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Startseite > Zeitalter der Weltkriege > Zweiter Weltkrieg > 17. Juli 1944: 57.600 deutsche Kriegsgefangene marschieren durch Moskau
Geschrieben von: Redaktion Zukunft braucht Erinnerung
Erstellt:

17. Juli 1944: 57.600 deutsche Kriegsgefangene marschieren durch Moskau

Stalin feierte seinen ersten und entscheidenden Sieg

 

Einführung: „groß“ in Variationen

Wie viele andere Sprachen kennt das Russische zwei Entsprechungen für das Adjek­tiv „groß“. In rein metrischen Bezügen wird „bol’šoj“ gebraucht, bei­spielsweise seit 1776 im Na­men des weltberühmten Moskauer „Bol’šoj Teatr“ (Großes Thea­ter), um es bis 1917 vom „Malyj t.“ (Kleinen Th.) zu unterscheiden. Ganz merito­risch ist hinge­gen „velikij“, z.B. im Zarentitel „Pëtr Velikij“, was alle Welt zutreffend mit „Peter der Große“ wiedergibt. Nun war der Romanov-Zar mit seinen 2,04 Metern ein Hüne, nicht nur für russische Verhältnisse. Details hat der geistvolle Leonid Parfë­nov 2000 in sei­nen zwei Peter-Filmen, Start der Filmreihe „Russisches Imperium“, verraten: Der Zar muss­te bei Reisen stets sit­zend schlafen, weil für seine Ausmaße kein Bett zu finden war. Im Übrigen wird jeder Besucher der Petersburger Eremitage bestätigen: Peter war einfach nicht angemes­sen zu porträ­tie­ren, weil er seine Umgebung körper­lich über­ragte, intellektuell sowie­so. Nur er ver­mochte sein wasserscheues Volk ans Meer und sein rückständiges Land in die Moderne zu treiben, wie es der große Ly­riker A. Puškin in seinem „Ehernen Reiter“ den Herrscher (mit längst weltbe­kann­ten Worten) sagen ließ: „Hier hatte die Natur im Sinn/ Ein Fenster nach Europa hin/ Ich schlag‘ es in des Reiches Feste“.

17. Juli 1944: 57.600 deutsche Kriegsgefangene marschieren durch MoskauAber das nur nebenbei, denn im Folgenden geht es um ein Ereignis, das bei Russen als „Bol’šoj val’s“ (großer Wal­zer) unvergessen ist. Eigent­lich war das der russische Titel des US-Musikfilms „The Great Waltz“ von 1938, eine Biographie über Leben und Musik von Johann Strauss (Sohn), die international ein Riesenerfolg wurde, auch und gerade in der Sowjetunion, wo er zum Lieblingsfilm Stalins avancierte. Darum nahm der listige Innenminister L. Berija den Filmtitel als Code für die „Parade der besiegten (Deut­schen)“ (Parad pobeždënnych nemcev, Bild), die deutsche Kriegsgefangene am Montag, dem 17. Juli 1944 durch Moskau antraten. Die „Rote Ar­mee“, genauer „Rote Arbeiter und Bauernarmee“ (RKKA), hatte gerade ihre „Opera­tion Ba­gration“ siegreich beendet, was mit einem riesigen Defilee geschlagener Deutscher gewürdigt wurde, mochte solches auch seit 1929 von der Genfer Kriegsgefangenen-Konvention verbo­ten sein. Es war eine beeindruckende „Parade“: Müde Deutsche, kriegsmü­de Russen, beide se­pariert durch leicht bewaffnete Rotarmisten zu Fuß oder Pferd. Da­zu die psychi­sche Verfassung der Deutschen, von denen nicht wenige bereits ab Kriegsbeginn 1941 in der Armee dienten. Jetzt waren zwei Jahre vergangen, aber der Krieg war noch lange nicht vorbei. Vielmehr zeichnete sich die deutsche Nie­derlage immer dro­hender ab, die Über­lebens­chancen der deutschen „Landser“ san­ken von Tag zu Tag – unter solchen Um­stän­den war die sowje­tische Kriegsge­fan­genschaft nicht die übelste Perspektive, zumal man wusste, wie vor wenigen Jahren Deutsche mit sowje­ti­schen Kriegsgefangenen umgegangen waren. Gewiss nicht zu­fällig kur­sierten unter den Gefangenen Gerüchte, ihr Marsch werde mit Massener­schießun­gen Deutscher enden. Fluchtversuche gab es beim „Großen Walzer“ nicht, sie waren auch nie ernsthaft befürchtet worden.


