Die Blockade Leningrads
Shoa.de bemüht sich, in gutem Kontakt mit seinen Lesern zu sein. Anfragen werden von uns nach bestem Wissen und Können beantwortet, Anregungen aufgegriffen, Themenvorschläge berücksichtigt, Kritik beherzigt, Lob goutiert. Wir selber tragen auch keine Bedenken, auf länger zurückliegende Anfragen zurückzukommen, wenn die Materiallage es denn erlaubt: Das Bessere ist des Guten Feind! Das gilt gerade für uns.
Deshalb freuen wir uns, unseren Lesern die nachfolgende Übersetzung eines längeren russischen Dossiers zu präsentieren, welches vip.lenta.ru am 24. April 2005 veröffentlichte. Thema war die Blockade Leningrads, die am 8. September 1941 begann und 871 schreckliche Tage anhielt. Dieses Thema war bereits in unserem Diskussionsforum präsent, und bei unseren Antworten wussten wir, wie relativ „bescheiden“ es bislang in der deutschen und in der russischen Historiographie behandelt worden war. Mit der vorliegenden Übersetzung präsentieren wir einen Bericht, der uns Hochachtung einflößte: In sehr sachlicher, betont unpathetischer Sprache wird eine faktenreiche Schilderung der Ereignisse gegeben, die sich in bewusster Distanz zu bisherigen „heroischen“ Berichten hält. Eher im Gegenteil: Die beiden Autorinnen haben ihr Hauptaugenmerk auf Fehler und Versäumnisse der Verteidiger von Leningrad gerichtet, weil es ihnen vor allem darum ging, „Mythen“ zu zerstören.
Im Sommer 1941 rückte die Heeresgruppe „Nord“ mit 500.000 Mann unter dem Kommando von Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb (1876-1956) auf Leningrad vor. Leebs Auftrag lautete, die in den baltischen Gebieten stehenden Truppen der Roten Armee zu vernichten, einen Angriff einzuleiten, alle Marine-Basen an der Ostsee einzunehmen und bis zum 21. Juli Leningrad zu erobern. Am 9. Juli wurde Pskov eingenommen. Am 10. Juli durchbrachen deutsche Panzer die Front und drangen bis Luga vor. 180 Kilometer trennten sie noch von Leningrad. Am 21. August eroberten die Deutschen die Bahnstation Čudovo, unterbrachen die Bahnlinie „Oktober“ und nahmen 8 Tage danach Tosno ein. Am 30. August fiel der gewaltige Eisenbahn-Knotenpunkt Mag. Die letzte Bahnlinie, die Leningrad noch mit dem restlichen Land verbunden hatte, lag in deutschen Händen. Am 8. September 1941 eroberten die Hitler-Soldaten östlich der Neva die Stadt Šlissel’burg und kreisten so Leningrad zu Lande ein. Es begannen die 871 Tage der Blockade Leningrads.
Dunkle Wolken ballten sich über der Stadt…
Als sich die Blockade schloß, lebten in der Stadt 2.544.000 Menschen, darunter etwa 400.000 Kinder. Zudem waren in den stadtnahen Gebieten, die ebenfalls innerhalb des Blockaderings lagen, weitere 343.000 Menschen verblieben. Im September, als die systematischen Bombardierungen, Beschießungen und Brände einsetzten, wollten viele ausreisen, aber alle Wege waren bereits abgeschnitten.
Die Städter richteten sich langsam auf die Belagerung ein. Die Menschen beeilten sich, ihre Guthaben bei den Sparkassen abzuheben, und binnen weniger Stunden waren in der Stadt sämtliche Konten geräumt. Vor allen Läden bildeten sich endlose Schlangen. Eigentlich glaubte niemand an eine Belagerung, aber aus alter Gewohnheit versorgte man sich mit einem Vorrat an Zucker, Mehl, Seife und Salz. Sogar offiziell wurde eingeräumt, dass die Nachfrage nach diesen Waren in einigen Bezirken sich auf über 500 Prozent gesteigert hatte.
Am Abend des 8. September, um 18.55 Uhr, ging auf Leningrad ein Angriff der feindlichen Luftwaffe nieder, wie er in dieser Schlagkraft früher nie erlebt worden war. In einem einzigen Anflug warfen die Bomber 6.327 Brandbomben auf die Stadt ab. Schwarze Rauchsäulen stiegen von 178 Brandherden zum Himmel auf. Durch das deutsche Bombardement brannten die Badaev-Depots nieder.[1]Die Leitung des Volkskommissariats des Inneren für das Gebiet Leningrad führte eine Bestandsaufnahme der Eisernen Reserve an Nahrungsmitteln durch. In ihrem „streng geheimen“ Schlussbericht teilte sie dem Sekretär des Leningrader Stadtkomitees der Kommunistischen Partei (Bolschewiki) mit, dass „Die Depots für die Aufbewahrung von Lebensmitteln ungeeignet sind, Gebote der sanitären Aufsicht werden mißachtet, die Eiserne Reserve unterliegt dem Verfall. Weil Wasser von der Decke tropft, sind die Säcke mit Trockenobst feucht geworden, die Sahnebutter ist mit Schimmel bedeckt, Reis und Erbsen sind von Milben befallen, die Säcke mit Zwieback sind von Ratten zerfetzt, zudem von Staub und Kot von Nagetieren bedeckt“.
Der den Depots zugefügte Schaden (Bild) war unbedeutend, aber der Brand allein gebar die hartnäckige Legende, es seien „strategische Reserven an Nahrungsmitteln“ verbrannt, was die Ursache des nachfolgenden schrecklichen Hungers war. Tatsächlich verbrannten Vorräte an Zucker für drei Tage und an Mehl für etwa anderthalb Tage, d.h. laufende Bestände. Laut dem Bestandsverzeichnis der Vorräte lagerten damals in den Badaev-Depots nur „Salz, Tomaten- und Pflaumenkonserven, Apfelkompott, Toilettenseife, Staubzucker, Gebäck, Konfekt, Ersatz-Kaffee“.
