Warum und mit welcher Wirkung klassifizieren Wissenschaftler Menschen?[1]
Die Auseinandersetzung um die biologische Klassifikation von Menschen in »Rassen« erweckt nur oberflächlich den Eindruck, als handele es sich lediglich um einen Streit um Wörter. Wer meint, es ginge darum, einen durch den Rassismus diskreditierten und missbrauchten Terminus zu vermeiden, hat nicht erfasst, dass es um die Tragfähigkeit und die Wirkungen eines wissenschaftlichen Konzeptes geht. Tatsächlich ist im wissenschaftlichen Bereich mit dem Begriff »Rasse« ein Konzept gemeint, also ein gedankliches Konstrukt, mit dem die Vielfalt der Menschen erfasst werden soll. Dieser Begriff bestimmt – wenn man ihn anwendet -, wie die Vielfalt der Menschen gedeutet wird. Ein Streit darüber, ob menschliche Rassen existieren oder nicht, ist müßig. Die Frage muss vielmehr lauten, ob die mit dem Wort «Rasse» verbundenen biologischen Kategorien geeignet sind, die augenfällige Vielfalt der Menschen angemessen zu erfassen. Nach Ansicht der Mehrheit naturwissenschaftlich arbeitender Anthropologen ist dieses Konzept ungeeignet, die Variabilität der Art Homo sapiens zutreffend zu erfassen. Dagegen wähnen sich die Befürworter des Konzeptes in der Tradition zoologischer Klassifikation von Formengruppen unterhalb des Artniveaus, wie sie in der Biologie üblich sei (s. Kasten).
In diesem Beitrag wird versucht nachzuweisen, dass die Rassenklassifikationen der Anthropologen von den Anfängen bis heute nicht naturwissenschaftlich fundiert sind, sondern Alltagsvorstellungen und sozialpsychologischen Bedürfnissen entspringen, die die Wissenschaftler mit anderen Menschen ihrer jeweiligen Gesellschaften teilen.
Die Vielfalt der Menschen und die Einfalt der Rassentypen
In der Stellungnahme des UNESCO-Workshops (1996) wird betont, dass die molekularbiologischen Erkenntnisse über genetische Vielfalt der Menschen traditionelle Rassenkonzepte ausschließen (s. Kasten). Dafür gibt es folgende Gründe:
- Mindestens 3/4 der menschlichen Gene variieren nicht, sie sind also bei allen Menschen gleich. Die Variabilität bezieht sich also auf die Allelverteilung des höchstens 25 % ausmachenden Teils variabler Gene
- alle molekularbiologischen Unterschiede betreffen lediglich statistische Verteilungen (Allelhäufigkeiten);
- trotz erheblich erscheinender morphologischer Unterschiede sind die genetischen Distanzen zwischen den geographischen Populationen des Menschen gering. Sichtbare Unterschiede zwischen Menschen täuschen uns über genetische Differenzen. Einige wenige Merkmale überbewerten wir – nur aus dem Grunde, weil sie besonders auffallen. Der »Typus« ist ein schlechter Wegweiser zu genetischen Distanzen: Zwischen (morphologisch fast nicht zu unterscheidenden) west- und zentralafrikanischen Unterarten des Schimpansen (Pan troglodytes) sind sie zum Beispiel etwa 10 mal so groß wie zwischen menschlichen Populationen (z. B. Afrikaner und Europäer).
- Der größte Anteil der genetischen Unterschiede zwischen Menschen befindet sich nicht zwischen, sondern innerhalb der geographischen Populationen. Mindestens 90 % der genetischen Unterschiede befinden sich innerhalb lokaler oder eng benachbarter Populationen, die Unterschiede zwischen den geographischen Gruppen umfassen höchstens 10 % der genetischen Verschiedenheit. Zur genetischen Vielfalt der Menschen trägt die geographische Variation also nur einen sehr kleinen Teil bei.
- Die Häufigkeit der Allele variiert überwiegend kontinuierlich. Zwischen den geographischen Populationen gibt es keine größeren Diskontinuitäten und keine durchgehenden scharfen Grenzen.
Angesichts dieser Ergebnisse muss der Versuch scheitern, die Menschen in mehr oder weniger voneinander unterschiedene Gruppen zu trennen. Auch statistisch signifikante Unterschiede in Merkmals- oder Allelverteilungen sind deshalb nicht hinreichend, um Populationen als »Rassen« zu klassifizieren. Selbst die traditionelle Gliederung in drei geographische Großrassen (Europide, Negride, Mongolide) ist durch diese Befunde obsolet geworden (vgl. Cavalli-Sforza 1992; Cavalli-Sforza/ Cavalli-Sforza 1994; Cavalli-Sforza/ Menozzi/ Piazza 1996; Kattmann 1995; 2002).
