darin, zur Gesamtbeurteilung beizutragen. Am Ende der Einzelbeschwerde steht also nicht die Feststellung der Verletzung von Menschenrechten im Einzelfall oder gar eine wie auch immer geartete Wiedergutmachungspflicht. Im Durchschnitt sollen pro Jahr teilweise 20.000 bis 25.000 Mitteilungen im Verfahren nach Resolution 1503 eingehen. (9)
In der Sache geht es bei diesen Mitteilungen um schwere Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Verschwindenlassen, illegale Hinrichtungen, willkürliche Verhaftungen oder allgemeine Ausreiseverbote;
„ein übereinstimmendes Muster von systematisch und glaubhaft nachgewiesenen groben Menschenrechtsverletzungen (»Consistent pattern of gross and reliably attested violations of human rights«) geben der Menschenrechtskommission die Möglichkeit, von sich aus tätig zu werden, ohne von der Stellungnahme eines beschuldigten Staates abhängig zu sein.“ (10)
Es kommen aber durchaus auch andere „Themen“ in Betracht, so dass die Relevanz dieser UN-Resolution auch heute noch gegeben ist. Auch wenn Kritiker, insbesondere aus dem „linken Lager“, das Verfahren als „größten Papierkorb der Welt“ bezeichnet haben. (11)
Allerdings müssen auch diese Kritiker zugeben, dass die von der Kommission erstellten Berichte gehörig Druck auf die beschuldigten Staaten ausüben.
Zum Ablauf:
Das Verfahren läuft vertraulich ab, bis die Menschenrechtskommission entscheidet, dem Wirtschafts- und Sozialrat Empfehlungen vorzulegen. (12)
Nachdem die Mitteilungen beim Menschenrechtszentrum der Vereinten Nationen eingegangen sind, werden sie zunächst den Regierungen der betroffenen Staaten zur etwaigen Stellungnahme zugeleitet. Mitteilungen und Stellungnahmen werden in vertraulichen Listen registriert. Anschließend werden sie (gegebenenfalls gemeinsam mit der Stellungnahme der Regierung) einer fünfköpfigen Arbeitsgruppe der Unterkommission (je ein Vertreter der fünf geographischen UN-Regionen) zugeleitet.
Diese prüft in nichtöffentlicher Sitzung, ob die einzelnen Mitteilungen Hinweise darauf enthalten, dass ein Gesamtzusammenhang schwerer und zuverlässig belegter Menschenrechtsverletzungen besteht. Sind drei Mitglieder der Arbeitsgruppe dieser Ansicht, werden diese Mitteilungen der Unterkommission zugeleitet. Die Unterkommission entscheidet in ebenfalls nichtöffentlicher Sitzung darüber, welches Land aufgrund der ihr vorgelegten Mitteilungen der Kommission zur Beratung präsentiert werden soll.
Im Anschluss daran untersucht eine Arbeitsgruppe der Menschenrechtskommission diese Länderdossiers und macht der Kommission Empfehlungen, wie sie mit den dargestellten Situationen umgehen soll. Anders als die Arbeitsgruppe der Unterkommission hat diese keine Kompetenzen, um bestimmte Bereiche von der Überprüfung durch die Kommission auszunehmen.
Sobald die Kommission in ihren nichtöffentlichen Sitzungen selbst mit den Vorgängen befasst ist, spricht man nicht mehr von Mitteilungen, sondern von den Gegebenheiten oder Situationen. Gemäß Resolution 1503 ist die Kommission dazu berechtigt, eine eingehende Studie zu unternehmen oder einen ad-hoc-Ausschuss einzuberufen. Letzteres ist bislang noch nie vorgekommen, eingehende Studien wurden in bislang zwei Fällen unternommen und eine davon – zu Äquatorial Guinea – später veröffentlicht.
In jedem Fall wird die Situation im Folgejahr wieder auf die Tagesordnung gesetzt.
Zum Abschluss der Sitzung teilt der Vorsitzende öffentlich die Namen der Staaten mit, aus denen Gegebenheiten erörtert wurden. Ebenso werden diejenigen genannt, deren Gegebenheiten nicht weiter beobachtet werden.
Die Kommission kann ECOSOC bitten, den Namen des Landes auch in seinen öffentlichen Bericht aufzunehmen. Dies geschah bisher sehr selten, beispielsweise auf Bitten einer neuen Regierung im betreffenden Land (Argentinien nach der Ablösung der Militärdiktatur) oder um auf die völlige Blockade eines Landes zu reagieren (Äquatorial Guinea, das jegliche Mitarbeit verweigerte).
Letztlich war allein schon die Beschäftigung mit der Menschenrechtssituation in der ehemaligen DDR durch Organe der Vereinten Nationen, insbesondere die Verweigerung der Ausreise, für die SED-Führung nicht nur peinlich, weil man in einen Topf mit anderen sog. „Unrechtsstaaten“ geworfen wurde, sondern auch politisch so brisant, dass im Ergebnis jeder DDR-Bürger, der auf einer dieser Listen registriert worden war, dann doch noch in den Westen ausreisen durfte, s. weiter unten.
Vorläufer dieser Resolution aus dem Jahre 1970 war eine aus dem Jahr 1967, die sog. Resolution 1235 (XLII). Mit dieser ermächtigte der Wirtschafts- und Sozialrat die Menschenrechtskommission und ihre Unterkommission dazu, „Informationen zu prüfen, die für schwere Verletzungen von Menschenrechten und Grundfreiheiten erheblich sind“. Als Beispiel für solche Fälle wurde die Apartheidspolitik benannt.
Man sieht also, die internationale Rechtsordnung war durchaus gewappnet, gegen „Unrechtsstaaten“ vorzugehen.
Doch wie kam dieses völkerrechtliche Instrument überhaupt in die „deutsch-deutschen“ Beziehungen?
Auslöser bzw. die Initialzündung für die Anwendung dieser UN-Resolution bzw. für die „Erfindung“ der UNO-Methode 1503 war der im Jahr 1979 gescheiterte Fluchtversuch des 19-jährigen Klaus Klump, der erfolglos versucht hatte, in den Westen „rüberzumachen“ und dafür zunächst den üblichen DDR-Knast zu schmecken bekam.
Statt aber, wie damals in derartigen Fällen gleichsam die gängige Verfahrensweise, über den fast schon standardisierten Häftlingsfreikauf doch noch in den Westen zu kommen, wollte die DDR-Staatsführung ein Exempel statuieren, was mit der Person der Tante des gescheiterten Flüchtlings zusammenhängt.
Klaus Klump wurde nämlich aus dem Gefängnis entlassen, so dass der übliche Freikauf mangels Kaufobjekt nicht zur Anwendung kommen konnte (aber „frei“ waren er und seine Familie noch lange nicht).
Warum die Tante, wird man jetzt fragen. Das ist eine der skurrilen Geschichten in den an Merkwürdigkeiten nicht armen „deutsch-deutschen“ Beziehungen.
