Stalin feierte seinen ersten und entscheidenden Sieg
Einführung: „groß“ in Variationen
Wie viele andere Sprachen kennt das Russische zwei Entsprechungen für das Adjektiv „groß“. In rein metrischen Bezügen wird „bol’šoj“ gebraucht, beispielsweise seit 1776 im Namen des weltberühmten Moskauer „Bol’šoj Teatr“ (Großes Theater), um es bis 1917 vom „Malyj t.“ (Kleinen Th.) zu unterscheiden. Ganz meritorisch ist hingegen „velikij“, z.B. im Zarentitel „Pëtr Velikij“, was alle Welt zutreffend mit „Peter der Große“ wiedergibt. Nun war der Romanov-Zar mit seinen 2,04 Metern ein Hüne, nicht nur für russische Verhältnisse. Details hat der geistvolle Leonid Parfënov 2000 in seinen zwei Peter-Filmen, Start der Filmreihe „Russisches Imperium“, verraten: Der Zar musste bei Reisen stets sitzend schlafen, weil für seine Ausmaße kein Bett zu finden war. Im Übrigen wird jeder Besucher der Petersburger Eremitage bestätigen: Peter war einfach nicht angemessen zu porträtieren, weil er seine Umgebung körperlich überragte, intellektuell sowieso. Nur er vermochte sein wasserscheues Volk ans Meer und sein rückständiges Land in die Moderne zu treiben, wie es der große Lyriker A. Puškin in seinem „Ehernen Reiter“ den Herrscher (mit längst weltbekannten Worten) sagen ließ: „Hier hatte die Natur im Sinn/ Ein Fenster nach Europa hin/ Ich schlag‘ es in des Reiches Feste“.
Aber das nur nebenbei, denn im Folgenden geht es um ein Ereignis, das bei Russen als „Bol’šoj val’s“ (großer Walzer) unvergessen ist. Eigentlich war das der russische Titel des US-Musikfilms „The Great Waltz“ von 1938, eine Biographie über Leben und Musik von Johann Strauss (Sohn), die international ein Riesenerfolg wurde, auch und gerade in der Sowjetunion, wo er zum Lieblingsfilm Stalins avancierte. Darum nahm der listige Innenminister L. Berija den Filmtitel als Code für die „Parade der besiegten (Deutschen)“ (Parad pobeždënnych nemcev, Bild), die deutsche Kriegsgefangene am Montag, dem 17. Juli 1944 durch Moskau antraten. Die „Rote Armee“, genauer „Rote Arbeiter und Bauernarmee“ (RKKA), hatte gerade ihre „Operation Bagration“ siegreich beendet, was mit einem riesigen Defilee geschlagener Deutscher gewürdigt wurde, mochte solches auch seit 1929 von der Genfer Kriegsgefangenen-Konvention verboten sein. Es war eine beeindruckende „Parade“: Müde Deutsche, kriegsmüde Russen, beide separiert durch leicht bewaffnete Rotarmisten zu Fuß oder Pferd. Dazu die psychische Verfassung der Deutschen, von denen nicht wenige bereits ab Kriegsbeginn 1941 in der Armee dienten. Jetzt waren zwei Jahre vergangen, aber der Krieg war noch lange nicht vorbei. Vielmehr zeichnete sich die deutsche Niederlage immer drohender ab, die Überlebenschancen der deutschen „Landser“ sanken von Tag zu Tag – unter solchen Umständen war die sowjetische Kriegsgefangenschaft nicht die übelste Perspektive, zumal man wusste, wie vor wenigen Jahren Deutsche mit sowjetischen Kriegsgefangenen umgegangen waren. Gewiss nicht zufällig kursierten unter den Gefangenen Gerüchte, ihr Marsch werde mit Massenerschießungen Deutscher enden. Fluchtversuche gab es beim „Großen Walzer“ nicht, sie waren auch nie ernsthaft befürchtet worden.