Anthropologen zum Rassenkonzept »Rassen« des Menschen werden traditionell als genetisch einheitlich, aber untereinander verschieden angesehen. … Neue auf den Methoden der molekularen Genetik und mathematischen Modellen der Populationsgenetik beruhende Fortschritte zeigen jedoch, dass diese Definition völlig unangemessen ist. Die neuen wissenschaftlichen Befunde stützen nicht die frühere Auffassung, dass menschliche Populationen in getrennte »Rassen« wie »Afrikaner«, »Eurasier« … oder irgendeine größere Anzahl von Untergruppen klassifiziert werden könnten. … Mit diesem Dokument wird nachdrücklich erklärt, dass es keinen wissenschaftlich zuverlässigen Weg gibt, die menschliche Vielfalt mit den starren Begriffen »rassischer« Kategorien oder dem traditionellen »Rassen«-Konzept zu charakterisieren. Es gibt keinen wissenschaftlichen Grund, den Begriff »Rasse« weiterhin zu verwenden. UNESCO-Workshop: »Stellungnahme zur Rassenfrage« (1996)
For centuries scholars have sought to comprehend patterns in nature by classifying living things. The only living species in the human family, Homo sapiens , has become a highly diversified global array of populations. The geographic pattern of genetic variation within this array is complex, and presents no major discontinuity. Humanity cannot be classified into discrete geographic categories with absolute boundaries. Furthermore, the complexities of human history make it difficult to determine the position of certain groups in classifications. Multiplying subcategories cannot correct the inadequacies of theses classifications. American Association of Physical Anthropologists: »Statement on Biological Aspects of Race« (1996)
Was es aber unbestreitbar gibt, ist eine phylogenetisch bedingte geographische Differenzierung, in der sich verschiedene – wenn auch durch Übergänge miteinander verbundene – genetisch determinierte Schwerpunkte erkennen lassen. Zumindest diese Schwerpunkte, aber auch die verschiedenen Abstufungen zwischen ihnen werden – dem Gebrauch des Begriffs in der gesamten Biologie folgend – als Rassen bezeichnet. R. Knußmann: »Vergleichende Biologie des Menschen« (1996)
To biologists, race is a taxonomic category below species. This concept is necessary to understand evolution … The fact is that some groups, for example living in a particular area, share common biological characters that distinguish them from others. Consequently, man as a biological species may be divided into different groups called »races« depending on the significance of intergroup differences. V. P. Chopra: »The use of polymorphic genes to study human racial differences« (1992) |
Diese Ergebnisse stehen nicht allein. Populationsgenetische Konzepte, zu denen sich fast alle Anthropologen nach 1945 bekannten, hätten den typologischen Rassenbegriff bereits ersetzen können. Wenn Populationen und nicht Individuen als Rassen bezeichnet werden, dann können die Rassen nicht weiterhin durch Merkmale charakterisiert werden, sondern lediglich durch die Häufigkeitsverteilung von Merkmalen (vgl. Kattmann 1973). Das Konstrukt populationstypischer Merkmale eröffnete jedoch die Möglichkeit, weiterhin Rassetypen formulieren zu können. Dazu wurde das Konstrukt der populationstypischen Merkmalskomplexe herangezogen (vgl. Vogel 1974). Für Populationen sind häufige Allele und Merkmale ohne typologische Wertung eigentlich genauso charakteristisch wie seltene. Das Rekurrieren auf die häufigen (»populationstypischen«) Merkmale kennzeichnet den Rückfall in schon überwunden geglaubte Typologie. Während die kontinuierliche Verteilung morphologischer Merkmale einige Anthropologen schlussfolgern ließ, dass es keine Rasse gebe, sondern nur graduelle Abwandlungen von Merkmalen (Merkmalsgradienten, Klin, vgl. Livingston 1962), benutzen andere dieselben Daten, um überkommene Rasseneinteilungen zu rechtfertigen (vgl. z. B. Schwidetzky 1979, 47 ff.).
Bereits seit über 20 Jahren liegen molekularbiologische Ergebnisse vor, die den oben referierten ähneln und von den Autoren entsprechend als unvereinbar mit dem Rassenkonzept angesehen wurden (vgl. z. B. Lewontin 1972). Innerhalb der Rassenkunde werden indessen auch die neuesten Ergebnisse nur als Bestätigung der jeweiligen Rasseneinteilung gedeutet und abweichende Befunde als unbedeutende Unstimmigkeiten gewertet: Die Unterschiede zwischen den Großrassen seien statistisch signifikant und das generelle Muster der genetischen Distanzen zwischen Populationen sei grob dasselbe wie bei den morphologischen Merkmalen (Chopra 1992, 52; vgl. Knußmann 1996, 430).
Die Vielfalt der Menschen wird der Einfalt der Typen geopfert: Jede Rassenklassifikation simplifiziert die Vielfalt in unzulässiger Weise, indem sie ihre Betrachtung auf eine mehr oder weniger große Anzahl von Gruppen reduziert und dabei (kleine) Gruppenunterschiede höher bewertet als (größere) zwischen den Individuen ein und derselben Gruppe. Das Klassifizieren wird so – ohne Rücksicht auf die tatsächlich beobachtete Variation – zum Selbstzweck. Der damit verbundene Klassifikationszwang ist deutlich, wenn nicht nur die postulierten »Schwerpunkte«, sondern auch die »Abstufungen zwischen ihnen« als Rassen klassifiziert werden sollen (Knußmann 1996, 406, s. Kasten). Das Menschenrassen-Konzept verlangt also danach, die Menschen auch dann in einander ausschließende Gruppen zu trennen, wenn es zwischen diesen Gruppen alle möglichen Übergänge gibt. Es nimmt nicht Wunder, dass auf diese Weise kein einziges System der Menschenrassen aufgestellt worden ist, das innerhalb der Wissenschaftlergemeinschaft auch nur annähernd allgemeine Anerkennung gefunden hätte. In den Rassensystematiken werden vielmehr zwischen drei und dreihundert Menschenrassen mit ganz unterschiedlicher Einteilung und Zuordnung unterschieden. Eine Grundlinie im Verständnis des Begriffs »Rasse« lässt sich im gesamten Verlauf der Geschichte der Anthropologie nicht erkennen (vgl. Grimm 1990). Anthropologen mögen diese Uneinigkeit damit rechtfertigen, dass es ein einheitliches anerkanntes System natürlicherweise nicht gebe, da die Grenzen im Bereich unterhalb der Art eben nicht scharf zu ziehen seien. Damit wird aber nur eingestanden, dass die Einteilung in Menschenrassen nicht intersubjektiv überprüfbar ist und somit keine naturwissenschaftliche Grundlage hat (vgl. Kattmann 2002).