In der Spezialabteilung des Informationszentrums der Behörde für Inneres für Sankt Petersburg und das Leningrader Gebiet wird die Akte CO-3, Nr. 2901 vom 9. September 1941 „Über den Brand in den Badaev-Depots“ aufbewahrt. Diese Dokumente sind erst unlängst freigegeben worden. Die Akte enthält Verhörprotokolle, Quittungen, Abschriften von Warenstandsverzeichnissen, Verzeichnisse der Lagerräume – alle Dokumente. Untersuchungen verdeutlichten, dass die Stadt nur Nahrungsmittel, entsprechend den Verteilungsnormen für den September und gemessen an der Bevölkerungszahl, für insgesamt ein, zwei Tage besaß.
In Leningrad[2] gab es im Grunde gar keine seriöse Versorgung – die Stadt lebte von Lebensmittelzufuhren, sie ernährte sich „von Schienen“. Ende Juli 1941 verfügte sie über einen knappen Wochenvorrat an Nahrungsmitteln. Im übrigen war es praktisch unmöglich, strategische Nahrungsmittelreserven für eine Stadt mit einer Bevölkerung von fast drei Millionen anzulegen, schon gar nicht unter den Bedingungen vom August und September 1941. In den ersten Tagen der Blockade wurden selbst bei den höchst ärmlichen Zuteilungsnormen 2.100 Tonnen Mehl pro Tag verbraucht. Der Jahresbedarf an Mehl hätte über 700.000 Tonnen ausgemacht, aber es gab keine Vorkehrungen für deren Lagerung.
Der Beginn der Blockade
Am 10. und 11. September wurde eine Aufstellung aller Nahrungsmittel, des Viehs, Geflügels und Getreides vorgenommen. Unter Zugrundelegung der faktischen Aufwendungen für die Versorgung der Armee und der Bevölkerung kamen am 12. September zusammen: Mehl und Getreide für 35 Tage, Teigwaren für 30, Fleisch für 33, Fette für 45, Zucker und Konditoreiwaren für 60 Tage. Kartoffeln und Gemüse fehlten fast völlig. Um die erbärmlichen Mehlvorräte zu strecken, wurden ihnen auf Beschluß der Leningrader Regierung 12 Prozent Malz-, Soda- und Grützmehl, 2,5 Prozent zermahlene Rückstände aus Ölpressen und 1,5 Prozent Kleie beigemischt.
In den ersten Septembertagen führte man in Leningrad Lebensmittelkarten ein. Gaststätten und Restaurants wurden geschlossen. Alles Vieh, das es in Kolchosen und Staatsfarmen gab, wurde geschlachtet und das Fleisch zur Verarbeitung abgeliefert. Futtergetreide schaffte man in Mühlen, um es dort zu mahlen und dem Roggenmehl beizugeben. Die Verwaltung von Krankenhäusern war verpflichtet, aus den Lebensmittelkarten von Bürgern, die im Krankenhaus lagen, für die Zeit des Heilaufenthaltes Zuteilungsabschnitte auszuschneiden. In derselben Weise wurde mehr und mehr auch mit Kindern verfahren, die in Kinderheimen lebten. Für Schulen wurden besondere Anordnungen getroffen.
Als man es begriffen hatte, dass die Stadt rundum blockiert war, verschlechterte sich die Stimmung ihrer Einwohner. Um ständig zu erfahren, was die Bevölkerung dachte, öffnete die Militärzensur alle Briefe – einige, in denen die Bürger aufrührerische Gedanken äußerten, hielt sie an. Im August 1941 stoppte die Zensur 1,5 Prozent der Briefe, im Dezember bereits 20 Prozent.
Auszüge aus Briefen, die von der Militärzensur angehalten wurden (aus den Dokumentenarchiven des Geheimdienstes FSB für Sankt Petersburg und Umgebung – Materialien des früheren Volkskommissariats für Inneres, Leitung Leningrad und Umgebung):
„Das Leben in Leningrad wird mit jedem Tag schlimmer. Die Leute sind aufgedunsen, weil sie Mostrich essen, aus dem sie Gebäck machen. Mehlstaub, den man früher zum Tapetenkleben verwendete, ist nirgendwo mehr aufzutreiben“.
„In Leningrad herrscht ein grauenhafter Hunger. Ich streife über Felder und Müllhalden und sammele alle möglichen Wurzeln und schmutzige Blätter, aber oft genug gibt es nicht einmal so etwas“.
„Ich war Zeuge einer Szene, wo auf der Straße einem Fuhrmann das Pferd vor Erschöpfung zusammenbrach. Mit Beilen und Messern eilten Leute herbei, schnitten das Pferd in Stücke und schleppten diese nach Hause. Wie Henker benahmen sie sich“.
Ab dem 1. Oktober bekamen Arbeiter, Techniker und Ingenieure auf Karten 400 Gramm Brot pro Tag, alle übrigen je 200 Gramm. Die Ausgabe anderer Lebensmittel wurde drastisch gekürzt. Aus Bierbrauereien wurden 8.000 Tonnen Malz abgeholt und zermahlen. In den Mühlen wurden die Mahlwerke geöffnet, um jeglichen Mehlstaub einzusammeln.
Weg des Lebens
Für den Transport von Nahrungsmitteln und militärischem Nachschub blieb nur noch eine einzige Linie übrig, die über den Ladoga-See[3] führte. Als der Krieg begann, war er noch wenig bekannt und faktisch nicht erforscht. Am 30. August 1941 faßte der Oberste Verteidigungsrat den Beschluß „Über die Herbeischaffung von Gütern nach Leningrad über den Ladoga-See“. Am Westufer wurde ein Hafen in der kleinen Bucht Osinovec befestigt, 55 Kilometer von Leningrad entfernt. Am 12. September 1941 landeten an den Kaimauern von Kap Osinovec zwei Lastkähne, die vom Ostufer des Ladoga-Sees 626 Tonnen Getreide und 116 Tonnen Mehl brachten. So startete die Blockade-„Arterie“ Leningrads, die die Menschen „Weg des Lebens“ (Doroga žizni) nannten.
Diese Verbindung erlangte strategische Bedeutung – über sie gelangten aus der Tiefe des Landes Truppenverstärkungen, Nachschub, Brennstoffe in die Stadt. Sie wurden auf Lastkähnen und kleinen Schiffen ans Westufer gebracht, dann mit der Bahn nach Leningrad geschafft. Die Transportkapazität dieses Weges war nicht sehr groß. Starke Herbststürme und ununterbrochene Bombardements des Feindes verlangsamten das Transporttempo enorm. Vom 12. September bis zum 15. November, als die Schiffahrt offiziell beendet wurde, konnte man über den Ladoga-See 24.097 Tonnen Getreide, Mehl und Teigwaren, über 1.130 Tonnen Fleisch und Milchprodukte sowie andere Güter liefern. Jede erfolgreiche Fahrt über den See war ein Triumph. Aber die Herbststürme machten den Schiffsverkehr unmöglich.
