Sechs Thesen (vorgetragen mit der Bitte um Kritik und Diskussion)
Es schmerzt, in shoa.de die Kategorie „Widerstand“ zu öffnen und dort nicht mehr als den Hinweis zu finden, daß eben diese Kategorie „keine Einträge“ enthalte.
Es verblüfft, daß niemand aus dem großen Umkreis von shoa.de – Moderatoren, Autoren, Besucher – bislang auf die Idee kam, die Leere der Kategorie „Widerstand“ wenigstens dadurch partiell zu beheben, daß man einen Hinweis der naheliegenden Art einfügt. Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel, zu der shoa.de ein sehr kollegiales Kooperationsverhältnis unterhält, startete 1963 das weltweite Projekt, alle „non-Jews who risked their lives to safe Jews during the Holocaust“ mit dem Titel „Righteous Among the Nations“ zu ehren.
Widerstand und Widerständler
Aus langjähriger Mitgliedschaft in der Internationalen Janusz-Korczak-Gesellschaft weiß ich, wie streng die Kategorien von Yad Vashem sind, bis jemand diesen Ehrentitel bekommt und einen Baum in der „Avenue of the Righteous Among the Nations“ pflanzen darf.
Eben darum ist beeindruckend zu sehen, daß es am 1. Januar 2004 insgesamt 20.205 Titelträger gab. Ein genauerer Blick auf die nach Ländern geordnete Liste zeigt, mit welchen Problemen es Yad Vashem zu tun hat, weil dieses mit zwei Eingrenzungen operiert: Nur Individuen werden dekoriert, allein für die Rettung von Juden. Für Dänemark werden da 19, für Bulgarien 16 „Righteous“ aufgeführt. Dänemark und Bulgarien waren die einzigen Länder, die im Zweiten Weltkrieg (fast) alle ihre Juden vor dem deutschen Zugriff retteten. In Dänemark war das eine relativ einfache Sache, denn man musste „nur“ knapp 5.000 Juden mit Booten und Kähnen ins nahe und rettende Schweden bringen.
Erleichtert wurde die dänische Rettungsaktion auch dadurch, daß der deutsche Diplomat Georg Ferdinand Duckwitz (1904-1974, Bild) sie aktiv unterstützte. Duckwitz ist ein „Righteous Among the Nations“, aber ganz Dänemark weist nur 19 davon auf. Die Dänen fordern, daß alle Angehörigen des dänischen Widerstands als „Righteous“ anerkannt werden. Yad Vashem hat diese Forderung zur Kenntnis genommen, ihr (bislang) aber nicht entsprochen. Man will also die Vergabe dieses Titels aufgrund individueller Verdienste, die beweisbar und nachprüfbar sein müssen, beibehalten und schließt kollektive Ehrungen für Rettungstaten, an denen Tausende beteiligt waren, aus. Das ist streng, aber auch verständlich (wiewohl nicht auf den ersten Blick). Politologen, Historiker und andere sind sich einig, daß Widerstand immer beim Individuum beginnt, beim Gewissen und Anstand des Einzelmenschen. Dieser individuelle Anstoß kann sich natürlich mit anderen seiner Art verbinden und addieren, so daß am Ende doch der Eindruck eines kollektiven Widerstands entsteht. Aber primär bleibt die individuelle Entscheidung, bis hierher und nicht weiter zu gehen, fortan zu widerstehen oder seinen Unmut noch massiver auszudrücken. Das mag einmal schwerer oder leichter gewesen sein, in jedem Fall aber war es am schwersten, wenn es um das Schicksal von Juden ging, denn hier handelte jeder Helfer oder Retter in einer Extremsituation, die höchste Anforderungen an sein Gewissen stellte und höchste Gefahren für Freiheit und Leben barg. Einen solchen als „Righteous Among the Nations“ zu ehren, ist für den Betreffenden angemessen – wie auch das Unverständnis der Dänen einleuchtet, die die damalige Rettung gern als nationale Heldentat gewürdigt sähen.
Noch augenfälliger wird dieser Konflikt zwischen beweisbarer Individualität und kollektiver Anonymität mit Blick auf Bulgarien, denn hier wurde ein jahrelanger, offen und versteckt geführter Kampf ausgetragen, an welchem vom König bis zu Kommunisten das ganze Volk teilnahm, bis am Ende feststand: Von den 55.000 bulgarischen Juden war kein einziger deportiert oder ermordet worden.[1] Mehr noch: Die herausragende Rolle, die der Metropolit Kiril (1901-1971, Bild), der 1953 Patriarch wurde, dabei spielte, sicherte der Bulgarisch-Orthodoxen Kirche zu Zeiten des kommunistischen Atheismus einen gewissen Freiraum. Diese nationale Rettungstat der Bulgaren ist in Israel bestens bekannt und diese Kenntnis machte die Israel-Reise des Patriarchen Kiril 1962 zu einem wahren Triumphzug.[2] Dennoch zählt Bulgarien nur 16 „Righteous“.
Bulgarien hatte im Zweiten Weltkrieg große Teile der heutigen Republik Makedonien okkupiert, musste dort aber weitreichende Beschränkungen von Seiten der Deutschen hinnehmen. Am wenigsten hatten die Bulgaren in der Behandlung der makedonischen Juden zu bestimmen, weswegen 7.320 deportiert wurden, was nur 168 überlebten. Hinzu kamen noch die makedonischen Juden, die in die „italienische Besatzungszone“ – West-Makedonien, Kosovo, Montenegro, Albanien – flohen, wo es keine Judenverfolgung gab und wo nach Italiens Kapitulation (8. September 1943) die deutsche Judenverfolgung nicht mehr in der alten Grausamkeit wirken konnte.[3]
Vor zwanzig Jahren erregte Claude Lanzmanns Film „Shoa“ in Polen einigen Widerspruch, denn in ihm war den Polen recht unverblümt Antisemitismus vorgeworfen worden. Wären die Polen wirklich so antisemitisch gewesen, dann hätten die Juden in der Bevölkerung Vorkriegs-Polens nicht über zehn Prozent ausgemacht. Und wie sie sich im Krieg verhielten, verrät die Yad Vashem-Liste: Mit 5.800 „Righteous“ liegt Polen weit an der Spitze, gefolgt von den Niederlanden mit 4.586.
Widerstand und nationale Verteidigung
Ich habe diese Einzelfakten angeführt, um damit meine erste These zu illustrieren: Yad Vashem hat mit seinem Projekt „Righteous Among the Nations“ gewissermaßen den kartesianischen Punkt in der weiten Widerstandsproblematik gesucht und gefunden: Widerstand gegen den deutschen Nationalsozialismus leisteten am nachhaltigsten diejenigen, die auch nur einen Juden vor dem erklärten und exekutierten Vernichtungswillen der Nationalsozialisten retteten. Dieser Widerstand kann wegen der Individualität der Tat nachvollzogen, geprüft und bewiesen werden. Alle anderen Formen von Widerstand bedürfen der theoretischen Begründung, situativen Analyse, motivationalen Befragung und faktographischen Deskription.
Widerstand ist ein ungemein komplexes Phänomen, dessen Aufgliederung durch ein Paradoxon sui generis erschwert wird[4]: Er ist im Grunde die Option und Aktion eines „Zuspätkommens“ – nötig geworden, weil man es zuvor unterließ, versäumte oder vergaß, desaströsen Entwicklungen zur rechten Zeit zu widerstehen: „Es geht beim Widerstand (…) stets um die Frage nach dem Zeitpunkt des Widerstehens. (…) Jede Rechtfertigung des Widerstands muß sich dem Problem stellen, Schwellen zu bestimmen, die Widerstehen rechtfertigen, Kosten zu erfassen, die aus dem Widerstehen folgen, nicht zuletzt aber auch Ziele zu benennen, die Widerstehen als zukunftsorientiertes Handeln legitimieren“.[5]
Diese Charakterisierung schließt manche Formen von Widerstand augenblicklich aus der engeren Diskussion um das Phänomen insgesamt aus. Das betrifft vor allem die Abwehrhandlungen, die ein Staat als politischer Geschäftsträger eines Gemeinwesens zur Verteidigung unternehmen muß, wenn er von einem anderen Staat angegriffen wird. In einem Verteidigungskrieg bestehen weder Zeit noch Notwendigkeit, über die Legitimierung und Zukunftsorientierung des eigenen Widerstands nachzudenken. Im Gegenteil: Jeder Krieg ist ein so destruktiver Eingriff in gesellschaftliche Normen, Strukturen, Ressourcen etc., daß solche und viele andere Probleme leichten Herzens auf die „Nachkriegszeit“ vertagt werden.
Die Details stehen bereits bei Clausewitz: „(…) drei Viertel derjenigen Dinge, worauf das Handeln im Krieg gebaut wird, liegen im Nebel einer mehr oder weniger großen Ungewissheit“. In diesem Chaos ist allein der „reine Widerstand“ in einer relativ überschaubaren Position, denn er verfolgt keine „positive Absicht“, sondern sieht allein darauf, dem Feind mit möglichst geringen Mitteln möglichst große Schäden beizubringen und ihn durch zeitlich unbegrenzte Ausdauer zu zermürben. Natürlich bleiben Krieg und Widerstand der Politik untergeordnet, denn sie hat beide hervorgebracht, aber in der ständig wechselnden Realität des Kriegsgeschehens kümmert sich die Politik „wenig um die unendlichen Möglichkeiten und hält sich nur an die nächsten Wahrscheinlichkeiten“. Dabei ist der Widerstand erneut in besserer Lage, denn er kann glaubwürdiger vorbringen, Sachwalter und Ausgleicher von Interessen eines Gemeinwesens zu sein, das im Moment in höchster Gefahr ist.[6]
Das jüngste Beispiel für die überzeitliche Gültigkeit von Clausewitz’ Befunden ist Titos Partisanenkrieg.[7] Er war nicht nur ein Widerstand, der am Ende Jugoslawien befähigte, sich als einziges Land Europas allein und aus eigener Kraft zu befreien. Der Krieg war darüber hinaus auch die Geschichte eines mentalen Wandels vom Putsch einiger stalinistischer Dogmatiker zum patriotischen Volkskrieg, der die völlige Lösung der jugoslawischen „Kommunisten“ von Stalin, dem „Ostblock“ und der Ideologie einschloß. 400.000 schlecht ausgebildete, schlecht bewaffnete und schlecht versorgte Partisanen (Stand Anfang September 1944) „banden“ mehr als die doppelte Anzahl deutscher, italienischer etc. Elitetruppen. Das geschah ohne die geringste Hilfe von West oder Ost[8], weswegen es Tito niemals Auswärtigen gestattete, in die jugoslawische Politik hineinzureden.[9] Daß diese Politik signifikant spät konzipiert wurde, nämlich erst im November 1943, und sich letztlich als fataler Fehler erwies, der zum Bürgerkrieg in den 1990-er Jahren führte, steht auf einem anderen Blatt.