Warum halten einige Anthropologen so unbeirrt und unverändert am Konzept der Menschenrassen fest? Die Vermutung liegt nahe, dass der Grund hierfür nicht allein innerwissenschaftlich in biologisch-naturwissenschaftlichen Grundsätzen zu suchen ist.
Psychologie der Rassenklassifikation
Hinweise auf bestimmende Motive der Rassenklassifikation geben Forschungen zu Alltagsvorstellungen sowie kognitions- und sozialpsychologische Untersuchungen. Die daraus ableitbaren Schlussfolgerungen werden durch Befunde in der Ethnobiologie und Wissenschaftsgeschichte erhärtet.
Naive Theorien und Gruppenabgrenzung
Schon drei- bis siebenjährige Kinder haben Annahmen über die Zusammengehörigkeit von Menschen, die von quasi biologischen Vorstellungen mitbestimmt sind. Man nennt solche Vorstellungen, mit denen Menschen die Erscheinungswelt für sie sinnvoll deuten, naive oder implizite Theorien. Bereits dreijährige Kinder entwickeln Vorstellungen darüber, welche Eigenschaften im Laufe der Individualentwicklung unverändert bleiben und welche von den Eltern vererbt werden (vgl. Hirschfeld 1992). Die Annahmen dienen u. a. dazu, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe anzuzeigen und für das Kind zu sichern. Grundlage für die Unterscheidung sind aber nicht die Merkmale, sondern es ist die elementare Notwendigkeit, sich der eigenen Gruppenzugehörigkeit zu vergewissern. Die Unterscheidung »wir« und »die anderen« bestimmt danach die Auswahl wiedererkennbarer und als konstant angenommener Merkmale, nicht umgekehrt. Die Gruppenbildung erfolgt nicht einer Merkmalsklassifikation, sondern wird sozial konstruiert. Je nach gesellschaftlichem Umfeld und Erfahrungshorizont der Kinder sind daher die Gruppenbildungen und die Zuordnungen von Merkmalen ganz unterschiedlich ausgeprägt.
Diese Befunde haben eine interessante Parallele in der Ethnobiologie. Während die Klassifikation von Pflanzen- und Tierarten bzw. -gattungen in verschiedenen Kulturen zu über 90 % untereinander und mit der wissenschaftlichen Klassifikation übereinstimmt, fehlt eine solche Übereinstimmung bei der Klassifikation von Menschen in jeder Hinsicht. In jeder Gesellschaft werden Menschen kulturspezifisch in Gruppen eingeteilt. Das Ergebnis sind ganz unterschiedliche Gruppeneinteilungen, die von den jeweiligen kulturellen und sozialen Verhältnissen der Menschen bestimmt sind.
Die Neigung, Menschen in Rassen zu klassifizieren, ist danach ein allgemeines Phänomen. Welche Form die Klassifikation hat, ist dagegen kulturell, geschichtlich und sozial bestimmt. Mit Bezug auf die Untauglichkeit biologischer Rassenkonzepte kommt Hirschfeld (1992, 247) daher zu dem Schluss: »A responsible biology can perhaps afford to have nothing to do with the notion of human races, a responsible psychology does not have this option.«
»Rasse« ist in diesem Zusammenhang als sozialpsychologisch bestimmte Kategorie aufzufassen. Wo immer Konflikte zwischen Bevölkerungsgruppen aufbrechen, sind nicht Haut- oder Haarfarben die Ursachen, sondern soziale Ungerechtigkeit und politische Interessen. Äußere Kennzeichen wie Hautfarbe, Haarform, Gesichtsmerkmale, aber auch Essgewohnheiten, religiöse Gebräuche und Sprache dienen dann als Erkennungsmarken, mit denen die Menschen der (rassisch) diskriminierten Gruppen ausgesondert werden. An ihnen macht sich die Unterscheidung fest und kann sich so selbst verstärken. Für die rassische Aussonderung sind aber nicht die Eigenschaften der betroffenen Menschengruppe maßgebend. Die der Fremdgruppe zugeschriebenen Merkmale werden durch die Selbsteinschätzung bestimmt, die die diskriminierende Gruppe von sich hat. Das Eigenbild bestimmt das Fremdbild: Unsicherheiten werden durch Abgrenzung kompensiert; für das Selbstwertgefühl bedrohlich empfundene (negative) Eigenschaften werden auf die Fremdgruppe projiziert (vgl. Kattmann 1994).
Der bei der Rassenklassifikation ablaufende Prozess kann kurz folgendermaßen skizziert werden:
- Wahrnehmung der Gruppenzugehörigkeit; mit der Gruppenzugehörigkeit werden die Individualentwicklung und die Generationen überdauernde Eigenschaften verknüpft.
- Gruppenabgrenzung und -distanzierung; Fremdgruppen wird „Andersartigkeit“ und „Wesensfremdheit“ zugeschrieben, dabei kann durchaus noch Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung postuliert werden (Ideologie der Apartheid).
- Bewertende Diskriminierung der Gruppen; die Menschengruppen werden in höherwertige und minderwertige eingeteilt. Das Eigenbild bestimmt das Fremdbild.
