Teil II: Russlands „Siege“ – vermiedene Niederlagen
1. Einführung
Russische Aussagen über eigene „Siege“ sind zumeist haltlose Prahlerei – exemplifizierte im Mai 2020 der Historiker Jurij Pivovarov (*1950) an Stalin höchstpersönlich: Acht Zeilen verwendete Akademie-Mitglied Pivovarov auf die Auflistung aller Titel, Ehrentitel und Anbetungen Stalins („Marschall, Generalissimus, Mann Nummer eins des zwanzigsten Jahrhunderts“ etc.), um dann ironisch zu resümieren: „Kann alles sein. Nur den Krieg hat er nicht gewonnen“. Stalins Terror in Armee und Gesellschaft, so Pivovarov in Anlehnung an den „treuen Stalin-Marschall“ Aleksandr Vasilevskij (1895-1977), hat Hitler erst ermutigt, die Sowjetunion anzugreifen:
„Der Hitler-Überfall vom 27. Juni 1941 traf auf 303 Divisionen der Roten Arbeiter- und Bauernarmee (RKKA) mit zusammen 5.373.000 Mann. Nach einem halben Jahr verblieben noch rund 1.650.000 Mann. Das heißt, der Feind hatte über vier Millionen Mann getötet, verwundet oder gefangen genommen. Im Herbst 1942 waren zwei Millionen km² des europäischen Teils der UdSSR mit einer Bevölkerung von 85 Mio. Menschen okkupiert. Nach Angaben des Deutschen Oberkommandos gerieten im ganzen Krieg 5.270.000 Soldaten und Offiziere der RKKA in Gefangenschaft, während noch 2005 der Generalstab des (russischen) Verteidigungsministeriums verlautete, 4.559.000 Rotarmisten seien in Gefangenschaft gekommen – ein Unterschied von 710.000“.
Solche Daten publizierte man erst lange nach Kriegsende. Davor las man es anders, wie ein zeitgenössisches Plakat zeigte: Da sieht man das Brandenburger Tor (mit der kyrillischen Inschrift Germanija), darüber drei kleine Fähnchen der USA, Englands und Sowjetunion. Durchs Tor marschieren Rotarmisten, von denen einer die rote Flagge schwenkt: „Wir hissen über Berlin das Banner des Sieges“. Sieg? Am 9. April 2020 sendete die Rundfunkstation „Radio Svoboda“, die in Prag stationiert ist, die beeindruckende Dokumentation (in russischer Sprache) „Land-Lease – die Waffe des Sieges“, die der Moskauer Historiker Boris Sokolov (*1957) verfasst hatte – ein strenger Kritiker russischer Machthaber, wie man schon an dem Titel erkennen kann, mehr noch aus dem Inhalt. In Russland, so Sokolovs Tenor, übersieht man „traditionell“ die Bedeutung von Land-Lease. Dabei war deren Rolle „weit gewichtiger als es frühere sowjetische und heutige russische Historiker“ darstellen.
Nochmals: Die West-Alliierten haben Stalins Sowjetunion großzügig Waffen und Geräte geliefert, die diese vor einer Niederlage bewahrten. Ansonsten durfte die Sowjetpropaganda die Westalliierten zwar “Brüder-Völker“ nennen, aber nur propagandistisch ausgewalzt: „Die Brudervölker verabredeten/ ein Treffen über der Hauptstadt des Feindes/ bei jedem Händedruck/ zitterte das faschistische Deutschland“. Brudervölker? Der mutige Moskauer Bürgerrechtler Ilja Varlamov hat im Mai in seinem Blog den bösen Essay veröffentlicht „Feind, Freund und wieder Feind – Wie Stalin das Dritte Reich lieb gewann“, der die Wege der Kumpanei Stalin – Hitler dokumentierte. Verfasst hatte ihn der Historiker und Schriftsteller Aleksej Kul’manov, der längst eine erste Adresse für historische Wahrheitsfindung ist. Laut ihm betrugen 1940 sowjetische Exporte nach Deutschland 190,3 Mio. Dollar, Importe 128 Mio, Das übertraf weit den Handel mit den USA und Großbritannien.
2. „Sieg“, „siech“ oder Lend-Lease
Die bewusste Stalin-Äußerung, Überschrift dieser Dokumentation, fiel bei der Teheran-Konferenz (28. November bis 1. Dezember 1943), als die „Großen Drei“ Stalin, Roosevelt und Churchill mit einem Festessen den 69. Geburtstag von Churchill würdigten. Man sollte sich an sie erinnern, wenn frühere Sowjets und heutige Russen wieder einmal von ihren „Siegen“ tönen, wie es ausgerechnet Stalin nicht getan hatte, aber dafür sorgte, dass sein Dank an die Verbündeten nicht weiter publik wurde.
Dank? Im Februar 1942 schickte US-Präsident Roosevelt Admiral William Standley (1872-1963) als Botschafter nach Moskau. Seine Hauptaufgabe war die Koordinierung alliierter Hilfslieferungen. Dabei bekam er Einblicke und wagte Aussagen, die bis heute gern von russischen Historikern wie Oleg Budnickij (AB) zitiert werden:
„Offenkundig wollen die sowjetischen Machthaber die Tatsache verschleiern, dass sie Hilfe von außerhalb beziehen. Unverkennbar wollen sie ihrem Volk weismachen, dass die Rote Armee ganz allein Krieg führt“.
„Hilfe von außerhalb“? Davon wollten Russen nichts wissen: „Wir haben Millionen Leute verloren, aber sie verlangen, dass wir vor ihnen auf den Knien rutschen, nur weil sie uns Konserven schicken“. Solchen Unsinn zitierte der Historiker Oleg Budnickij (*1954) 2015, als er Umfang und Art der US-Hilfe schilderte: Von Juni 1941 bis September 1941 bekamen die Russen 17,5 Mio. Tonnen Güter, gebracht in 2.770 Transportschiffen. Diese waren auf eine Haltbarkeit von fünf Jahren konzipiert, wurden partiell aber bis 1974 genutzt.