Hier geht es vorrangig um den militärischen Widerstand im Verteidigungsfall, der aus dem theoretischen Rahmen für Widerstand generell zum größten Teil herausfällt. Das tut auch der individuelle Widerstand, wie ihn etwa die „Righteous Among the Nations“ gezeigt haben. Dieser Widerstand dachte nicht an Zeit, Umstände, Zukunft etc., denn er war ein Akt individueller Auflehnung, zivilen Ungehorsams, persönlicher Selbstbehauptung, die nur aufrechterhalten werden konnte, wenn jemand den eigenen Anstand dadurch wahrte, daß er dem bedrohten Nächsten dieselben Rechte wie sich selber zugestand und ihn in dem Moment rettete, als ihm diese Rechte mit finaler Ausschließlichkeit genommen wurden.[10]
Die „Pluralität des Widerstands“
Daraus folgt meine zweite These[11]: Die Nachkriegszeit hat die Legitimität des Widerstands wiederentdeckt und zugleich zerredet. Es gilt, „die Pluralität des Widerstandes zu erkennen und Widerstand für die Traditionsbildung einer pluralistischen Gesellschaft fruchtbar zu machen. (…) Das Erinnern an den Widerstand eignet sich (…) die Gefährdung und Selbstgefährdung des Menschen zu erkennen. Diese Erkenntnis führt zur Entwicklung von Maßstäben, die das Widerstehen zur rechten Zeit ermöglichen“.
Die Pluralität des Widerstands ist so unendlich wie die Fülle der politischen Umstände, systemaren „Zumutungen“ und widerrechtlichen Zwänge, die – in dieser Reihenfolge! – individuelle oder kollektive Nicht-mit-mir-(mit-uns-)Reaktionen auslösen. Widerstand ist Ungehorsam, der im Maße ethischer Differenz zum abgelehnten System zunimmt. Sein Ausgangspunkt ist immer der Einzelmensch in seiner Selbstbehauptung, Auflehnung und Zivilcourage, der vielleicht oder sicher Gleichgesinnte findet, dabei aber immer mehr als eine kollektive Interessenvertretung bleibt.
„Widerstand schärft sich am Unrechtsregime, am totalitären Anspruch und Zugriff“[12], er ist folglich immer sekundär, immer reaktiv, immer auf etwas bezogen, das sich verändert und verschlimmert. Aus dieser gewissermaßen zeitlich-evolutionären Dimension des Widerstands generell scheidet in historischer Retrospektive ein osteuropäischer Widerstand aus, der aus der ethnischen Differenz zu Fremdherrschaften erwuchs und allein durch die konturenlose Position des eigenen Ethnikums inmitten eines fremdbestimmten Herrschaftssystems hinreichend legitimiert erschien. Dieser Widerstand reichte von den altbalkanischen Hajduken und ihren Kämpfen gegen die Osmanen bis zu Jaroslav Hašeks unsterblichem „braven Soldaten Švejk“, der die ganze Hohlheit des Habsburger Staates dadurch enthüllte, daß er jeden Befehl mit blauäugigster Dusseligkeit hundertfünfzigprozentig erfüllte. Ein bisschen Hajdukentum oder Švejktum steckt in allen Osteuropäern, die ja über Jahrhunderte hinweg unfrei in großen Imperien – Osmanisches, Habsburgisches, Russisches – lebten und in diesen nur dank einer spezifischen Pfiffigkeit und Sperrigkeit überleben konnten.[13] Die Unfreiheit der Osteuropäer bewirkte wiederum, das sich bei ihnen nicht oder nur ungenügend das historisch gewachsene Verständnis von Widerstand herausbilden konnte, das in Westeuropa die Einstellungen prägte. Diese Einstellung ist wie folgt zu umreißen[14]:
- Widerstehen ist die Voraussetzung von Widerstandsmöglichkeiten, „aber auch eine Möglichkeit zu verhindern, daß Widerstand überhaupt nötig wird“.
- Staatliche Autorität ist Menschensache, daher mehr oder minder unvollkommen, aber sie kann ihren ureigensten Zwecken entfremdet werden, und dann muß man ihr rechtzeitig und angemessen widerstehen.
- Rechtzeitigkeit bedeutet, Zeitpunkte und Grenzen zu erkennen, bei welchen „eine angemessene, richtige und «gute» Herrschaft umschlägt in eine verabscheuungswürdige Tyrannei“.
- Die Entscheidung zum Widerstand fällt um so leichter, je deutlicher die Herrschaft entartet. Erheblich schwieriger ist es, die Anfänge der Entartung zu erkennen und bereits ihnen zu widerstehen.
- Nicht jeder Herrschaft muß widerstanden werden, denn jeder Mensch steht mit seinen Individualrechten in Verpflichtungen, die Familie, Gemeinwesen etc. setzen und die mit seinen Rechten in Konflikt kommen können. Hier ist Einsicht in Notwendigkeiten gefordert, die in Demokratien ganz normal ist, da in diesen das Gemeinwesen „Herrschaft ausübt und zugleich diese Herrschaft bei den ihr unterworfenen Bürgern lässt“.
- Maßstab des Widerstehens ist das eigene Gewissen, das auch die Herrscher prüfen kann und soll, inwieweit ihre Haltung und Taten dem Gemeinwohl dienlich sind.
- In historischer Rückschau steht dem Widerstand die christliche Verpflichtung zum leidenden Gehorsam entgegen, die bis zum Märtyrertum gehen kann, dennoch nicht unbegrenzt ist: Wenn die Anomie (Gesetzlosigkeit) eintritt, wenn sich also ein gesetzloser Tyrann zum alleinigen Gesetz aller sozialen Dinge macht, dann entsteht ein Recht auf Widerstand.
- Diese Einstellung hat sich in der „Volkssouveränität“ seit dem 13. Jahrhundert ausgedrückt: Der Herrscher wird vom Volk gewählt, es besteht ein Treueverhältnis zwischen Herrscher und Volk, das dieser nicht verletzen darf: Wer das Recht bricht, kann nicht oberster Hüter des Rechts sein und muß Widerstand gewärtigen.
- Im 16./ 17. Jahrhundert kam diese Auffassung in die Krise, da die Ansicht aufkam, daß der absolute Herrscher über dem Gesetz stehe, denn „der Quell des Gesetzes könne niemals dem Gesetz unterworfen sein“.
- Demgegenüber bestand die alte Auffassung, „daß die oberste Gewalt auch weiterhin dem Volk gehöre und daß diese, nur diese Gewalt unveräußerlich und absolut sei. Das Volk hatte sich im Gesellschaftsvertrag konstituiert und den König mit der Verwaltung beauftragt; der König blieb allerdings Beamter, der im Fall untreuer Amtsführung abgesetzt werden kann“.
- Widerstand ist also legitim, wenn die Herrschenden den Gesellschaftsvertrag brechen. In diesem Fall fällt alle Macht an das Volk zurück.
- Widerstand ist das Ergebnis eines Rechtsdenkens, das Resultat geschichtlicher Erfahrungen und der Ausweg aus Situationen, die geändert werden müssen, auf friedliche Weise aber nicht mehr zu ändern sind, und für deren gewaltsame Änderung man jedes Recht in Anspruch nehmen kann. Hinzu kommt seine gewissermaßen kausale Dimension:[15]
„Widerstand kann nicht definiert werden ohne das politische System als seinen Widerpart: Widerstand gibt es nicht in einem Rechtsstaat, der materiell an jene Werte gebunden ist, deren Missachtung ihn im historischen Ernstfall herausgefordert hat. Widerstand auf solch ethischem Fundament kann es nur in politischen Systemen geben, die diese Werte vorenthalten. In der Moderne sind das in aller Regel Systeme mit totalitären Tendenzen, gestützt auf Partei- und Kommunikationsmonopole. Solche Systeme fordern Widerstand heraus – oder definieren aus ihrem umfassenden Herrschaftsanspruch jeden Akt des Widerspruchs und des Sich-Entziehens zum Widerstand“.
Was heißt das mit Bezug auf Formen und Typen des Widerstands? Der deutsche Politologe Richard Löwenthal hat einmal ein Modell entwickelt, das indessen nicht unwidersprochen blieb.[16] Als erste Form nannte er Politische Opposition, die er als Untergrabung eines Systems verstand, dabei das landläufige Verständnis von Opposition als parlamentarische Kontrollinstanz hintanstellend. Als zweite Form sprach Löwenthal von Gesellschaftlicher Verweigerung, die unter natürlichen Umständen auch ein Rückzug von sozialer Durchformierung zur eigenen Identitätswahrung sein kann. Und als dritte Form tauchte die Weltanschauliche Dissidenz auf, die allerdings in Regimen mit einer ideologischen Deutungsmacht relevant werden kann.
Es hängt also von der jeweiligen Herrschaft und ihrer umfassenden Ansprüche ab, ob eine bestimmte Verhaltensweise schon Widerstand oder noch Nonkonformismus ist. Der krasseste Fall eines umfassenden Herrschaftsanspruchs und von Verletzung kollektiver Grundrechte und individueller Menschenrechte war (in Deutschland) das NS-Regime, das an die Macht kam, weil die Weimarer Republik „keine angemessenen Vorstellungen von Widerstand entwickelt hat und deshalb den Feinden der republikanischen Ordnung von rechts unterliegt“. Von diesem Regime ließen sich zu viele Deutsche „willig gleichschalten“, ihre „breite Anpassungs- und Folgebereitschaft“ war so ausgeprägt, daß das fehlgeschlagene Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 zu einem Popularitätsschub für Hitler führte.
Dem NS-Regime zu widerstehen, hätte erfordert, sich bereits den von ihm geprägten und den Menschen propagandistisch eingehämmerten Feindbildern – „November-Verbrecher“, „westliche Plutokraten“, „jüdischer Bolschewismus“, „slavische Untermenschen“ etc. – zu widersetzen. Wo dies unterblieb, schwand der Wille zum Widerstand und begann die Verstrickung ins Regime.[17] Man hielt sich an alte oder neue Sprachkonventionen und Metaphern und entdeckte von daher Gemeinsamkeiten mit den Nationalsozialisten. Man projizierte eigene Existenznöte auf die quasi-revolutionäre NS-Rhetorik („Brechung der Zinsknechtschaft“) und erhoffte sich von Hitler eine Besserung der eigenen Lage. Industrie, Reichswehr etc. gingen „strategische Bündnisse“ mit den Nationalsozialisten ein, aus denen sie später nicht mehr herauskamen. Natürlich galt das nicht für alle, vielmehr haben viele den Weg aus der Verstrickung über die Distanz zum Widerstand gefunden. Aber es waren doch nur relativ wenige, und ihre Möglichkeiten zu Kontakt, Kommunikation und Kooperation verminderten sich mit jedem Jahr. Es gab in Deutschland Widerstandsaktionen von Individuen und Gruppen gegen das NS-Regime, aber es gab keinen „deutschen Widerstand“.
