Der brüllende Diktator und der schweigende Papst – die Rolle von Papst Pius XII. während des Holocaust
„Wenn es ein totalitäres Regime gibt – faktisch und von Rechtswegen –, dann ist es das Regime der Kirche. Der Mensch gehört total der Kirche.“ (Pius XI.; Amtsvorgänger und Mentor von Pius XII.)
Eugenio Maria Giuseppe Giovanni Pacelli erblickte am 2. März 1876 in Rom das Licht der Welt und starb am 9. Oktober 1958 in Castel Gandolfo unter dem Namen Pius XII. Er war von 1939 bis zu seinem Tod Bischof von Rom, der Nachfolger Petri und somit der Stellvertreter Christi auf Erden, Heiliger Vater, Pontifex Maximus, Oberhaupt der Römisch-katholischen Kirche, Staatsoberhaupt des Vatikan, der 260. Papst. Wie schon viele Päpste vor und auch nach ihm ging er wenig rühmlich in die Geschichte ein. Er hatte jedoch nicht wie Urban II. (gebürtig: Odo de Châtillon; 1035 – 1099) zum Ersten Kreuzzug aufgerufen oder wie Innozenz III. (gebürtig: Lotario dei Conti di Segni; 1161 – 1216) gleich zwei Kreuzzüge initiiert, Juden und Katharer verfolgt und Laien das Lesen der Heiligen Schrift untersagt. Das Versäumnis von Pius XII. soll vor allem in eklatantem Nichtstun gelegen haben. Er ging in die Geschichte ein als der Papst, der schwieg.
So unwahrscheinlich es angesichts des Zölibats auch klingen mag, war Eugenio Pacelli das Papsttum regelrecht in die Wiege gelegt worden, denn er war Sohn des päpstlichen Konsistorialadvokaten Filippo Pacelli und dessen Frau Virginia (geb. Graziosi). Von 1886 bis 1894 besuchte Pacelli das humanistische Gymnasium Visconti, wo er sieben Fremdsprachen lernte, darunter Deutsch und Latein. Im Anschluss studierte er an der Päpstlichen Universität Gregoriana fünf Jahre lang Theologie und Philosophie und schloss sein Studium, zu dem ab 1897 auch Lesungen an der kirchenrechtlichen Fakultät zählten, mit dem dreifachen Doktorgrad ab – er promovierte also in Theologie, Philosophie und beiden Rechten. Schon am 2. April 1899 empfing Pacelli die Priesterweihe. Knapp zwei Jahre später wurde er dann in das päpstliche Staatssekretariat berufen und war unter Papst Leo XIII. (gebürtig: Vincenzo Gioacchino Pecci; 1810 – 1903) Teil der Kommission für die Kodifizierung des kirchlichen Rechts und der Kongregation für Außerordentliche Kirchliche Angelegenheiten, deren Sekretär er 1912 wurde. Zeitgleich, von 1909 bis 1914, war Pacelli Professor an der Diplomaten-Akademie des Vatikans. Nachdem 1914 der Erste Weltkrieg ausgebrochen war, beauftragte Papst Benedikt XV. (gebürtig: Giacomo della Chiesa; 1851 – 1922) Pacelli damit, eine internationale Hilfsorganisation für Kriegsopfer aufzubauen. Drei Jahre später wurde er zum Titular-Erzbischof ernannt und übernahm die bayerische Nuntiatur in München. Zu dieser Zeit bemühte sich Pacelli darum, mit dem deutschen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg (1856 – 1921) Bedingungen der Reichsregierung für Friedensvermittlungen seitens des Papstes auszuhandeln, die jedoch an den vagen Antworten der Reichsregierung scheiterten. Obwohl die Rotgardisten der Münchener Räterepublik sein Leben in seiner Wahrnehmung bedrohten, vertrat Pacelli 1919 weiterhin seine Nuntiatur und wurde danach für neun Jahre Erster Nuntius des Deutschen Reichs, als welcher er die Konkordatspolitik von Papst Pius XI. (gebürtig: Achille Ambrogio Damiano Ratti; 1857 – 1939), die das Verhältnis von Staat und Kirche neu regeln sollte, voranbrachte – mit Erfolg: zunächst 1924 mit Bayern, dann 1929 mit Preußen, 1932 mit Baden und 1933 mit Österreich. Am 16. Dezember 1929 wurde Pacelli dann zum Kardinal ernannt und im Folgejahr von Pius XI. als Kardinalstaatssekretär und somit rechtlicher Stellvertreter des Papstes eingesetzt.