1948 erschien eine „Kurze Geschichte des Großen Vaterländischen Kriegs“ mit einigen Angaben, was man von den Westalliierten an Waffen, Maschinen etc. erhalten hatte. Dann behaupteten die Autoren: „Jedoch war diese Hilfe nicht sonderlich bedeutsam und keineswegs konnte sie einen entscheidenden Einfluss auf den Gang des Kriegs ausüben“. Bereits 1947 veröffentlichte Nikolaj Voznesenskij, Stalins Planungschef, eine Studie „Die Kriegswirtschaft der UdSSR zu Zeiten des Vaterländischen Kriegs“, in der er kühn behauptete, die „westlichen Lieferungen machten 4 Prozent der sowjetischen Produktion aus“.
Rechtliche und politische Basis des „Sieges“ war der Lend-Lease-Act (Leih- und Pachtvertrag), vom US-Kongress am 18. Februar 1941 verabschiedet – mit dem Ziel, alle Gegner der „Achsenmächte“ (Deutschland, Italien, Japan) zu unterstützen. Im November 1941 wurde das Abkommen auch auf die Sowjetunion ausgedehnt, die allein aus den USA für 11,3 Mrd. Dollar Waffen und Gerät erhielt. Details hat im Mai 2020 der russische Wirtschaftswissenschaftler Dmitrij Prokof’ev in seinem brillanten Aufsatz „Was ein Sieg kostet“ (Skol’ko stoit pobeda, AB) ausgebreitet. Wie sollten die Sowjets überhaupt an „Hilfe“ kommen? Sie verfügten kaum über schwere Transportflugzeuge und nur eine „Handvoll“ Flugplätze mit betonierten Pisten, alle rund um Moskau gelegen. Gegen solche Mängel verfuhr Stalin in bekannter Manier: Erschießen! Sein prominentestes Opfer war Generaloberst Grigorij Štern (1900-1941), Chef der Zentrale für Luftverteidigung. Da mehrfach deutsche Junkers-Maschinen unbehelligt bis nach Moskau flogen, wurde Štern verhaftet, als „deutscher Spion“ angeklagt und am 28. Oktober 1941 zusammen mit 25 Mitangeklagten erschossen.
Ein ähnliches Schicksal traf Nikolaj Voznesenskij (1903-1950), den Chef der Wirtschaftsplanung (Gosplan), Inhaber anderer höchster Posten und von Stalin selber zu seinem Nachfolger (preemnik) bestimmt. 1949 urteilte Stalin ganz anders, ließ Voznesenskij aus allen Posten werfen, im Oktober 1949 verhaften und Ende September 1950 erschießen. Die genaueren Gründe dafür sind unklar, aber vermutlich suchte Stalin einen Sündenbock für die Hungersnot von Juli 1946 bis August 1947, die bis zu 1,5 Mio. Todesopfer forderte und nach Ansicht westlicher Experten von Stalin gegen die rebellischen Bauern inszeniert worden war.
Voznesenskij war Verbreiter der Lügen von der Geringfügigkeit alliierter Hilfen. Die Wahrheit hat, wie erwähnt, Prokof’ev an lebenswichtigen Bereichen demonstriert: „Lieferungen aus dem Pacht- und Leihvertrag sicherten 80 Prozent vom Bedarf des medizinischen Dienstes der Roten Armee“. Noch mehr galt das für Nahrungsmittel, da „Russland im Sommer 1941 einen Großteil seines Ackerlandes verloren hatte“.
Über Lend-Lease diskutieren Russen immer noch, wobei (wie erwähnt) die Front der totalen Verleugner immer weiter bröckelt, wogegen auch der erwähnte N. Starikov mit seinen Huldigungen auf Stalin nicht ankommt. Eine neue Lesart besagt, die Alliierten hätten zwar etwas geliefert – „nicht viel und nicht kriegsentscheidend“ -, sich das aber „mit Blut und Gold“ bezahlen lassen. Die Wahrheit kennen und beweisen brillante Historiker wie Oleg Budnickij, Andrej Čaplygin, der junge Dmitrij Okunev etc., die auch die vernünftigen Print- und Funkmedien hinter sich wissen.
Das gilt vor allem für Prokof’ev, dem wir logistische Grunddaten verdanken. In fünf Protokollen waren Liefertermine festgelegt worden (I. 7.12.41, II. „Washingtoner P.“ 9.12.42, III. „Londoner P.“ 10.43, IV. P. Februar 1944, V. P März 45). Wichtig waren die “Marschrouten” der Transporte, die für unterschiedliche Mengen bestimmt waren:
Strecke | Tonnage (1.000 t) | Anteil an Gesamtliefg. (%) |
Stiller Ozean | 8.244 | 47,1 |
Transiran | 4.160 | 23,8 |
Arktische Konvois | 3.964 | 22,6 |
Schwarzes Meer | 681 | 3,9 |
Sowjet. Arktis | 452 | 2,6 |
Total | 17.501 | 100,0 |
Über die ersten drei Routen kamen 93,5 Prozent aller Lieferungen. Die wohl interessanteste war die transiranische, über die schwere LKWs „Studebaker“ kamen, die man überall einsetzte, „wo es keine Bahnlinien gab“ (Prokof’ev). Russland bezog 375.000 Exemplare. 3.374 „Studebakers“ wurden zu Raketenwerfern umgerüstet (Bild), die legendäre „Katjuṧa“, wie die effiziente Waffe nach einem populären Lied hieß
Gefragt war bei den Menschen die „zweite Front“, also die Lebensmittellieferungen (tuṧënka, 4.478.000 t), die „fast die ganze Armee und das Gros der »Zivilisten«, Beschäftigte wichtiger kriegswirtschaftlicher Betriebe und politische »Nomenklatura«, versorgten. Kriegswichtig waren Maschinen, Metalle, Chemikalien etc., die die sowjetische Produktion um das Zehnfache übertrafen. Dazu andere Lieferungen:
Geräte, Waffen | Menge |
Panzer | 18.564 |
Flugzeuge | 22.195 |
Autos | 432.316 |
Motorräder | 36.891 |
Lokomotiven | 1.981 |
Waggons | 11.155 |
Spezialstahl | 2.800.000 t. |
Erdölprodukte | 2.670.000 t |
Chemikalien | 847.000 t |
Traktoren | 8.071 |
Schienen | 622.100 t |
Flugbenzin | 2.586.000 t |
Schießpulver | 123.000 t |
Sprengstoffe | 306.000 t |
Patronen div. Kalibers | 603 Mio St. |
Buntmetalle | 802.000 t |
Soldatenstiefel | 15.5 Mio P. |
Schuhe | 16 Mio P. |
Soweit Prokof’ev, Budnickij und andere Kenner, die auch exotische Lieferungen anführten: Bettdecken (1.541.590), Spiritus (331.066 Liter), Knöpfe (pugovicy) 257 Mio.