„Operation Bagration“ und eigene Verluste
Namenspatron der „Operation“, die 1944 gewürdigt wurde, war Fürst (knjaz‘) Pëtr I. Bagration (1765-1812), Star des russischen Militäradels und als solcher im Sockel des Nationaldenkmals „Tausend Jahre Russland“ (Tysjačiletie Rossii) abgebildet, welches die Bildhauer M. Mikešin und I. Šreder 1862 in der altrussischen Stadt (Velikij) Novgorod aufstellten. Bagration war ein erfolgreicher Heerführer im „Vaterländischen Krieg“, wie der Kampf gegen Napoleon genannt wurde. „Großer Vaterländischer Krieg“ hieß anderthalb Jahrhunderte später der Kampf gegen die Deutschen, der ab Juni 1941 unter der Parole „Für die Heimat! Für Stalin!“ (Za Rodinu! Za Stalina!) geführt wurde. Die propagandistische Verbindung von Stalin zu Bagration war unverkennbar.
Die „Operation“ dauerte vom 22. Juni bis 20. August 1944, war aber schon weit früher entschieden. Auf deutscher Seite stand die Heeresgruppe Mitte mit 850.000 Soldaten, 3.236 Geschützen, 570 Panzern und 602 Flugzeugen. Ihr Gegner waren vier „Fronten“, wie das russische Pendant einer deutschen “Heeresgruppe“ hieß, mit zusammen 1.400.000 Soldaten, 31.000 Geschützen, 5.200 Panzern und 5.300 Flugzeugen. Diese und andere Waffen stammten größtenteils aus den USA und Großbritannien, die bereits am 18. Februar 1941 im „Lend-Lease-Act“ (Leih- und Pachtabkommen) großzügigste Hilfe zugesichert hatten. Den Sowjets mangelte es an allem, an Waffen, aber auch an Flugbenzin, militärischer Kommunikationstechnik etc., was sie nun reichlich erhielten. Details nannte der russische Ökonom Dmitrij Prokof’ev im Mai 2020 in seinem „süffigen“ Essay „Was ein Sieg kostet“. Stalins „Sieger“ bekamen 1.616 Kilotonnen Bomben, 12.000 Tanks, 18.000 Flugzeuge, 375.000 LKWs, 11.000 Waggons, 620.000 Tonnen Schienen etc. Das war die Rettung, bekannte Stalin Ende 1943: „Without the use of those machines, through Lend-Lease, we would lose this war“ (so englisch im Protokoll der Konferenz von Teheran und Kairo vermerkt).
Die „Operation Bagration“ war ein erster „Vorgeschmack“ der deutschen Niederlage im Folgejahr, obwohl die Opfer der Roten Armee noch erschreckend waren: Insgesamt verlor sie 765.815 Mann (178.308 Tote und Vermisste, 587.308 Verwundete). Dagegen nahm sich die deutsche Bilanz beinahe milde aus: Verluste total 399.102 (26.397 Gefallene, 109.776 Verwundete, 262.929 Gefangene).
Bei Kriegsausbruch (22. Juni 1941) zählte die Sowjetunion 196,7 Mio. Einwohner, das engere Russland (RSFSR) 111 Mio. Die Rote Armee bestand aus 303 Divisionen mit zusammen 5.373.000 Soldaten, von denen nach anderthalb Jahren nur noch 1.650.000 übrig waren. Insgesamt haben in der ganzen Kriegszeit 34,5 Mio. Menschen die Armee „durchlaufen“, davon über 400.000 in „Strafbataillonen“ (štrafnye), die Stalin per Befehl 227 vom 28. Juli 1942 geschaffen hatte, um seiner Durchhalteweisung „Keinen Schritt zurück“ (ni šagu nazad) Gewicht zu verleihen. Generell sind russische Zahlen nicht eindeutig: Nach russischen Angaben gerieten 4.559.000 Rotarmisten in deutsche Gefangenschaft, nach deutscher Zählung 5.270.00, von denen bereits im Herbst 1941 300.000 nach Hause entlassen wurden, zumeist in die West-Ukraine und ins Baltikum.
Diese Zahlen nannte der souveräne Historiker Jurij Pivovarov (*1950), der an der Stalin-Herrschaft kein gutes Haar lässt, ihr vielmehr Millionenopfer vorhält und nachrechnet: Hungersnot auf dem Lande eingangs der 1930-er Jahre, der „große Terror“ 1936-1938 und die Ermordung von rund 800 höchsten Offizieren, „wodurch praktisch die gesamte Spitze von Armee und Flotte geköpft wurde“. So sagte es Pivovarov, der einen Überlebenden, Marschall Aleksandr Vasilevskij (1895-1977), zitierte: „Wäre dieser Terror nicht gewesen, dann hätte Hitler keinen Überfall auf die UdSSR gewagt“. Stalin hatte einen ausgeprägten Widerwillen gegen Offiziere, die ihre Ausbildung und Karriere noch zur Zarenzeit absolviert hatten, und das traf gewiss auf das Gros des sowjetischen Offizierskorps zu. Es war nicht seine Armee, lästerte Stalin-Gegner Pivovarov und erläuterte: „Gott sei Dank war unsere Armee nicht die seinige. Eine Armee nach seiner Machart hätte die Heimat nie gerettet“.