Brigitte Klump studierte ab 1954 Journalistik an der Universität Leipzig, genauer gesagt, an der sog. Fakultät für Journalistik, die später in Sektion Journalistik an der Karl-Marx-Universität in Leipzig umbenannt wurde (im Volksmund: das „Rote Kloster“).
Im November 1957 floh sie in den Westen, nachdem sie als Nicht-Parteimitglied ständig dem Druck der Staatssicherheit ausgesetzt worden war und sogar an Suizid dachte, wie übrigens viele junge DDR-Bürger, die eigentlich an die gute Sache im Sozialismus glaubten und dann an den realen Verhältnissen scheiterten.
Insbesondere hatte Frau Klump nicht nur durch ihr Beharren auf einem eigenen Standpunkt den Argwohn von Partei und Staatssicherheit erregt, sondern durch ihr besonderes Verhältnis zum „Berliner Ensemble“.
Helene Weigel, die Frau von Bertolt Brecht (nach außen als DDR-Ikone gefeiert, im Inneren aber nahezu totgeschwiegen, weil seine Gleichnisse dann doch zu viel „Realismus“ zeigten), wurde eine Art mütterliche Freundin von Brigitte Klump. All dies machte die junge Studentin verdächtig.
Trotz beträchtlicher Skrupel und innerer Vorbehalte gegenüber „dem Westen“ hat sie in einer „Nacht- und Nebelaktion“ die DDR verlassen.
Nach ihrer „Flucht“ setzte Frau Klump ihr Studium an der Freien Universität in Westberlin fort. In ihrem Buch „Das Rote Kloster – Eine deutsche Erziehung – Produktion der Macht-Elite in der DDR“ beschreibt sie, was es für sie bedeutet hat, als parteilose Studentin „lernen zu müssen, Sprachrohr der Partei zu sein und eigene Gedanken zu unterdrücken. Sowie was es heißt, wenn man aus taktischen Gründen die Unwahrheit sagt und sie als Wahrheit annimmt.“ (13)
Also Gehirnwäsche mit System und staatlicher Organisation!
Brigitte Klump erfuhr, nachdem der Fluchtversuch ihres Neffen gescheitert war, durch private Kontakte zu einem bundesdeutschen UN-Mitarbeiter von dem UNO-Verfahren 1503.
Seit 1980 war Klump als private Beschwerdeführerin bei den Vereinten Nationen in Genf tätig. Mit ihren Sammelbeschwerden half sie, deutsch-deutsche Familien zusammenzuführen, wenn innerdeutsche Verhandlungen an den beharrlichen Absagen der örtlichen DDR-Behörden scheiterten, z.B. weil es sich bei den geflüchteten bzw. fluchtwilligen DDR-Bürgern um bekannte Sportler gehandelt hat oder um besonders renitente „Quälgeister“, wie Frau Klump.
Denn ihr o.g. Buch über das „Rote Kloster“ war erst ein knappes Jahr vorher, 1978, in Westdeutschland erschienen, in dem Frau Klump zwar literarisch „sublimiert“, aber in der Sache trotzdem schonungslos die systematische Gehirnwäsche und den extremen Einfluss der Staatssicherheit an der journalistischen Fakultät in Leipzig beschrieb und vor allem die psychischen Folgen (z.B. die hohe Suizidrate, aber auch die offizielle Einstellung der Partei zur sexuellen Verfügbarkeit von Frauen) besonders anprangerte. Da war klar, mit einem solchen Buch macht man sich keine Freunde in der SED-Nomenklatura.
Als sie von der gescheiterten Flucht des Neffen erfahren hatte und dann auch klar war, dass der sonst übliche Weg über den Freikauf nicht funktionieren würde, wollte sie sich aber mit dieser Situation nicht zufrieden geben und setzte alle ihr möglichen Hebel in Bewegung, die DDR doch noch zur Ausreise zu zwingen.
Nachdem sie eher zufällig von der o.g. UN-Resolution erfahren hatte, nahm sich Frau Klump nicht nur des Falles ihres Neffen und seiner Familie an, sondern auch weiterer Fälle, da ja eine bestimmte Mindestanzahl von Menschenrechtsverletzungen der UNO angezeigt werden musste.
Obwohl Frau Klump in „Rechtsdingen“ ein Laie gewesen ist und als „Einzelkämpferin“ auftreten musste, überwand sie alle juristischen Fallstricke und reichte ihre erste wirksame Petition in Genf ein.
Womit wohl kaum jemand gerechnet hatte, trat dann überraschend schnell ein:
Dem Neffen und seinen Eltern wurde im November 1980, drei Monate nach dem Überreichen der ersten UN-Sammelbeschwerde, die Ausreise aus der DDR gewährt und bestätigte damit die Wirksamkeit der von Brigitte Klump zur Anwendung der Resolution 1503 entwickelten Methode.
Jetzt zeigte sich, dass mit dem Nachdruck der Vereinten Nationen die Familienzusammenführungen ohne Freikauf möglich waren.
Nach eigenen Angaben, die aber niemals von DDR-Seite abgestritten wurden, hat Frau Klump in 25 Sammelbeschwerden bei der UNO an etwa 4.000 solcher Problemfälle zugunsten der Freiheit mitgewirkt.
Frau Klump bezeichnet diese Fälle als die unlösbaren Fälle des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen, wenn die DDR-Behörden sich jahrelange Racheakte vorbehielten und sogar auf das sonst übliche und lukrative Geschäft mit dem „Freikauf“ verzichteten.
Allerdings weist Frau Klump zu Recht auch darauf hin, dass die Rechtsgrundlagen für die UN-Methode 1503 ja dem Grunde nach seit dem UN-Beitritt der „beiden Deutschlands“ bekannt gewesen waren. Sie fand diese zum Beispiel in einem Aktenordner des Justizministeriums; 1980 hieß der Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel, der Außenminister und Vizekanzler war Genscher, andere beteiligte Bundesminister waren Baum und Franke. Über allen stand die Verantwortung des damaligen Bundeskanzlers Schmidt.
In diesem Zusammenhang sind noch folgende Punkte erwähnenswert:
Die offiziellen Verfahren bei der UNO hätten den jahrelang (zumindest seit 1973) praktizierten Menschenhandel verhindern oder doch signifikant einschränken können. Dies wurde von westdeutschen Stellen – man muss wohl sagen – sehenden Auges unterlassen oder sogar bewusst (?) vereitelt.
Und dann ging es ja auch noch ums liebe Geld.
Bei etwa 4.000 Fällen, die über die Klumpsche Methode abgewickelt wurden, also ohne das übliche „Lösegeld“ von durchschnittlich knapp 100.000,-DM pro Freikauf, müssten der DDR-Führung annähernd 400 Millionen Westmark entgangen sein.