3. Personal, Preis und Bilanz der „Siege“
Ein Bonner Ex-Minister erzählte amüsiert, wie sowjetische Spitzenmilitärs ausrasteten, wenn vom Öko-Vandalismus der Sowjet-Besatzer in Ost-Deutschland die Rede war. Zu dessen Bereinigung musste man metertiefen Bodenaustausch vornehmen etc. Allein die Erwähnung solcher Fakten empfanden Russen als Schändung ihres Heldenruhms und nationale Beleidigung, worauf sie mit dem Totschlagargument reagierten: „Vergessen Sie nicht, wer den Krieg verloren hat“.
Man hätte den Russen aus dem Buch „Berliner Kreml“ vorlesen sollen, das der Russe Grigorij Klimov (1918-2007) 1951 veröffentlichte und das ein verdienter Erfolg war. So detailliert hatte zuvor (und später) noch kaum jemand registriert, wie rücksichtslos die Rote Armee deutsche Fabriken ausplünderte, die Bevölkerung versklavte und die West-Alliierten als „Feinde“ auf Schritt und Tritt hinterging. Das hatten die Alliierten nicht bedacht, als sie den Sowjets Thüringen, Sachsen-Anhalt und Westsachsen überließen (MDR „Zeitreise“ 03.07.2020).
Nach jüngsten deutschen Ermittlungen waren über 500.000 Sowjet-Besatzer in 620 ostdeutschen Standorten präsent, die meisten in Ost-Berlin (134) und Leipzig (69). Allein im Bundesland Brandenburg gab es 83 sowjetische Kasernen, 89 Wohnkomplexe, 19 Flugplätze und 45 Schießplätze (Potsdamer Neuste Nachr. 29.08.2019). Im Zuge einer Vortragsverpflichtung durfte ich einen solchen Hochaus-Komplex von außen anschauen – er war hermetisch abgesperrt, damit kein Deutscher durch die brüchige Statik der Gebäude gefährdet würde. Seit dem 10. Juni 1945 gab es Sowjetische Besatzer in Deutschland, am 31. August 1994 traten die letzten die Heimreise an. Aber noch feiert man in Russland am 10. Juni den „Gründungstag der Gruppe sowjetischer Truppen in Deutschland“ (GSVG), wozu das junge (und lesenswerte) Wochenblatt „Juristische Zeitung“ (yur-gazeta.ru) 2020 einen akribischen Report publizierte. Die Sowjetische Besatzungszone maß 107.500 km² und zählte 18,5 Mio. Einwohner, die anfänglich von 2,9 Mio. Soldaten der „Gruppe sowjetischer Besatzungstruppen“ (GSOV) “kontrolliert“ wurden. Oberbefehlshaber war Marschall Georgij Žukov, der in Personalunion auch die „Sowjetische Militär-Administration“ (SVA) leitete. Er nutzte seine Position zu Bereicherung und Plünderei (marodërstvo), worauf ihn das KP-Politbüro am 20. Januar 1948 als „politisch und moralisch verkommenen Menschen“ rügte (was seiner Karriere weiter nicht schadete).
Die GSOV-Führung residierte anfänglich in Potsdam, wurde aber bald nach Wünsdorf verlegt, wo sie bis zuletzt verblieb und „sogar Nuklearwaffen zur Verfügung hatte“. Wünsdorf besaß einen eigenen Bahnhof, von dem täglich Züge von und nach Moskau gingen. Im Internet sind Bilder und Filme zu Wünsdorf zu sehen, die einen Eindruck von russischem Umgang in „Feindesland“ vermitteln.
Russen fühlen sich bis heute als alleinige „Sieger“ über Deutschland, wie sie 1945 bis 1994 im Namen ihrer Besatzertruppe „in Deutschland“ kundtaten, nicht etwa in der DDR. In Russland verblieb Besatzerkult. „Nazadvgsvg.ru“ (Zurück zur GSVG) nennt sich seit über einem Jahrzehnt ein Internetportal, wo zahlreiche Veteranen-Clubs, benannt nach ihren Standorten von Altenburg bis Zerbst, Nostalgie pflegen ans „tolle Land DDR“, dieses „Einkaufsparadies“, in dessen „Läden gab es alles“, dazu „deutsche Kultur, Ordnung und Sauberkeit“. Daran erinnerte die (lesenswerte) „Moskauer Deutschen Zeitung“.