Nationalsozialismus und Faschismus
Meine dritte These lautet: Wie jede Ideologie bemühte sich der deutsche Nationalsozialismus, den Menschen „auseinander zu nehmen“ und ihn nach eigenen Vorstellungen wieder „zusammen zu bauen“. Hinzu kamen seine rassistische Auffassung vom Menschen („Arier“ versus „Untermenschen“) und seine totalitäre Regierungsform und Herrschaftstechnik. Diese drei Eigenheiten machten ihn weitaus gefährlicher als etwa den italienischen „Faschismus“, mit dem er terminologisch („Antifaschismus“) oft gleichgestellt wird. Der Nationalsozialismus wollte nichts weniger als den ganzen Menschen: körperlich „gestählt“, „weltanschaulich durchdrungen“ und dem Führer „hingegeben“. Diesem Totalitätsanspruch zu widerstehen, war außerordentlich schwer, denn schon der Versuch dazu konnte schlimme Repressalien bewirken. Allerdings wurden die Versuche nicht sonderlich häufig unternommen, denn die „Gefolgschaftstreue“ der Deutschen zum Regime blieb praktisch bis zum letzten Tag bestehen.
Ich habe meinen Studenten sehr nachdrücklich geraten, den Begriff „Faschismus“ nur dann zu verwenden, wenn sie das italienische Regime des Benito Mussolini (1883-1945, Bild rechts neben Hitler) im Auge haben. Als Begründung füge ich hinzu, daß, wenn es in Deutschland „nur“ Faschismus gegeben hätte, etwa sechs Millionen Juden noch am Leben wären. Hitler war bis zu seinen letzten Lebenstagen davon überzeugt, wenigstens eine Tat vollbracht zu haben, die ihn für alle Zeiten überdauern werde: „Das deutsche Volk von der Wichtigkeit des Rassengedankens“ vollauf überzeugt zu haben. Richtig daran ist, daß das Insistieren auf der „Rasse“ eine Eigenart des deutschen NS-Regimes war, die in dieser Form von keinem seiner vielen Pendants verstanden oder nachgemacht wurde. Am wenigsten waren hierbei die Italiener mit von der Partie, wie vom NS-Regime in bemerkenswerter Deutlichkeit eingeräumt wurde:[18]
„Der F(aschismus) ist ebenso wie der Nationalsozialismus in Deutschland eine nationale Bewegung (…) Im Mittelpunkte der faschistischen Gedankenwelt steht die Gemeinschaft, die im Staate verkörpert ist. Die Lehre vom »totalen Staat« unterscheidet den F. vom Nationalsozialismus, der in dem von seiner »totalen Weltanschauung« durchdrungenen Volk den Mittelpunkt seiner Gedankenwelt sieht. Die rassische Untermauerung des Volksbegriffes fehlt dem F. Daher kennt er im Gegensatz zum Nationalsozialismus keinen Antisemitismus“.
Waren die Deutschen „total“ von der NS-Weltanschauung „durchdrungen“? Nein! Es gab keine in sich geschlossene „Weltanschauung“, sondern nur eine sozusagen „nostalgische Utopie“, die zur Ideologie erweitert worden war: In „germanischen“ Urzeiten war alles besser, weil die „alten Germanen“ noch auf die Reinheit der Rasse geachtet haben. In Hitlers Deutschland wird alles wieder gut werden, wenn Land und Gesellschaft von „schädlichen Elementen“ und „fremdem Blut“ befreit sein würden. Gleichlaufend mit dieser „Säuberung“ müsse Deutschland ökonomisch stark und militärisch gerüstet sein, um seine „Feinde“ schlagen, „Lebensraum im Osten“ gewinnen und die Vorherrschaft in Europa, ja in der Welt erringen zu können. Um diese Ziele zu erreichen, könne sich Deutschland weder Demokratie noch Rechtsstaatlichkeit leisten, vielmehr müsse es ein militärisch organisierter „Führerstaat“ werden.[19] Daß dieser Staat modern, innovativ und auf technologischem Höchstniveau sein werde, verstand sich von selber – schließlich hatten „nordische“, zumeist deutsche Techniker und Ingenieure nahezu alles entwickelt, was moderne Industrien und Armeen erst möglich machte.[20]
Diesem Konzept konnte wohl nur der widerstehen, der dessen letztendliche Konsequenz erkannte: Holocaust und Vernichtungskrieg. Das aber vermochten nur wenige, während das Gros der Verführungskraft des NS-Regimes als „Modernisierer wieder Willen“ erlagen und sich in den Dienst einer „antimodernen Weltanschauung, die mit modernen Mitteln durchgesetzt werden sollte“, begaben.[21] Davon konnten sie auch die eugenischen und rassistischen Konzeptionen des Nationalsozialismus nicht abhalten, den diese versprachen ja ein „erbgesundes“ Volk, das immer neue Genies hervorbringen würde, und ein von „slavischen Untermenschen“ weithin gesäubertes Osteuropa („Generalplan Ost“), das als unerschöpflicher Quell von Rohstoffen und Arbeitssklaven bereitstehen würde.[22]
Das war die „NS-Weltanschauung“, die alle Menschen so „total“ durchdringen sollte, daß führende Nationalsozialisten in diesem Anspruch eine Gemeinsamkeit mit dem Christentum, das ja auch den ganzen Menschen fordert, sahen. Aber dieser Vergleich war nur ein Taschenspielertrick des Regimes:[23]
„Denn das eine Mal stammt dieser Anspruch (…) nicht aus dieser Welt, herrscht nicht in ihr und unterwirft sie sich nicht, sondern bleibt ein freiheitliches, ethisch fundiertes Angebot ohne weltliche Macht; das andere Mal ist er radikal weltimmanent, ohne jegliche Bindung an vorstaatliche ethische Prinzipien, über die er sich autonom hinwegsetzt – eine willkürliche Ideologie, die ihren exklusiven Herrschaftsanspruch mit allen staatlichen Machtmitteln jedermann verbindlich aufzuzwingen sucht. Folglich reicht der Anspruch des Nationalsozialismus erheblich weiter. Insofern vertrug er nicht nur keine weltanschauliche Konkurrenz. Er führte vielmehr geradewegs zu der bekannten, um seiner selbst willen menschenverachtenden und menschenvernichtenden Staatspraxis, zur Perversion der Staatsgewalt in Gewalt- und Willkürherrschaft“.
Verstrickung, Distanzierung, Widerstand
Mit Blick auf diese freiwillige „Botmäßigkeit“ folgt meine vierte These: Wenn wir die Triade Verstrickung – Distanzierung – Widerstand akzeptieren (und etwas anderes bleibt uns nicht übrig, wenn wir nicht alle Deutschen als „Hitlers willige Vollstrecker“ ansehen wollen), dann müssen wir das Mittelstück, die Distanzierung, genauer betrachten, da die Verstrickung viele erfasste, der Widerstand nur von Individuen oder kleinen Gruppen geleistet wurde, die Distanzierung aber ein langsamer Prozeß war, der immer neue Formen annahm und immer mehr Menschen einschloß, wobei in dieser Vielfalt der Formen und Akteure der gemeinsame Nenner war, daß diese Distanzierung „Sand im Getriebe“ des NS-Regimes war.
Wann und wie schlug die Verstrickung ins Regime im Laufe des Krieges bei vielen in Distanzierung, bei manchen auch in Widerstand um? Unter welchen Umständen wurden die mentalen „Schwellen“ überstiegen, die bei Individuen oder Gruppen den Umschlag auslösten?
Dazu liegt seit 2000 ein faszinierendes Buch vor[24]: Der westfälische Journalist Paulheinz Wantzen (1901-1974, Bild) hat in 19 Bänden Tagebuch auf insgesamt 6.200 Seiten notiert und dokumentiert, wie die Menschen im Krieg lebten. Zudem hat er seinen Tagebüchern 4.600 Dokumente beigegeben: Photos, Zeitungsausschnitte und eine Fülle von Flugblättern, die alliierte Flugzeuge ab September 1939 über Deutschland abwarfen. So entstand ein Werk von doppeltem dokumentarischen Wert: Eine Langzeitstudie zur Auflösung deutscher Verstrickung in den Nationalsozialismus und eine wahre „Bibliothek“ gegnerischer Bemühungen, die Deutschen zum Widerstand gegen Hitlers Regime und Hitlers Krieg zu bewegen.
Als im Dezember 1981 in Polen von einer Generals-Junta der „Kriegszustand“ ausgerufen wurde (weil man anders der freien Gewerkschaft „Solidarność“ nicht Herr werden konnte), war ich gerade in Warschau und Łódź. Ich habe mich damals Stunden um Stunden in endlose Käuferschlangen vor Geschäften eingereiht, um – zuzuhören, was die Menschen sagten und beklagten. Kaufen wollte ich nichts, es gab auch nichts im damals hungernden und frierenden Polen zu kaufen, aber ein tiefenscharfes mentales Gruppenporträt der Polen habe ich bekommen. Aus einer ähnlichen „Froschperspektive“ hat Wantzen die Deutschen in den Kriegsjahren beobachtet und beschrieben.
Es hat weder in Polen 1981 noch in Deutschland 1939 einen ausgreifenderen „Widerstand“ gegeben, der diese Benennung verdient hätte. In Deutschland hat es auch keine „totale“ Identifikation der Menschen mit dem Regime und seiner „Weltanschauung“ gegeben. Aber es gab etwas dazwischen, was den Plänen, Aktionen und Propagandaformeln der Nationalsozialisten entgegenstand. Kann man auch das „Widerstand“ nennen? Ich zögere. Aber ich bin doch fasziniert von Wantzens Tagebüchern, denn ich (Jahrgang 1941) habe weder gewusst noch mir vorstellen können, daß so viele Deutsche sich so sehr außerhalb der ausgetretenen NS-Pfade bewegten.
Die Deutschen, jahrelang im Glauben an die Überlegenheit deutscher Waffen und Soldaten erzogen, hatten konkrete Erwartungen an diese Überlegenheit. Am 1. Juli 1940 schrieb Wantzen: „Das ganze Volk in allen Schichten glaubt felsenfest an den Frieden spätestens im September und es würde ganz sicher eine böse Enttäuschung geben, käme es anders“. Er erwähnt, daß ein für 1940 geplanter „Reichsparteitag des Friedens“ kurzfristig „abgeblasen“ sei – tatsächlich sollte dieser schon 1939 stattfinden, war aber auch da kriegsbedingt „abgeblasen“ worden. Und natürlich kam es anders mit der Friedensgewißheit, wobei nur verblüffend ist, wie rasch und energisch das Regime eingriff, um allgemeine Friedenshoffnungen, angebliche „Friedensfühler“, erwartete „Friedensinitiativen“ etc. aus der allgemeinen und medialen Diskussion zu verbannen.