Hierüber wurde eigentlich nie groß gesprochen, bis im August 2004 in einem Bericht eines zum Springer-Verlag gehörenden Mediums die Behauptung aufgestellt wurde, dass die alte BRD gleichsam nachträglich für jeden der Klump-Fälle doch noch die übliche Taxe („Gebührenordnung“) gezahlt habe.
Würde dies allerdings zutreffen, wo ist dann das Geld geblieben? Gibt es auch insoweit Kontakte zum in Fragen der Staatsfinanzen besonders schillernden Paradiesvogel Schalck-Golodkowski oder sind zusätzliche geheime Konten, über das inzwischen bekannte Maß hinaus, in der allseits beliebten Schweiz vorhanden?
Es geht wohl auch weniger um die Beträge als solche (was sind heute schon noch 200 Millionen Euro?), sondern vielmehr darum, dass man es hochrangigen Vertretern der ehemaligen DDR durchaus zutrauen würde, sich noch einmal bereichert und dadurch die Opfer des DDR-Systems ein letztes Mal verhöhnt zu haben.
Zum Thema „Verhöhnung“ passt auch die Tatsache, dass der Staatssicherheitsdienst eine sog. „Zentrale Koordinierungsgruppe“ bildete, die gezielt gegen Brigitte Klump vorging. (14)
Und zwar nicht nur verbal, sondern auch mit geheimdienstlichen Methoden, also eindeutig illegal. Wurde hierfür nach der Wende irgendjemand strafrechtlich zur Verantwortung gezogen? Von westdeutscher Seite erhielt Frau Klump Mitte der 1980er Jahre immerhin das Bundesverdienstkreuz für ihren Einsatz verliehen, doch viel mehr auch nicht.
Und schließlich sollte noch erwähnt werden, dass der besonders bekannte DDR-Rechtsanwalt Vogel, der maßgeblich an den deutsch-deutschen Freikaufverfahren beteiligt war, nach der Wende gegenüber Frau Klump schriftlich seine Hochachtung bekundet hat. Spätes schlechtes Gewissen?
Die ehemaligen DDR-Rechtsanwälte, Herr Gysi gehörte dieser privilegierten „Klasse“ an, sollten sich auch einmal fragen, ob ihre Berufsausübung rechtsstaatlichen Maßstäben entsprochen hat. Was passierte denn normalerweise, wenn ein ausreisewilliger DDR-Bürger den Rat eines DDR-Rechtsanwaltes in Anspruch nehmen wollte? Im Regelfall ein ganz dummer Einfall.
Viele DDR-Anwälte waren lediglich der verlängerte Arm der Staatsmacht, oft mit besten Kontakten zur Staatssicherheit!
Abschließend sei der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen, dass ab Mitte der 1980er Jahre Einzelfälle bekannt sind, wo ausreisewillige DDR-Bürger ohne Freikauf bzw. sogar ohne den „Umweg“ über die UN-Methode 1503 in den Westen gehen durften: ganz seltene Ausnahmen.
Die wenigen dokumentierten Fälle, in denen ausreisewillige DDR-Bürger ganz pragmatisch einen Antrag auf Übersiedlung in die BRD stellen wollten und sich dafür an „die Behörden“ wandten, setzten eine geradezu aberwitzige Maschinerie in Gang.
Franz Kafka („Der Prozess“) und seine Schilderungen über den Behördenwahnsinn lassen grüßen. Niemand wollte für die Bearbeitung zuständig sein.
Die Polizei verwies die Ausreisewilligen an die zivilen Bezirksbehörden, die wiederum die Angelegenheit auf die Dienststellen der Volkspolizei abwälzen wollten.
Zumindest wurde ein immenser Überwachungsdruck auf die ausreisewilligen DDR-Bürger ausgeübt; in der Hoffnung, diese Menschen dazu zu bringen, „Fehler“ zu begehen, um ihnen daraus strafrechtlich einen Strick zu drehen, sprich: Gerichtsverfahren und Verurteilung (und dann Freikauf).
Zu den sicherlich vielen Gründen für das Scheitern der DDR gehörte auch eine deutliche innere Distanz bzw. Ablehnung des Systems durch weite Teile der eigenen Bevölkerung; die hohe Zahl von Ausreisen war ja nur die Spitze des Eisbergs. (15)
Wäre die UN-Methode 1503 flächendeckend in der DDR bekannt gewesen, wären wahrscheinlich einige politische Ereignisse anders verlaufen. Ob besser, kann natürlich nicht beurteilt werden.
II) Die Menschenrechte sind universell, unveräußerlich und unteilbar: Zur Situation in der ehemaligen DDR und heute.
Im Dezember 2019 wurde anlässlich einer Debatte im Bundestag zum 13. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung von allen Rednern pflichtschuldigst auf das hohe Gut der Grundrechte, wie sie im Grundgesetz bestimmt werden, hingewiesen.
In allen Festreden stellen unsere Politiker immer wieder gerne ostentativ heraus, dass die Beachtung der Grund- und Menschenrechte gleichsam zur Staatsräson gehört; auf die Ursachen für die Missachtung der Menschenrechte wird immer nur im Zusammenhang mit „den Anderen“ eingegangen. Gängige Beispiele:
Die Situation in China, dem Iran, Russland, Saudi-Arabien u.ä. und der Türkei (alphabetisch geordnet).
Auf die vorhandenen Verfahren zur Ächtung von Menschenrechtsverletzungen bei der UNO wird erstaunlicherweise nur selten eingegangen, obwohl derartige Abläufe ja bekannt sein sollten.
Werden möglicherweise politische, besonders wirtschaftliche Interessen im Zweifel doch über die Beachtung völkerrechtlicher Grundsätze gestellt?
Doch derlei Diskussionen würden den thematischen Schwerpunkt dieses Beitrags überstrapazieren, daher soll lediglich kurz auf die verfassungsrechtliche Entwicklung hingewiesen werden:
Grundlage für die im Grundgesetz verankerte Verfassungsordnung war zunächst der Entwurf eines Verfassungsausschusses, der im August 1948 auf der Herreninsel im Chiemsee zusammengetreten war und als Vorstufe des Parlamentarischen Rates im Frühjahr 1949 zu sehen ist.
In diesem Entwurf („Herrenchiemsee“) sind einige politische Neuerungen enthalten, die letztlich aus dem Geist der Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts stammen und in der Weimarer Verfassung von 1919 (noch) nicht so klar formuliert worden waren. Die ersten drei Artikel dieses Entwurfes lauten wie folgt:
„Artikel 1. (1) Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.
(2) Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantastbar. Die öffentliche Gewalt ist in allen ihren Erscheinungsformen verpflichtet, die Menschenwürde zu achten und zu schützen.
Artikel 2. (1) Alle Menschen sind frei.
(2) Jedermann hat die Freiheit, innerhalb der Schranken der Rechtsordnung und der guten Sitten alles zu tun, was anderen nicht schadet.
Artikel 3. (1) Die Freiheit der Person ist unverletzlich.