Russlands „Siege“ werden immer größer
Nach Kriegsende verloren die Sowjets kein einziges Wort mehr über westliche Waffenhilfe, die sie doch laut Stalin vor der Niederlage gegen Deutsche bewahrt hatte. Stattdessen überflutet Moskau alle Frühjahr wieder die Welt mit karnevaleskem Eigenlob: Wir Russen sind ein „Siegervolk“, haben vor 75 Jahren ohne Mitwirkung von “Sowjetvölkern“ oder gar westlicher „Anti-Hitler-Koalition“ den „Sieg über den Faschismus“ errungen, dabei ganze Regionen und Hauptstädte Osteuropas „befreit“ – der „große Vaterländische Krieg“ endete mit einem „großen Sieg“ etc.
Das hat Putin sozusagen bei Stalin abgeguckt, wobei er heuer Glück im Unglück hatte. Bekanntlich endete der Zweite Weltkrieg am 8. Mai 1945, aber für die Sowjets wurde die deutsche Kapitulation am 9. Mai in Berlin-Karlshorst wiederholt, woran bis heute ein (sehenswertes) Museum erinnert. Bislang fanden in Russland am 9. Mai überall große Siegesparaden statt, doch 2020 wich man Corona-bedingt auf den 24. Juni aus. Auf diesen Tag, fast Jahrestag des Kriegsbeginns, hatte Stalin 1945 seine Siegesparade angesetzt, die in allen Details schon zum Jahresende 1944 in einem eigenen „Feiertagsbefehl“ (prazdničnyj prikaz) geplant wurde: Teilnehmer waren 24 Marschälle, 249 Generäle, 2.536 Offiziere, 31.116 Unteroffiziere und Soldaten, „nicht kleiner als 176 Zentimeter und nicht älter als 30 Jahre“. Das alles wurde auf einen Höhepunkt ausgerichtet, der durch die Medien der Welt ging:
„Ein gigantisches Orchester von 1.400 Musikanten begleitete den Vorbeimarsch der Truppen (…) Plötzlich brach die Musik ab, an ihrer Stelle ertönten 80 Trommler. Eine Sondertruppe marschier te auf, die 200 feindliche Flaggen mit sich führte (…) Irgendwann machten die Soldaten eine Rechtsdrehung und warfen den Stolz des Dritten Reich kraftvoll zu Boden“ (Bild)
Dennoch, spöttelte Pivovarov, „Stalin hat den Krieg nicht gewonnen“. Und seit Jahrzehnten fragt sich das Ausland, welche „Siege“ die Russen eigentlich feiern. Internationale Meinungsumfragen bei Amerikanern, Briten, Franzosen etc., wer wohl den Krieg gewonnen habe, gönnen Russen nur minimales „Sieger“-Gewicht von 8 bis 11 Prozent, aber 46 bis 49 Prozent den USA bzw. England, während das Ausland russische „Siege“ mit „molčok“ (Schweigen) übergeht.
Man könnte die russischen „Paraden“ zum 9. Mai vergessen, käme nach dem offiziellen Teil seit wenigen Jahren nicht noch ein ziviler, genannt „unsterbliches Regiment“, in welchem Menschen Bilder ihrer „heroischen“ Vorfahren tragen (Bild) – in Rähmchen „made in Germany“.