„Operation Bagration“ und eigene Verluste

Namenspatron der „Operation“, die 1944 gewürdigt wurde, war Fürst (knjaz‘) Pëtr I. Bagration (1765-1812), Star des russischen Militäradels und als solcher im Sockel des Nationaldenkmals „Tau­send Jahre Russland“ (Tysjačiletie Rossii) abgebildet, welches die Bildhauer M. Mi­kešin und I. Šreder 1862 in der altrus­sischen Stadt (Velikij) Novgorod aufstellten. Ba­gration war ein erfolgreicher Heerführer im „Vater­ländischen Krieg“, wie der Kampf gegen Na­poleon genannt wurde. „Großer Vater­ländischer Krieg“ hieß anderthalb Jahrhunderte später der Kampf ge­gen die Deut­schen, der ab Juni 1941 unter der Parole „Für die Heimat! Für Stalin!“ (Za Rodi­nu! Za Stalina!) geführt wurde. Die pro­pagandistische Verbindung von Stalin zu Bagration war unverkennbar.

Die „Operation“ dauerte vom 22. Juni bis 20. August 1944, war aber schon weit frü­her entschieden. Auf deutscher Seite stand die Heeresgruppe Mitte mit 850.000 Sol­daten, 3.236 Geschützen, 570 Panzern und 602 Flugzeugen. Ihr Gegner waren vier „Fronten“, wie das russische Pendant einer deutschen “Heeresgruppe“ hieß, mit zu­sam­men 1.400.000 Soldaten, 31.000 Geschützen, 5.200 Panzern und 5.300 Flug­zeugen. Diese und andere Waffen stammten größtenteils aus den USA und Groß­britannien, die bereits am 18. Februar 1941 im „Lend-Lease-Act“ (Leih- und Pachtab­kommen) großzügigste Hilfe zugesichert hatten. Den Sowjets mangelte es an allem, an Waffen, aber auch an Flugbenzin, militärischer Kommunikations­tech­nik etc., was sie nun reichlich erhielten. Details nannte der russische Ökonom Dmitrij  Pro­kof’ev im Mai 2020 in seinem „süffigen“ Essay „Was ein Sieg kostet“. Stalins „Sie­ger“ bekamen 1.616 Ki­lo­tonnen Bomben, 12.000 Tanks, 18.000 Flug­zeuge, 375.000 LKWs, 11.000 Waggons, 620.000 Ton­nen Schie­nen etc. Das war die Rettung, be­kannte Stalin En­de 1943: „Without the use of those ma­chi­nes, through Lend-Lease, we would lose this war“ (so englisch im Protokoll der Konferenz von Te­heran und Kairo vermerkt).

Die „Operation Bagration“ war ein erster „Vorgeschmack“ der deutschen Niederlage im Folgejahr, obwohl die Opfer der Roten Armee noch erschreckend wa­ren: Insge­samt verlor sie 765.815 Mann (178.308 Tote und Vermisste, 587.308 Ver­wundete). Dagegen nahm sich die deutsche Bilanz beinahe milde aus: Verluste total 399.102 (26.397 Gefallene, 109.776 Verwundete, 262.929 Ge­fan­gene).