- Konstruktion von Rassen; die Fremdgruppen werden als rassisch von der eigenen verschieden definiert, am deutlichsten im dichotomen Gegensatz: Weiße/Schwarze; Arier/Juden.
Im letzten Schritt werden die ersten drei zusammengefasst und verhärtet. Rassismus beginnt dabei nicht erst mit der Annahme, es gebe „hochstehende“ und „minderwertige Rassen“ (Überlegenheitsrassismus), sondern bereits mit einer „rassentrennenden“ Aussonderung von Menschengruppen, durch die das gemeinsame soziale Leben gespalten wird (Reinhalterassismus, vgl. Kattmann 2003). Die so konstruierten »Rassen« sind als sozialpsychologische Kategorien klar erkennbar: Weder »Weiße« und »Schwarze« der Rassentrennung und Bevölkerungsstatistiken in den USA noch die »Arier« und »Juden« der Nationalsozialisten waren je »Rassen« im Sinne der Bemühungen physischer Anthropologen. Rassisten schaffen sich ihre Rassen selbst aus ihren eigenen Bedürfnissen. Rassismus verschwindet daher nicht automatisch mit den diskriminierten Gruppen. Wie anders ist es zu erklären, dass z. B. der Antisemitismus in Europa überdauert, obwohl Juden nach Massenmord und Vertreibung hier eine verschwindend geringe Minderheit sind? Man kann in einem mehrfachen Sinne von »Rassismus ohne Rassen« sprechen.
Wie verhalten sich die Rassenklassifikationen der Anthropologen zur sozialen Rassenkonstruktion? Wie ist es zu erklären, dass die Rassenkunde überdauert, obwohl das biologische Rassenkonzept sich als untauglich erweist? Handelt es sich um »Rassenkunde ohne Rassen«?
Grundzüge der Rassenkunde
Die wesentlichen Aussagen der anthropologischen Rassenkunde zeigen deutlich den bestimmenden Einfluss sozialpsychologischer Faktoren (s. Tabelle 1). Ins Auge fällt die Parallelität zwischen kulturell verschiedenen Einteilungen der Menschen und der Vielzahl an rassentaxonomischen Systemen. Hier liegt offen zu Tage, dass die Anthropologen bei ihren systematischen Bemühungen nicht nach naturwissenschaftlich definierten Merkmalen klassifizieren, sondern sich ebenso wie andere Menschen von Alltagsvorstellungen leiten lassen, die vom kulturellen und sozialen Umfeld geprägt sind.
Die Wissenschaftsgeschichte der Rassenkunde liefert für diese Vermutung zahlreiche Belege. Für die Aufstellung von Rassen sind insbesondere sozial vermittelte ästhetische Kategorien leitend gewesen (vgl. Herrmann 1983). Obgleich es zahlreiche Querverbindungen von biologischer Rassenkunde zu philosophischen und politischen Rassentheorien, wie die von J. Arthur de Gobineau, H. Steward Chamberlain und Adolf Hitler gibt, sind die Belege für das wissenschaftlich motivierte Klassifizieren von Menschen aus den enger biologisch bestimmten Bereichen zu wählen.
Klassifikation von Menschen
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Rassenkunde | Alltagsvorstellungen |
Divergierende Rassensystematiken | kulturelle Unterschiede |
Exklusive Abgrenzungen, Erfassen auch von Übergängen als eigene Rassen | soziale Konstruktion von Gegensätzen, z. B. »Schwarze«/»Weiße« |
Verknüpfung von Rasse, Verhaltenseigenschaften und Kultur: Wesensaussagen über Angehörige einer Rasse | Annahme von gleichbleibenden Eigenschaften der Menschen während der Entwicklung und über Generationen hinweg |
Rasse wird als eine die Individuen bestimmende Ganzheit vorausgesetzt | Naive Theorie über die Zusammengehörigkeit der Menschen: Unterscheidung von Eigengruppe und Fremdgruppen. |
Tabelle 1: Grundzüge rassenkundlicher Klassifikation im Vergleich mit Alltagsvorstellungen
Ein hervorragendes Beispiel ist die Ausdeutung der »Hautfarbe« als Rassenmerkmal. Sie findet sich schon bei den ersten Vorläufern und dann ausgeprägt bei dem Vater der biologischen Systematik, Carl von Linné. Die zehnte Auflage von dessen »Systema naturae« (Linné 1758) ist bis heute für die zoologische Nomenklatur (auf dem Artniveau) maßgeblich. Für Linné ist die Einteilung der Lebewesen essentialistisch begründet. In den systematischen Kategorien drücken sich für ihn die Ideen Gottes bei der Schöpfung aus. Innerhalb der Art Homo sapiens unterscheidet Linné vier geographische Varietäten, die er folgendermaßen charakterisiert:
» Americanus rufus, cholericus, rectus. … Regitur consuetudine.
Europaeus albus, sanguineus, torosus….Regitur ritibus.
Asiaticus luridus, melancholicus, rigidus. … Regitur opinionibus.
Afer niger, phlegmaticus, laxus. …. Regitur arbitrio.«
Auffallend an dieser Klassifikation ist eine dreifach abgesicherte Vierteilung der Menschheit: nach Erdteilen, nach Hautfarben und nach Körpersäften. Die Einteilung nach Erdteilen erscheint heute noch modern, für Linné waren jedoch alle drei Kriterien naturwissenschaftlich begründet, auch und gerade die Orientierung an den Körpersäften. Die antike Lehre von den vier Elementen (Feuer, Luft, Erde, Wasser) führte durch die Parallele von Makrokosmos (Welt) und Mikrokosmos (Mensch) zur Lehre von den (den Elementen entsprechenden) vier Körpersäften (Galle, Blut, Schwarze Galle, Schleim), denen im Mittelalter die Charaktere Choleriker, Sanguiniker, Melancholiker und Phlegmatiker zugeordnet wurden. Linné hält sich also an die (physiologischen) Vorstellungen seiner Zeit, wodurch sogleich die Verbindung von »Rasse« und Seele (naturwissenschaftlich) elementar begründet wird.