Vermutlich zeigt sich hier eine grundlegende Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Menschen und den Planungen der Führung, die von Anfang an nicht deckungsgleich waren. Das spürten die Menschen erst langsam, und je mehr sie es spürten, desto nachhaltiger setzte ihre Distanzierung ein. Eine gewisse Distanzierung hatte ja schon früh dergestalt bestanden, daß die ideologische Ummäntelung des Kriegs den Menschen wenig sagte: Hitlers Eroberungen wurden als „neue europäische Ordnung“ propagiert, womit kaum jemand etwas anfangen konnte. Die „Vernichtung der jüdischen Rasse“ war wegen der Ungeheuerlichkeit des Vorhabens, wegen der allgemeinen Unkenntnis über Zahl und Stellung der Juden in Deutschland (499.682 oder 0,77% der Bevölkerung 1933[25]) und anderswo, wegen der abstoßenden Aufmachung antijüdischer Hetzblätter wie „Der Stürmer“ (Bild) und wegen der sprachlichen und politischen „Tarnung“ des Holocaust nicht zu vermitteln. Und gar der „Lebensraum im Osten“ war eine Angelegenheit, die (wenn überhaupt) irgendwann nach Kriegsende auf der Tagesordnung erscheinen würde.
Von solchen Spezifika einmal abgesehen, war der Krieg ab dem ersten Tag in der Darstellung der Propaganda und in der Wahrnehmung durch die Menschen grundverschieden. Die Propaganda sprach von „Soldaten des Führers“, „Helden“ etc. – die Menschen betrauerten ihre „Gefallenen“ und sahen in den Zeitungen jeden Tag längere Todesanzeigen. Propagandistisch wurden immer neue Eroberungen herausgestellt, aber in Deutschland wusste man (wie Wantzen immer wieder betont), dass sich „das Reich“ hierbei nur immer neue Gegner verschaffte, die den Tag ihrer Befreiung herbeisehnten und bis dahin Widerstand leisten würden. Die propagandistisch gefeierten „Verbündeten“, allen voran Italien, galten allgemein als militärisch wertlose „Wackelkandidaten“. Der ab den ersten Kriegsmonaten besonders im Westen Deutschlands spürbare „Bombenterror“ der Westalliierten und die zunehmenden Menschenverluste standen in immer schreienderem Kontrast zu früheren Versprechungen von NS-Führern. Und auf alle diese Dinge wurden die Deutschen ständig von den Alliierten und ihrer Flugblatt- und Rundfunkpropaganda hingewiesen. Das Buch von Wantzen ist gerade in dieser Hinsicht von höchstem dokumentarischem Wert: Die Flugblätter waren bekannt und begehrt, und BBC und andere westliche Stationen zu hören, war allabendliche Beschäftigung der Deutschen, obwohl gerade das streng verboten war und als „Radioverbrechen“ auch streng bestraft wurde. Aber diese Drohungen scheinen, wie Wantzen in seinen Tagebüchern an vielen Stellen bemerkt, wenig genutzt zu haben.
Die Wandlungen der offiziellen Darstellungen, am besten zu entnehmen aus den Reden von „Propaganda-Minister“ Joseph Goebbels[26] (der nach Jahren der faktischen Bedeutungslosigkeit im Krieg einen „zweiten Frühling“ erlebte), und der allgemeinen Auffassung haben sich etwa in folgenden Phasen entwickelt:
Zeitraum | Offizielle Darstellung | Allgemeine Auffassung |
1939 – Mitte 1941 | Wir werden siegen! | Genug gesiegt, macht Frieden! |
1941 – Mitte 1944 | Wir können siegen! | „Wenn der Führer das sagt, wird es wohl so sein“. |
1944 – April 1945 | Wir müssen siegen! | Macht Schluß – egal wie! |
Als Student habe ich einmal meinen Vater, Berufssoldat noch aus der Weimarer Zeit, gefragt, ab wann er nicht mehr an den „Endsieg“ geglaubt habe; er gab mir eine interessante Antwort: „Ab Stalingrad – aber ich habe mir verboten, daran zu denken“. In der Tat war die Schlacht um Stalingrad (August 1942 – Februar 1943, Bild) der Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs. Aber sie war noch mehr: Ab Stalingrad hat sich in Deutschland zwischen Führung und Geführten gewissermaßen eine „Koalition der Angst“ gebildet. Es war die Angst vor einer deutschen Niederlage, die die Führung nicht überleben und die allen Deutschen schwerste Lasten aufbürden würde. Die gemeinsame Angst löste zwei „benachbarte“ Reaktionen aus: Die Führung wollte den Krieg und mit ihm ihre Machtposition möglichst um Jahre verlängern, während die Menschen den Zeitpunkt der unabwendbaren Niederlage hinausschieben wollten. Diese beiden Reaktionen sind nicht identisch, wie der weitere Lauf der Dinge gezeigt hat: Die Führung hat buchstäblich bis zum letzten Moment ausgehalten, während bei den Menschen schon lange vorher die Einsicht gewachsen war, dass auch die schlimmste Niederlage nicht so schlimm wie der noch tobende Krieg sein könne.
Je starrsinniger die Führung sich gebärdete, desto tiefer wurde die Distanz zu ihr. Zu allen Zeiten hatte das Regime seine Untertanen mit Propaganda und Repression bei der Stange gehalten, aber etwa ab 1942/43 überwog die Repression die Propaganda. Eine Fülle neuer Delikte und Straftäter wurde benannt: „Defätisten“, „Wehrkraftzersetzer“, „Feindbegünstigung“, „Kriegsschieber“, „Ehrvergessene“, „Feldpostmarder“, „Kohlenklau“, „Schwarzschlächter“, „Bezugscheinfälscher“, „Miesmacher“ etc. Gegen viele diese Delikte gab es bereits Gesetze, allen voran das sog. „Heimtückegesetz“ von 1934 („Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen“), aber erst jetzt wurden die Strafen härter und „tödlicher“ bis hin zu den berüchtigten „Standgerichten“ von 1945. Zudem hatte Hitler seinen zahllosen Rechtsbrüchen einen besonders massiven hinzugefügt, als er sich am 26. April 1942 selber „zum Obersten Gerichtsherren des Deutschen Volkes“ ausrief, weil anders dem „inneren Feind“ nicht zu begegnen sei. Die alliierte Propaganda beeilte sich, den Deutschen die Konsequenzen dieses Schrittes mitzuteilen – auf einem Flugblatt, das der akribische Wantzen archiviert hat (S. 850, Bild) -, aber die wussten das längst: „Wie man allgemein hört, sollen die Juristen ganz schwer über die letzte Führerrede schimpfen. Nun wisse keiner mehr, wie er sich als Richter verhalten solle, und das Ergebnis werde ein regelrechtes Wettköpfen sein. Im übrigen spreche man von einer neuen Bedeutung des deutschen Geistes: Aufhebung der Rechte!“ (Wantzen, S. 827).
Aus der vom Regime von oben dekretierten „Volksgemeinschaft“ wurde die kriegsbedingt real existierende Notgemeinschaft, deren ausgreifende Kriegsmüdigkeit sich in der angesprochenen Formenvielfalt äußerte:
- „Gemecker“, das anfänglich als „Stuhlgang der Seele“ (Goebbels) partiell geduldet, bald aber immer härter verfolgt wurde.
- „Miesmacherei“, die als „Defätismus“ strafbar war.
- Witze gegen das Regime, die zwar unter das „Heimtückegesetz“ fielen, aber dennoch eine Art „Folkolore“ waren. Wantzen hat über seine Tagebücher Dutzende Witze gestreut, die zum größeren Teil wirklich gut sind und insgesamt ein über Jahre hinweg erstelltes Stimmungsbild vermitteln.
- Hoffnungen auf Gegensätze zwischen Armee und NSDAP-„Bonzen“.
- Geburtenrückgang.
- Ausufernde Kriminalität und Korruption.
- Fraternisierung mit Kriegsgefangenen.
- Unglauben gegenüber „rosa-roter“ Goebbelspropaganda.
- Abweisung von Flüchtlingen aus Bombengebieten als „Bombenweiber“ und „Splitterkinder“.
- Abneigung gegen die Einberufung immer älterer und immer jüngerer Jahrgänge und deren obersten „Heldenklau“, General Walther von Unruh.
- Hoffnungen auf ein glimpfliches Kriegsende für die eigene Region, die (wie das Elsaß) zu Frankreich zurückkäme oder (wie das Münsterland) den Niederlanden zugeschlagen oder sich (wie das Rheinland) von Deutschland separieren werde.
Und noch vieles andere mehr, worunter das „Abhören von Feindsendern“ eine besonders große Rolle spielte. Wie schon erwähnt, behandelte Wantzen es als die natürlichste Sache überhaupt, dass alle jeden Abend BBC hörten. Einer der „Macher“ der deutschen Sendungen von BBC war der in Deutschland aufgewachsene Brite Sefton Delmer (1904-1979, Bild), der darüber ein äußerst „spannendes“ Buch geschrieben hat, in welchem er tief in die „Werkstatt“ der Londoner Programmgestalter blicken ließ, vor allem jener, die sog. „graue Propaganda“ betrieben, die sich z.B. als deutscher „Soldatensender“ tarnte und so gegen das Regime aufwiegelte. Oder wie es Delmer selber sagte: „Den Deutschen in die Suppe spucken und dabei Heil Hitler schreien“.[27]
Da mit jedem weiteren Kriegsjahr die „Heimatfront“ unter pausenlosen Bombenangriffen immer brüchiger wurde, löste sich auch die Verstrickung immer rascher auf, jenes anfängliche Do-ut-des-Verhältnis aus Karrieresprüngen im Regime und Loyalitätsgesten von Seiten der Beförderten. Auch die Hoffnung, durch diverse „Sonderfrieden“ noch so etwas wie eine Schadenbegrenzung zum letztmöglichen Zeitpunkt erreichen zu können, war spätestens 1944 dahin. Übrig blieb die Distanzierung, aus der jedoch Hitler persönlich ausgenommen war. Wantzen berichtet immer mal wieder von der Wenn-das-der-Führer-wüßte-Gläubigkeit der Menschen, von Mit-Hitler-gegen-die-Bonzen-Träumen der Soldaten und ähnlichem.
Skizzen zum wahren Widerstand
Mit Blick auf diese personenbezogene „Führertreue“ meine fünfte These: Es hat in Deutschland Widerstand gegeben, der aller Ehren wert ist. Er war nicht besonders groß, auch nicht mit dem Widerstand in anderen Ländern zu vergleichen. Zudem leidet unsere Kenntnis des genuinen deutschen Widerstands an drei Mängeln. Zum einen wissen wir zu wenig über ihn, obwohl sich unsere Kenntnis immer noch durch überraschende Entdeckungen heroischer Einzeltaten erweitert. Zum zweiten bringt uns unser unterbewußtes Eingeständnis, dem NS-Regime wirklich nicht sonderlich viel Widerstand entgegengesetzt zu haben, dazu, manches als Widerstand zu feiern, was bestenfalls ein Surrogat dafür war. Und zum dritten ist unsere Kenntnis des deutschen Widerstands durch ideologische und parteiliche „Beschlagnahmungen“, ganz besonders durch die Kommunisten in der DDR[28], zu großen Teilen verfälscht worden.