(2) Niemand darf verfolgt, festgenommen oder in Haft gehalten werden außer in den Fällen, die das Gesetz bestimmt, und nur in den vom Gesetz vorgeschriebenen Formen.“ (16)
Jetzt fällt natürlich sofort auf, dass der erste Absatz von Artikel 1 nicht in die endgültige Fassung des Grundgesetzes vom Mai 1949 aufgenommen worden ist. Doch gibt er eine wichtige Auslegungsregel vor, wenn es um die Prüfung von rechtswidrigen Verwaltungsakten etc. geht.
Und besonders fällt natürlich bei einem direkten Vergleich mit der ersten DDR-Verfassung (Oktober 1949) auf, dass dort formal ein anderer Aufbau gewählt wurde (Grundlagen der Staatsgewalt, Betonung in der Praxis auf „Gewalt“), der aber auch das künftige Verhältnis von Staat und Bürger prägen wird. Diese eigentümliche Prägung wird dann in den beiden Folgeverfassungen (1968, 1974) noch weiter zugespitzt:
Der sozialistische Staat, der sich normativ dadurch auszeichnet, dass die Gewährung von Rechten bzw. auch Rechtsgarantien rein machttaktisch („ideologisch“) erfolgt.
Das eingangs erwähnte Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes hat dies wie folgt formuliert:
Theoretisch vorhandene Grundrechte waren an die Loyalität zum Sozialismus gebunden und somit mit einem Gesetzesvorbehalt versehen, der ohne rechtsstaatliche Kontrolle ausgeübt wurde.
Kurz gesagt: Wer in der DDR keine sozialistische Gesinnung hatte (Stichwort: konterrevolutionär), dem standen auch keine oder nur sehr eingeschränkt „Bürgerrechte“ zu. Es galt, das sozialistische Bewusstsein zu schärfen; und was als „sozialistisch“ galt, bestimmte ausschließlich die Parteiführung.
Das erklärt auch das Selbstverständnis der staatlichen Repressionsorgane: Feinde des Sozialismus mussten bekämpft werden. Wer als „Feind“ eingestuft wurde, war ebenfalls von oberster Stelle vorgegeben worden.
Zur Not mussten auch frühere Mitstreiter „geopfert“ werden: Die Praxis der sog. Schauprozesse in der Ära Stalins gibt genügend Anschauungsmaterial. „Die Partei“ hatte im Zweifel immer Recht – und wer zweifelte galt zur Not schon als Gegner.
Um dieses eigenartige Muster einzuüben, waren sog. „Speerspitzen“ der Partei notwendig, die klare Zielvorgaben hatten. Neben den „offiziellen“ Staatsbediensteten zählten hierzu auch besondere Berufsgruppen, wie die Journalisten und Juristen. Daher war der Zugang zu diesen Ausbildungsgängen auch stark reglementiert. Soweit zur besonderen „Dialektik“ in der früheren DDR (Stichwort: Realität versus Ideologie).
Die fast logische Konsequenz aus diesem besonderen „Freund-Feind-Denken“ war eine geradezu paranoide Vorstellung von den Machtbefugnissen des Staates (eine Spielart des sog. „Linkshegelianismus“).
Stellt man nun – wenn auch bloß im Überblick – Überlegungen an, wie es in der ehemaligen DDR zu einem derart ausgeprägten Überwachungs- und Bespitzelungssystem kommen konnte (immerhin nur wenige Jahre nach dem Untergang des NS-Regimes mit Gestapo und Sicherheitsdienst usw.), lohnt auch hier ein Blick in die gesamteuropäische Geschichte.
Geht es um die Freiheit des Individuums, insbesondere um die Meinungsfreiheit und alle damit verbundenen „klassischen“ Freiheitsrechte, müsste man eigentlich bei den alten Griechen und deren Postulat von der Freiheit des Denkens beginnen. Dies würde hier aber zu weit führen, soll aber wenigstens die Tragweite der Entwicklung von allgemeingültigen Grund- und Menschenrechten andeuten.
Wollte man diese historische Entwicklung in allen Facetten beleuchten, müsste zunächst vor allem auch auf die besondere Ambivalenz hingewiesen werden, dass sowohl Athen als auch später Rom typische Sklavenhaltergesellschaften gewesen sind: Geistige und persönliche Freiheit war in der Antike eine Art „Wirtschaftsgut“, das sich nur die besitzende Klasse leisten konnte, die breite Masse der Besitzlosen war entweder von politischer Teilhabe gänzlich ausgeschlossen oder aber, wie in Rom, als sog. „Plebejer“ Gegenstand von Klientelpolitik. Dieser „Dualismus“ gehört durchaus zu den Grundlagen des „Historischen Materialismus“, wenn man so will zur DNA des wissenschaftlichen Marxismus; mit den ganzen Konsequenzen im praktischen Marxismus-Leninismus des 20. Jahrhunderts und der Pervertierung unter Stalin.
Soweit müssen diese Vorüberlegungen an dieser Stelle stark abgekürzt werden.
Nimmt man daher als „Einstieg“ das Epochenjahr 1789, werden die für die spätere politische Entwicklung maßgeblichen Zielkonflikte deutlich. „Freiheit“ und „Gleichheit“ werden zu Grundlagen teils völlig verschiedener Ideologien.
Denn bereits der infolge der Französischen Revolution einsetzende staatliche Terror, insbesondere die Verfolgung von allen, die der französische „Wohlfahrtsausschuss“ als Feinde der Revolution stigmatisierte, wies den Weg zu den totalitären Regimen im 20. Jahrhundert.
Je umfassender der staatliche Kontroll- und Überwachungsanspruch wurde bzw. aufgrund der politischen Umstände auch werden musste, umso raffinierter wurden die Strukturen und gegründeten Organisationen, um den gewünschten bzw. benötigten Anpassungsdruck zu erzeugen.
In Kurzform lässt sich dies als Kontrolle durch Propaganda bezeichnen. Dies musste natürlich allumfassend sein, wozu auch ein ausgeklügeltes System der Belohnung, aber noch mehr der Bestrafung bei abweichendem Verhalten gehörte. Im Laufe der Zeit gab es, um die nötige Anpassung zu erzielen, ganz bestimmte, sorgfältig eingeübte „Unterwerfungsrituale“. (17)
Übertragen auf die Situation in der ehemaligen DDR waren dies vor allem der Gruppenzwang, besonders in Form kollektiver Anhörungen: im Betrieb, an der Uni oder noch ausgeprägter bei Gewerkschafts- und Parteiveranstaltungen. Diese Gruppentreffen hatten meist den Charakter von Verhören und waren dazu gedacht und konzipiert, dass der Einzelne sich der „offiziellen Linie“ zu unterwerfen hatte.
Ziel: Geschlossenheit nach Außen und perfekte Kontrolle im Inneren.