Es gab nur äußerst wenige Schiffe auf dem Ladoga-See, und die konnten der hungernden Stadt nicht wirklich helfen. Im November bedeckte sich der See langsam mit Eis. Am 17. November betrug die Eisdicke 100 Millimeter, aber das reichte noch nicht, um darüber einen Verkehr einzurichten. Man wartete auf stärkeren Frost. Am 20. November erreichte die Eisdicke 180 Millimeter, und Pferdefuhrwerke wagten sich auf das Eis. Am 22. November folgten ihnen Motorfahrzeuge. Die legendäre Eistrasse war geboren, die den Namen „Militärische Autostraße Nr. 101“ erhielt.
Eins nach dem anderen, in gewissen Abstand und mit geringer Geschwindigkeit, folgten die Fahrzeuge der Spur, die die Pferde gelegt hatten. Am 23. November brachten sie nur 19 Tonnen Lebensmittel nach Leningrad. Das lag daran, dass das Eis brüchig war. Die Zwei-Tonnen-Laster transportierten nur jeweils zwei, drei Säcke, aber dennoch sind einige Fahrzeuge versunken. Später hängte man an die Lastwagen Schlitten an, was die Belastung des Eises verringerte und die Lieferungen vermehrte. Zu Hilfe kamen auch die Fröste: Wenn man am 25. November nur 70 Tonnen Lebensmittel transportierte, so waren es einen Monat später bereits 800 Tonnen. In derselben Zeit versanken 40 Lastwagen.
Die Deutschen bemühten sich ständig, den Weg des Lebens abzuschneiden. In den ersten Arbeitswochen der Trasse zerstörten deutsche Piloten im Tiefflug Fahrzeuge und zerschlugen mit Bomben das Eis. Zum Schutz des Wegs des Lebens postierte das Oberkommando der Leningrader Front direkt auf dem Ladoga-Eis Flugabwehrgeschütze und Maschinengewehre und setzte sogar Jagdflieger ein. Die Ergebnisse ließen nicht auf sich warten: Am 16. Januar 1942 trafen am Westufer statt der geplanten 2.000 sogar 2.506 Tonnen Güter ein.
Anfang April 1942 begann der Schnee zu schmelzen und das Eis des Sees bedeckte sich mit Wasser, manchmal 30, 40 Zentimeter hoch. Aber der Verkehr auf dem Weg des Lebens ging weiter. Am 24. April, als der Schnee schon fast gänzlich geschmolzen war, wurde die Eistrasse auf dem Ladoga-See geschlossen. Insgesamt waren vom 24. November 1941 bis zum 21. April 1942 361.309 Tonnen Güter über den Ladoga-See nach Leningrad geschafft worden, wovon drei Viertel Nahrungs- und Futtermittel waren.
Der Weg des Lebens stand unter besonderer Kontrolle, aber auch hier ging es nicht ohne Straftaten ab. Die Chauffeure wichen etwas von der Strecke ab, trennten die Säcke mit Lebensmitteln auf, zweigten ein paar Kilogramm ab und nähten sie wieder zu. Bei der Ankunftskontrolle wurden solche Betrügereien nicht entdeckt, weil man die Säcke nur nach der Zahl, nicht nach dem Gewicht prüfte. Aber wenn einmal ein Diebstahl entdeckt wurde, dann kam der Chauffeur unverzüglich vor ein Kriegsgericht, das in der Regel die Todesstrafe verhängte.
Die 125-Blockade-Gramm
Ab dem 13. November 1941 wurden die Normen zur Ausgabe von Brot an die Bevölkerung gesenkt. Nun bekamen Arbeiter, Ingenieure und Techniker je 300 Gramm Brot, alle anderen 150 Gramm. Am 20. November musste auch diese ärmliche Ration nochmals beschnitten werden: 250 Gramm auf die Arbeiterkarte und 125 Gramm für die restlichen. In Leningrad begann der Hunger.
Diese Zahl – „125-Blockade-Gramm, hälftig aus Feuer und Blut“ – bleibt für immer eines der Symbole der Blockade, obwohl diese Rationierung nur unwesentlich länger als einen Monat in Kraft war. 125 Gramm Brot pro Tag und Empfänger wurden am 20. November 1941 eingeführt und bereits am 25. Dezember durch höhere Normen ersetzt. Für die Bewohner der belagerten Stadt war es dennoch eine Katastrophe: Zumeist hatten sie, die doch an keine weitsichtige Vorratshaltung gewöhnt waren, nichts außer diesem Stückchen Brot, das mit Kleie und Ölkuchen vermischt war. Und nicht einmal diese paar Gramm konnte man immer bekommen.
In der Stadt erhöhte sich sprunghaft die Anzahl der Diebstähle, ja Morde, mit denen Lebensmittelkarten erbeutet wurden. Es kam zu Überfällen auf Brotwagen und Bäckereien. Alles drehte sich ums Essen. Als erstes wurden Haustiere verspeist. Die Menschen lösten Tapeten ab, um an den Kleister auf der Rückseite zu gelangen. Um die leeren Bäuche zu füllen und die mit nichts zu vergleichenden Hungerqualen zu besänftigen, nahmen die Menschen zu den verschiedensten Arten der Nahrungsbeschaffung Zuflucht: Sie fingen Krähen, jagten eifrig hinter übriggebliebenen Katzen und Hunden her, suchten in Hausapotheken Essbares: Rizinusöl, Vaseline, Glyzerin. Aus Tischlerleim wurden Suppen gekocht.
Auszüge aus Briefen, die von der Militärzensur angehalten wurden (aus den Dokumentenarchiven des Geheimdienstes FSB für Sankt Petersburg und Umgebung – Materialien des früheren Volkskommissariats für Inneres, Leitung Leningrad und Umgebung):
„Unser geliebtes Leningrad hat sich in eine Halde von Schmutz und Leichen verwandelt. Die Straßenbahnen fahren längst nicht mehr, es gibt kein Licht, keine Heizung, Wasserleitungen sind eingefroren, die Toiletten verstopft. Und am meisten quält der Hunger“.