Ich gestehe, daß die alljährlichen deutschen Feiern zum 20. Juli, dem Tag des Attentats auf Hitler 1944, auf mich noch nie besonderen Eindruck gemacht haben, am wenigsten 2004, als wochenlang des 60. Jahrestags dieser Offiziersverschwörung gedacht wurde. Natürlich flößt mir der Mut dieser Männer Respekt ein, wie ich aber auch die schlechte, ja sorglose Vorbereitung des Attentats stets nur mit Kopfschütteln betrachtet habe. Und jedes Jahr frage ich mich wieder, was am 20. Juli 1944 eigentlich passiert ist: Ein patriotischer Versuch, den Tyrannen Hitler in nationaler Notwehr zu beseitigen – oder eine Palastrevolution von Bankrotteuren, die sich erst dann gegen ihren „Obersten Kriegsherren“ wendeten, als der ihnen keine Siege und keine Ritterkreuze mehr bieten konnte? Andere scheinen ähnliche Zweifel zu anderen Widerstandsaktionen zu hegen, wie z.B. die endlosen Debatten um „Schindlers Liste“, „Edelweißpiraten“, „Rote Kapelle“ etc. zeigen.
Hervorheben möchte ich, daß „die Männer des 20. Juli“ Kontakt zu denen suchten und fanden, die schon zehn Jahre früher und bewusster Widerstand gegen das NS-Regime geleistet hatten. Das sind die wenigen Würdenträger der Katholischen Kirche, allen voran der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen (1878-1946, Bild).[29] Als dieser hünenhafte Westfale im September 1933 zum neuen Bischof von Münster ernannt wurde, herrschte allgemeine Verblüffung, auch bei Galen selber, der freimütig einräumte, „nicht sehr gescheit“ zu sein. Zeitlebens blieb er ein national-konservativer „Rechtskatholik“, der die Legitimität der NS-Obrigkeit nie in Zweifel zog, den Nationalsozialismus aber als „neuheidnische Ideologie“ und die Nationalsozialisten als neue Heiden bekämpfte. Wann immer er sich als „deutscher Mann und Bischof“ vom rechtwidrigen und gesetzlosen Treiben von Regime und Partei verletzt sah, sagte er klare Worte. Bereits 1935 tat er die NSDAP in einem Hirtenbrief en bloc ab: „Es gibt wieder Heiden in Deutschland“. Vom Rassismus der Nationalsozialisten erwartete er, dieser werde „zu blutiger Selbstvernichtung unseres deutschen Volkes“ führen. Den „Chefideologen“ des Regimes Alfred Rosenberg (1893-1946) versuchte er vergebens, durch wohlpräparierte Zitatsammlungen in die Enge zu treiben. Galens Richtschnur war das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933, dessen Verletzungen er ab November 1933 mit Protesten und Eingaben in Fülle anklagte.
In seiner Osterbotschaft 1934 hatte Galen den nationalsozialistischen Rassenkult verurteilt, und von da ab rechnete er mit seiner Verhaftung, blieb aber immer bereit, „den Märtyrern gleich Nachstellungen und Verfolgungen zu ertragen“. 1938 waren er und der Berliner Bischof Konrad von Preysing (1880-1950, Bild) bereit, für die bedrängten Juden einzutreten. Preysing wendete sich in zwei Briefen an Papst Pius XI., um diesen zur Verurteilung der Judenverfolgung zu bewegen. Galen plante sogar, dagegen von der Kanzel zu predigen, ließ von diesem Plan auf Bitten der lokalen jüdischen Gemeinde aber ab, da sich unter Umständen die Lage der Juden erst recht verschlechtert hätte. So blieb der Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg (1875-1943), dem Preysing die Fürsorge für getaufte Juden anvertraut hatte, der einzige katholische Geistliche in Deutschland, der am 9. November 1938 („Reichskristallnacht“) öffentlich für die Juden eintrat. 1941 wurde Lichtenberg denunziert, 1942 zu zwei Jahren Haft verurteilt, im November 1943 starb er auf dem Transport ins KZ Dachau.
Galen hatte sich im Juli und August 1941 in drei Predigten scharf gegen die Verfolgung von Priestern und gegen die Tötung von Geisteskranken ausgesprochen: Mit Wissen und Wollen der Reichsregierung und des „Reichsärzteführers“ ist „schon eine große Zahl von Geisteskranken in Deutschland getötet worden“, womit ein Straftatbestand im Sinne des „Reichsstrafgesetzbuches“ vorläge: „Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft“. Die offizielle Begründung für diese Taten ließ der Bischof nicht gelten: „Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, daß man den »unproduktiven« Menschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden“.[30]
War das Widerstand, oder mahnte hier nur ein konservativer Kleriker eine Rückkehr des Regimes zum Status quo ante an?[31] Galens Predigten waren ebenso lang wie offenherzig, wurden zudem häufig von kollektiver Zustimmung der Zuhörer unterbrochen. Und sie hatten Wirkung: Es wurden keine Geisteskranken mehr aus dem Bereich des Bischofs fortgebracht. Das Regime hatte eingelenkt, nicht einmal die jährliche Dotation von rund 124.000 Reichsmark wurde dem Bistum gestrichen. Wäre man anders verfahren, „hätte man ganz Westfalen für die Kriegszeit abschreiben können“ (Goebbels). Aber zufrieden war man in Berlin natürlich nicht: Die „Abrechnung“ werde nach dem „Endsieg“ erfolgen, drohte Hitler im Dezember 1941, und der Bischof werde „einmal vor die Gewehre kommen“.
Galen kam „nicht vor die Gewehre“, legte sich vielmehr ab Anfang Mai 1945 mit den britischen Besatzungsbehörden an, die sich (so ein britischer Journalist) gegenüber dem „großen Bischof und Volksführer ungewöhnlich phantasiearm und blöd“ verhielten. Geschadet hat es ihm nicht: Im Dezember 1945 wurde er zum Kardinal ernannt, weil „der Name des Münsteraner Oberhirten in der ganzen Welt als Symbol bischöflichen Freimuts galt“.
Über den Juristen Paulus van Husen (1891-1971) hatte Galen Kontakt zu deutschen Oppositionskreisen, die jedoch nicht sonderlich eng gewesen sein dürften. Zwar hatte der Bischof den Kriegsausbruch als „Finis Germaniae“ (Ende Deutschlands) bezeichnet, nahm aber den „Fahneneid“ ernst und glaubte wohl nicht an den Erfolg eines Militärputsches.
Allem Anschein nach war Galens Kontakt zu dem deutschen Diplomaten Rudolf von Scheliha (1897-1942, Bild) von anderer Art. Zwar ist nur bekannt, dass Scheliha Galen-Predigten international verbreitete, aber das kann bei den Aktivitäten dieses Mannes nicht alles gewesen sein. Scheliha bekämpfte das NS-Regime mit den Mitteln, die er als Diplomat besaß: Er ermöglichte Polen und Juden die Flucht ins Ausland, unterstützte Bischof Preysing und dessen „Hilfswerk beim Bischöflichen Ordinariat in Berlin für katholische Nichtarier“ bei der Emigration Verfolgter, schaffte Nachrichten über die „Endlösung der Judenfrage“ ins Ausland und wurde 1940 sogar verdächtigt, den Niederländern den Angriffstermin der deutschen Wehrmacht verraten zu haben. Diese Beschuldigung konnte er noch abwehren, wurde im Oktober 1942 aber wegen seiner Kontakte zu Oppositionskreisen und wegen mutmaßlicher „Spionage für die Sowjetunion“ zum Tode verurteilt und am 22. Dezember 1942 hingerichtet.
Die Evangelische Kirche konnte kein Pendant zu Galen aufweisen, auch nicht in Gestalt des Württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm (1868-1953, Bild). Zwar hatte dieser sich erfolgreich gegen die Gleichschaltung seiner Landeskirche gewehrt und war dabei von zahlreichen Gläubigen mit demonstrativer Öffentlichkeit unterstützt worden. Im Juli 1940 hatte er einen Brief an Reichsinnenminister Frick geschrieben[32], in welchem er heftig gegen die Tötung von Geisteskranken protestierte: „Nur mit furchtbarem Grauen kann ich daran denken, was sein wird, wenn so fortgefahren wird, wie begonnen wurde. (…) Die deutsche Jugend sieht und weiß heute bereits, daß dem Staat das Leben seiner Bürger nicht mehr heilig ist. (…) Entweder erkennt der nationalsozialistische Staat endlich die Grenzen an, die auch ihm von Gott gesetzt sind, oder aber dieser Staat begünstigt einen Sittenverfall solchen Ausmaßes, der in kürzester Zeit auch den Verfall des ganzen Staates nach sich ziehen muß“. Aber daneben bekannte sich Wurm als Antisemit „von Jugend auf“, der 1937 stolz verkündete, daß die Württembergische Kirche „judenreiner sei als irgendeine andere“. Mit solchen Eskapaden erschien Wurm zahlreichen Pfarrern als „Verräter“, der die von ihnen geforderte und in der Bekennenden Kirche auch durchgesetzte Ablehnung des NS-Regimes und seiner Politik hintertrieb. Ab 1940 näherte sich Wurm dem sog. „radikalen Flügel“ der Bekennenden Kirche an, unterhielt Kontakte zur Oppositionsgruppe „Kreisauer Kreis“ und protestierte 1943 öffentlich gegen die Verfolgung der Juden. 1944 belegten ihn die Behörden mit einem Rede- und Schreibeverbot.
Die erwähnte Bekennende Kirche ist die eigentliche Widerstandsformation der evangelischen Christen. Hervorgegangen war sie aus den Auseinandersetzungen mit den um 1930 entstandenen Deutschen Christen, die mit Unterstützung des Regimes im Juli 1933 die meisten wichtigsten Kirchenämter in Deutschland einnahmen. Nur die Landeskirchen von Bayern, Württemberg und Hannover verweigerten sich den Deutschen Christen. Gegen sie, die in ihren Satzungen „Arier-Paragraphen“ hatten, gründete Pfarrer Martin Niemöller (1892-1984, Bild) im September 1933 den „Pfarrernotbund“, dem sich bis Januar 1934 etwa 7.000 Pfarrer anschlossen, rund ein Drittel aller evangelischen Geistlichen in Deutschland. Zudem bildeten sich in den Landeskirchen sog. „Bekenntnisgemeinschaften“, die Ende Mai 1934 in der „Barmer Theologischen Erklärung“ ihre Ablehnung des NS-Regimes begründeten: Die Kirche kann neben Gott nicht „noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen“, es gibt keine Lebensbereiche, in denen Gottes „Rechtfertigung und Heiligung“ nicht benötigt würde, man darf die Kirche nicht „dem Wechsel der jeweils herrschen weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen“, der Staat darf niemals „die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden“, die Kirche und ihre Lehre dürfen sich nicht „in den Dienst irgendwelcher eigenmächtig gewählter Wünsche, Zwecke und Pläne stellen“.
Vor so viel Entschlossenheit vollzog das Regime eine Teilkapitulation und befürwortete nunmehr einen Kompromiß zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche. Über der Frage einer begrenzten Kooperation zerbrach die Bekennende Kirche im Frühjahr 1936. Die Gegner einer solchen Kooperation setzten ihre Opposition fort und in einer Denkschrift an Hitler gingen sie im Mai 1936 über engere kirchliche Themen hinaus und verwarfen KZs, die Gestapo und den staatlichen Antisemitismus. Nun schlug das Regime mit aller Härte zu: Allein 1937 wurden rund 800 Kirchenmänner der Bekennenden Kirche vor Gericht gestellt.