„Großer Walzer“ 1944 und seine Inszenierung
Mit eskalierendem Unmut vermerken russische Medien und Offizielle, wie ihre schönen Siegesparaden an jedem 9. Mai mehr verkommen zur „Maskerade“ (maskarad), „Kinderkram“ (rjažen’e), „Mummenschanz“ (balagan) etc. Hinzu kommen immer mehr “Betrüger“ (obmanščiki), „falsche Veteranen“, „Hochstapler“ (samozvancy) und weitere, die sich mit gefälschten oder nachgemachten Orden schmücken, wobei sie enorme Unverschämtheit demonstrieren. Der höchste sowjetische Kriegsorden war der mit Brillanten-besetzte „Pobeda“ (Sieg), der nur an zwanzig Personen verliehen worden war, darunter der rumänische König Mihai I. (1921-2017). Seit Jahrzehnten kann man jedoch auf russischen Parade Dutzenden „Pobeda“-Träger ausmachen, oftmals noch in Offiziersuniform, die ihnen so wenig zusteht wie die Orden. Nota bene: Russische Uniformen haben eine verstärkte linke Brustseite, weil dort zahllose Orden und Ehrenzeichen landen.
Das nur nebenbei, um die Einmaligkeit des Marsches „Großer Walzer“ zu unterstreichen, den (wie erwähnt) deutsche Kriegsgefangene am 17. Juli 1944 in Moskau antraten. Die vorhergehende „Operation Bagration“ hatte den Deutschen größere Verluste gebracht als im Winter 1942/43 die verlorene Schlacht von Stalingrad. Der „Walzer“ war keine „Parade“, nur ein „Marsch“, denn Verlierer paradieren nicht. Auch marschierten zum ersten und einzigen Mal 57.640 besiegte Deutsche, die dabei von 16.000 Soldaten der Ministerien für Verteidigung und für Inneres (NKWD) unter dem Kommando von Generaloberst Pavel. A. Artem’ev, Chef des Moskauer Militärbezirks, bewacht wurden. Details nannte Moskaus Polizeichef Viktor N. Romančenko in einer knappen Mitteilung, die am 17. Juli um 7 und um 8 Uhr morgens im Moskauer Stadt-Radio verlesen wurde, auch in der Stadtausgabe der „Pravda“ fand sie sich – auf der letzten Seite: „Am 17. Juli werden durch Moskau Formationen deutscher Kriegsgefangener, Mannschaften und Offiziere, insgesamt 57.000 Mann, defilieren, die in letzter Zeit von Rotarmisten der 1., 2. und 3. Weißrussischen Front gefangen genommen wurden und jetzt auf dem Weg in ihre Gefangenenlager sind“. Bis dahin war von der Aktion kein Sterbenswörtchen verlautet worden, und die jetzige Mitteilung war mit Innenminister L. Berija abgesprochen und Stalin vorgelegt worden.
Gerüchte von einer „Parade der Besiegten“ kursierten schon Tage vor dem Ereignis, und ab dem 14. Juli in Moskau trafen deutsche Kriegsgefangene in Moskau ein. Sie waren aus ihren Lagern über die Vorortbahnhöfe Begovaja und Belorusskaja herangeschafft und in den Räumen des Hippodroms, des „Dynamo“-Stadions und des Chodinskij Felds untergebracht worden. Auf der Anreise und in Moskau unterzogen Militärärzte (voenvrači) sie, die alle „gesund und fit“ waren, zweimal einer „sorgfältigen Untersuchung“ (tščatel’nyj osmotr) – schließlich wollte man nicht riskieren, dass bei dem achtstündigen Marsch durch die Hauptstadt jemand umkippte. In der Tat haben nur vier Mann ärztliche Hilfe benötigt. Bis heute kann niemand genau sagen, wer die Idee mit dem Marsch als erster gehabt hatte. Siegessalven und Ausstellungen von Beutewaffen hatten Sowjetbürger schon mehrfach erlebt, aber einen Vorbeimarsch besiegter Deutscher hatte es noch nie gegeben. Jetzt wollte die sowjetische Führung der eigenen Bevölkerung und den immer noch misstrauischen Westalliierten eine wirkungsvolle Show bieten, vor allem den Verbündeten. Ob Stalin die Idee dazu hatte, ob er dem Rat seines Innenministers L. Berija folgte, kann niemand sagen. Gewiss ist nur, dass man das Ausland beeindrucken wollte. An die eigene Bevölkerung scheint man nicht viel gedacht zu haben: Moskau hatte zu dieser Zeit 4,2 Mio. Einwohner, aber nur ganze 120.000 Moskauer säumten den Zugweg des Marsches.