„Wir haben uns in eine Herde hungriger Bestien verwandelt. Wenn du auf der Straße gehst, begegnest du Menschen, die wie Betrunkene schwanken, plötzlich umfallen und sterben. An solche Bilder haben wir uns bereits gewöhnt und beachten sie nicht mehr, weil heute sie sterben und morgen ich“.
„Leningrad wurde zu einer Leichenhalle, die Straßen zu Alleen der Toten. In jedem Haus werden im Keller Leichen gestapelt. Auf den Straßen liegen reihenweise Verstorbene“.
Geld war vorhanden, aber es war nichts wert. Nichts hatte mehr Wert: kein teurer Schmuck, keine Gemälde, keine antiquarischen Bücher. Nur Brot und Wodka waren gefragt, Brot sogar ein bisschen mehr. Vor den Bäckereien, wo die Tagesrationen gegen Karten ausgegeben wurden, bildeten sich endlose Schlangen. Manchmal kam es unter den hungernden Menschen zu Schlägereien – sofern sie dazu noch Kraft besaßen. Die einen nahmen halbtoten Greisinnen die Brotkarten weg, die anderen durchstöberten Wohnungen nach ihnen. Aber die Mehrzahl der Leningrader arbeitete ehrlich, starb auf den Straßen und an den Arbeitsplätzen und ermöglichte anderen das Überleben.
Andere Übel kamen hinzu. Ende November schlug der Frost zu. Die Thermometersäule sackte auf Minus 40 Grad. Wasserleitungen und Kanalisationsröhren froren zu, die Menschen blieben ohne Wasser – von nun konnte man es allein aus der Neva holen.
Rasch ging auch die Heizung zu Ende. Die Elektrowerke stellten die Arbeit ein, in den Häusern erlosch das Licht, auf den Innenwänden der Wohnungen zeigten sich Frostblumen. Die Leningrader stellten in ihren Wohnungen eiserne Bolleröfen auf. In denen verbrannten sie Tische, Stühle, Kleider- und Bücherschränke, Sofas, Parkettböden und am Ende sogar Bücher. Aber derartiger Brennstoff reichte nicht lange. Ende Dezember 1941 nahm das Eis die Stadt in den Würgegriff. Die Straßen und Plätze versanken unter dem Schnee, der sich bis zu den ersten Etagen der Häuser türmte.
Im Dezember 1941 wurden die ersten Fälle von Kannibalismus registriert. Nach den Verzeichnissen des Innenministeriums, Gebietsleitung Leningrad, wurden im Dezember 1941 wegen des Verzehrs von Menschenfleisch 43 Menschen verhaftet, im Januar 1942 366, im Februar 612, im März 399, im April 300, im Mai 326, in Juni 56. Danach tendierten die Zahlen gegen Null, so dass von Juli bis Dezember 1942 nur 30 Personen wegen Menschenfresserei festgenommen wurden. Militärtribunale verurteilten die Täter zum Erschießen und zur Konfiskation ihres Besitzes. Die Urteile waren endgültig, Berufung gab es nicht und die Exekution erfolgte unverzüglich.
Die Stadt und ihr Kampf
Aber die Stadt lebte und kämpfte. Die Fabriken stießen laufend Kriegsproduktion aus. Die hungrigen und gequälten Menschen brachten noch Kräfte zur Arbeit auf. Die Kirov-Werke[4] lagen in gefährlicher Nähe zu den Stellungen der deutschen Truppen, aber dennoch wurde rund um die Uhr an der Panzerfertigung gearbeitet. Männer, Frauen und Jugendliche standen an den Werkbänken. Die Fabrik wurde bombardiert, in den Werkshallen brachen Brände aus, aber niemand verließ den Arbeitsplatz. Durch die Werkstore fuhren jeden Tag Panzer heraus und gingen direkt an die Front. Im November und Dezember 1941 überstieg die Produktion von Geschossen und Minen eine Million Stück im Monat.
Im September und Oktober 1941 verübte die deutsche Luftwaffe jeden Tag mehrere Angriffe und jedes Mal wurde Luftalarm gegeben, unabhängig davon, wie viele Flugzeuge gesichtet wurden. Die Menschen gingen in die Unterstände und Schutzkeller und hielten sich dort stundenlang bis zur Entwarnung auf. Diese massenhaften Arbeitsunterbrechungen führten zu Produktionsausfällen, weswegen angeordnet wurde, beim Auftauchen von ein, zwei Flugzeugen keinen Luftalarm mehr auszulösen. Die Arbeiter selber bestanden darauf, auch bei Angriffen einer größeren Anzahl Flugzeuge die Arbeit nicht zu unterbrechen, solange keine unmittelbare Gefahr für das Werk bestünde. Ein solches Risiko musste man einfach eingehen – die Front benötigte Waffen.
Leningrad bereitete sich auf einen möglichen Durchbruch der Deutschen vor. Für diesen Fall wurde ein Plan zur Bekämpfung der feindlichen Truppen erstellt. Auf Straßen und Kreuzungen wurden Barrikaden und Panzersperren errichtet, es wurden 4.100 MG- und Geschützstellungen gebaut, Gebäude mit über 20.000 Feuerstellungen ausgestattet.
In der Stadt blieben die Theater geöffnet, neue Stücke gelangten zur Aufführung, die Museen waren offen. Die ganze Zeit während der Blockade arbeitete Radio Leningrad. Diese war für viele das einzige Signal, welches das Empfinden erlaubte, dass die Stadt lebt. Wenn das Radio schwieg, stürmten die Menschen das Radiokomitee mit Anfragen: „Was sollen wir tun, damit das Radio wieder sendet? Ohne dieses halten wir es nicht aus“. Vor dem Mikrofon im Haus des Rundfunks hatte man eine hölzerne Brüstung angebracht, auf die sich die Dichter, Schriftsteller und Ansager stützten, die im Radio auftraten.
Am 10. Dezember 1941 begrüßte der Direktor der Eremitage, Akademie-Mitglied Orbeli[5] (Bild), Gäste, die zu einer Festsitzung gekommen waren, die dem 500. Geburtstag des Dichters und Gelehrten Ališer Navoja gewidmet war. Boris Piotrovskij hielt eine Vorlesung zum Thema „Motive altorientalischer Mythen in den Werken von Navoja“. Der Gelehrte Nikolaj Lebedev las seine Übersetzungen von Versen Navojas. Er war im letzten Stadium der Entkräftung und musste von Freunden in den Saal getragen werden. Als Bomben fielen, hat niemand die Veranstaltung verlassen. In der Sowjetunion wurde nie wieder des Geburtstags von Navoja gedacht.