Wie die Erdteile und die Körpersäfte sollten die Hautfarben ein objektives Kriterium abgeben. Die Angaben dazu wurden bei Linné in diesem Sinne von Auflage zu Auflage eindeutiger. Nur der Afrikaner bleibt von der ersten Auflage an unverändert »niger« (schwarz). Der Europäer wird von »albescens« (weißwerdend) zu »albus« (weiß), der Amerikaner von »rubescens« (rotwerdend) zu »rufus« (rot). Die stärksten Änderungen macht der Asiate durch: Seine Farbe wechselt von »fuscus« (dunkel, bräunlich bis schwarz) bis zu »luridus« (blassgelb).
Wie Walter Demel (1992) gezeigt hat, sind die Hautfarben der »Rassen« das allmählich sich herausbildende Ergebnis eines Farbgebungsprozesses. Hatten noch viele Entdeckungsreisende die Hautfarbe der Chinesen als weiß wie die der Europäer beschrieben oder differenzierend zwischen hell, gelblich, bräunlich bis dunkel abgestuft, so wurden die Beschreibungen in den Rassenklassifikationen eindeutig auf »gelb« fixiert. Die Haut der Chinesen ist nur leicht getönt, ihr mittlerer Pigmentierungsgrad entspricht dem südeuropäischer Menschen. Die Hautfarbe der Chinesen wäre also ähnlich zu beschreiben wie die der Italiener, Spanier oder Griechen. Die Europäer verstanden sich aber als »Weiße«. So wurden Südeuropäer (unabhängig vom Pigmentierungsgrad ihrer Haut) »weiß« und Chinesen mussten zum Kontrast »gelb« werden. Das Eigenbild bestimmt das Fremdbild: Die Eigenbezeichnung »weiß« wurde exklusiv für Europäer reserviert. Für die nichteuropäischen Völker wurden die Hautfarben »gelb«, »rot« und »schwarz« konstruiert (vgl. Robins 1991, 168 ff.; Demel 1992). Gelbe Chinesen findet man daher nur in Rassenklassifikationen und sonst nirgendwo. Und natürlich gibt es keine »roten« und »schwarzen« Menschen und auch keine »weißen«. Im Glauben an die Hautfarben aber fällt nicht auf, dass man in Asien oder Chinatown keinem gelben Menschen begegnet. Dass wir das soziale Konstrukt der Hautfarben als mit unserer Wahrnehmung konform halten, beruht also bereits auf der Wirkung dieser Konstruktion.
Die Pigmentierungsgrade der Haut korrelieren in verschiedenen Regionen der Erde mit der UV-Einstrahlung. Die Tönung der Haut ist durch Selektion unabhängig in mehreren Regionen der Erde gleichzeitig herausgebildet worden und gibt daher keine nähere Verwandtschaft zwischen den Populationen an. Obwohl selbst typologisch arbeitende Anthropologen heute die Pigmentierung der Haut daher für ein ganz ungeeignetes Merkmal zur Klassifizierung halten, beziehen sich die meisten Rassenklassifikationen nach wie vor auf Hautfarben. Das wissenschaftliche Bedürfnis nach eindeutiger Klassifikation vereinigt sich so seit Linné – und wider bessere Einsicht – mit einer sozialpsychologisch bedingten Hautfarbenlehre.
Rassenkunde erfordert klare alternative und exklusive Zuordnungen. Ein Mensch kann danach nur einer »Rasse« angehören. So ist der Rassenkundler nach Knußmann gezwungen, auch Übergänge zwischen den „Schwerpunkten“ gegen die angrenzenden Populationen als getrennte »Rassen« abzugrenzen (s. Kasten). Durch das „Muss“ zum Klassifizieren werden also aus „Abstufungen“ und „Übergängen“ definierte taxonomische Gruppen. Die Schärfe der Abgrenzung entspricht der der sozial konstruierten »Rassen« in jeder Hinsicht. Hier wie dort gibt es nur Schwarz oder Weiß. Soziale und taxonomische Gruppenabgrenzung treffen einander im selben Geiste. Die »Schwarzen« Amerikas heiraten nicht nur untereinander. Die Bevölkerungsstatistiken in den USA zählen dennoch weiterhin jeden Menschen als »schwarz«, der einen »Schwarzen« unter seinen Vorfahren hat. Rainer Knußmann (1996, 426) folgt ohne Bedenken dieser Bestimmung, wenn er die Afroamerikaner unumwunden mit der Rassenbezeichnung »Negride« belegt. Biologisch-genetisch ist eine solche Zuordnung absurd; sie wird aus gesellschaftlichen Gründen getroffen.