Rein rechnerisch müsste die GSVG-Gemeinde riesig sein, denn seit Jahrhunderten ist es russischer Ehrgeiz, mit Deutschen zu reüssieren. Wie ein russisches Sprichwort besagt: „Der Deutsche gewinnt mit dem Verstand, der Russe mit den Augen“ (Nemec umom dochodit, Russkij glazami). Und die GSVG bot ja viele Gelegenheit, bei den „Fritzen“ manches abzugucken. Unglaubliche 8,5 Mio. Russen haben zwischen 1945 und 1994 als Militär oder Zivilpersonal bei den Besatzern gedient, wozu noch Hunderttausende Familienangehörige, Zivilangestellte etc. kamen. 15,5 Mrd. D-Mark kostete es das wiedervereinte Deutschland, die ungeliebten „Freunde“ außer Landes zu bringen. Angeblich sollten dafür Wohnungen für GSVG-Militärs gebaut werden, doch gewiss versickerte das Geld anderswo. Von daher rührt der Zorn vieler Russen auf Gorbačëv und andere, die die ostdeutsche Kolonie opferten. Dabei sind die Lebensverhältnisse in Russland, mit Gorbačëv oder ohne ihn, die schlechtesten in ganz Osteuropa. Dаs erklärt unter anderem die hohe Kriminalität in Russland.
Die heutige Misere hat ihr Nachkriegs-Vorspiel. 1946 wurden aus den „ausländischen Aktionszonen der sowjetischen Armeen“ insgesamt 4.199.488 „Sowjetbürger“ repatriiert, davon 2.660.013 Zivilisten und 1.539.475 Armeeangehörige. „Von den Anglo-Amerikanern übernommen oder aus anderen Ländern“ kamen weitere 2.352.686 Personen. Diese Zahlen spielen keine größere Rolle, weil sie allem Anschein nach inkorrekt sind. So viele russische Quelle man konsultiert, so viele differierende Zahlen bekommt man. Das beginnt mit Globalzahlen der Kriegsgefangenen – laut deutschen Angaben 5.270.000, laut russischen 4.559.000. Zudem hat die (lesenswerte) russische „Novaja gazeta“ im September 2020 behauptet, dass von den russischen Kriegsgefangen „3,8 Mio. in den ersten Kriegsmonaten in Gefangenschaft kamen“. Das bezeugte die Schreckstarre, in die die sowjetische Staats- und Parteiführung bei Kriegsausbruch fiel, Stalin allen voran, der ernsthaft befürchtete, erschossen zu werden. Nikita Chruṧčëv (1894-1971) berichtete, dass Stalin tage- und wochenlang unfähig für jede Aktivität war. Anastas Mikojan zitierte in seinen Memoiren eine Äußerung Stalins: „Lenin hat uns diesen Staat hinterlassen, aber wir haben ihn verkackt!“
„Russische Kriegsgefangene“ ist seit Jahrzehnten ein Reizwort in Russland, weil damit vor allem „Vlasovcy“ gemeint sind, die 125.000 Angehörigen der „Russischen Befreiungsarmee“ (ROA), die in den letzten Kriegsmonaten auf deutscher Seite kämpfte. Laut russischen Angaben wurden die „Vlasovcy“ und andere „Helfer der Besatzer“, zusammen 14,96 Prozent aller „repatriierten“ Kriegsgefangenen, „Repressionen“ (repressii) unterworfen, wie die euphemistische Umschreibung für Erschießung lautete. Das war für die ROA kein Geheimnis, denn schon Ende 1944 hatte ihre Zeitung „Zarja“ (Morgenröte) als erste Stalins Äußerung publiziert, dass es für die Rote Armee keine Kriegsgefangenen gäbe, nur „Heimatverräter“. Dieses Wort Stalins sei „ohne großen Aufwand“ verbreitet worden, so „Zarja“ weiter, war bei der Bevölkerung aber nicht „ergebnislos“ geblieben, wie die jüngsten Kämpfe zeigten.
Schon bei ihrer Vereidigung mussten Rotarmisten schwören: „Eine Gefangengabe an den Feind ist Vaterlandsverrat“. Und Stalins „Befehl 270“, kurz nach Kriegsbeginn erlassen, drohte jedem kriegsgefangenen Offizier nach Rückkehr mit dem Tod. Wie ernst Stalin es damit meinte, demonstrierte er an seinem ältesten Sohn Jakov Džugaṧvili, den er 1941 in deutscher Gefangenschaft ungerührt umkommen ließ.
Wenn es nicht zynisch klänge, könnte man Stalins Umgang mit eigenen Kriegsgefangenen als seinen Beitrag zum „Großen Sieg“ bezeichnen, dass er den Soldaten nur die Wahl zwischen dem Tod auf dem Schlachtfeld oder in den Erschießungskellern der Geheimpolizei ließ. So etwas steigert offenkundig Kampfbereitschaft. Die Realität sowjetischer „Befreiung“ (osvoboždenie) und „Befreier“ (osvoboditel‘) wurden bei den Volksaufständen in Ostdeutschland (1953), Polen (1956) und Ungarn (1956) brutal deutlich. Denn, wie Nikolaus Ehlert formulierte, „wo einmal ein russischer Fuß stand, das wird mit atemberaubender Selbstverständlichkeit national vereinnahmt“. Auch begegnete Ehlert unter Russen „keinem einzigen, der die Eroberungen nicht letztlich gebilligt und die eroberten Gebiete nicht heute als »heilige russische Erde« betrachtet hätte.