Im Winter 1941 siedelten viele Wissenschaftler in den Keller der Eremitage um, in den sog. „Bombenunterstand Nr. 3“. Im Februar 1942, in der schwersten Zeit, kamen dort Architekten zusammen, darunter auch Akademiemitglied Nikol’skij. Sie befassten sich mit einem Projekt des künftigen Leningrads, nicht nur mit dem bloßen Wiederaufbau, sondern mit etwas, das sie „Projekt einer Wiedergeburt der Palmyra des Nordens“ nannten. Ohne Licht und Wärme, hungrig und verfroren schufen sie ein neues Leningrad.
Parallel dazu vermerkten die Geheimdienste Äußerungen gegen die Leningrader Machthaber und gegen die sowjetischen allgemein:
„Unsere Führer haben das Volk dahin gebracht, dass die Menschen die eigenen Kinder töten und verspeisen, und wir Dummköpfe sitzen da und schweigen. Das Volk sollte sich erheben, solange noch nicht alle Hungers gestorben sind. Es ist höchste Zeit, diesem Krieg ein Ende zu machen“ (Hausfrau Kornetova, 28, 29.1.42).
„Ich wundere mich, dass es in der Stadt noch zu keinen Hungerrevolten kam. Offenkundig erklärt sich das durch die körperliche Schwäche der Menschen. Die Bevölkerung hat das Vertrauen in die Sowjetmacht verloren“ (Regisseur bei „Lenfilm“ Cechanovskij, 10.2.42).
„Die Menschen sterben reihenweise vor Hunger, und die Leningrader Machthaber kümmert das überhaupt nicht. Sie glauben, je mehr Menschen sterben, um so leichter wird man die Überlebenden ernähren können“ (Angestellter bei „Lenmoststroj“ Ėrman, 23.2.42).
Im Winter 1942 wurde beschlossen, beim Radiokomitee ein Symphonieorchester zu bilden. Sein Leiter wurde der Geiger und Dirigent Karl Ėliasberg. Im Winter 1942 war dieser so entkräftet, dass er vor Erschöpfung nicht laufen konnte. Am 9. Februar brachte man ihn auf einem Kinderschlitten ins Krankenhaus, die Diagnose lautete „alimentäre Dystrophie zweiten Grades“.
Jedoch bereits am 9. April leitete er eine Probe des neu entstandenen Orchesters. Die Musiker hatte man in der ganzen Stadt zusammengesucht. Die Streicher waren bald gefunden, aber mit den Bläsern gab es Probleme: Sie waren physisch nicht in der Lage, ihre Instrumente zu blasen. Einige fielen direkt auf der Probe in Ohnmacht. Man musste Ersatz an der Front suchen. Später kamen die Musiker in der Kantine des Stadt-Sowjets wieder zu Kräften – einmal am Tag bekamen sie ein warmes Essen.
Am 7. Juli 1942 traf per Flugzeug aus dem Ural die Partitur der 7. Symphonie von Dmitrij Šostakovič (1906-1975) in Leningrad ein. Der Komponist hatte sie in der belagerten Stadt zu schreiben begonnen, war aber krankheitsbedingt nach Sverdlovsk evakuiert worden. Am 9. August 1941 hatten die Deutschen versprochen, Leningrad einzunehmen. Aber nach genau einem Jahr fand in der ungebrochenen Stadt die Premiere von Šostakovičs 7. Symphonie statt, die man fortan „Die Leningrader“ nannte. Der Saal war voll – die Schlangen nach Karten waren im Großen Saal der städtischen Philharmonie länger als die vor Bäckereien. Der ganze Saal der Philharmonie strahlte in elektrischem Licht. Strom wurde damals nur einmal am Tag für kurze Zeit eingeschaltet. Im Finale der Symphonie, das den Sieg über den Faschismus ausmalte, erhob sich der ganze Saal und applaudierte. Um das Konzert abzusichern, veranstaltete die Artillerie, die die Stadt verteidigte, an diesem Tag eine eigene Symphonie – sie beschoß die Positionen des Gegners so unaufhörlich, dass an diesem Tag kein einzige Flugzeug in den Luftraum von Leningrad eindrang.
Die Stadt lebte auch weiterhin. Am 25. Dezember 1941 kam es zur ersten Erhöhung der Brotrationen – für Arbeiter um 100 Gramm, für Angestellte, Rentner und Kinder um 75 Gramm. Am 24. Januar 1942 wurden neue Normen der Brotversorgung eingeführt. Arbeiter bekamen 400, Angestellte 300, Rentner und Kinder 250, Soldaten der vordersten Frontlinie 600 und Soldaten der rückwärtigen Dienste 400 Gramm. Am 11. Februar wurde die Norm nochmals erhöht.
Die Einwohner bemühten sich, evakuiert zu werden. Die Evakuierung aus der Stadt begann bereits Ende November 1941, einen Massencharakter erreichte sie erst im Januar 1942, als das Eis dick wurde. Aus dem belagerten Leningrad reisten in erster Linie Kinder ab, Frauen mit Kindern, Kranke, Verwundete und Invaliden. Der Evakuierung unterlagen auch Wissenschaftler, Studenten, Berufsschüler und Arbeiter von evakuierten Fabriken samt ihren Familien.
In der ersten Dekade des Februars starben 36.606 Menschen (65,8% Männer), in der zweiten 34.852 (58,9% Männer). Die absolut höchste Sterblichkeit wurde im Januar 1942 vermerkt, als binnen eines Monats 96.751 Menschen starben.
Am schlimmsten erging es den Kindern. Wenn Erwachsene sterben, dann ist das schwer, aber auch einsehbar. Aber das Gewissen weigert sich, den Tod von Kindern zu akzeptieren. Unter den Anklagedokumenten, die im Nürnberger Prozeß vorgelegt wurden, befand sich auch ein kleines Notizbüchlein, welches das zwölfjährige Leningrader Mädchen Tanja Savičeva geführt hatte. In dem Büchlein sind neun Seiten, auf sechs Seiten stehen Daten. Sechs Seiten – sechs Todesfälle:
„Am 28. Dezember 1941 starb Ženja.