Der Staatssicherheitsdienst, das gesamte MfS, die HVA u.v.m. waren daher nahezu zwangsläufig Bestandteil im DDR-Alltag und wegen der Omnipräsenz dieser Organe mag es vielen sogar als „normal“ erschienen sein, weswegen – insbesondere natürlich bei ehemaligen Parteikadern – eine Charakterisierung als „Unrechtsstaat“ abwegig, geradezu beleidigend erscheinen muss.
Auch hier gilt: Alte Sünden, z.B. in Form jahrzehntelang eingeübter Konformität, werfen lange Schatten.
Wer sich aus diesen Denk- und Verhaltensmustern nicht lösen kann oder lösen will, wird auch weiterhin mit aller Schärfe abstreiten, dass die DDR ein Unrechtsstaat gewesen ist (aufgrund der spezifischen Umstände im Nachkriegsdeutschland der Sowjetischen Besatzungszone wahrscheinlich sogar werden musste).
Dies, wie gesagt, in aller Kürze als ein Erklärungsmodell.
Das führt nun zum Selbstverständnis der Mütter und Väter des Grundgesetzes. Insbesondere, wenn es um das sog. Menschenbild geht, bei dem die Freiheit des Denkens eine zentrale Rolle spielt: auch die „Freiheit der Andersdenkenden“ (soweit der logische und rationale Diskurs eingehalten wird).
Die Freunde Rosa Luxemburgs, in der berechtigten Hoffnung, es gibt sie noch (auch außerhalb der nach ihr benannten Stiftung), sollten insoweit aufgeschlossenes Interesse zeigen.
Ein wesentlicher Baustein in der normativen Grundstruktur der (west-)deutschen Verfassung ist die Anordnung eines umfassenden Grundrechtsschutzes, vgl. die Ausführungen oben zum „Herrenchiemsee- Entwurf“. Dies folgt der geistesgeschichtlichen Tradition der Anerkennung „überpositiver“ Werte (mit Anklängen an das sog. Naturrecht), wie diese in der europäischen Aufklärung erkannt und formuliert worden sind und nach langem und zähem Ringen mit den größtenteils noch absolutistisch eingestellten Monarchen im Laufe des 19. Jahrhunderts Eingang in die Verfassungsgebung (West-)Europas bzw. der Vereinigten Staaten gefunden hat. (18)
Kurz gesagt: Das Grundgesetz setzt die wesentlichen Werte und Grundrechte als unabänderlich voraus.
Es gründet sich sogar auf Voraussetzungen, die es selbst nicht unmittelbar erzwingen kann; in der staatsrechtlichen Literatur wird dies als sog. Böckenförde-Theorem-Dilemma bezeichnet (ohne an dieser Stelle näher auf den Urheber eingehen zu wollen, der oft auch missverstanden wird).
Seine These lautet: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“(19)
Das bedeutet für das Menschenbild des Grundgesetzes, dass ein universales (auch universalistisches) Verständnis von Grund- und Menschenrechten vorliegt: unabhängig von wechselhaften, äußeren Umständen.
Ein solches Grundrechtsverständnis steht im strikten Gegensatz zu einem rein taktischen Umgang mit der Verfassung bzw. der ideologisch gedachten Gewährung von Rechtspositionen unter reinen Machtgesichtspunkten.
Dieser universale Ansatz geht natürlich auch auf europäische Wurzeln zurück; sogar weit ins Mittelalter: Insoweit sei als Gegenbegriff der sog. „Nominalismus“ genannt.
Und trotz dieser normativen Grundstruktur des Grundgesetzes gelten die Grundrechte nicht „schrankenlos“, sondern unterliegen entweder direkten Gesetzesvorbehalten oder zumindest „immanenten“ Beschränkungen.
Anderenfalls wäre ein umfassender und auch allgemeingültiger Grundrechtsschutz gar nicht zu gewährleisten, denn z.B. Rede- und Meinungsfreiheit in allen Ausformungen können nur funktionieren, wenn die Rechtsordnung insgesamt dafür sorgt, dass die Ausübung dieser Grundrechte nicht in unzulässiger Art und Weise in die Grundrechte anderer Personen eingreift.
Ein in der Praxis bekanntlich oft schwieriges Unterfangen, das umso schwieriger zu bewerkstelligen ist, je weniger Grundkonsens in der Gesellschaft vorhanden ist. (20)
Wenn eingangs auf die unterschiedliche Bewertung der DDR-Vergangenheit durch „Konservative“ und „Linke“ hingewiesen wurde, liegen die Abweichungen bei der Charakterisierung der DDR als Unrechtsstaat auch in derart unterschiedlichen Denkkategorien und geistesgeschichtlichen Traditionen begründet, wie sie oben in aller Kürze beschrieben wurden.
Vernunftbegabte Wesen sollten in der Lage sein, intellektuelle Gegensätze aufzulösen oder zumindest zu entschärfen.
Wenn Gregor Gysi die Bezeichnung „Unrechtsstaat“ für die DDR als unstatthaft empfindet und dies auch im Bundestag ausspricht, weil die Prägung dieses Begriffs durch Fritz Bauer gleichsam apodiktisch für das NS-Regime erfolgt sei, müssen mindestens drei Kritikpunkte angebracht werden:
Erstens ist es wenig seriös, wenn ein ehemaliger Profiteur und prominentes Mitglied des DDR-Systems versucht, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Da drängt sich der Verdacht ja förmlich auf, dass hier von eigener Verantwortung abgelenkt werden soll (nach dem Motto: Wer am lautesten schreit).
Zweitens ist es fraglich, ob diese Art von „Bezugnahme“ dem Andenken Fritz Bauers wirklich gerecht wird. Eine bloße Instrumentalisierung wäre auf jeden Fall unzulässig. Außerdem taugt der ehemalige hessische Generalstaatsanwalt sicher nicht zum „Alibi-Zeugen“.
Und drittens ist es aber auch gefährlich, den nach wie vor notwendigen Diskurs in Bezug auf die „DDR“ von vornherein zu verkürzen bzw. rein ideologisch zu verengen.
Denn genauso schädlich wie unreflektierte Vergleiche ist auch die unreflektierte Ablehnung eines möglichen Zusammenhangs (sog. Kontinuitäten) von staatlicher Willkür und der sich daraus ergebenden Lebenswirklichkeit für weite Teile der Gesellschaft in der damaligen DDR.
Eine vorbehaltlose Aufarbeitung dürfte spätestens nach 30 Jahren nicht an alten Grabenkämpfen scheitern, sonst wird auch dieser Abschnitt deutscher Geschichte „unerledigt“ bleiben.