Bei Kriegsausbruch (22. Juni 1941) zählte die Sowjetunion 196,7 Mio. Einwohner, das engere Russland (RSFSR) 111 Mio. Die Rote Armee bestand aus 303 Divisio­nen mit zusammen 5.373.000 Soldaten, von denen nach anderthalb Jahren nur noch 1.650.000 übrig waren. Insgesamt haben in der ganzen Kriegszeit 34,5 Mio. Men­schen die Armee „durchlaufen“, davon über 400.000 in „Strafbataillonen“ (štrafnye), die Stalin per Befehl 227 vom 28. Juli 1942 geschaffen hatte, um seiner Durchhalte­weisung „Keinen Schritt zurück“ (ni šagu nazad) Gewicht zu verleihen. Generell sind russische Zahlen nicht eindeutig: Nach russischen Angaben gerieten 4.559.000 Rot­armisten in deutsche Gefangen­schaft, nach deutscher Zählung 5.270.00, von denen bereits im Herbst 1941 300.000 nach Hause entlassen wurden, zumeist in die West-Ukraine und ins Baltikum.

Diese Zahlen nannte der souveräne Historiker Jurij Pivovarov (*1950), der an der Stalin-Herrschaft kein gutes Haar lässt, ihr vielmehr Millionenopfer vorhält und nach­rechnet: Hungersnot auf dem Lande eingangs der 1930-er Jahre, der „große Terror“ 1936-1938 und die Ermordung von rund 800 höchsten Offizieren, „wodurch praktisch die gesamte Spitze von Armee und Flotte geköpft wurde“. So sagte es Pivovarov, der einen Überlebenden, Marschall Aleksandr Vasilevskij (1895-1977), zitierte: „Wäre die­ser Terror nicht gewesen, dann hätte Hitler keinen Überfall auf die UdSSR ge­wagt“. Stalin hatte einen ausgeprägten Wi­der­willen gegen Offiziere, die ihre Ausbil­dung und Karriere noch zur Zarenzeit absol­viert hatten, und das traf gewiss auf das Gros des sowjetischen Offizierskorps zu. Es war nicht seine Armee, lästerte Stalin-Gegner Pivovarov und erläuterte: „Gott sei Dank war unsere Armee nicht die seinige. Eine Armee nach seiner Machart hätte die Heimat nie gerettet“.

 

Russlands „Siege“ werden immer größer

Nach Kriegsende verloren die Sowjets kein einziges Wort mehr über westliche Waf­fenhilfe, die sie doch laut Stalin vor der Niederlage gegen Deutsche bewahrt hat­te. Stattdessen überflutet Moskau alle Früh­jahr wieder die Welt mit karnevaleskem Eigenlob: Wir Russen sind ein „Siegervolk“, haben vor 75 Jahren ohne Mitwirkung von “Sowjet­völkern“ oder gar west­licher „Anti-Hitler-Koalition“ den „Sieg über den Faschismus“ errungen, dabei ganze Regionen und Hauptstädte Osteuropas „befreit“ – der „große Vaterländische Krieg“ endete mit einem „großen Sieg“ etc.

Das hat Putin sozusagen bei Stalin abgeguckt, wobei er heuer Glück im Un­glück hatte. Bekanntlich endete der Zweite Weltkrieg am 8. Mai 1945, aber für die Sowjets wurde die deutsche Kapitulation am 9. Mai in Berlin-Karlshorst wiederholt, woran bis heute ein (sehenswertes) Museum erinnert. Bislang fanden in Russland am 9. Mai überall große Siegesparaden statt, doch 2020 wich man Corona-bedingt auf den 24. Juni aus. Auf diesen Tag, fast Jahrestag des Kriegsbeginns, hatte Stalin 1945 seine Siegesparade angesetzt, die in allen Details schon zum Jahresende 1944 in einem eigenen „Feiertagsbefehl“ (prazdničnyj prikaz) geplant wurde: Teilnehmer waren 24 Marschälle, 249 Ge­neräle, 2.536 Offiziere, 31.116 Unteroffiziere und Soldaten, „nicht kleiner als 176 Zen­timeter und nicht älter als 30 Jahre“. Das alles wurde auf einen Höhepunkt aus­gerichtet, der durch die Medien der Welt ging:

17. Juli 1944: 57.600 deutsche Kriegsgefangene marschieren durch Moskau „Ein gigantisches Orchester von 1.400 Musikanten be­glei­tete den Vorbei­marsch der Truppen (…) Plötzlich brach die Musik ab, an ihrer Stelle ertönten 80 Trommler. Eine Sondertruppe marschie­r­ te auf, die 200 feindliche Flaggen mit sich führte (…) Irgendwann machten die Soldaten eine Rechtsdrehung und warfen den Stolz des Dritten Reich kraftvoll zu Boden“ (Bild)

Dennoch, spöttelte Pivovarov, „Stalin hat den Krieg nicht gewonnen“. Und seit Jahr­zehnten fragt sich das Ausland, welche „Siege“ die Russen eigentlich fei­ern. Interna­tionale Meinungsumfragen bei Amerikanern, Briten, Franzosen etc., wer wohl den Krieg gewonnen habe, gönnen Russen nur minimales „Sieger“-Ge­wicht von 8 bis 11 Prozent, aber 46 bis 49 Prozent den USA bzw. England, während das Ausland rus­sische „Siege“ mit „molčok“ (Schweigen) übergeht.

17. Juli 1944: 57.600 deutsche Kriegsgefangene marschieren durch MoskauMan könnte die russischen „Paraden“ zum 9. Mai vergessen, käme nach dem offizi­ellen Teil seit wenigen Jahren nicht noch ein zivi­ler, genannt „unsterbli­ches Regi­ment“, in welchem Menschen Bilder ihrer „heroischen“ Vorfahren tra­gen (Bild) – in Rähm­chen „ma­de in Germany“.

 

„Großer Walzer“ 1944 und seine Inszenierung

Mit eskalie­ren­dem Unmut ver­mer­ken russische Me­dien und Offizielle, wie ihre schö­nen Siegesparaden an je­dem 9. Mai mehr verkommen zur „Maskerade“ (mas­karad), „Kinderkram“ (rjažen’e), „Mum­menschanz“ (bala­gan) etc. Hinzu kommen im­mer mehr “Be­trüger“ (ob­man­ščiki), „falsche Veteranen“, „Hochstapler“ (samozvancy) und weite­re, die sich mit gefälschten oder nachgemachten Orden schmü­cken, wobei sie enor­me Unver­schämtheit demonstrieren. Der höchste sowjetische Kriegs­orden war der mit Brillan­ten-besetzte „Pobeda“ (Sieg), der nur an zwanzig Perso­nen ver­liehen wor­den war, dar­unter der rumänische König Mihai I. (1921-2017). Seit Jahrzehnten kann man je­doch auf russischen Parade Dutzenden „Pobeda“-Träger ausmachen, oftmals noch in Offiziersuniform, die ihnen so wenig zusteht wie die Orden. Nota bene: Rus­si­­sche Uniformen haben eine verstärkte linke Brustseite, weil dort zahllose Orden und Eh­renzeichen landen.

Das nur nebenbei, um die Einmaligkeit des Marsches „Großer Walzer“ zu unterstrei­chen, den (wie erwähnt) deutsche Kriegsge­fangene am 17. Juli 1944 in Moskau an­traten. Die vor­her­gehende „Operation Bagration“ hatte den Deut­schen größere Ver­luste gebracht als im Winter 1942/43 die verlorene Schlacht von Sta­­lingrad. Der „Wal­zer“ war kei­ne „Pa­rade“, nur ein „Marsch“, denn Verlierer paradieren nicht. Auch marschierten zum ersten und einzigen Mal 57.640 besiegte Deutsche, die dabei von 16.000 Soldaten der Ministerien für Verteidigung und für Inneres (NKWD) unter dem Kommando von General­oberst Pavel. A. Ar­te­m’ev, Chef des Moskauer Militär­bezirks, bewacht wurden. Details nannte Moskaus Polizei­chef Viktor N. Romančen­ko in einer knappen Mitteilung, die am 17. Juli um 7 und um 8 Uhr morgens im Mos­kauer Stadt-Ra­dio verlesen wurde, auch in der Stadt­ausgabe der „Pravda“ fand sie sich – auf der letzten Seite: „Am 17. Juli werden durch Moskau Formationen deut­scher Kriegsge­fan­­ge­­ner, Mann­schaften und Offiziere, ins­gesamt 57.000 Mann, de­filieren, die in letzter Zeit von Rot­ar­misten der 1., 2. und 3. Weißrussischen Front gefangen genom­men wurden und jetzt auf dem Weg in ihre Gefangenenlager sind“. Bis dahin war von der Akti­on kein Sterbenswört­chen verlau­tet worden, und die jetzige Mittei­lung war mit Innen­minister L. Berija abgesprochen und Sta­lin vorgelegt worden.