Großmutter starb am 25. Januar 1942.
17. März – Leka ist gestorben.
Opa Vasja starb am 13. April.
10. Mai – Opa Ljoša, Mama – 15. Mai.
Die Savičevs sind tot. Alle sind gestorben.
Tanja ist allein geblieben“.
Tanja wurde von Bediensteten spezieller Sanitätskommandos entdeckt, die durch die Leningrader Häuser gingen. Als sie sie fanden, war sie ohnmächtig vor Hunger. Zusammen mit 140 anderen Leningrader Kindern wurde das Mädchen in das Dorf Krasnyj Bor im Bezirk Gor’kij evakuiert. Zwei Jahre lang kämpften die Ärzte um ihr Leben. Tanja wurde in das nahegelegene Invalidenheim „Ponetaev“ gebracht, wo es eine bessere medizinische Betreuung gab. Dort ist sie am 1. Juli 1944 gestorben. Man begrub sie auf dem Dorffriedhof.
In der Geschichte gibt es zahlreiche Beispiele, dass eine Festung oder eine Stadt wegen einer Epidemie aufgaben. Leningrad konnte das vermeiden. Eines der schrecklichsten Unglücke für die Stadt war im Winter 1941/42 eine ungeheure Rattenplage. Darunter hatten besonders die vom Hunger entkräfteten Kinder und Alten zu leiden. Die Ratten vernichteten nicht nur die ohnehin kärglichen Lebensmittelvorräte, sie waren auch potentielle Überträger der Pest. Man jagte die Ratten, versuchte sie zu vergiften, gab die Versuche aber bald wieder auf, um nicht Menschen zu gefährden, man aß sogar Ratten (wenn man ihrer habhaft wurde). Später wendeten die Sanitätsärzte eine bekannte Methode an: Sie infizierten gefangene Ratten mit Rattentyphus, der nur für Tiere gefährlich ist, und ließen sie wieder frei.
Am 25. März 1942 faßte das Exekutivkomitee des Leningrader Stadtsowjets in Übereinstimmung mit einer Anordnung des Obersten Verteidigungsrats einen Beschluß zur Mobilisierung der gesamten arbeitsfähigen Bevölkerung für Arbeiten zur Reinigung von Höfen, Plätzen und Ufern. Die von der Blockade gequälten Leningrader gingen auf die Straßen und säuberten die Stadt von Schneehaufen, Eis, Schmutz, Verunreinigungen und Leichen – der Frühling war im Anmarsch und zusammen mit ihm konnten in der Stadt Epidemien ausbrechen. Bis zum 15. April brachten die Leningrader mit Hilfe von Soldaten der örtlichen Garnison mehr als 12.000 Höfe in Ordnung, säuberten über drei Millionen Quadratmeter Straßen, Plätze und Ufer, schafften etwa eine Million Tonnen Müll und Schnee fort. Ende des Monats begann in Leningrad wieder der Straßenbahnverkehr.
Der Winter 1942/43 unterschied sich vom vorhergehenden enorm. Über die Straßen der Stadt rollte bereits der allgemeine Transport, es gab weder Schneewehen noch Müllhalden. Die Betriebe arbeiteten, nachdem sie Brennstoffe und Strom bekommen hatten. Schulen und Kinos machten wieder auf, in fast allen Häusern funktionierten Wasserleitungen und Kanalisation, die städtischen Badehallen arbeiteten, es gab einen Vorrat an Brennholz und Torf, auch wenn er bescheiden war.
1943 verbesserte sich die Situation des belagerten Leningrads bedeutend. Im Frühjahr fasste der Oberste Verteidigungsrat den Beschluß über die Wiederherstellung der Betriebe Leningrads. Gegen Jahresende brachten die Werktätigen 212 Werke und Fabriken ganz oder teilweise in Betrieb, die dann über 400 verschiedene Arten kriegswichtiger Produktion lieferten. Im Winter 1943/44 hatten 99 Prozent aller Wohnhäuser bereits funktionierende Wasserleitungen. 350.000 Quadratmeter Straßenfläche wurden repariert, auf 12 Linien kursierten 500 Straßenbahnwagen.
Die Führung
Am 10. Juli 1941 wurde das Oberkommando Nord-West gebildet, das der Marschall der Sowjetunion Kliment Efremovič Vorošilov (1881-1969) leitete. Nachdem die Rote Armee im Krieg gegen Finnland[6] größere Verluste als die deutsche Wehrmacht bei der Eroberung halb Europas erlitten hatte, entließ Stalin am 8. Mai 1940 Vorošilov vom Posten des Volkskommissars für Verteidigung. Man kann sagen, dass er ihn davongejagt hat, weil der „rote Marschall“ kaum für die Arbeit eines Wehrersatzamtes getaugt hat.
Dennoch wurde ausgerechnet er an den Leningrader Frontabschnitt geschickt – weil man eben jemanden hinschicken musste. Schließlich war die Aufmerksamkeit der Stavka[7] im Juli und August 1941 vor allem von den Ereignissen auf dem zentralen Kriegsschauplatz und im September von der Niederlage in Kiev okkupiert.
Am 21. Juli stoppte Vorošilov mit seiner Kommandogewalt die auf Leningrad zu marschierenden Truppen und befahl, die Hauptkräfte der 1. Panzerdivision umzuleiten. Zusammen mit zwei Mot-Schützenregimentern des Innenministeriums sollte sie einen Gegenangriff auf die Finnen führen und diese vernichten. Dieser Beschluß war ungeheuerlich in seiner Dummheit[8] – auf den Waagschalen des Krieges hatten Leningrad und Petrozavodsk ein völlig unterschiedliches Gewicht, zudem waren in den karelischen Seewäldern Panzer nutzlos. Als er persönlich einen misslungenen Angriff von Marineinfanteristen anführte, wurde Vorošilov leicht verwundet. Stalin, als er von den Vorfällen erfuhr, belegte seinen Mitkämpfern mit einigen kräftigen Epitheta.