4. Erinnerung: Stalins Niederlage vor Jugoslawiens Marschall Tito
Russische „Sieges“-Medaillen, im Krieg millionenfach verstreut, zerfallen in zwei Kategorien. Die einen vergab man „für die Einnahme“ (za vzjatie) von Budapest, Wien, Königsberg, Berlin etc. Die anderen gab’s „für die Befreiung“ (za osvoboždenie) Warschaus, Prags, Belgrads etc. Die Belgrad-Medaille zeigte, im Unterschied zu anderen, einen Lorbeerkranz, dabei war sie nur ein schlechter Scherz. Die Sowjets hatten wenig Ahnung vom Kriegsgeschehen im West-Balkan, was sich erst im Januar 1944 änderte. Da schickte Moskau eine „Mission“ zu Titos Partisanen, was die Briten bereits im Mai 1943 getan hatten. Mehr noch: Churchill, ein persönlicher Bewunderer von Tito und dessen Partisanen, schickte 1944 seinen Sohn Randolph (1911-1968) als Verbindungsoffizier zu Tito. Der hat ihm das nie vergessen, während er Stalins ständige Mahnungen, sich mit dem im Londoner Exil weilenden jugoslawischen König Petar gut zu stellen, wütend zurückwies: „Wenn ihr schon keine Hilfe schicken könnt, dann behindert uns wenigstens nicht“. Jetzt setzte Moskau seine Mission in Marsch – ein halbes Jahr nach den Briten und nach mehrwöchiger Anreise über Teheran, Kairo, Tunis etc. Leiter war General Nikolaj Korneev (1900-1976), ein übervorsichtiger Bürokrat aus dem Bildungswesen der Armee, dem Moskau diese schwierige Aufgabe zutraute. Tito akzeptierte die „Mission“ als Statisten der Westalliierten, die sie wohl als „Genossen“ von Tito hinnahmen. Ausstehen konnte man sie nicht, die Briten lästerten über das „staatsmännische“ Gehabe sowjetischer Offiziere, was jugoslawische Partisanenführer genüsslich herumtratschten.
Allein Russen wussten, was sie in Jugoslawien sollten, da der Sieg Titos und seiner Partisanen nur noch eine Frage von Monaten war: Spitzel anwerben, Titos Kontakte zu den Alliierten stören, die Jugoslawen nach Kräften „ausnehmen“ und bulgarische Truppen in Makedonien als Vorgriff auf eine „dualistische“ Föderation Bulgarien – Jugoslawien akzeptieren. Als Gegenleistung schickten sie „Hilfe“ – 44.368 Orden und Medaillen, 100.000 Abzeichen mit dem Bild Titos und 25.000 Embleme „Partisan 1941“ Als Gegenleistung forderten sie, am 14. Oktober 1944 „als erste in Belgrad einzumarschieren“. Wenn Tito das konzediert hätte, wäre ihm ein Mordskrach mit seinen Partisanen sicher gewesen. Aber Tito dachte anders, er wollte die aus Ungarn angerückte Rote Armee einspannen, den nördlichen Srem zu besetzen. Das wiederum durften die Sowjets nicht, ihr einziger Auftrag war, Belgrad einzunehmen, „weitere Befehle hätten sie nicht“. Tito ließ ein paar Rotarmisten in Belgrad einmarschieren, wobei er aufpasste, dass die Sowjets keine deutschen Waffen, Geräte, Maschinen etc. stahlen. Das war es dann auch schon mit sowjetischer „Befreiung Belgrads“.
Tito hatte Recht, den Sowjets zu misstrauen. Vladimir Dedijer (1941-1990) schilderte in seinem Weltseller „Stalins verlorene Schlacht“, dass sich die Russen unmittelbar nach Kriegsende in Jugoslawien wie primitive Eroberer aufführten. Den Schaden davon hatten Tito und seine Führung: Die Menschen wurden immer verärgerter über die Russen, deren Chefs beschwerten sich bei Stalin, der wiederum die Tito-Führung beschimpfte. So besagte es Dedijer, der die schlimmsten Fälle ausließ„ Berühmt“ wurde z.B. die Äußerung eines sowjetischen „Instrukteurs“: „Jugoslawien ist ein kleines Land, das nur durch die Sowjetunion existieren kann. Wir Russen allein haben Jugoslawien befreit und niemand sonst. Daher sind wir berechtigt, von euch zu verlangen, dass ihr tut, was wir euch befehlen“. Übler noch waren die zahllosen Vergewaltigungen jugoslawischer Frauen durch sowjetische Soldateska. Dazu publizierte Belgrad 1953 das Weißbuch „Untaten unter dem Mantel des Sozialismus“, das man nach Stalins Tod (5. März 1953) rasch zurückzog. Nicht rasch genug, inzwischen kursierte eine deutsche Übersetzung „Genosse Feind“.
In der zweiten Hälfte der 1940-er Jahre war Titos Jugoslawien mit ganz Europa verkracht, was es seelenruhig „aussaß“. Der Konflikt mit Stalin eskalierte bis zur Kriegsnähe, bis 1950 zählte man über 5.000 bewaffnete Grenzzwischenfälle, die Stalins dümmste Scharfmacher wie der Sachse Walter Ulbricht gern zum „lokalen Krieg“ ausgeweitet hätten. Das ließ Stalin lieber bleiben, zumal das kriegserfahrene Jugoslawien alle Kriegsvorbereitungen getroffen hatte und einem Kräftemessen fast schon vergnügt entgegensah. Die Ex-Jugoslawen mögen mittlerweile völlig entzweit sein – daran erinnern sie sich immer noch gern, wie sie zusammenstanden und es möglichen Aggressoren gern besorgt hätten. Zudem drohte mit dem Westen Krach, nachdem Tito zwei westliche Kampfjets abschießen ließ. Das nahm man ihm nicht weiter übel, da man ihn als gewichtigen Partner im ausgebrochenen Kalten Krieg benötigte. Darum bekam er auch fast 160 Mio. Dollar aus dem Marschall-Plan, den Stalin seinen Satelliten streng versagte.