17. Juli 1944: 57.600 deutsche Kriegsgefangene marschieren durch Moskau

Gerüchte von einer „Parade der Besiegten“ kursierten schon Tage vor dem Ereignis, und ab dem 14. Juli in Moskau trafen deutsche Kriegsgefangene in Moskau ein. Sie waren aus ihren Lagern über die Vor­ortbahnhöfe Begovaja und Belorusskaja heran­geschafft und in den Räu­­men des Hippodroms, des „Dy­na­mo“-Sta­dions und des Cho­dinskij Felds untergebracht wor­den. Auf der Anreise und in Moskau unter­zogen Militärärzte (voenvrači) sie, die alle „ge­sund und fit“ waren, zwei­mal einer „sorgfälti­gen Untersu­chung“ (tščatel’nyj osmotr) – schließlich wollte man nicht ris­kieren, dass bei dem acht­stündigen Marsch durch die Hauptstadt je­mand umkippte. In der Tat haben nur vier Mann ärztliche Hilfe benötigt. Bis heute kann niemand genau sagen, wer die Idee mit dem Marsch als erster gehabt hatte. Siegessalven und Ausstel­lun­gen von Beutewaffen hatten Sowjetbürger schon mehrfach erlebt, aber einen Vor­bei­marsch besiegter Deutscher hatte es noch nie gegeben. Jetzt wollte die sowjetische Führung der eigenen Bevölkerung und den immer noch misstrauischen Westalliierten eine wir­kungsvolle Show bieten, vor allem den Verbündeten. Ob Stalin die Idee dazu hatte, ob er dem Rat seines Innenministers L. Berija folgte, kann niemand sagen. Ge­wiss ist nur, dass man das Ausland beeindrucken wollte. An die eigene Bevölkerung scheint man nicht viel gedacht zu haben: Moskau hatte zu dieser Zeit 4,2 Mio. Ein­woh­ner, aber nur ganze 120.000 Moskauer säumten den Zugweg des Marsches.

20 Löschfahrzeuge der Feu­erwehr (požarnye) versorgten alle mit Trinkwasser, sehr willkom­men im heißen Moskauer Juli. Waschwasser wurde nicht verabfolgt, weswe­gen die Marschierer ziemlich ungepflegt aussahen. Immerhin bekam jeder Teilneh­mer einen „ver­stärkten paëk“ (Fres­spaket) aus „Brei, Brot und Speck“ (kaša, cleb s salom). Mitmarschiert sind 1.227 „Of­fiziere aller Rang­stufen“, ange­führt von 19 Gene­rälen in voller Mon­tur mit Orden und Eh­ren­zeichen, die erst am Abend des 16. Juli nach Moskau gebracht worden waren. Mann­schaftsdienstgrade marschierten in „Feld­­uniform“ und um 11 Uhr startete der Marsch – in Blöcken zu jeweils 600 Mann, 20 in je­der Reihe, 30 Reihen hintereinander.

Der Marsch ging erst den Lenin­grader Pros­pekt entlang, ab dem „Gar­tenring“ (Sado­vaja) teilte sich der Zug auf, um gewissermaßen in zwei „Säulen“ den Kreml zu um­runden. Die größere Gruppe von 42.000 Mann mar­schier­te „im Uhrzei­ger­sinn“ 2 Stun­­den und 25 Minuten bis zum Kursker Bahn­hof. Die zweite Gruppe von 15.640 Mann war 4 Stunden und 20 Minuten unterwegs zum Bahnhof Kanatčikovo. Um 19 Uhr war der Marsch vorüber, die Teilneh­mer wurden in die Gefangenenlager, durch­weg im Osten Moskaus angelegt, ver­frach­tet. Wenige blieben noch in der Haupt­stadt, wo man sie für Pres­sefo­tos brauchte.