Am 11. September löste Stalin Vorošilov ab und berief Georgij K. Žukov (1896-1974) zum Oberkommandierenden der Leningrader Front. Am 13. September flog Žukov nach Leningrad. Als er das Kommando übernommen hatte, fing er so an, dass er den Truppen den Befehl Nr. 0046 zuleitete, in welchem er „Kommandanten, Politoffiziere und Soldaten“ anwies, dass jegliche „Abweichung ohne schriftlichen Befehl von den Anweisungen zur Verteidigung des Grenzgebiets mit unverzüglichem Erschießen geahndet wird“. Leider war das fast schon alles, was er dem machtvoll vorrückenden Gegner entgegenstellen konnte.
Žukov kannte kein Erbarmen und gnadenlos jagte er die von ununterbrochenen Kämpfen zermürbten Truppen in Gegenangriffe gegen den mehrfach überlegenden Feind. Nur um den Preis unerhörter Opfer vermochte er letzten Endes, den deutschen Angriff zu verlangsamen. Am 15. September waren die Deutschen sehr nahe an Leningrad herangerückt. Schwere Panzer gingen direkt von den Fließbändern der Kirov-Werke an die vorderste Frontlinie. Am 16. September nahm Hitler alle Angriffstruppen von der Leningrader Front und warf sie nach Moskau. Danach minderte Feldmarschall Leeb den Druck, und anstelle eines Angriffs ging er zur Blockade über.
Ungeachtet dessen, dass die Truppen der Leningrader Front die Verteidigung aufrecht erhielten, konnte man doch nicht davon ausgehen, dass die Deutschen nicht einen Vorstoß wagen würden. Darum wurde beschlossen, die Stadt mit Minen auszustatten. Bereits Marschall Vorošilov, nunmehr Oberkommandierender des Nord-West-Abschnitts, hatte die strategische Initiative gestartet, große Leningrader Werke und Fabriken, Elektrowerke und Fernstraßen, Brücken und sogar die Baltische Flotte mit Minen zu bestücken und zu sprengen, damit sie nicht den heranrückenden Truppen des Gegners in die Hände fielen. Im Prinzip hatte es einen ähnlichen Plan bereits ein paar Jahrzehnte zuvor gegeben, nämlich im Bürgerkrieg und als Vorbereitung für den Fall, dass Judenič[9] Petrograd einnehmen würde. Die Idee Vorošilovs wurde von A. Ždanov und A. Kuznecov unterstützt.
325.000 Kilo Sprengstoff wurden in die Fundamente von Betrieben und Gebäuden der verschiedensten Bestimmung gelegt, die auf ein bestimmtes Kommando in die Luft fliegen sollten. Die Stadt, von deren Häusern und Denkmälern nur Ruinen übrig geblieben wären, hätte aufgehört zu bestehen.
In diesen Tagen fasste der Militärrat der Leningrader Front den Beschluß „Plan der Maßnahmen zur Organisation und Durchführung spezieller Operationen zur Ausschaltung der wichtigsten industriellen und sonstigen Betriebe Leningrads im Falle eines erzwungenen Rückzugs unserer Truppen“. Eine solche Operation sollte zu einem gegebenen Moment mehrere Tausend städtische Objekte, ihr gesamtes Verkehrswesen, alle Energiestationen, Eisenbahndepots, Post- und Telegraphenämter, Kanäle und vieles andere zerstören.
Für die 900 Blockade-Tage sollte die Parteiführung die Verantwortung tragen, in erster Linie ein besonders talentloser Bürokrat, der erste Sekretär des Leningrader Bezirkskomitees der Kommunistischen Partei, Genosse A.A. Ždanov, der zu den heroischen Anstrengungen der Einwohner der Stadt überhaupt kein Verhältnis hatte.
Der erste Sekretär (Bild) „verschlief“ die Belagerung. Er trank viel, er aß viel, er trieb Sport, um überflüssige Pfunde loszuwerden. Er fuhr nie an die vorderste Frontlinie, mit Wirtschaft beschäftigte er sich auch nicht. Im Grunde blieb die Stadt dem im Herbst 1941 angekommenen Bevollmächtigten des Obersten Verteidigungsrats, Aleksej Kosygin, überlassen, der seine Rolle bei der Verteidigung Leningrads niemals herausstrich. Er brachte den Verkehr auf dem Weg des Lebens in Schwung, beseitigte Stockungen, schuf einen Gleichklang zwischen zivilen und militärischen Behörden. Lieferungen von Kohle und Öl, Mobilisierung der Parteimitglieder zum Schutz der Lebensmitteldepots, Evakuierung von Spezialisten und Kindern, Verlagerung von Werkseinrichtungen – mit allen diesen Dingen beschäftigte sich vorwiegend er.
Im belagerten Leningrad sprach man über Kosygin sehr gut, im Unterschied zu Ždanov. Man erzählte von ihm eine fast religiös klingende, dabei völlig zutreffende Geschichte, wie er auf der Straße einen sterben Jungen auflas, der – inmitten mehrerer Leichen liegend – gerade noch einen Finger bewegen konnte. Kosygin nahm ihn mit, fütterte ihn wieder auf, schickte ihn in ein Kinderheim – und vergaß ihn für alle Zeiten. Produktionszahlen, Brennstofftonnen, Kilowattstunden – das hatte er noch im Alter bis auf drei Stellen hinterm Komma in Erinnerung, aber Leute, denen er geholfen hatte, strich er aus seinem Gedächtnis. Das sei doch nichts besonders, meinte er.
Nach dem grauenhaft schweren Winter kam das Frühjahr 1942. Die Ernährung der Bevölkerung und der Truppen verbesserte sich. Weil es den Weg des Lebens gab, bekamen die Leningrader Fleisch, Fette, Grieß – wenn auch nur in beschränktem Umfang.
Durchbruch und Beendigung der Blockade
Am 2. Dezember 1942 bestätigte die Stavka des Oberkommandierenden den Operationsplan an der Volchov- und der Leningrader Front, die den Chiffre „Iskra“ (Funken) bekam. Als Punkt zum Durchbrechen der Blockade wurde ein enges Tal gewählt, das die beiden Fronten trennte. Unter Berücksichtigung einer günstigen Lage, die sich zu Beginn des folgenden Jahres ergeben hatte, befahl die Stavka am 12. Januar 1943, südlich des Ladoga-Sees zum Angriff überzugehen und die Blockade Leningrads zu durchbrechen.