Tito siegte an allen Fronten: Am 20. Oktober 1949 wurde Jugoslawien mit 39 Stimmen (als nichtständiges Mitglied) in den UN-Sicherheitsrat berufen, was ein bewusster Affront gegen Stalin war. Und weitere Aktionen, die erst nach Stalins Ableben endeten. Nicht ganz: Im Mai 1955 trat Stalin-Nachfolger Nikita Chruṧčëv seinen Canossa-Gang nach Belgrad an, wo Tito ihm durch seine Mitstreiter kräftig die Leviten lesen ließ. Dieser Marschall besaß als bestätigter „Sieger“ und “Befreier“ die Zuneigung seiner Untertanen in einem Maß, wie es sie anderswo kaum ein zweites Mal gab, im kommunistischen Osteuropa mit Sicherheit gar nicht. Sein Chefdolmetscher erinnerte sich an eine charakteristische Begebenheit: Am 1. August 1978 wurde in Helsinki die berühmte „Schlussakte“ unterzeichnet. Im Saal saßen gedrängt Prominente aus vielen Ländern – die alle aufstanden, als Tito eintrat. Verwundert das?
Tito starb am 4. Mai 1980 im Militärkrankenhaus Ljubljana, Tage später wurde sein Leichnam im „plavi voz“, dem legendären „blauen Sonderzug“, durch Jugoslawien nach Belgrad gefahren. In größeren Städten waren kurze Aufenthalte geplant, von denen nur der in der kroatischen Hauptstadt Zagreb länger ausfiel – weil Tausende Kroaten alte Liebeslieder wie „Hvala“ (Danke) sangen.
5. „Russkij mir“ = russische Welt, Frieden, Dorfgemeinschaft
Bohrende Fragen nach dem ständig gefeierten „Sieg“ und seinen ausbleibenden Wohltaten werden oft gestellt, aber nie beantwortet. Russische politische Debatten stecken oft voller Untiefen, die weder zu ergründen noch zu füllen sind. Musterbeispiel dafür ist „russkij mir“. Das Adjektiv „russkij“ heißt „russisch“. Aber das Substantiv „mir“ hat vier divergierende Bedeutungen! „Mir“ steht erstens für „Welt“, zweitens für „Frieden“, drittens für „Dorfgemeinschaft“ (als erweiterte russische Familie) und viertens für „weltliche Vergangenheit“ (von Mönchen). In diesem Gewirr die Orientierung zu behalten, schafft niemand. Früher gab es Parolen wie „miru mir“ (der Welt den Frieden), heute ist „russkij mir v poiskach soderžania“ (auf Suche nach Inhalt). So formulierte es im August 2017 „Rossija v global’noj politike“ (Russland in der Globalpolitik, RGP), die von dem Germanisten Fëdor Luk’janov redigierte außenpolitische Fachzeitschrift, die sich zu Recht höchster internationaler Reputation erfreut.
Was ist „russkij mir“? Es ist eine analoge Bildung zu „Pax Romana“ vom Beginn unserer Zeitrechnung, „Pax Britannica“ und „Pax Americana“ im 19. Jahrhundert und anderen Konzepten für multiethnische Groß- und Kolonialreiche, die nach langen Konflikten zu friedlicher Selbstverwaltung und ökonomischer Konjunktur finden sollten. Bei Römern und Briten funktionierte das Pax-Konzept leidlich ein, zwei Jahrhunderte lang, der „russkij mir“ nie. Weil er meist anmutete als wenig überdachte Wiederbelebung romantischer Internationalismen vor Jahrhunderten wie „Panslavismus“ (von Tschechen erdacht) oder „Slavophilie“ (eine deutsche Wortschöpfung).
In jedem Fall endeten panslavische Träume, die Putins Russland im Rahmen des „russkij mir“ wiederbeleben möchte. 2007 hatte er per Ukaz den „Fonds Russkij mir“ ins Leben gerufen – zwecks „Popularisierung von russischer Kultur und russischer Sprache“. Also gewissermaßen die russische Version des deutschen „Goethe-Instituts“, das bei russischen einschlägigen Äußerungen herangezogen wird. 2017 mühte sich Putin in einem weitere Ukaz, Klarheit in die Sache zu bringen, aber das Gegenteil kam heraus. Der Präsident hatte drei Zielgruppen der russkij-mir-Aktivitäten bestimmt: Russen (russkie), Russländer (rossijane) und „russischsprachige Ausländer“. In einer dieser drei Fraktionen fanden sich auch russischsprachige Israelis wieder, was Russen kaum interessiert. RGP berichtete (4/2017), dass 71 Prozent aller Russen „noch nie davon gehört“ hätten, von „russkij mir“ nämlich.
Das müssen sie auch nicht, denn im Grunde gehört „russkij mir“ zu den zahlreichen Begriffen, die wenig verständlich und schwer erklärbar sind, etwa die „Diglossie“ zwischen deutscher „Hochsprache“ und „deutschen“ Regiolekten, wie sie in Österreich, der Schweiz, Luxemburg etc. anzutreffen ist. Was immer da geredet (und bei TV-Berichten per „Untertitel“ verständlich gemacht wird), ist sprachlicher Ausdruck der idealtypischen Unterscheidung in „Kulturnation“ und „Staatsnation“, die der Historiker Friedrich Meinecke (1862-1954) 1908 traf. Ihm schwebten Frankreich als Staatsnation und Deutschland als Kulturnation vor, was man auch umgekehrt sehen konnte. Eindeutiger wurde es, als die DDR unter Ulbricht eine „eigene Sprache der sozialistischen Arbeiterklasse“ erschaffen wollte und dafür nur Hohngelächter erntete.