Die Wahlergebnisse im „Osten“ bieten ein beredtes Zeugnis, doch sind auch Rückwirkungen in den „alten“ Bundesländern spürbar. Hier gilt die Erkenntnis von Kowalczuk: „Aber je weiter die DDR-Geschichte zurückliegt, desto mehr wird sie zur Vergangenheit aller Deutschen.“ (21)
Der zeitweise sehr bekannte DDR-Bürgerrechtler Konrad Weiß hat in einem Fernsehinterview im Frühjahr 1990 auf die Notwendigkeit einer zeitnahen und vollständigen Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit gedrängt, er bezeichnete dies als notwendige „Trauerarbeit“. Würde man eine solche umfassende Auseinandersetzung unterlassen, kämen die Dämonen der Vergangenheit in spätestens 30 bis 40 Jahren umso unheimlicher zurück. Jetzt sind 30 Jahre vergangen, wie sieht es mit der Aufarbeitung tatsächlich aus?
In diesem Zusammenhang müssen sich ehemalige SED-Größen und auch heutige Linken-Politiker die Frage stellen bzw. gefallen lassen, inwieweit eine Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung beim Thema „Unrechtsstaat“ vorliegt.
Insoweit hätten Gysi und andere Apologeten der vermeintlichen Normalität in der DDR von den Fehlern bei der Aufarbeitung des NS-Regimes nach 1945/49 lernen können. Eine Ausklammerung des Unrechtssystems in der DDR aus der Kontinuität der deutschen Geschichte kann nur zu Fehlvorstellungen führen, die zumindest teilweise bis heute in bestimmten Milieus Ostdeutschlands anhalten oder ganz neu entstanden sind bzw. wieder entstehen. (22)
Die Singularität des Nationalsozialismus und besonders der industriellen Massentötung von Menschen kann weder relativiert noch außerhalb der sonstigen geschichtlichen Verhältnisse gestellt werden. Beides würde entweder verharmlosen oder als „Totschlagargument“ jede sachliche Diskussion unmöglich machen.
Wenn dies die wahre Absicht derjenigen sein sollte, die am liebsten alle wirklich schmerzhaften Fragen zur DDR-Vergangenheit abblocken möchten, wird dies auf Dauer genauso wenig funktionieren, wie die Versuche in den 1950er und 60er Jahren in Westdeutschland, das NS-Unrecht nur auf Hitler und seine engere Gefolgschaft zu reduzieren.
Aus diesem Grund ist es auch wenig zielführend, wenn (meist wahlkampftaktisch motiviert) auf die Zahl der Mauertoten hingewiesen wird, so als könne dies irgendein Unrecht relativieren oder aber überhöhen.
Es sollte unstrittig sein, dass jeder Mauertote einer zu viel gewesen ist; letztlich hat die Strafrechtsjustiz nach der Wende hier einiges aufarbeiten können (Stichwort: Schießbefehl).
Dem einen werden die Urteile teils zu gering erscheinen, andere werden dies als „Siegerjustiz“ abstempeln und als Ungerechtigkeit der bösen „Wessis“ einstufen und nicht akzeptieren wollen.
Die Sehnsucht, einen Schlussstrich ziehen zu wollen, ist sicher stark verbreitet und bis zu einem gewissen Punkt sogar nachvollziehbar (zumindest bei denjenigen, die sich an das Versprechen von blühenden Landschaften lange geklammert haben und danach teils mehrfach enttäuscht wurden).
Dennoch ist jede Art Verdrängungsstrategie weder hilfreich noch lässt sie sich logisch durchhalten.
Denn der zum Teil traumatische Ballast, der sich während 40 Jahren real existierenden Sozialismus angehäuft hat, lässt sich nun einmal nicht ohne Weiteres verharmlosen oder gar totschweigen.
Insoweit bestätigt sich (manche werden sagen: leider) die vom Historiker Christian Meier bereits 1990 gewählte Formulierung: „Wir sind ja keine normale Nation.“ (23)
Autor: Thomas Fuchs, Assessor iur., Rechtshistoriker
Anhang
Resolution 1503 (XLVIII) vom 27. Mai 1970 des Wirtschafts- und Sozialrats der UNO „Verfahren für die Behandlung von Mitteilungen mit Bezug auf Verletzungen von Menschenrechten und Grundfreiheiten
Der Wirtschafts- und Sozialrat unter Kenntnisnahme von den Resolutionen 7 (XXVI) und 17 (XXV) der Menschenrechtskommission und von der Resolution 2 (XXI) der Unterkommission für die Verhinderung von Diskriminierungen und für den Schutz von Minderheiten,
(1) ermächtigt die Unterkommission für die Verhinderung von Diskriminierungen und für den Schutz von Minderheiten, eine aus nicht mehr als fünf ihrer Mitglieder bestehenden Arbeitsgruppe, unter angemessener Berücksichtigung der geographischen Verteilung, zu ernennen, die einmal im Jahr für einen zehn Tage nicht übersteigenden Zeitraum unmittelbar vor den Tagungen der Unterkommission in nichtöffentlichen Sitzungen zusammentritt, um alle Mitteilungen, einschließlich der Erwiderungen von Regierungen darauf, die der Generalsekretär gemäß der Resolution 728F (XXVIII) des Rates vom 30. Juli 1959 erhalten hat, zu dem
Zweck zu prüfen, der Unterkommission solche Eingaben, zusammen mit etwaigen Erwiderungen von Regierungen, zur Kenntnis zu bringen, die anscheinend ein Regelbeispiel schwerer und zuverlässig bezeugter, im Rahmen des Mandats der Unterkommission liegender Verletzungen von Menschenrechten und Grundfreiheiten erkennen lassen;
(2) entscheidet, dass die Unterkommission für die Verhinderung von Diskriminierungen und für den Schutz von Minderheiten als ersten Abschnitt der Durchführung dieser Resolution auf ihrer dreiundzwanzigsten Tagung geeignete Verfahren für die Behandlung der Frage der Zulässigkeit von Mitteilungen ausarbeiten sollte, die der Generalsekretär nach Maßgabe der Resolution 728F (XXVIII) des Rates vom 30. Juli 1959 und gemäß der Resolution 1235 (XLII) des Rates vom 6. Juni 1967 erhält;
(3) ersucht den Generalsekretär, für die Erörterung der Unterkommission auf ihrer dreiundzwanzigsten Tagung eine Aufzeichnung über die Frage der Zulässigkeit von Mitteilungen vorzubereiten;
(4) ersucht ferner den Generalsekretär:
- a) den Mitgliedern der Unterkommission jeden Monat eine von ihm gemäß der Resolution 728F (XXVIII) des Rates vorbereitete Liste von Mitteilungen sowie eine kurze Beschreibung von diesen, zusammen mit dem Wortlaut aller von Regierungen eingegangenen Erwiderungen, zur Verfügung zu stellen;
- b) den Mitgliedern der Arbeitsgruppe in ihren Sitzungen die von ihnen gewünschten Originale der in Listen aufgenommenen Mitteilungen zugänglich zu machen, wobei die Bestimmungen des Absatzes 2 (b) der Resolution 728F (XXVIII) des Rates betreffend die Bekanntgabe der Identität der Verfasser von