Nach der Machtergreifung durch die Nazis ersuchte Pacelli den Kirchenrechtler und Vorsitzenden des Zentrums, Ludwig Kaas (1881 – 1952) um eine Kontaktaufnahme zu Adolf Hitler (1889 – 1945), weil er ein Abkommen mit den Nationalsozialisten nach dem Modell der Lateranverträgen zwischen dem Vatikan und der faschistischen Regierung Benito Mussolinis (1883 – 1945) von 1929 anstrebte. Am 20. Juli gelang es Pacelli dann tatsächlich mit Franz von Papen (1879 – 1969) das Reichskonkordat auszuhandeln, was im Gegenzug für den zugesagten Verzicht von Mitgliedern des Klerus auf politische Teilhabe zusicherte, ihre Stellung im Deutschen Reich wäre demnach sowohl in materieller als auch institutioneller Hinsicht gesichert. Sehr wohl zwang Hitler die katholische Kirche jedoch zur Auflösung ihrer Vereine, denn Vereine seien Staatssache.
1937 war Pacelli Mitverfasser der am 14. März herausgegebenen Enzyklika „Mit brennender Sorge“, in der sich der Papst klar gegen die Nazis positionierte und Kirchen- und Rassenpolitik des Deutschen Reichs auf das Schärfste verurteilte. Ursache dafür dürften vor allem Übergriffe von Gestapo und SA auf katholische Kirchen gewesen sein und weniger die Sorge um die jüdische Bevölkerung. Doch als Pius XI. am 10. Februar 1939 verstorben war, wählte das Konklave Pacelli am 2. März zum neuen Papst. Er gab sich den Namen Pius XII.
Noch ehe am 1. September desselben Jahres mit dem Angriff des Deutschen Reiches auf Polen der Zweite Weltkrieg ausbrach, bekam der Papst am 11. Mai 1939 Besuch vom NSDAP-Funktionär Prinz Philipp von Hessen (1896 – 1980), wenn auch in Zivil und sich den Hitler-Gruß verkneifend. Dass dieses geheime Treffen mit von Hessen unter dem Decknamen Marquis Turri stattfand, offenbarten die erst 2020 geöffneten Archive des Vatikan zu diesen Vorgängen. Der Unterhändler machte dem Papst deutlich, dass man von ihm Stillschweigen zur Verfolgung der jüdischen Bevölkerung erwartete. Pius XII. wollte nach eigener Aussage stets Frieden zwischen Kirche und Staat. Die Nazis fürchteten, der Papst könne die römisch-katholische Bevölkerungsmehrheit gegen das Regime aufbringen, während der Heilige Stuhl mit Sorge das Schließen von Ordensschulen und das Verbot des Religionsunterrichtes betrachtete. Für den von von Hessen angestrebten „Burgfrieden“ müssten die Attacken gegen die Kirche und ihre Mitglieder aufhören und wieder katholischer Religionsunterricht stattfinden.
Doch das wahre Druckmittel Hitlers war ein ganz anderes, nicht die Inhaftierung unliebsamer Geistlicher, nicht die im Zuge der Gleichschaltung erfolgte Zerschlagung des kirchlichen Vereinswesens und auch nicht der Religionsunterricht. Hunderte katholische Priester waren des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen angeklagt und wurden deshalb strafrechtlich verfolgt. Damals wie heute ein Thema, dass der Papst gar nicht gerne hört(e), denn Pius XII. erwiderte laut Protokoll:
„Solche Verfehlungen geschehen überall. Werden sie uns mitgeteilt, wird sofort von uns zugegriffen. Und zwar scharf! Bei gegenseitigem guten Willen kann man das alles in Ordnung bringen.“
Beim dann erfolgenden Angriff auf Polen gingen die Nazis auch gegen national gesinnte polnische Priester vor, die den Papst anflehten gegen die Nazis Stellung zu beziehen, doch Pius XII. schwieg. Ein weiterer Faktor für das Schweigen des Papstes dürfte auch die politische Ausrichtung der Kriegsparteien gewesen sein, denn er verabscheute den Kommunismus und somit auch den real-existierenden Sozialismus der Sowjetunion. Wie viele westliche Staatsoberhäupter und Regierungschefs wähnte er in den Nazis eine Art Bollwerk gegen den Sowjetsozialismus. Nur dass er daran sehr viel länger festhielt als andere. Zudem war Eugenio Pacelli schon immer ein Feind von Demokratie und Liberalismus gewesen, verabscheute sie und hatte jede Reformbewegung in der absolutistischen Kirche schon immer mit aller Härte bekämpft. Ein starker antidemokratischer und antikommunistischer Führer wie Hitler, noch dazu in Pacellis einstigem Hauptwirkungsbereich, dem Deutschen Reich, dürfte also durchaus politisch gewisse Sympathien beim Papst gehabt haben, auch wenn Hitler selbst das Christentum anders als etwa der spanische Diktator Francisco Franco (1892 – 1975), der die Katholiken aktiv gegen Republikaner schützte, insgeheim ablehnte und Pacelli in ihm schon lange vor 1933 einen unberechenbaren Agitator gesehen hatte. Obwohl Pius XII. Hitler angeblich verabscheute, ließ er ihn gewähren, exkommunizierte den – wenn auch nur offiziell – katholischen Hitler auch nie. Solange die Kirche trotz aller ihrer Verfehlungen den Schutz des Diktators genießen würde, würde der Papst seinen Einfluss nicht gegen die Nazis nutzen und schweigen. Die wahre Gefahr sah die Kirche im Kommunismus, nicht nur dem Bolschewismus der Sowjets, sondern jeglichem Kommunismus, welchen Hitler vor allem anderen bekämpfte.