Für Putin sind „russkij mir“ und „russkoe slovo“ (russisches Wort/ Sprache) fast identisch, was undeutlich bleibt. Alljährlich begeht Russland am 4. November, als man 1612 die polnischen Besatzer aus Moskau hinauswarf, den „Tag der nationalen Einheit“ (Den‘ narodnogo edinstva), wozu Putin 2006 ausführte: „dieser Tag vereint nicht nur das multinationale Volk Russlands, sondern auch die Millionen unserer Volksgenossen (sootečestvenniki) im Ausland, die ganze so genannte russkij mir“. Das mag verstehen, wer will – ein ethnokultureller Besitzanspruch ist wenigstens ansatzweise unüberhörbar. Hinzu kommt das zweite Adjektiv “rossijskij“, das etwas Klarheit bringen kann, da es sich, möglichst in der begrifflichen Kombination „rossijskaja civilizacija“, nur auf „geistige, immaterielle, kulturelle“ Sphären bezieht – beide mal in Klein- oder in Großschreibung fixiert -, während „russkij mir“ immer den ganzen Staat betrifft, also letztlich die „rossijskaja civilizacija“ einschließt. „Kavardak“ (Wirrwarr) nennen Russen so ein Durcheinander, von dem sie befürchten, dass „russkij“ außerhalb Russlands abträgliche Assoziationen an „Russozentrimus als besondere Form von Nationalismus“ weckt (besonders wenn Putin mit diesen Begriffen „spielt“). Wortführer dieses Verdachts ist der bekannte Dissident Aleksej Naval’nyj, der meinte, „in Putins Russkij Mir wird man mit Gewalt getrieben“.
Es ist in der Tat nicht ungefährlich, von „russkij mir“ zu reden und dessen Geltungsbereich nach Belieben abzustecken. Die Russische Orthodoxe Kirche (RPK) möchte ihn „unpolitisch“ verwenden, aber dazu passen kaum die Befunde von Patriarch Kirill: „Russkij mir ist eine besondere Zivilisation, zu der Menschen gehören, die sich heute verschieden benennen – Russen (russkie), Ukrainer (ukraincy) und Belorussen (belorusy)“. Das ist vielleicht ein Fortschritt gegenüber der jüngeren Vergangenheit, als die drei Volksgruppen als „Großrussen, Kleinrussen, Weißrussen“ firmierten. Aber ärgerlich bleibt eine solche Vereinnahmung doch, und Verstimmung ist bei dieser Wortwahl gar nicht zu vermeiden. Von daher ist es dem belorussischen Präsidenten Lukaṧenko nicht zu verdenken, wenn er im Sommer 2020 wütete: „Russkij Mir ist eine Dummheit (glupost‘), die jemand der Propaganda untergeschoben hat“. Das war noch milde, gemessen an Äußerungen belorussischer oder ukrainischer Oppositioneller, die seit Ausbruch der Konflikte in der Ukraine (2014) hinter jeder russkij-mir-Aktion eine großrussische Aggression gegen die eigene „westliche Zivilisation“ wittern. Andererseits besagten an der Jahreswende 2016/17 Umfragen, dass „65 Prozent der Belorussen überzeugt seien, es sei besser mit Russland als mit Europa verbündet zu sein“. Das interpretierten selbst die „Macher“ der Umfragen als Reflex der ökonomischen Abhängigkeit von Russland.
Ähnlich und anders war die Einstellung der Ukraine: Noch 2011 befand deren Kulturminister Dmitrij Tabačnik, „russkij mir sei eine ganz natürliche Bezeichnung“ und es „widerspräche nicht der ukrainischen Souveränität, dazu gezählt zu werden“. Aber dann kamen die kriegerischen Verwicklungen in den „Volksrepubliken“ Doneck und Luhan sowie der Krim, wonach „russkij mir“ in der Ukraine aufgefasst wurde als „aufgeweichte Variante der alten Überzeugung russischer Reichs-Chauvinisten, im Himmel säße ein Russischer Gott“ (Russkij Bog).
Was empfinden frühere Sowjetbürger, wenn sie die Konzeption von „russkij mir“ mit vergangener „Einigkeit“ im Zarenreich und in der Sowjetunion vergleichen? Sie werden von Moskau unsanft angestoßen, sobald Lettland, Ukraine u.a. in neuen Schulgesetzen das Gewicht der russischen Sprache stutzen, was Russland als “Derussifizierung“ übelnimmt. Beim Zerbrechen der Sowjetunion blieben „fünfundzwanzig Millionen ethnische Russen außerhalb der Grenzen des Kontinents“ (matrik), aber „die russische geistige Zivilisationslandschaft“ umfasst seit jeher 300 Millionen Menschen, und wenn „diese Umgebung heute zerstört ist, dann muss sie reanimiert werden, was nichts mit einem „Erheben von Territorialansprüchen“ zu tun hat. Russland gehört zu den „gespaltenen Nationen“, was es nicht hinnehmen muss. Eine „Konföderation mit souveränen Staaten“ (Ukraine, Belarus) sollte bis 2030 denkbar sein.
6. Rückblick und Ausblick
Nach mehrfacher, durch Quarantäne bedingter Verschiebung erlebte am 10. Oktober 2020 das Moskauer „Theater der Nationen“ (Teatr Nacii) – vormals Russlands bekanntestes Privattheater (*1885), seit 2006 eine weltberühmte Stätte für dramatische und szenische Originalität – die Premiere des Stücks „Gorbačëv“ (Bild). Der Titelfigur, dargestellt von Evgenij Mironov, hatte das Stück ausnehmend gut gefallen, besonders die Rolle von Gorbačëvs Ehefrau Raisa (1932-1999), gespielt von der schönen Tatarin Čulpan Chamatova (*1975). Durch sie wurde „Gorbačëv“ zu einem „Schauspiel über die Liebe“, in welchem sich der Titelheld bemüht, seine bereits todkranke Ehefrau aufzumuntern. Dabei hätte er selber mitunter Zuspruch benötigt, etwa wenn wieder einmal ein Attentat auf ihn versucht worden war. So geschah es am 7. November 1990, als der Schlosser Aleksandr Šmonov auf dem Moskauer Roten Platz während der Revolutionsfeiern auf Gorbačëv, damals noch Staatspräsident und Parteichef, feuern wollte. Gorbačëv vermutete dahinter einen Anschlag der „Spezialdienste“.