Die Rasseneinteilung ist in der Anthropologie während der gesamten Geschichte nicht allein und häufig nicht einmal in erster Linie an körperlichen Merkmalen orientiert, sondern vielmehr auf seelische und geistige Merkmale ausgerichtet (vgl. Herrmann 1983; Seidler 1992). Die Verbindung von Rasse und Seele bezeichnet der Humangenetiker Fritz Lenz als das eigentlich Wesentliche an der Rassenfrage und rechtfertigt in diesem Zusammenhang die Nürnberger Gesetze von 1935: »Wichtiger als die äußeren Merkmale ist die abstammungsmäßige Herkunft eines Menschen für seine Beurteilung. Ein blonder Jude ist auch ein Jude. Ja, es gibt Juden, die die meisten äußeren Merkmale der nordischen Rasse haben und die doch von jüdischer Wesensart sind. Die Gesetzgebung des nationalsozialistischen Staates definiert einen Juden daher mit Recht nicht nach äußeren Rassenmerkmalen, sondern nach der Abstammung« (Lenz 1941, 397). »Rasse« bestimmt danach – auch unabhängig von äußeren Merkmalen – die Wesensart der Menschen.
Um »Rassen« eine solche Funktion zuzutrauen, muss man ihre Existenz als »unbezweilfelbar« hinstellen (s. Zitat von Knußmann im Kasten) oder noch besser einfach als gegeben ansehen: »Voraussetzung für die Berechtigung solcher [rassenkundlicher] Arbeiten ist allerdings …, dass man die lebendige Wirklichkeit von Rasse und Rassentypus überhaupt sieht und anerkennt. Kurz gesagt: Es gibt Neger und Europäer, Nordische und Dinarier als lebendige und wirkende Erscheinungen. Gibt es sie aber, so muss der Forscher am Menschen auch nach Methoden suchen, sie in ihrem Wesen und Dasein, ihrer Entfaltung und all ihren Beziehungen und Wirkungen zu erfassen« (Schwidetzky 1943, 179). Rasse wird so als eine die Individuen überdauernde körperlich-seelische Ganzheit verstanden. Nach dieser Vorstellung ist ein Mensch aus verschiedenen Rassen zusammengesetzt, deren Anteile die Anthropologen Egon von Eickstedt und Ilse Schwidetzky wähnten, mit Hilfe von Rassenformeln prozentgenau bestimmen zu können (Schwidetzky 1943; vgl. dazu Lenz 1941; 1943). Die Rassentypologie macht die Gruppenzugehörigkeit zu einer individuellen Eigenschaft: Nicht die Individuen bestimmen die Eigenschaften einer »Rasse«, sondern die »Rasse« bestimmt die Eigenschaften der Individuen: Menschen werden zu Typen.
Im Nationalsozialismus wurde auf diese Weise »Rasse« zum Lebensgesetz für Individuen, Volk und Staat, dessen Herrschaft die deutschen Anthropologen (mit wenigen Ausnahmen) u. a. durch das Erstellen von Rassengutachten stützten (vgl. Seidler/ Rett 1982; 1988, 251 ff.; Kattmann/Seidler 1989, 10 ff.). Die Eickstedtschen Rassenformeln dienten bei Bevölkerungsuntersuchungen in den eroberten Ostgebieten dazu, um anhand der rassischen Qualität der Menschen zu entscheiden, ob diese einzudeutschen oder als Sklavenvölker zu halten seien (vgl. Holtz 1942). Die Vorstellung, dass »Rasse« die Seele des einzelnen, den Volkscharakter und die Kultur bestimmt, ist mit dem Nationalsozialismus nicht verschwunden. Es liegt vielmehr in der sozialpsychologischen »Natur« des Klassifizierens von Menschen, derartige Vorstellungen zu zeugen und auszutragen. Bei allem Hin- und Herwenden kultureller Einflüsse auf den Menschen sieht Knußmann (1996, 426) die Kultur primär rassebedingt: »Eine jede autochthone Kultur muss ursprünglich auf dem Boden dessen gewachsen sein, was die sie tragenden Menschen an speziellen Fähigkeiten und Neigungen besessen haben.« Mit aller Vorsicht folgt Knußmann hier leise den Spuren Gobineaus. Es sollte zu denken geben, was der Anatom und Bearbeiter des ersten Neandertaler-Fundes, Hermann Schaaffhausen, zu solchen Anschauungen »autochthoner« Kulturen ausführte: »Die glücklichen Völker, die nun einmal durch das Zusammentreffen der günstigsten Lebensbedingungen seit Jahrtausenden die Träger und Förderer der menschlichen Kultur geworden sind, nicht durch sich selbst allein, sondern durch jene von Geschlecht zu Geschlecht, von Volk zu Volk, von Welttheil zu Welttheil fortgepflanzte Erbschaft von Geistesschätzen, sie sind schon darum nicht berechtigt, die höchsten Güter der Welt für sich allein in Besitz zu nehmen, weil die Erfahrung gelehrt hat und die Zukunft es immer wieder lehren wird, dass die menschliche Kultur einen um so höheren Aufschwung nimmt, jemehr sie Gemeingut aller Völker der Erde wird. Wenn man [wie Gobineau] die Rassen als im Wesen verschiedene Menschenstämme ansieht, so zerfällt die ganze Geschichte in eine Reihe unzusammenhängender, nacheinander ablaufender Schauspiele« (Schaaffhausen 1885, 228, Hervorhebungen U.K., Rechtschreibung von 1885). Auch schon die ältesten uns bekannten Kulturen leben vom Austausch, nicht von der Abgrenzung. Letztere ist – wie die Formulierung der Kulturen als Pseudospezies – ein Teil der sozialpsychologischen Rassenklassifikation.