Widerstand in Grenzsituationen
Der Blick auf die Bekennende Kirche bringt mich zu meiner sechsten und letzten These: Allem Anschein nach gibt es eine Dynamik des Widerstands, der um so härter und entschlossener wird, je drohender, machtvoller und gewissenloser das System ist, dem Widerstand entgegengesetzt wird. In letzter Konsequenz hieße das, daß der Widerstand dann am rigorosesten ausfällt, wenn er sich gegen die im zu bekämpfenden System verkörperte direkte und tödliche Gefahr wendet. Wenn der Widerstand im Grunde chancenlos ist, aber dennoch gewagt wird, weil kein Kompromiß und keine Koexistenz mehr möglich sind und alle Brücken zum Leben und zur Zukunft faktisch abgebrochen wurden, dann wird auch der militärisch und politisch augenscheinlich sinnlose Widerstand zu einer Tat, die künftiges und rechtzeitiges Widerstehen ermöglicht.
Drei Beispiele aus Osteuropa sollen das illustrieren. Das erste Beispiel ist der jüdische Aufstand im Warschauer Ghetto von 1943. Warschau war vor dem Krieg der Ort mit dem größten jüdischen Anteil: Im August 1939 lebten hier 380.567 Juden (29,1% der Warschauer Stadtbevölkerung). Am 1. Dezember 1939 ordneten die deutschen Besatzer an, alle Juden müßten am linken Arm eine weiße Armbinde mit blauem David-Stern tragen, und am 4. Dezember ordneten die Besatzungsbehörden an, daß alle jüdischen Geschäfte durch spezielle Schilder als solche ausgewiesen werden sollten. Am 18. Dezember hatte das Oberhaupt der Juden alle jüdischen Immobilien und sonstigen Besitztümer anzumelden.[33]
Im Januar 1940 wurden die nördlichen Teile des Stadtzentrums, wo hauptsächlich Juden lebten, wegen angeblicher „Typhusgefahr“ für den allgemeinen Verkehr gesperrt. Im Februar verbot man den Juden Fahrten mit der Bahn und zwang alle polnischen Arbeitgeber, ihre jüdischen Arbeiter und Angestellten zu entlassen. Ende März wurden jüdischen Ärzten und Anwälten Berufsverbote erteilt, einen Monat später war den Juden der Zutritt zu fast allen Stadtteilen der Hauptstadt verboten. Am Ende wurden alle Juden in einem hermetisch abgeriegelten Bezirk eingeschlossen. Die Pläne, im Norden des Warschauer Zentrums ein großes und ein kleineres Ghetto einzurichten, hatten schon im November 1939 bestanden. Die entsprechende Anordnung gab der deutsche Gouverneur Warschaus Ludwig Fischer am 2. Oktober 1940. Die dort wohnhaften Polen hatten den Bezirk bis zum 31. Oktober zu verlassen, die außerhalb lebenden Juden mussten bis zum 16. November in ihn übersiedeln. Von der Umsiedlung waren insgesamt 180.000 Juden und Polen betroffen. Auf der „arischen Seite“ (strona aryjska) wurden 3.770 jüdische Geschäfte und rund 600 jüdische Betriebe enteignet.
Der gesamte jüdische Bezirk, 4,5 Prozent der Warschauer Stadtfläche, teilte sich in das Große und das Kleine Ghetto, die beide durch eine Holzbrücke über der Chłodna-Straße verbunden waren. Das gesamte Ghetto wurde von einer drei Meter hohen Mauer umgeben, und als es am 26. November 1940 geschlossen wurde, lebten in ihm 440.000 Menschen (37% der Stadtbevölkerung) in völliger Isolation. Die Bevölkerungsdichte betrug 1.100 Personen pro Quadratkilometer, d.h. mehr als zehnmal so viel wie der Warschauer Durchschnitt. Grünflächen und Parks gab es gar nicht.
Nach dem sowjetischen Überfall auf die Sowjetunion verschlimmerte sich die Situation noch mehr. Das Kleine Ghetto wurde aufgelöst, seine Bewohner kamen ins Große Ghetto, worauf sich in jedem Zimmer 5 bis 6 Personen drängten. Bei Androhung von Tod oder KZ war es Polen verboten, Juden irgendeine Hilfe zu leisten, und Juden wurden für jede Überschreitung der Ghettogrenzen erschossen. Erwerbsmöglichkeiten bestanden kaum, die Versorgung war äußerst schlecht, und so verbreiteten sich Krankheiten wie Typhus. Die Sterblichkeit erreicht bald enorme Höhen: 23,5 Todesfälle pro 1.000 Einwohner 1940, 90 1941 und 140 1943. Es herrschte überall Hunger: Vor dem Krieg betrug die polnische Durchschnittsversorgung 2.325 Kalorien pro Tag und Person – im Ghetto lag sie bei 1.125 Kalorien und die Versorgung war nach 10 Gruppen gestaffelt: 1.665 Kalorien bekamen die Mitarbeiter des „Judenrats“ und dann herab bis zu „Straßenbettlern“ mit 784 Kalorien.
Die Deutschen richteten beim Judenrat sog. Arbeitsbataillone (Batalion Pracy) ein, die 1940/41 15.500 Juden zur Zwangsarbeit in Warschauer und Lubliner Fabriken rekrutierten. Im Frühjahr 1941 wurden im Ghetto spezielle Werkstätten eingerichtet, in denen jüdische Facharbeiter eine Beschäftigung fanden. Danach ging die Arbeitslosigkeit spürbar zurück. Im Oktober 1941 gab es 1.047 solche Werkstätten mit zusammen 20.100 Beschäftigten. Ende 1941 verlegten deutsche Rüstungsbetriebe Fertigungsstätten ins Warschauer Ghetto. Im Juli 1942 wies der Judenrat 62.000 Beschäftigte im Ghetto aus.
Ab März 1942 gingen die Deutschen daran, die kleineren Ghettos im „Generalgouvernement“ zu liquidieren – ein Unternehmen, das mit schwersten Untaten verbunden war und unter dem Decknamen „Aktion Reinhard“ ablief. Leiter der Aktion war Odilo Globocznik (1904-1945, Bild), sein Verbindungsmann zu den Vernichtungslagern SS-Sturmbannführer Christian Wirth. Am 22. Juli 1942 kam SS-Hauptsturmführer Herman Höfle nach Warschau, um dem Judenrat die Organisationsbedingungen für die Deportation von Juden aus dem Warschauer Ghetto zu diktieren. Er forderte von dem Vorsitzenden Adam Czerniakow, daß die „Juden-Polizei“ jeden Tag, beginnend mit eben dem 22. Juli, 6.000 Juden zum „Umschlagplatz“ zwecks „Umsiedlungen in den Osten“ zu schaffen habe. Jeder „Umsiedler“ sollte 15 Kilo Gepäck, Geld und Wertsachen sowie Verpflegung für drei Tage mitnehmen. Ausgenommen von der Umsiedlung waren nur Mitglieder und Mitarbeiter des Judenrats, Ärzte und Sanitätspersonal und in deutschen Werkstätten beschäftigte Juden. Vom 22. Juli bis 13. September 1942 wurden rund 300.000 Warschauer Juden in das Vernichtungslager Treblinka deportiert, das extra zur „Entleerung der Ghettos“ gebaut worden war. Transportunfähige Personen, vor allem Alte, Kranke und Kinder, wurden auf dem jüdischen Friedhof erschossen. Ende 1942 gab es im Ghetto noch knapp 70.000 Einwohner, durchweg zwischen 15 und 45 Jahren alt und bei Deutschen beschäftigt. Hinzu kam noch eine (nicht geringe) Anzahl von Juden, die sich illegal im Ghetto verborgen hielten.
Vom 18. bis 20. Januar 1943 kam es im Ghetto zum ersten bewaffneten Widerstand, als neue Deportationen anstanden. Im Februar und März begannen die Deutschen, ihre Werkstätten aus Warschau nach Lublin zu verlegen. Gleichzeitig startete die „Jüdische Kampforganisation“ (Żydowska Organizacja Bojowa, ŻOB), die von Marek Edelman (*1924, Bild) mitgegründet und geführt worden war, Sabotageaktionen und rief die Juden zu Boykott und Widerstand (opór) auf. Dennoch gelang es den Deutschen, die Firmen aus dem Ghetto zu verlegen. Zuletzt erschien Globocznik mit den sog. „Oskars“, ukrainischen und lettischen Hilfstruppen, in Warschau, um die letzten Juden zu deportieren. Einer der wenigen Überlebenden war ŻOB-Führer Marek Edelman, dem die Flucht gelang.
Nach einem Befehl Himmlers vom 16. Februar 1943 sollte das Ghetto, nachdem aus diesem alle Menschen und Maschinen herausgebracht waren, „dem Boden gleichgemacht“ werden. Als man am 19. April damit beginnen wollte, stießen 2.269 deutsche Soldaten und 704 „Oskars“, geführt von SS-Brigadeführer Jürgen Stroop (1895-1952, Bild), auf den Widerstand von rund 1.000 Kämpfern der ŻOB und des verbündeten „Jüdischen Kampfverbands“ (Żydowski Związek Bojowy). Die Aufständischen, geführt von Mordechaj Anielewicz (Bild) und Marek Edelman, lieferten in kleinen Kampfgruppen den Deutschen heftige Gefechte, wobei sie sich bis zum 24. April relativ gut behaupteten. Ab dem 24. April zogen sie sich in vorbereitete Bunker zurück, von denen aus sie das ganze Ghetto mit einem Netz kleinerer Kampfplätze überzogen. Stroop hat sich später bitter darüber beklagt, wie sehr seine Aktion durch die List der „jüdischen Banditen“ erschwert würde.
Am 8. Mai stürmte die SS den Bunker der ŻOB-Führung in der Miła-Straße 18, doch bevor sie festgenommen werden konnten, begingen Anielewicz und sein Stab Selbstmord. Von da ab wurde der jüdische Widerstand mit jedem Tag schwächer, bis er nur noch von vereinzelten Gruppen, die ohne Führung und ohne Verbindung untereinander operierten, fortgesetzt wurde. Am 24. Mai meldete Stroop Himmler den erfolgreichen Abschluß der Aktion, den die Sprengung der alten Synagoge markierte. Tatsächlich aber musste die SS noch bis Ende Juli Jagd auf jüdische Kämpfer machen, die sich in den Ruinen des Ghettos verbargen. 56.065 Juden waren von den Deutschen gefangen genommen worden, die meisten von ihnen kamen kurz darauf um. Stroop wurde am 21. März 1947 von einem US-Militärgericht zum Tode verurteilt und nach Polen ausgeliefert. Die Polen stellten ihn erneut vor Gericht und am 6. März 1952 wurde der „Henker von Warschau“ hingerichtet.