17. Juli 1944: 57.600 deutsche Kriegsgefangene marschieren durch MoskauDer Marsch erfolgte meist in größter Stille. Selten ertönten Rufe der Zuschauer (Bild), al­le von der Polizei notiert und Stalin vor­gelegt: „Tod Hitler!“, „War­um hat man euch nicht an der Front getö­tet“ etc., mit­unter gröber: „Drecks­pack, ver­re­cken sollt ihr“ (Svoloči, čtob vy podochli“. Oder ironi­sche: „Eier gefällig? Hühn­chen? Kakao?“ Auch die oft behelfsmäßige Kleidung der Deutschen, nur in Strümpfen oder Unterwäsche, wurde höhnisch kommentiert. Nach dem Marsch beherrschten Sprink­lerfahr­zeuge die Stra­ßen, an­geb­lich um diese symbolisch vom „faschistischen Dreck“ zu säubern. Tatsächlich? Die Moskauer hatten seit Kriegsbeginn keine Reinigungsfahrzeuge mehr gesehen, aber der „große Walzer“ wurde von 15 Filmteams in allen Details auf­genommen, und da durften keine störenden Momente ins Bild komm. Beim Marsch waren viele Pferde zugegen, die na­türlich kräftig „äp­pelten“. Den Deut­schen, die längere Zeit ge­fastet hatten, schlug der fette Speck aus dem „paëk“ auf den Magen und bewirkte Durchfall, den Mos­kauer Straßenfeger beseitigen mussten.

Übrigens hatte der Moskauer Marsch eine Generalprobe und eine Neu­auflage: Ers­tere war am Sontag, dem 16. Juli, die „Partisanenparade“ in der be­larussischen Haupt­stadt Minsk – letztere der fünfstündige Marsch durch die ukrainische Haupt­stadt Kiew, den 36.918 deutsche Kriegsgefangene, davon 549 Of­fiziere, am Mittwoch dem 16. August antraten.

 

Schluss: Motivforschung bei Stalin und Hitler

Russische Historiker wie Anton Trofimov sind sicher, dass „der Initiator des Marsches Josef Stalin selber war“. Und der verfuhr nach dem alten Prinzip, dass Schadenfreu­de die reinste Freude sei. Er und viele andere erinnerten sich daran, wie deutsche Flugzeuge bereits im Sommer 1941 über Moskau Flugblätter abwarfen, dass die deutsche Armee „in den nächsten Tagen“ eine Siegesparade in der sowjetischen Hauptstadt, deren Paläste man bereits im Fernglas sähe, abhalten werde. Der „Füh­rer“ wollte persönlich zugegen sein, aber daraus wurde bekanntlich nichts. Alles was Deutsche noch in Bewegung setzte, war ihr nun­mehriger „Marsch der Besiegten“.

Boris Ilizarov, Experte für Stalins schriftliche Hinterlassenschaft, hat weitere Motive Stalins ermittelt. Stalin, der ehemalige Priesterschüler Iosseb Dsugažvili, hatte so viel Deutsch gelernt, dass er Hitlers „Mein Kampf“ lesen konnte. Überhaupt verfügten die Sowjets dank ihrer „Genossen“ von der deutschen kommunistischen Partei über viel Insiderwissen zu Deutschland. Dem hatte die deutsche Seite kaum etwas entgegen zu setzen, da sie außer Alfred Rosenberg (1893-1946), Hitlers „Minister für die be­setzten Ostgebiete“, über keine politischen Ostexperten verfügte.