Rassenseelenkunde wurde in der 1. Auflage vom „Lexikon der Biologie“ (Herder Verlag) betrieben (vgl. aber jetzt die 2. Auflage: Kattmann 2002). Zunächst wird dort die Existenz von »Rassenketten« als Ergebnis der geographischen Differenzierung postuliert. Eine solche Annahme ist direkte Folge des Aufstellens von Rassetypen, mit der die kontinuierliche geographische Variation aufgeteilt wurde. Ohne diese Klassifikation wäre das Postulat überflüssig. Sodann werden Kulturen und Volkscharaktere auf eine Rassenkette zurückgeführt:
»Ein markantes Beispiel für Rassenketten ist die armenid-dinaride Rassenkette, die sich geographisch von zentralasiatischen Regionen bis nach Schottland und Irland verfolgen lässt. Ihren Populationen verdankt die Menschheit die wiederholte Ausbildung von Hochkulturen, etwa die der Hethiter, vielleicht auch der Sumerer. Temperament, Kreativität und Eigensinn der Kelten und ihrer heutigen Enkel, der Gallier, Schwaben und mancher Bayern, sind wohl dinarides Erbe« (Herder Lexikon der Biologie 1985, Bd. V, 402).
Ist der (anonyme) Autor naiv? Im Sinne der Problemstellung dieses Abschnitts ist diese Frage mit ja zu beantworten. Die Antwort trifft aber nicht allein für den Autor des Herderlexikons, sondern auf alle Rassenkundler zu. Rassenklassifikation folgt insgesamt Alltagstheorien über die Zusammengehörigkeit der Menschen. In der Geschichte der Rassenkunde ist es nicht gelungen, sich von diesen naiven Theorien zu lösen und statt dessen die tatsächliche Vielfalt der Menschen in den Blick zu nehmen. Im Konzept der Menschenrassen haben sich die wissenschaftlichen Bedürfnisse der Anthropologen zur Klassifikation mit den Alltagsbedürfnissen zur sozialen Gruppenabgrenzung vereint. So sind nicht allein die innerhalb rassistischer Ideologien konstruierten »Rassen« als sozialpsychologische Kategorien anzusehen, sondern auch diejenigen der anthropologischen Wissenschaft (s. Tabelle 1).
Humanbiologie jenseits von »Rasse«
Auch wenn »Rasse« kein wissenschaftliches Konzept ist, muss man sich mit ihm im alltäglichen und wissenschaftlichen Diskurs gleichwohl ernsthaft auseinandersetzen. Die Vorstellung, dass es menschliche »Rassen« gebe, ist im Alltagsdenken der Menschen stets anzutreffen und aufgrund sozial- und lernpsychologischer Ursachen mit wissenschaftlichen Argumenten nicht zu einfach abzulösen.
Auch von biologischer Seite wird der Kritik am Menschenrassen-Konzept oft Unverständnis und Widerstand entgegengebracht, da man bei Aufgabe des Rassenbegriffs allgemeinbiologische Prinzipien verletzt sieht:
- Rassenklassifikation sei ein in der ganzen Biologie übliches Verfahren (s. Knußmann, Zitat im Kasten).
- Der Mensch habe biologisch keine Sonderstellung und sei daher wie alle anderen Tierarten zu behandeln.
- Das Rassenkonzept sei zum Verständnis der Evolution notwendig (s. Chopra, Zitat im Kasten).
Die Einwände unterstellen meist, dass die Ablehnung des Menschenrassen-Konzepts nicht durch naturwissenschaftliche, sondern durch ideologische Gründe motiviert ist. Demgegenüber wird gemeint, mit dem Rassenkonzept das Panier der Biologie als unvoreingenommener Wissenschaft hochzuhalten. Der Autor gesteht, dass er selbst lange Zeit ebenso gedacht hat und es für hinreichend hielt, das typologische Rassenkonzept durch ein populationsgenetisches zu ersetzen (vgl. Kattmann 1973). Die genaue Analyse zeigt jedoch, dass keines der Argumente, am Menschenrassen-Konzept festzuhalten, biologisch stichhaltig ist.
Zunächst ist festzustellen, dass der Terminus »Rasse« in der Zoologie weitestgehend obsolet ist und ausgiebig nur von Anthropologen und Haustierkundlern verwendet wird. In der Klassischen Genetik wird er noch in einigen Schulbüchern benutzt, um die reinen Linien der Mendelschen Erbgänge zu charakterisieren. Er ist in diesem Zusammenhang missleitend und gänzlich überflüssig.
Der einzige Objektbereich, in dem »Rasse« als Fachwort angewendet wird, sind die Zuchtformen der Haustiere. Bei diesen liegen tatsächlich »zoologische Formengruppen« vor, die typologisch nach »Rassekriterien« zu beschreiben sind. Die Haustierrassen sind jedoch durch gezielte Auslese und Isolation vom Menschen auf jeweils einen Typ hin enggezüchtet worden. Insofern wurden hier vom Menschen selbst »Typen« erst geschaffen, wie sie Rassenkundler beim Menschen als Naturzüchtung zu erkennen glauben.
Natürliche Populationen sind jedoch genetisch vielfältig und keineswegs mit Haustierrassen vergleichbar. Geographisch deutlich differenzierte Populationen werden zoologisch als Unterarten (Subspezies) bezeichnet. Die Unterteilung von Arten in Unterarten oder noch feineren Kategorien ist dabei keineswegs ein verpflichtendes biologisches Prinzip. Die zoologische Klassifikation ist nur auf dem Artniveau zwingend: Jeder sich zweielterlich fortpflanzende Organismus gehört notwendig einer Biologischen Art an, die als Fortpflanzungsgemeinschaft definiert ist. Unterhalb des Artniveaus ist die Unterteilung dagegen eine Frage der Zweckmäßigkeit: Es gibt Arten, die (aufgrund fehlender oder nicht erfasster geographischer Differenzierung) nicht weiter untergliedert werden, und solche, bei denen die Gliederung in Unterarten Schwierigkeiten macht und entsprechende Versuche daher in der Zoologie umstritten sind. Vielfach stellt sich die geographische Differenzierung auch bei Tieren komplexer dar, als es die Einteilung nach auffälligen Merkmalen erscheinen lässt (vgl. Senglaub 1982). Keine biologische Gesetzmäßigkeit verpflichtet also Biologen dazu, Arten in Unterarten einzuteilen.