Polen (sagte der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz in seinen berühmten Pariser Vorlesungen 1840-1844) ist „der Hauptsitz der ältesten und der geheimnisvollsten aller Rassen: der Juden“. Und er hat sich selber als „Pole und Mitbürger meiner Brüder, der Israeliten“ bezeichnet. Vermutlich hat es nie viele Polen gegeben, die ein ähnlich freundliches Verhältnis zu Juden an den Tag legten. Umgekehrt vielleicht auch nicht. Aber sicher ist eines: Der Warschauer Ghetto-Aufstand war auch ein polnischer Aufstand. Denn was die Deutschen den Juden antaten, war nur ein Vorspiel dessen, was sie auch mit den Polen vorhatten, es ihnen auch zufügten.
Das hatten die Juden vom ersten Tag an gewusst. Am 23. April verbreitete die ŻOB ein Flugblatt (Bild) an „Polen, Mitbürger, Soldaten der Freiheit“, in dem an Gemeinsamkeiten des Schicksals erinnert wurde: „Es tobt ein Krieg um eure und unsere Freiheit, um eure und unsere menschliche, soziale und nationale Ehre und Würde. Rächen wir die Verbrechen von Auschwitz, Treblinka, Bełżec, Majdanek. Es lebe die Brüderlichkeit in Waffen und Blut des kämpfenden Polens. Es lebe die Freiheit!“
Auch die Polen selber hatten seit Jahren einen bewaffneten Aufstand für die Endphase des Kriegs vorbereitet, um Polen nicht der Roten Armee zu überlassen. Im Lande wirkte mit der Landesarmee (Armia Krajowa, AK) konspirativ eine militärisch gut organisierte und starke Truppe, die ab Ende September 1939 unter diversen anderen Namen agiert hatte, auf Anordnung des Regierungschefs (im Exil) und Oberbefehlshabers Władysław Sikorski (1881-1943, Bild) am 14. Februar 1942 ihren eigentlichen Namen und ihre endgültige Gestalt bekam. Hauptaufgabe der AK war, „die Unabhängigkeit Polens durch Organisierung und Ausführung der Selbstverteidigung zu gewinnen und sich auf einen Aufstand vorzubereiten, der im Moment des militärischen Zusammenbruchs Deutschlands in ganz Polen ausbrechen soll“. Dafür richtete die AK sieben Hauptabteilungen ein (Organisation; Information und Aufklärung; Ausbildung und Operation; Versorgung; Funkwesen und Verbindungen; Propaganda; Finanzen und Kontrolle), dazu noch eine „Leitung Diversion“, eigene Feldgeistliche, Kampfgruppen im Ausland (auch in Deutschland) etc.
Anfang 1942 hatte die AK etwa 100.000 Kämpfer gezählt, Anfang 1943 rund 200.000 und im Sommer 1944 380.000. In ihrer räumlichen Aufteilung zerfiel die AK in Regionen (obszary), die sich wiederum in Kreise (okręgi) und diese in Bezirke (obwody) aufteilten. Zwischen diesen Hauptgliedern gab es noch Unterglieder, was aber alles nicht so wichtig war, da jede AK-Einheit relativ selbständig operierte. Die Kampfeinheiten waren anfänglich entweder „volle“ Gruppen mit 35–50 Kämpfern oder „Skelett-Gruppen“ mit 16–25 Kämpfern. Im Februar 1944 zählte die AK 6.287 „volle“ und 2.613 „Skelett-Gruppen“. Das war eine beeindruckende Armee, die laufend an Stärke zunahm, da andere Untergrund-Truppen sich ihr anschlossen.
Ab Mai 1943 wurde die AK von Tadeusz Bór-Komorowski (1895-1966, Bild) kommandiert, der einem gut ausgebildeten Corps von Offizieren und Unteroffizieren vorstand. Mit diesem Rückhalt nahm die AK selber immer das Aussehen einer regulären Armee an, was ab 1943 (Aufstellung von Kompanien und Bataillonen) und 1944 (Regimenter, Brigaden, Divisionen) auch in ihren inneren Strukturen sichtbar wurde. Der laufende Finanzbedarf wurde durch Gelder von der Londoner Exil-Regierung oder durch ständige kleinere Kampfaktionen gegen die deutschen Besatzer gedeckt. Vor allem hatte es die AK auf die SS und die deutsche Polizei abgesehen, denen sie mit gezielten „Vergeltungsaktionen“ (akcje odwetowe) zu Leibe rückte. Auch die AK-Aufklärung war von hohem Wert, hatte sie doch z.B. im Juli 1943 London darauf hingewiesen, dass die Deutschen in Peenemünde an der Ostsee Versuche mit ihren V-1-Raketen unternahmen.
Anfang 1944 wurden die Einzelaktionen der AK durch den Plan „Burza“ (Gewittersturm) abgelöst, dessen Ziel der lange geplante große Aufstand war. Die AK nahm den Kampf gegen die Deutschen auf, im Osten, wo die Rote Armee bereits auf polnisches Territorium vorgedrungen war, auch gegen die Truppen von Stalins Innenministerium NKVD. Mittelpunkt des Aufstandes sollten die Kämpfe in und um Warschau sein, die am 1. August 1944 begannen. Zweifellos handelte die AK unter dem Druck von Zeit und Umständen: Sie wollte auf keinen Fall, dass die Sowjets als alleinige „Befreier“ in Warschau einrückten, sondern sie plante, vor der Roten Armee die Hauptstadt einzunehmen und sich dann den Sowjets als „Herr im polnischen Haus“ zu präsentieren.
Diese Kalkulation konnte nicht aufgehen. Die Alliierten hatten im Dezember 1943 auf der Teheraner Konferenz vereinbart, dass Polen allein zum sowjetischen Operationsbereich gehören sollte, was westliche Hilfe für die Aufständischen ausschloß. Im Verband der Roten Armee kämpfte zudem bereits die 1. Polnische Armee, aus Gefangenen von 1939 rekrutiert und von General Zygmunt Berling (1896-1980, Bild) geführt. Unter diesen Umständen konnten die Sowjets wohl nicht daran denken, das Gesetz des Handelns mit der strikt antikommunistischen, polnisch-nationalen AK zu teilen.
Der Aufstand wurde mit großem Mut begonnen und weitergeführt – eine Siegeschance hatte er nie. Die Deutschen gingen mit unerhörter Brutalität gegen die AK vor, konnten deren Kampfwillen aber nicht brechen und schlugen daraufhin eine mildere Taktik ein. Das war auch nötig, denn Großbritannien und die USA hatten am 28. August 1944 der AK den Status einer „alliierten Armee“ gegeben und Waffen und Munition für sie über dem Kampfgebiet abwerfen lassen. Das alles war viel zu wenig und so brach der Aufstand nach 63 Tagen zusammen. Zwei Monate lang hatte die AK 25.000 schwer bewaffnete deutsche Soldaten, die an anderen Fronten dringend benötigt wurden, in Warschau „gebunden“. Die AK hatte 100.000 Gefallene zu beklagen, 50.000 ihrer Kämpfer wurden in die Sowjetunion deportiert. Die Reste der AK führten in Polen auch nach der Machtübernahme der Kommunisten den Kampf um die Unabhängigkeit Polens weiter.
Seither tobt in Polen ein Streit um den „Wert“ des Aufstands und die Gründe seines Scheiterns.[34] War die AK am eigenen Unvermögen gescheitert – oder war sie vom Westen verraten und von Stalin im Stich gelassen worden? Die Wahrheit dürfte irgendwo in der Mitte liegen, und noch so akribische Mehrbänder, in Polen und im Ausland geschrieben, werden zu keinem endgültigen Urteil gelangen. Es spielt im Grunde auch keine erstrangige Rolle, wenn man sich einmal in die Lage der Aufständischen selber versetzt. Es war dieselbe Lage, in der sich ein Jahr zuvor bereits die Warschauer Ghetto-Kämpfer befunden hatten: Nach Jahren deutscher Knechtschaft, im Moment größter Gefahr hatten die einen wie die anderen zu den Waffen gegriffen und den deutschen Todfeind bekämpft. An einen Sieg hatten wohl beide nicht ernstlich geglaubt, aber sich und anderen für ein paar Tage das enthusiasmierende Gefühl verschafft, aus eigener Kraft so etwas wie Freiheit errungen zu haben. Ganz sicher waren sie für kurze Zeit glücklich, und in der Erinnerung an dieses Glück sind sie in den Tod gegangen.
Ein drittes und letztes Beispiel für Widerstand in Grenzsituationen war schließlich der Widerstand im KZ. Eigentlich sollte ich „Widerstand“ schreiben, weil es sich – aus der Sicht von Nichtbetroffenen – schlichtweg um Lappalien handelt. Aber gerade diese waren im wahrsten Wortsinn überlebenswichtig:[35]
„Das Konzentrationslager Auschwitz war nach dem konsequent realisierten Plan seiner Schöpfer ein Ort, an dem die Häftlinge vernichtet werden sollten. Zudem ist bekannt, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen im Lager in der Absicht der SS und nach späteren Feststellungen von Juristen, Ärzten und Psychologen dem durchschnittlich kräftigen und gesunden Menschen gestatteten, einige Wochen, höchstens einige Monate dort zu überleben, aber dies nur unter der Voraussetzung, dass er in dieser Zeit keinem SS-Mann oder Funktionshäftling unangenehm auffiel, die nur auf einen Vorwand warteten, zu schlagen, zu quälen, Mord und Tod zu mehren, dass er außerdem nicht zum Tode verurteilt wurde und keinem Unfall und keiner Krankheit zum Opfer fiel. Trotzdem überlebte ein Teil der Häftlinge – ungefähr 10 – 20 Prozent – das unmenschliche Dasein im Lager, kam – wenn auch körperlich und seelisch verkrüppelt – in Freiheit und kann Zeugnis ablegen von der Zeit der Verachtung, Erniedrigung und des Völkermordes“.
Mit anderen Worten: Es gab im KZ nur eine Art von Widerstand, die aber fundamental war – das KZ zu überleben! Überleben war von der SS nicht vorgesehen, es wurde auch in der Öffentlichkeit nicht erwartet. Die in Krakau rund zwei Jahrzehnte arbeitende Gruppe von Ärzten, Historikern, Psychologen etc., die sich mit dem „KZ-Syndrom“ beschäftigte, also mit der Gesamtheit der Spätfolgen einer Lagerhaft, hat 1977 Überlebende nach den Ursachen ihres Überlebens befragt und in den 160 ausführlichen Antworten immer gehört, daß den ehemaligen Gefangenen dieselbe Frage schon so oft und meist verwundert gestellt worden war, daß die Überlebenden sich zum Teil schon schuldig fühlten: Wieso habe ich überlebt und andere nicht? Habe ich durch mein Überleben andere geschädigt?