Am 11. März 1940 kam es erneut zu Verhandlungen. Dieses Mal war es der Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop (1893 – 1946), der den Papst im Vatikan aufsuchte. Von Ribbentrop betonte sogar, dass es einzig Hitler zu verdanken sei, dass die katholische Kirche trotz des sich um sich greifenden Bolschewismus überhaupt noch existiere – eine Ansicht, die der dafür dankbare Papst teilte. Pius XII. hakte bezüglich der Anklagen gegen „Priester wegen Kindesmissbrauchs“ nach, woraufhin Ribbentrop erwiderte: „Hitler hat sie gestoppt.“ Einen Vertrag mit Hitler lehnte der Papst jedoch ab und erinnerte den Außenminister an das Angebot Hitlers. Laut Protokoll des Treffens sagte Pius XII. weiter:
„Wenn die Katholiken in Übereinstimmung mit ihrer Religion leben können, werden sie treu sein; mehr als alle anderen.“
Am 10. Juni 1940 erklärte auch Italien dem Vereinigten Königreich und Frankreich den Krieg, wozu der Papst aufgrund der Lateranverträge Neutralität wahren musste. Nur indirekt forderte Pius XII. Hitler in der Osterbotschaft vom 13. April 1941 dazu auf, er solle die Völker in den besetzten Gebieten menschlich behandeln. Die vom Papst geforderte öffentliche Verurteilung des Krieges blieb aus. Er rechtfertigte sich:
„Ich bin zutiefst und fest überzeugt, meine Pflicht genau zu erfüllen, niemanden zu verletzen, Anspielungen zu vermeiden, wenigstens zu sagen, was möglich ist.“
Auch angesichts des Holocaust – und wir wissen heute mit Sicherheit, dass Pius XII. davon Kenntnis hatte – schwieg er. Zunächst waren die Amerikaner im September 1942 mit der Bitte an den Papst herangetreten, die Gerüchte von Vernichtungslagern zu prüfen. Der Papst trat an seinen Judenbeauftragten Angelo Kardinal Dell’Acqua (1903 – 1972) heran der erklärte, die Juden übertrieben immer so maßlos. Als sich die Berichte im Dezember 1942 bestätigten, forderten die Briten den Papst ganz direkt zu einer öffentlichen Stellungnahme auf. Pius XII. schwieg. Er verglich sich gegenüber seiner Vertrauten Schwester Pascalina Lehnert (1894 – 1983) mit dem am Kreuz festgenagelten Jesus und erklärte mit Fingerzeig auf ein Kruzifix:
„Jesus ist angenagelt und kann sich nicht befreien, kann nur dulden und leiden. Auch der Papst ist angenagelt auf seinem Posten und muss stille halten.“
Die Rassenlehre der Nazis wurde vom Vatikan als „übersteigerter Antisemitismus“, also als „schlechter Antisemitismus“ betitelt – im Gegensatz zum „guten Antisemitismus“ der Kirche selbst gegenüber den „Gottesmördern“. Zum Christentum konvertierte Juden galten aber wiederum als „treulos“ und „verblendet“. Daher gäbe es „guten katholischen Antisemitismus“ in Form der Bekämpfung des gesellschaftlichen Einflusses des Judentums. Also auch wenn Pius XII. Konzentrationslager, Angriffskrieg und Genozid abgelehnt haben mag, weil sie ihm zu drastisch erschienen, war er grundlegend mit den Nazis auf einer Linie: antidemokratisch, antikommunistisch und antisemitisch bzw. antijudaistisch. Der Krieg der Achsenmächte wurde zu einem modernen Kreuzzug verklärt – ganz so, als hätte es das besser gemacht. Pius XII. rechtfertigte sein Schweigen zur Judenverfolgung damit, es hätte Hitler noch wütender auf die Juden gemacht, wenn der Papst sich offen gegen dessen Vorgehen ausgesprochen hätte. Da möchte man schon fragen: Wie viel wütender als Genozid ging es in den Augen des Heiligen Vaters denn? Selbst für die römisch-katholische Kirche mit ihrer blutigen Geschichte dürfte nach der systematischen, in der Geschichte einmaligen Ermordung von Millionen wenig Luft nach oben gewesen sein. In Wahrheit ging es einzig um Eigeninteressen der Kirche.