Mitteilungen gebührend zu berücksichtigen ist;
- c) bei den Mitgliedern der Unterkommission die Originale derjenigen Mitteilungen, die der Unterkommission von der Arbeitsgruppe vorgelegt werden, in den Arbeitssprachen umlaufen zu lassen;
(5) ersucht die Unterkommission für die Verhinderung von Diskriminierungen und für den Schutz von Minderheiten, in nichtöffentlichen Sitzungen, in Übereinstimmung mit dem obigen Absatz 1, die Mitteilungen, die ihr auf Grund einer Entscheidung einer Mehrheit der Mitglieder der Arbeitsgruppe vorgelegt werden, sowie alle darauf bezüglichen Erwiderungen von Regierungen und andere wesentliche Informationen zu prüfen, um zu entscheiden, ob besondere Sachverhalte, die dem Anschein nach ein Regelbeispiel von schweren und zuverlässig bezeugten Verletzungen von Menschenrechten erkennen lassen, vor die Kommission für Menschenrechte gebracht werden sollten, weil sie eine Erörterung durch die Kommission erfordern;
(6) ersucht die Kommission für Menschenrechte, nach Prüfung jedes ihr von der Unterkommission vorgelegten Sachverhalts zu entscheiden:
- a) ob dieser eine eingehende Studie seitens der Kommission und einen Bericht nebst Empfehlungen dazu an den Rat gemäß Absatz 3 der Resolution 1235 (XLII) des Rates erfordert;
- b) ob er Gegenstand einer Untersuchung durch ein von der Kommission zu ernennendes ad hoc-Komitee sein kann, die nur mit ausdrücklicher Zustimmung des betroffenen Staates vorgenommen und in ständiger Zusammenarbeit mit diesem Staat sowie unter Bedingungen geführt wird, die im Einvernehmen mit diesem festgelegt werden. Auf jeden Fall kann die Untersuchung nur vorgenommen werden, wenn:
- i) von allen auf nationaler Ebene zur Verfügung stehenden Mitteln Gebrauch gemacht ist und sie erschöpft sind;
- ii) der Sachverhalt sich nicht auf eine Angelegenheit bezieht, die nach anderen Verfahren zu behandeln ist, welche in den Satzungen oder Übereinkommen der Vereinten Nationen und der Sonderorganisationen oder in regionalen Übereinkommen vorgesehen sind, oder die der betroffene Staat nach Maßgabe allgemeiner oder besonderer internationaler Übereinkommen, deren Vertragspartei er ist, anderen Verfahren zu unterwerfen wünscht.
(7) entscheidet für den Fall, dass die Kommission für Menschenrechte ein ad hoc-Komitee ernennt, welches mit Zustimmung des betroffenen Staates eine Untersuchung durchführen soll:
- a) die Zusammensetzung des Komitees wird von der Kommission bestimmt. Die Mitglieder des Komitees sind unabhängige Persönlichkeiten, deren Sachkunde und Unparteilichkeit außer Frage steht. Ihre Ernennung bedarf der Zustimmung der betroffenen Regierung;
- b) das Komitee gibt sich seine Verfahrensordnung. Es steht unter der Quorum-Regel. Es hat die Befugnis, Mitteilungen entgegenzunehmen und, falls erforderlich, Zeugen zu vernehmen. Die Untersuchung wird in Zusammenarbeit mit der betroffenen Regierung geführt;
- c) das Verfahren des Komitees ist vertraulich, seine Verfahrensmaßnahmen werden in geschlossenen Sitzungen durchgeführt und seine Mitteilungen werden in keiner Weise veröffentlicht;
- d) das Komitee bemüht sich vor, während und sogar nach der Untersuchung um freundschaftliche Lösungen;
- e) das Komitee berichtet an die Kommission für Menschenrechte mit den Stellungnahmen und Anregungen, die es für geeignet hält;
(8) entscheidet, dass alle von der Unterkommission zur Verhinderung von Diskriminierungen und zum Schutz von Minderheiten oder von der Kommission für Menschenrechte zur Durchführung dieser Resolution in Betracht gezogenen Maßnahmen solange vertraulich bleiben, bis die Kommission entscheidet, an den Wirtschafts- und Sozialrat Empfehlungen zu richten;
(9) entscheidet, den Generalsekretär zu ermächtigen, alle Hilfsmittel, die für die Durchführung dieser Resolution erforderlich werden, zu beschaffen und dabei von dem vorhandenen Personal der Abteilung Menschenrechte des Sekretariats der Vereinten Nationen Gebrauch zu machen;
(10) entscheidet, dass das in dieser Resolution für die Behandlung von Mitteilungen betreffend Verletzungen von Menschenrechten und Grundfreiheiten vorgesehene Verfahren überprüft werden soll, wenn irgendein neues zur Behandlung solcher Mitteilungen berechtigtes Organ innerhalb der Vereinten Nationen oder durch internationale Vereinbarung geschaffen werden sollte.“
Quelle: Menschenrechte – Dokumente und Deklarationen, Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Band 397, 4. aktualisierte und erweiterte Auflage, Bonn 2004.
Anmerkungen
1) Den Anstoß für die grundsätzliche Beschäftigung mit der im Beitrag geschilderten „Ausreisepraxis“ in der ehemaligen DDR und den „Stasi-Methoden“ hat die aufgrund von Unterlagen belegte Schilderung einer früheren Mandantin gegeben, die am eigenen Leib die Auswüchse des DDR-Systems zu spüren bekommen hatte. Wer derartige Vorgänge kennt, dem fällt es schwer, dieses System nicht als „Unrechtsstaat“ zu bezeichnen. Ganz unabhängig davon, dass aktuell aufgrund der Ereignisse rund um die Wahl im Thüringer Landtag diese Bezeichnung geradezu inflationär verwendet wird. Meist von Personen, die wenig Ahnung von der Sache haben. Der Beitrag war auch schon länger geplant und soll nicht für politische Stimmungsmache sorgen, auch wenn möglicherweise von falscher Seite Beifall kommt. Aber auch insoweit würde gelten: Realität verdrängt Ideologie. Im Übrigen darf ich mich bei Frau Brigitte Klump bedanken, die mir trotz ihres hohen Alters bereitwillig Auskünfte erteilt hat.
2) Zur Bundestagsdebatte, in der sich Gysi zuletzt echauffierte, s. „Das Parlament“, Nr. 46 v. 11.11.2019, 13. In den Medien gibt es außerdem jede Menge ähnlicher Beispiele.
3) Immerhin geht es doch um das „Selbstverständnis“ der DDR als angeblich antifaschistischer Staat.
4) Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes v. 24.04.2009, Sachstand WD 1 – 3000 -060/09 (hierunter lässt sich diese Arbeit auch auf der Seite der Bundestagsverwaltung aufrufen).