Beim Menschen ist die Vielfalt innerhalb und zwischen den Populationen so komplex, dass es unzweckmäßig ist, diese Art zoologisch weiter zu untergliedern (vgl. Gould 1984). Dieser Befund gilt nicht exklusiv für den Menschen, sondern auch für manche andere Tierart. Für die Untergliederung einer Biologischen Art ist jedoch allein wichtig, dass deren geographische Differenzierung damit angemessen beschrieben wird. Das eben ist mit dem Rassenkonzept beim Menschen nicht möglich. Das Verwerfen des Menschenrassen-Konzepts hat also mit dem Postulat einer Sonderstellung des Menschen nichts zu tun, das vom Autor vielmehr aus biologischen Gründen entschieden abgelehnt wird (vgl. Kattmann 1974). Das Rassenkonzept ist einfach untauglich, die genetische Verschiedenheit der Menschen in ihrer individuellen und geographischen Vielfalt angemessen zu erfassen.
Wie die Grundsätze der Klassifizierung werden auch Prinzipien der Evolution durch das Verwerfen des Menschenrassen-Konzepts nicht verletzt, sondern differenziert. Nicht nur bezogen auf den Menschen ist die Vorstellung zu revidieren, Populationsdifferenzierungen entstünden allein durch Selektion in geographisch isolierten Züchtungsräumen. Die molekulargenetische Rekonstruktion der Geschichte menschlicher Populationen (vgl. Cavalli-Sforza 1992) erklärt die genetische Differenzierung hauptsächlich aus Wanderschüben und Alleldrift (Gendrift) sowie Allelfluss (Genfluss) zwischen Populationen, ohne dass ein längerer Aufenthalt in isolierten Räumen angenommen werden muss. Schon deshalb ist die wanderaktive Art Mensch nicht in geographische Unterarten differenziert. Alle heutigen Menschen sind einmal aus Afrika ausgewandert. So, wie die nach Amerika ausgewanderten Europäer dort nicht zu einer neuen »Rasse« wurden, so wenig gilt dies auch für unsere wandernden Vorfahren. Ob es uns gefällt oder nicht: Im Grunde genommen sind wir alle Afrikaner.
Der Abschied vom anthropologischen Rassenbegriff ist Teil eines wissenschaftsethisch notwendigen Konzeptwandels (vgl. Kattmann 1992, S. 134 f.). Mit ihm wird erkannt, dass die Evolution des Menschen und die Populationsgeschichte komplexer sind, als es schematische Vorstellungen von Rassen- und Artbildung vorzuschreiben scheinen.
Für eine Humanbiologie jenseits von Rasse ergeben sich folgende Schlussfolgerungen und Aufgaben:
- »Rasse« ist kein biologisch begründbares Konzept. Die systematisch schwer fassbare genetische Verschiedenheit der Menschen legt nahe, die Bemühungen um Klassifikationen unserer Spezies beiseitezulegen und das Konzept der Rasse durch die Beschreibung und Analyse der Vielfalt der Menschen selbst zu ersetzen (vgl. Lewontin 1986). Die Menschheit besteht nicht aus drei, fünf, sieben, 35 oder 300 »Rassen«, sondern aus annähernd 6 Milliarden Menschen. Nicht Typenbildung und Klassifikation von Typen sind wissenschaftlich gefragt, sondern das Verstehen von Vielfalt und Individualität.
- Mit dem Abschied vom Menschenrassen-Konzept ist Rassismus nicht erledigt. Eine solche Annahme wäre naiv und gefährlich, da sie menschenverachtende rassistische Anschauungen bagatellisieren würde. Rassistische Überzeugungen sind jedoch von der biotischen Existenz von Rassen nicht abhängig, sondern erzeugen sich ihre Rassen selber. Nicht »Rassen« sind hier das Problem, sondern der Glaube an deren Existenz und die damit verbundenen Wertungen und Wirkungen.
- Wer weiterhin naturwissenschaftlich von Rassen des Menschen sprechen will, muss erklären, in welchem Sinne dies sachgemäß und auch im Lichte der geschichtlichen Wirkungen des Konzeptes gerechtfertigt sein könnte. Hinter dieser Forderung lauert kein Denkverbot, sondern das Gebot, Denkgewohnheiten zu hinterfragen und Konzepte auch hinsichtlich ihrer ethischen Implikationen zu reflektieren. Wissenschaftler sind nicht nur verantwortlich für das Handeln, sondern auch für das Denken, das sie nahelegen oder anstiften (vgl. Frey 1992).
Autor: Prof. Dr. Ulrich Kattmann. Adresse: Prof. Dr. Ulrich Kattmann, Instiut für Biologie, Geo- und Umweltwissenschaften, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, D-26111 Oldenburg
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Anmerkungen
[1] Überarbeitete Fassung des im Rahmen der Ringvorlesung »Humanbiologie auf dem Prüfstand der Sozial- und Kulturwissenschaften« am 10. 7. 1997 gehaltenen Vortrages. Veröffentlicht in Kaupen-Haas/Saller (1999). Die vorliegende Fassung wurde um Literaturhinweise ergänzt.