20 Löschfahrzeuge der Feuerwehr (požarnye) versorgten alle mit Trinkwasser, sehr willkommen im heißen Moskauer Juli. Waschwasser wurde nicht verabfolgt, weswegen die Marschierer ziemlich ungepflegt aussahen. Immerhin bekam jeder Teilnehmer einen „verstärkten paëk“ (Fresspaket) aus „Brei, Brot und Speck“ (kaša, cleb s salom). Mitmarschiert sind 1.227 „Offiziere aller Rangstufen“, angeführt von 19 Generälen in voller Montur mit Orden und Ehrenzeichen, die erst am Abend des 16. Juli nach Moskau gebracht worden waren. Mannschaftsdienstgrade marschierten in „Felduniform“ und um 11 Uhr startete der Marsch – in Blöcken zu jeweils 600 Mann, 20 in jeder Reihe, 30 Reihen hintereinander.
Der Marsch ging erst den Leningrader Prospekt entlang, ab dem „Gartenring“ (Sadovaja) teilte sich der Zug auf, um gewissermaßen in zwei „Säulen“ den Kreml zu umrunden. Die größere Gruppe von 42.000 Mann marschierte „im Uhrzeigersinn“ 2 Stunden und 25 Minuten bis zum Kursker Bahnhof. Die zweite Gruppe von 15.640 Mann war 4 Stunden und 20 Minuten unterwegs zum Bahnhof Kanatčikovo. Um 19 Uhr war der Marsch vorüber, die Teilnehmer wurden in die Gefangenenlager, durchweg im Osten Moskaus angelegt, verfrachtet. Wenige blieben noch in der Hauptstadt, wo man sie für Pressefotos brauchte.
Der Marsch erfolgte meist in größter Stille. Selten ertönten Rufe der Zuschauer (Bild), alle von der Polizei notiert und Stalin vorgelegt: „Tod Hitler!“, „Warum hat man euch nicht an der Front getötet“ etc., mitunter gröber: „Dreckspack, verrecken sollt ihr“ (Svoloči, čtob vy podochli“. Oder ironische: „Eier gefällig? Hühnchen? Kakao?“ Auch die oft behelfsmäßige Kleidung der Deutschen, nur in Strümpfen oder Unterwäsche, wurde höhnisch kommentiert. Nach dem Marsch beherrschten Sprinklerfahrzeuge die Straßen, angeblich um diese symbolisch vom „faschistischen Dreck“ zu säubern. Tatsächlich? Die Moskauer hatten seit Kriegsbeginn keine Reinigungsfahrzeuge mehr gesehen, aber der „große Walzer“ wurde von 15 Filmteams in allen Details aufgenommen, und da durften keine störenden Momente ins Bild komm. Beim Marsch waren viele Pferde zugegen, die natürlich kräftig „äppelten“. Den Deutschen, die längere Zeit gefastet hatten, schlug der fette Speck aus dem „paëk“ auf den Magen und bewirkte Durchfall, den Moskauer Straßenfeger beseitigen mussten.
Übrigens hatte der Moskauer Marsch eine Generalprobe und eine Neuauflage: Erstere war am Sontag, dem 16. Juli, die „Partisanenparade“ in der belarussischen Hauptstadt Minsk – letztere der fünfstündige Marsch durch die ukrainische Hauptstadt Kiew, den 36.918 deutsche Kriegsgefangene, davon 549 Offiziere, am Mittwoch dem 16. August antraten.
Schluss: Motivforschung bei Stalin und Hitler
Russische Historiker wie Anton Trofimov sind sicher, dass „der Initiator des Marsches Josef Stalin selber war“. Und der verfuhr nach dem alten Prinzip, dass Schadenfreude die reinste Freude sei. Er und viele andere erinnerten sich daran, wie deutsche Flugzeuge bereits im Sommer 1941 über Moskau Flugblätter abwarfen, dass die deutsche Armee „in den nächsten Tagen“ eine Siegesparade in der sowjetischen Hauptstadt, deren Paläste man bereits im Fernglas sähe, abhalten werde. Der „Führer“ wollte persönlich zugegen sein, aber daraus wurde bekanntlich nichts. Alles was Deutsche noch in Bewegung setzte, war ihr nunmehriger „Marsch der Besiegten“.