5) Artikel 4 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte v. 10.12.1948: „Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel sind in allen ihren Formen verboten.“ Da es sich aber (interessanterweise) nach h. M. um keine verbindliche Rechtsquelle des Völkerrechts handelt, ist dieser Artikel auch nicht einklagbar, besitzt nur „moralische“ Wirkung. Hier liegt der entscheidende Unterschied zur Europäischen Menschenrechtskonvention v. 4.11.1950 (dort Art. 4 Abs. 1).
6) Zu einem kurzen historischen Überblick: s. Wikipedia-Artikel „Sklavenhandel“.
7) GULag: Glawnoje Uprawlenije Lagerej (andere Schreibweisen sind möglich). Bedeutet: Hauptverwaltung der Lager. Die Anfänge gehen bereits auf den Herbst 1918 zurück (Reaktion auf ein Attentat auf Lenin).
Besonders in der Stalinzeit Name des Systems der sowjetischen Strafarbeitslager. Geschätzte Zahl der Toten: 1 Million; Gesamtzahl an Sträflingen in den Lagern: ca. 20 Millionen. Wie meist, sind solche Zahlen nicht exakt belegbar. Nach der Ära Stalins gab es zumindest weniger Todesfälle.
8) Zu den Zahlen vgl. der Einfachheit halber bei Wikipedia, Artikel „Häftlingsfreikauf“.
9) S. bei Norman Weiß: Einführung in „UN-Non-Treaty Procedures“.
10) Klump, S. 379.
11) Vgl. Paech/Stuby, S. 676f.
12) Im Überblick s. Weiß, wie Anmerkung 9.
13) Purschke (s. Literaturverzeichnis).
14) Emde (Focus Heft 46/1996), S. 112
15) So sollen laut „Bürgerkomitee des Landes Thüringen e.V.“ sogar ca. 10.700 DDR-Polizisten und NVA- Soldaten desertiert sein.
16) Siehe den Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, Jahrbuch des öffentlichen Rechts, N.F. 1, Tübingen 1948 und die Dissertation v. Bauer-Kirsch.
17) Ein besonders einschneidender Fall in Frankreich ist die Einführung von Papiergeld infolge der Geldentwertung nach der Revolution. Dies wurde dann auch in den französisch besetzten Gebieten im Rheinland zwangsweise durchgeführt. Wer sich weigerte, wurde bestraft, so dass die Bevölkerung genötigt wurde, das ihr fremde Geld zu akzeptieren. Soweit zu den ganz alltäglichen Auswirkungen politischer Entscheidungen auf die Lebenswirklichkeit der Menschen bereits vor über 200 Jahren und was passiert, wenn diese nur unter Strafandrohung umgesetzt werden können. Dieses Beispiel anhand der Währung trifft auf die Situation der DDR Ende 1989, Anfang 1990 in doppelter Hinsicht zu: Wie die französischen Regierungen nach der Revolution, war auch die DDR ständig pleite (u.a. zu hohe Militärausgaben und Misswirtschaft) und nachdem die Minderheit der Bürgerrechtler im Herbst 1989 für Freiheit demonstriert hatte, ging im Frühjahr 1990 eine Mehrheit für die schnelle Einführung der D-Mark auf die Straße.
18) Das bedeutet allerdings auch, dass alle Kulturkreise außerhalb (West-)Europas, die nicht diese Epoche der „Aufklärung“ durchlaufen haben, bis heute teils extreme Schwierigkeiten haben, diese „westlichen“ Postulate zu verstehen und dann auch vorbehaltlos anzuerkennen.
19) Der Einfachheit halber s. unter Wikipedia-Artikel „Böckenförde-Diktum“.
20) Im Übrigen soll auch gar nicht abgestritten werden, dass es auch im Jahre 2020 bei uns diverse Probleme bei der Gewährung grundrechtlicher Freiheiten und der Achtung der Menschenwürde gibt. Diese zum Teil gravierenden Defizite können an dieser Stelle nicht seriös behandelt werden, aber folgender Hinweis ist zumindest angebracht: Im Gegensatz zur Praxis der DDR-Justiz können solche Defizite heute gefahrlos angesprochen werden!
21) Kowalczuk, S. 15.
22) Nicht nur auf die rechte Szene bezogen, sondern auch im Hinblick auf linksterroristische Strukturen in bestimmten ostdeutschen Großstädten. Letzteres wird jedoch gerade von eher linken PolitikerInnen teils verharmlost. Damit ist aber keinem genützt.
23) Meier, s. Zeit-Online v. 21.09.1990. Fazit: „Wenn wir uns unseren Aufgaben verweigern, ist das nicht postnationale Reife, sondern nur genussreiche Bequemlichkeit.“
Meier, ein renommierter Althistoriker, kann dies mit der seinem Teilgebiet eigenen Distanz wahrscheinlich besser beurteilen als manch junger Lehrstuhlinhaber für „Politische Theorie“ o.ä.
Literatur
Bauer-Kirsch, Angela: Herrenchiemsee – Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee – Wegbereiter des Parlamentarischen Rates, Dissertation Universität Bonn 2005. Diese Dissertation ist auf dem Hochschulschriftenserver der ULB Bonn http:/hss.ulb.uni-bonn.de/diss_online zugänglich.
Der Spiegel (ohne Autor): Menschenrechte – Die Methode 1503, in Heft 36/1980. Im Internet: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14325394.html
Emde, Heiner: Das Gift der Natter. Wie die Stasi eine westdeutsche Frau bekämpfte, die DDR-Bürgern zu legaler Ausreise verhalf, in: Focus Heft 46/1996, S. 110 ff.
Klump, Brigitte: Das rote Kloster. Als Zögling in der Kaderschmiede des Stasi, 2. Aufl., München 1991.
Kowalczuk, Ilko-Sascha: Legitimation eines neuen Staates – Parteiarbeiter an der historischen Front Geschichtswissenschaft in der SBZ/DDR 1945 bis 1961, 1. Aufl., Berlin 1997.
Meier, Christian: Wir sind ja keine normale Nation, Zeit-Online v. 21. September 1990. Im Internet: https://www.zeit.de/1990/39/wir-sind-ja-keine-normale-nation
Paech, Norman/Stuby, Gerhard: Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen, 1. Aufl., Hamburg 2001.
Purschke, Thomas: Das „Rote Kloster“ – Die Sektion Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig war die Kaderschmiede der DDR-Journalisten. Im Internet: https://rotstift.archiv-buergerbewegung.de/index.php/blog/item/75-thomas-purschke
Weiß, Norman: Einführung in „UN-Non-Treaty Procedures“. Individualrechtsschutz unter den verschiedenen UN-Mechanismen – Teil 4, MenschenRechtsMagazin Heft 4, Oktober 1997. Im Internet: https://publishup.uni-potsdam.de/opus4-ubp/frontdoor/deliver/index/docId/4209/file/mrm97_h4_S6_11.pdf
Im Allgemeinen: „30 Jahre Mauerfall“ als Sonderteil in der F.A.Z. vom 9. November 2019, Nr. 261.