Zum vierten Jahrestag des Kriegsbeginns mahnte der Papst in einer Radiobotschaft zur Versöhnung zwischen den Völkern. Neun Tage später wurde Rom infolge der Festnahme Mussolinis am 28. Juli und dem daraus resultierenden Seitenwechsel Italiens von der Wehrmacht besetzt. Nun wurden auch römische Juden deportiert, wobei einige sich dem durch Kirchenasyl entziehen konnten. Auch der Papst nahm letztendlich Juden auf. Er schwieg aber weiterhin. Anders der Judenbeauftragte des Papstes Dell’Acqua, der verärgert über den hohen Stellenwert war, den das Schicksal der italienischen Juden nun im Arbeitsalltag des Staatssekretariats einnahm. Am 4. Juni 1944 wurde Rom dann von den Alliierten befreit und eineinhalb Monate später wurden Fotos aus den Vernichtungslagern der Nazis publik. Der Papst schwieg noch immer.
Nach Kriegsende sammelte das päpstliche Hilfswerk Kleidung und Lebensmittel für die deutsche Bevölkerung. Im Jahr 1949 bekräftigte Pius XII. noch einmal wie er zum Kommunismus stand und drohte jedem Katholiken, der den Kommunismus unterstützte mit der Exkommunikation. In den folgenden Jahren förderte er den Marienkult und setzte sich für mehr Toleranz zwischen den christlichen Konfessionen ein, vermied es aber keineswegs auch immer wieder die Unterschiede zu betonen – so etwa am 6. Dezember 1953. Auch vom Kolonialismus wollte sich Papst Pius XII. nicht so recht verabschieden, so warnte er in seiner Weihnachtsbotschaft 1955 vor der Entfremdung zwischen Europa und der asiatisch-afrikanischen Kulturwelt, weil Europa den Entwicklungsländern noch Werte zu vermitteln hätte. Wohlgemerkt zehn Jahre, nachdem Europäer die Welt in Schutt und Asche gelegt hatten. Am 9. Oktober 1958 starb Papst Pius XII.
Quellen und Literatur
Hugo Altmann: Pius XII., Papst. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 7, Bautz, Herzberg 1994, ISBN 3-88309-048-4, Sp. 682–699.
Konstantin Prinz von Bayern: Papst Pius XII. – Ein Lebensbild. Christiana, Stein am Rhein 1980, ISBN 3-7171-0780-1.
Philippe Chenaux: Pie XII, diplomate et pasteur. Cerf, Paris 2003, ISBN 2-204-07197-8 (französisch).
Michael F. Feldkamp: Pius XII. – Ein Papst für Deutschland, Europa und die Welt. Patrimonium, Aachen 2018, ISBN 978-3-86417-114-7.
Robert A. Vetrasca: Soldier of Christ – The Life of Pope Pius XII. Cambridge, MA/London, Belknap Press of Harvard University Press 2013, ISBN 978-0-674-04961-1 (englisch).
Wilhelm Sandfuchs: Papst Pius XII. (= Karlsruher Hefte, Biographische Reihe. Bd. 1). 1. Auflage. Badenia Verlag, Karlsruhe 1946.
https://www.juedische-allgemeine.de/politik/hitlers-heimlicher-helfer-im-vatikan/