Am 12. Januar 1943, um 9.30 Uhr morgens, durchbrachen „Katjuša“-Salven die Stille – auf ganzer Linie begann die Artillerie-Vorbereitung. Als sie aufhörte, betraten Tausende Soldaten das Eis. Am Ende des ersten Tages hatte der Angriff zur Sicherung von zwei Brückenköpfen am linken Neva-Ufer geführt. Am Mittag des 18. Januar kam es im Bezirk Arbeitersiedlungen Nr. 5 und 1 zur Begegnung der beiden Fronten. In der Nacht zum 19. Januar meldete Radio Leningrad, dass die Blockade durchbrochen sei.
Am 18. Januar 1943 beschloß der Oberste Verteidigungsrat den beschleunigten Ausbau einer Eisenbahn-Nebenstrecke, die Leningrad mit dem restlichen Land verbinden sollte. In 18 Tagen legten die Bauleute die Linie Šlissel’burg-Poljana in einer Länge von 33 Kilometern und schufen einen Übergang über die Neva. Am Morgen des 7. Februar begrüßten die Einwohner Leningrads begeistert den ersten Eisenbahnzug, der bei ihnen eintraf. Von Februar bis Dezember 1943 fuhren 3.104 Züge über die neuerbaute Strecke.
Am 14. Januar 1944, um 9.35 Uhr, eröffneten schwere Seegeschütze aus Forts von Kronštadt das Feuer auf den Gegner, desgleichen die zahlreiche Feldartillerie. Der Angriff der Infanterie der 2. Armee begann um 10.40 Uhr. Am 27. Januar 1944 durchbrachen die Truppen der Volchov- und der Leningrader Front die Verteidigung der 18. deutschen Armee, zerstörten ihre Basiskräfte und drangen 60 Kilometer ins Landesinnere vor. Als die Deutschen die reale Gefahr einer Einkreisung erkannten, zogen sie sich zurück. Mit der Befreiung von Puškin, Gatčina und Čudovo war die Belagerung Leningrads völlig beendet.
Autoren: Natal’ja Škurenok, Elena Borovik (Übersetzung aus dem Russischen Wolf Oschlies)
Anmerkungen
[1] Die Badaev-Depots (Badaevskie sklady), noch in der Zarenzeit angelegt, befanden sich im östlichen Stadtgebiet am großen Neva-Bogen. Dort waren auf einem Terrain von 28 Hektar 43 Gebäude erbaut, in denen Nahrungsmittelvorräte gelagert waren. Der erwähnte Angriff wurde zum vermutlich größten Mythos der sowjetischen Kriegsgeschichte: ein Synonym für alle Schrecken der Blockade, ganz besonders für den Hunger in Leningrad. In zahlreichen Gedichten und Lieder wurden die Depots erwähnt, auch in Liedern des unvergessenen „Barden“ Vladimir Vysockij (1938-1980): „Ich wuchs in der Leningrader Blockade auf/ habe damals nicht gesoffen, nicht herumgestreunt/ ich sah, wie die Badaev-Depots in Flammen aufgingen/ während ich nach Brot Schlange stand.“ Bis heute setzt sich diese Sicht der Ereignisse fort, während andererseits immer mehr Publikationen erscheinen, die sie als Mythos entlarven. 2003 wurden Dokumente entdeckt, die belegten, dass die in den Depots gelagerten Lebensmittel auch ohne den Bombenangriff höchstens für ein, zwei Tage gereicht hätten. Daraus folgt, dass „die absolut unfähigen Behörden die Stadt zum Hungertod verurteilten“, vgl. Natal’ja Škurenok: Mify chleba ne prosjat (Mythen betteln nicht um Brot), in: Eženedel’nyj žurnal Nr. 104, 26.1.2004
[2] Nebenstehend ein zeitgenössisches Propaganda-Plakat „Wir verteidigen die Stadt Lenins“.
[3] Der Ladoga-See (Ladožskoe Ozero, vgl. die Karte zu Beginn dieser Übersetzung) ist der größte Süßwasser-Binnensee Europas. Seine Wasserfläche beträgt 17.703 km2, seine Nord-Süd-Ausdehnung knapp 220 km, die West-Ost-Ausdehnung 120 km. Die größte Tiefe wurde mit 225 Metern gemessen, im Durchschnitt ist er 52 Meter tief. Der See ist von Ende November bis Anfang April zugefroren.
[4] Benannt nach Sergej M. Kirov (= Kostrikov), 1886-1934, dem einstigen „Liebling der Partei“. Kirov war in engster Verbindung zu Stalin in höchste Parteifunktionen gelangt und war seit 1926 Parteichef von Leningrad. Auf dem 17. Parteitag der Kommunistischen Partei im Januar stimmten 292 von 1.225 Delegierten gegen Stalin, aber nur sechs gegen Kirov. Stalin sah in ihm einen gefährlichen Konkurrenten und ließ ihn allem Anschein nach 1934 durch Leonid Nikolaev ermorden. Danach setzte die „große Säuberung“ ein, d.h. der Massenterror der späten 1930-er Jahre, vgl. Andrej N. Savel’ev: Krach bol’ševistskogo romantizma (Die Pleite des bolschewistischen Romantismus), in: Russkij dom Nr. 12/2004
[5] Iosif Abgarovič Orbeli, 1887-1961, leitete von 1934 bis 1951 die Eremitage und organisierte im Sommer 1941 die Evakuierung von über einer Million Kunstwerke aus diesem weltberühmten Museum nach Sverdlovsk und andere Orte, von wo sie 1945 im Triumph zurückgebracht wurden.
[6] Der sog. „Russisch-Finnische Winterkrieg“ dauerte vom 30. November 1939 bis 12. Mai 1940. Der Roten Armee mit 600.000 Mann standen 330.000 finnische Soldaten gegenüber, die den Russen furchtbare Verluste zufügten.
[7] Stavka (Abkürzung von Štab verchovnogo komandovania = Oberster Kommandostab) war am 23. Juni 1941 von Stalin per Geheimerlaß erbildet worden. Die Führung hatte Verteidigungsminister S. Timošenko. Mitglieder waren Stalin, Außenminister V. Molotov, Generalstabschef G. Žukov, die Marschälle Vorošilov und Budënnyj und Marinechef Admiral Kuznecov.
[8] Wörtlich so: Rešenie bylo čudoviščno po svoej gluposti
[9] Der ehemalige Zaren-General Nikolaj N. Judenič führte im Bürgerkrieg 1918-1920 die „weißen“ Truppen im Ostseeraum.