Als Politiker ähnelten Stalin und Hitler einander sehr: Beide waren antibürger­lich, antiintellektuell, antisemitisch. Mit ihren Gegnern machten sie kurzen Prozess, wie Hitler an Röhm, Stalin an Kirov demonstrierte (um nur die prominentesten Opfer zu erwähnen). Namenlose ließen sie in Lagern verschwinden – KZs bei Hitler, GULAG bei Stalin. Ilizarov zitiert Stalin-Äußerungen über Hitler, die eine gewisse Bewun­de­rung verraten: 1932 „Dieser Hitler ist ein teuflisch gerissener Bursche“ (čertovski šustrij paren‘), 1934 „Was für ein Prachtkerl! (kakoj molodec) Der weiß, wie man mit politischen Gegnern umzugehen hat“. Von Hitler sind vergleichbare Äußerungen nicht bekannt, aber aus seinen Reden im Reichstag ersieht man, dass er bis 1938 Stalin und die UdSSR als ideologischen und geopolitischen Hauptgegner ansah. Erst 1939 schloss er mit Stalin einen Pakt ab, der in geheimen Zusatzprotokollen die bei­derseitigen Interessenssphären absteckte.

Zwei Jahre später brach Hitlers Deutschland mit dem Unternehmen „Barbarossa“ einen Krieg gegen Stalins Sowjetunion vom Zaun. Zum Zeitpunkt des „großen Wal­zers“ war nicht mehr zu verkennen, dass Stalins unterschätzte „Mushiks“ den Krieg gewinnen, Hitlers hochgerüstete Armeen ihn aber verlieren würden, nachdem sie noch im Herbst 1942 rund zwei Millionen km² des sowjetischen Territoriums mit 85 Mio. Einwohnern in ihrer Gewalt hatte. Jetzt wollte man „k gradu i miru“ (russische Entsprechung des päpstlichen „urbi et orbi“) eigene Kampfkraft und Siegeswillen demonstrieren. Schließlich hatte die Deutschen in Belarus eine Niederlage erlitten, von der sie sich nie mehr erholen würden. Als Zeugen dienten endlose Züge deut­scher Kriegsgefange­ner, die über Moskau in Lager im Osten dirigiert wurden. Aus dieser Menge konnte Stalin nach Belieben gesunde und kräftige „fricy“ (Fritzen) aus­wählen und sie zur einer Mus­terschau besiegter Aggressoren aufstellen.

In Moskau verblieben vor allem deutsche Generäle, unterge­bracht im historischen Butyrka-Gefängnis, wo man sie im „antifaschistischen“ Sinne bearbeitete, was bei einigen durchaus Erfolg hatte.

Autor: Wolf Oschlies

Hier geht es zu dem Artikel: >> Schadenfroher „Großer Walzer“ Moskau 1944. Ergänzungen zum Thema deutscher Kriegsgefangener bei der Roten Armee

 

Literatur (Auswahl)

Frieser, Karl-Heinz (Hrsg.): Die Ostfront 1943/44 – Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten, Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg Bd. 8, München 2007

Ilizarov, Boris: Stalin o Gitlere i Germanii, Gitler o Staline I Rossii (Stalin über Hitler und Deutschland, Hitler über Stalin und Russland), in: Novaja gazeta 21.7.2020

Isaev, A.V.: Operacija „Bagration” Stalinskij blickrig v Belorussii (Operation „Bagra­tion“ Stalins Blitzkrieg in Belarus), Moskau 2015

Grigor’ev: Evgenij: „Včera my videli banditov, krovopijc…“ Marš pobeždennych glazami archivistov, istorikov i pisatelej (Gestern sahen wir Banditen und Blutsäufer… Der Marsch der Besiegten mit den Augen von Archivaren, Historikern und Schrift­stellern), in: Rodina Nr.7, 1.7.2019

Pivovarov, Jurij: Počemu Stalin ne vyigral vojnu (Warum Stalin den Krieg nicht gewann), in: Naš Kislovodsk 7.5.2020

Seewald, Bertold: Stalins bizarrer Triumphzug mit deutschen Soldaten, in: Die Welt 16.7.2014

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