Boris Ilizarov, Experte für Stalins schriftliche Hinterlassenschaft, hat weitere Motive Stalins ermittelt. Stalin, der ehemalige Priesterschüler Iosseb Dsugažvili, hatte so viel Deutsch gelernt, dass er Hitlers „Mein Kampf“ lesen konnte. Überhaupt verfügten die Sowjets dank ihrer „Genossen“ von der deutschen kommunistischen Partei über viel Insiderwissen zu Deutschland. Dem hatte die deutsche Seite kaum etwas entgegen zu setzen, da sie außer Alfred Rosenberg (1893-1946), Hitlers „Minister für die besetzten Ostgebiete“, über keine politischen Ostexperten verfügte.
Als Politiker ähnelten Stalin und Hitler einander sehr: Beide waren antibürgerlich, antiintellektuell, antisemitisch. Mit ihren Gegnern machten sie kurzen Prozess, wie Hitler an Röhm, Stalin an Kirov demonstrierte (um nur die prominentesten Opfer zu erwähnen). Namenlose ließen sie in Lagern verschwinden – KZs bei Hitler, GULAG bei Stalin. Ilizarov zitiert Stalin-Äußerungen über Hitler, die eine gewisse Bewunderung verraten: 1932 „Dieser Hitler ist ein teuflisch gerissener Bursche“ (čertovski šustrij paren‘), 1934 „Was für ein Prachtkerl! (kakoj molodec) Der weiß, wie man mit politischen Gegnern umzugehen hat“. Von Hitler sind vergleichbare Äußerungen nicht bekannt, aber aus seinen Reden im Reichstag ersieht man, dass er bis 1938 Stalin und die UdSSR als ideologischen und geopolitischen Hauptgegner ansah. Erst 1939 schloss er mit Stalin einen Pakt ab, der in geheimen Zusatzprotokollen die beiderseitigen Interessenssphären absteckte.
Zwei Jahre später brach Hitlers Deutschland mit dem Unternehmen „Barbarossa“ einen Krieg gegen Stalins Sowjetunion vom Zaun. Zum Zeitpunkt des „großen Walzers“ war nicht mehr zu verkennen, dass Stalins unterschätzte „Mushiks“ den Krieg gewinnen, Hitlers hochgerüstete Armeen ihn aber verlieren würden, nachdem sie noch im Herbst 1942 rund zwei Millionen km² des sowjetischen Territoriums mit 85 Mio. Einwohnern in ihrer Gewalt hatte. Jetzt wollte man „k gradu i miru“ (russische Entsprechung des päpstlichen „urbi et orbi“) eigene Kampfkraft und Siegeswillen demonstrieren. Schließlich hatte die Deutschen in Belarus eine Niederlage erlitten, von der sie sich nie mehr erholen würden. Als Zeugen dienten endlose Züge deutscher Kriegsgefangener, die über Moskau in Lager im Osten dirigiert wurden. Aus dieser Menge konnte Stalin nach Belieben gesunde und kräftige „fricy“ (Fritzen) auswählen und sie zur einer Musterschau besiegter Aggressoren aufstellen.
In Moskau verblieben vor allem deutsche Generäle, untergebracht im historischen Butyrka-Gefängnis, wo man sie im „antifaschistischen“ Sinne bearbeitete, was bei einigen durchaus Erfolg hatte.
Autor: Wolf Oschlies
Literatur (Auswahl)
Frieser, Karl-Heinz (Hrsg.): Die Ostfront 1943/44 – Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten, Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg Bd. 8, München 2007
Ilizarov, Boris: Stalin o Gitlere i Germanii, Gitler o Staline I Rossii (Stalin über Hitler und Deutschland, Hitler über Stalin und Russland), in: Novaja gazeta 21.7.2020
Isaev, A.V.: Operacija „Bagration” Stalinskij blickrig v Belorussii (Operation „Bagration“ Stalins Blitzkrieg in Belarus), Moskau 2015
Grigor’ev: Evgenij: „Včera my videli banditov, krovopijc…“ Marš pobeždennych glazami archivistov, istorikov i pisatelej (Gestern sahen wir Banditen und Blutsäufer… Der Marsch der Besiegten mit den Augen von Archivaren, Historikern und Schriftstellern), in: Rodina Nr.7, 1.7.2019
Pivovarov, Jurij: Počemu Stalin ne vyigral vojnu (Warum Stalin den Krieg nicht gewann), in: Naš Kislovodsk 7.5.2020
Seewald, Bertold: Stalins bizarrer Triumphzug mit deutschen Soldaten, in: Die Welt 16.7.2014