Gegenwärtig kommt „Gorbi“ auf die Bühne. Verfasst und inszeniert hatte das Stück, eine Dokumentation aus Presse-, Buch- und anderen Texten, der Lette Alvis Hermanis (*1965), dem das (werbewirksame) „Glück“ widerfuhr, die Abneigung der neostalinistischen Sekte „Kommunisten Russlands“ (gegr. 2012) zu erregen. Deren Führer Maksim Surajkin (*1978) forderte vom russischen Kulturministerium das augenblickliche Verbot des Stücks. Es sei „ein Schlag gegen das historische Gedenken und eine Beleidigung aller Russen, die große Opfer vom Zerfall der UdSSR davongetragen und ihn nur mit Mühe überlebt hatten“. Surajkin hat bei den Präsidentschaftswahlen 2018 ganze 0,68 Prozent bekommen. Das waren 499.342 Stimmen, wenig im Vergleich zu Gorbačëv, wie ihn Hermanis sah und auf die Bühne stellte:
„Wenn es im zwanzigsten Jahrhundert auch nur einen Menschen gibt, der das Leben Hunderter Millionen Leute so grundlegend beeinflusste, dann war es Gorbačëv. Gerade er hat die Karte von ganz Eurasien neu gezeichnet, er fand den Schlüssel zu dem Kerker, in dem wir alle steckten, er wagte den Schritt hin zur Offenheit. Früher dachte ich selber, die UdSSR werde unter dem Druck ökonomischer Ursachen einstürzen. Jetzt bin ich überzeugt, dass ein einzelner Mann das geschafft hat. Und das Ziel dieses Dramas ist zu verdeutlichen, welche Qualitäten diesen Mann prägten“.
Gorbačëv – seit Jahrzehnten sind Russen bei Umfragen uneinig, die letzte im November 2019, ob er nur der drittschlechteste russische Politiker sei oder gleich der übelste, wie 41 oder gar 46 Prozent der Befragten meinten. Zur Auswahl standen noch Zar Nikolaj II., Nikita Chruṧčėv oder Boris El’cin, keinesfalls aber Stalin, der längst „kanonisiert“, zur „Ikone“ gemacht wurde, wie die Historikerin Natalija Naročnickaja (*1948) beobachtete. Diese kluge Frau hat auch eine stimmige Erklärung für den neuerlichen Personenkult um Stalin: Wer Stalin nicht vergöttert, negiert auch den sowjetischen „Sieg“ im Zweiten Weltkrieg!
So etwas wäre außerhalb Russlands undenkbar, denn hier liebte man Gorbačëv, vor allem in Deutschland, dem er „die Wiedervereinigung bescherte“. Das traf zwar nicht zu, sprach aber für die Zuneigung, die Deutsche für den Russen „Gorbi“ hegten. So dachten auch Polen, traditionell scharfe Moskau-Feinde – bis Gorbačëv kam. Was dann geschah, zeigte ein Konzert mit dem begnadeten Entertainer Andrzej Rosiewicz (*1944), das noch im Internet zu genießen ist. Ein Saal, proppevoll mit polnischer und sowjetischer Polit-Prominenz, im Zentrum Gorbačëv mit Ehefrau Raisa (1932-1999), alle lauschen begeistert Rosiewiczs polnisch-russischem Lied „Wieje wiosna se wschodu“ (Der Frühling kommt aus dem Osten), wobei Raisa (Rosiewicz: „Die Frau ist eine Schönheit“) strahlt, wenn der russische Refrain erklingt: „Michail, das ist dein Lied, bringe deine Reformen zum guten Ende, du russischer Recke“.
Raisa Gorbačëva litt schon länger an Leukämie, gegen die auch beste deutsche Experten machtlos waren. Sie starb am 20. September 1999 in der Münsteraner Universitätsklinik. Ihr Tod war gewiss der schwerste Schlag, den Gorbačëv in der Spätphase seines Lebens hinnehmen musste, darunter am 26. April 1986 die Reaktorkatastrophe von Černobyl, am 19. August 1991 der Putsch durch ein „Staatskomitee für die Ausnahmesituation in der UdSSR“ (GKČP SSSR) etc. In einem Interview sagte Gorbačëv 2009, er habe zwar „als Politiker verloren“, (ja proigral kak politik), aber unter seiner Führung habe „unser Volk“ zu positiven Veränderungen beigetragen, die in Europa und der Welt „unumkehrbar“ seien. Das ist so zutreffend, dass anderslautende Äußerungen nichts als eine Selbstdekuvrierung derer sind, die derartige Dinge äußern. Gorbačëv, heißt es da, sei ein „Kreml-Judas“, der „das heilige Recht der Sieger“ verletzte, als er den „Irrsinn“ (bezumie) beging, die sowjetischen Besatzer aus der DDR abzuziehen. Der „2 + 4 Vertrag“, am 12. September 1990 in Moskau signiert, regelte alle Details, die längst unumgänglich waren. Doch wird Gorbačëv kritisiert, u.a. von Putin, er habe die NATO zu sehr geschont, viel zu wenig Geld gefordert, nur ein „Dankeschön“ erhalten – kurz: Er hat „Russen und Deutsche betrogen“. So befand Anfang Oktober 2020 das (erzreaktionäre) Blatt „Reportër“, während Gorbačëv am 20. Oktober urteilte: Vor 30 Jahren hat „Deutschland alle Verpflichtungen bei der Vereinigung erfüllt“ – die „Russen verstanden nach allem Unheil des Krieges die Sehnsüchte der Deutschen und kamen ihnen entgegen“.
>> Hier geht es zu Teil 1: Russlands „Sieg“ im Zweiten Weltkrieg – ein Selbstbetrug
Autor: Wolf Oschlies
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