„Ich (…) glaubte fest daran, daß ich heil aus dem Lager herauskommen werde, obwohl der Dolmetscher bei meiner Ankunft gesagt hatte, diesen Ort könne man nur durch den Schornstein verlassen – und das spätestens nach sechs Monaten“, erinnerte sich einer der Überlebenden. Was er da gehört hatte, war die „Norm“ in Auschwitz und anderen KZs. Jedes Lager war in jeder Hinsicht – Verpflegung, Arbeit, Zusammensetzung der Häftlinge (Kriminelle versus Politische), Strafen etc. – darauf angelegt, dass die Gefangenen es nicht überlebten.[36] Unendlich viele überlebten ja nicht einmal den ersten Tag im Lager, da sie bei der „Selektion“ sofort „ins Gas“ ausgesondert wurden. Die anderen „Arbeitsfähigen“ sollten einige Monate arbeiten und dann so erschöpft sein, daß sie starben und in einem der 12 oder mehr Krematorien verbrannt wurden. Wie viele das waren, wissen wir nicht und werden es auch nie erfahren: Die SS war ein Meister darin, die entsprechenden Listen zu fälschen, so daß vieles dafür spricht, daß jede für Auschwitz und andere KZs genannte Zahl der Getöteten zu gering ist.
Aber, wie erwähnt, nicht wenige haben dennoch überlebt. Wie? Die Krakauer Forscher haben aus den Antworten der Überlebenden einen „Katalog“ der Eigenschaften und Einstellungen erarbeitet, die zum Überleben befähigten:
Individuelle Eigenschaften
- psychische Widerstandsfähigkeit
- positive Haltung, Würde
- Patriotismus („…hielt uns der feste Glaube aufrecht, daß die Deutschen den Krieg verlieren mussten und wir nach Wiedergewinnung der Unabhängigkeit ein neues Leben beginnen würden“)
- Religion als Stärkung
- Glaube ans Überleben
- Bindung an die Familie (Briefkontakt)
- Vergessen der Lagerrealität (durch Diskussionen, Rezitationen, Bemühen um „kulturelles Leben“)
- persönliche Sauberkeit („Wir wuschen uns in Pfützen und Gräben, gaben unsere Mittagspause auf dem Feld daran“)
- Selbsterhaltungsinstinkt („Es ging darum, eine Arbeit zu bekommen, bei der man ein Dach über dem Kopf hatte, relativ selbständig war und nicht ständig von einem Kapo oder SS-Mann beaufsichtigt wurde“)
- Freundschaften
- Fähigkeiten und Kenntnisse aus der „Freiheit“ („Dadurch, daß ich Deutsch konnte, fiel es mir leichter, das Lager zu überleben“)
Äußere Überlebensfaktoren
- Solidarität mit Mitgefangenen und mit dem Widerstand draußen (über Kassiber)
- Hilfe für Kranke
- leichte Arbeit („Ein gutes Arbeitskommando, d.h. eine leichtere Arbeit im Trockenen, war im Lager mitentscheidend für das Überleben“)
- Glück und Zufall („Es gab auch einige Fälle, in denen ich wie durch ein Wunder überlebte“)
Andere Umstände
- Bestechlichkeit von SS-Männern und Funktionshäftlingen
- Lagererfahrung („Eine »alte Nummer« wurde sogar von SS-Männern erträglich behandelt und genoß Ansehen unter den Häftlingen“)
- Zeitpunkt der Einlieferung (möglichst im Frühsommer, um sich ans Lagerleben allmählich zu akklimatisieren)
So haben ein Zehntel bis ein Fünftel der KZ-Gefangenen überlebt. Ihr Überleben war ein Akt des Widerstands. Am 27. Januar 2005 wird es 60 Jahre her sein, daß Auschwitz befreit wurde. Werden wir uns daran in rechter Weise erinnern? Oder werden wir uns weiter über sinnlose Berliner „Mahnmale“ unterhalten?
Autor: Wolf Oschlies
Literatur
Graml, Hermann (Hrsg.): Widerstand im Dritten Reich. Probleme, Ereignisse, Gestalten, Frankfurt a. M. 1984.
Gruchmann, Lothar: Autobiographie eines Attentäters. Johann Georg Elser. Der Anschlag auf Hitler im Bürgerbräu 1939, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1989.
Herman-Friede, Eugen: Für Freudensprünge keine Zeit. Erinnerungen an Illegalität und Aufbegehren 1942-1948, Metropol Verlag, Berlin 1991.
Hoffmann, Peter: Widerstand – Staatsstreich – Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler, Piper Verlag München 1982.
Hoch,Anton / Lothar Gruchmann: Georg Elser. Der Attentäter aus dem Volke. Der Anschlag auf Hitler im Münchner Bürgerbräu 1939, Fischer Taschenbuch, Frankfurt a. M. 1980.
Jochheim, Gernot: Frauenprotest in der Rosenstraße, Verlag Edition Hentrich, Berlin 1993.
Benz, Wolfgang / Walter H. Pehle (Hrsg.): Lexikon des Deutschen Widerstandes, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1994.
Steinbach, Peter / Johannes Tuchel: Lexikon des Widerstandes 1933 bis 1945, C. H. Beck Verlag, München 1994.
Mallmann, Klaus-Michael / Gerhard Paul: Herrschaft und Alltag. Ein Industrierevier im Dritten Reich. Widerstand und Verweigerung im Saarland 1935-1945, Verlag Dietz, Bonn 1991.
Oschlies, Wolf: Bulgarien – Land ohne Antisemitismus, Erlangen 1976.
Petry, Christian: Studenten aufs Schafott. Die weiße Rose und ihr Scheitern, Piper Verlag, München 1968.
Schmädeke, Jürgen / Peter Steinbach (Hrsg.): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, Piper Verlag, München und Zürich 1985.
Scholl, Inge: Die Weiße Rose. Erweiterte Neuausgabe, Fischer Taschenbuch, Frankfurt a. M. 1993 (erstmals 1955).
Solidarität und Widerstand. Dachauer Hefte 7 (1991).
Szepansky, Gerda: Frauen leisten Widerstand: 1933-1945. Lebensgeschichten nach Interviews und Dokumenten, Fischer Taschenbuch, Frankfurt a. M. 1983.
Van Roon, Ger: Widerstand im Dritten Reich. Ein Überblick, Verlag C. H. Beck, München 1995.
Anmerkungen
[1] Detailliert dazu Wolf Oschlies: Bulgarien – Land ohne Antisemitismus, Erlangen 1976
[2] Vasil Veljanov: Ot zlatnijat rog do Boži grob i Aton – Pătepis (Vom Goldenen Horn zum Gottesgrab und zum Athos – Reisetagebuch), Sofia 1969
[3] Alexandar Mlatkovski: A History of the Jews in Macedonia, Skopje 1982, S. 148 ff., 200 ff.
[4] Peter Steinbach (Hrsg.): Widerstand – Ein Problem zwischen Theorie und Geschichte, Köln 1987
[5] Peter Steinbach in der Einführung, in: Steinbach (Hrsg.): Widerstand… aaO., S. 10, 21
[6] Carl von Clauzsewitz: Vom Kriege, Rowohlt Klassiker – Deutsche Literatur Bd. 12, Hamburg 1963, passim
[7] Branko Petranović, Sava Dautović: Jugoslovenska Revolucija i SSS 1941-1945 (Die jugoslawische Revolution und die UdSSR 1941-1945), Belgrad 1988
[8] Moscha Pijade: Das Märchen von der sowjetischen Hilfe, Neues Jugoslawien Nr. 2, 5.Mai 1950, Wien
[9] Wolf gang Leonhard: Die Wahrheit über das sozialistische Jugoslawien – Eine Antwort auf die Kominform-Verleumdungen, Belgrad 1949
[10] Steinbach, Einführung… aaO., passim
[11] Formuliert in Übereinstimmung mit Steinbach, Einführung… aaO., S. 25
[12] Heinrich Oberreuter: Widerstandsrecht als Aspekt politischer Kultur, in: Steinbach, Widerstand… aaO., S. 293-310, zit. S. 306
[13] Richard Wagner: Der leere Himmel – Reise ins Innere des Balkans, Berlin 2003
[14] Steinbach, Einführung… aaO.
[15] Oberreuter, Widerstandsrecht… aaO., S. 302
[16] Diskutiert bei Oberreuter, Widerstandsrecht… aaO., S. 305 ff.
[17] Peter Hüttenberger: Dimensionen des Widerstandsbegriffs, in: Steinbach (Hrsg.), Widerstand… aaO., S. 80-95
[18] Meyers Lexikon, Bd. 3, 8.A. Leipzig 1937, Spalte 1336-1339
[19] Ian Kershaw: Adolf Hitler und die Realisierung der nationalsozialistischen Rassenutopie, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, Schriften des Historischen Kollege 36, München 2003, S. 133-144
[20] Frank-Lothar Kroll: Nationalsozialistische Rasseutopien in der Deutungskultur der Zwischenkriegszeit, in: Hardtwig (Hrsg.), Utopie… aaO., S. 257-268
[21] Thomas Rohkrämer: Die Vision einer deutschen Technik – Ingenieure und das „Dritte Reich“, in: Hardtwig (Hrsg.), Utopie… aaO., S. 287-307
[22] Lutz Raphael: Sozialexperten in Deutschland zwischen konservativem Ordnungsdenken und rassistischer Utopie (1918-1945), in: Hardtwig (Hrsg.), Utopie… aaO., S. 327-346
[23] Oberreuter, Widerstandsrecht… aaO., S. 299 ff.
[24] Paulheinz Wantzen: Das Leben im Krieg 1939-1946 – Ein Tagebuch, Bad Homburg 2000
[25] Emanuel bin Gorion et al. (Hrsg.): Philo-Lexikon. Handbuch des jüdischen Wissens, Berlin 1935, S. 143 ff.
[26] Ernest K. Bramsted: Goebbels und die nationalsozialistische Propaganda 1925-1945, Frankfurt M. 1971
[27] Sefton Delmer: Die Deutschen und ich, Hamburg 1963, S. 444 ff.
[28] Kurt Finker: Widerstand und Geschichte des Widerstands in der Forschung der DDR, in: Steinbach, Widerstand… aaO., S. 96-112
[29] Rudolf Morsey: Clemens August Kardinal von Galen – Größe und Grenze eines konservativen Kirchenfürsten (1933-1946), in: Jahres- und Tagungsberichte der Görres-Gesellschaft, Köln 1990, S. 5-25
[30] Wantzen, der den 20. Juli kaum erwähnt, hat zum Wirken Galens eine Fülle einmaliger Dokumente zusammengetragen, darunter Abschriften seiner Predigten (S. 496 ff., 522 ff., 584 ff.), alliierte Flugblätter mit den Texten der Predigten (S. 625, 653 ff.), Briefe an Reichsminister Lammers (Justiz, S. 655), Rechtfertigungen der Gestapo (S. 534 ff.) und anderes mehr.
[31] Heinz Hürten: Zeugnis und Widerstand. Zur Interpretation des Verhaltens der katholischen Kirche im Deutschland Hitlers, in: Steinbach, Widerstand… aaO., S. 144-159oświęcim
[32] Wurms Brief ist im vollen Wortlaut in Wantzens Tagebüchern unter dem Oktober 1941 dokumentiert, was wohl nicht auf die Entstehungszeit des Briefs verweist, eher auf die „Umwege“, die dieser Text benötigte, bis er zu dem westfälischen Journalisten gelangte.
[33] Zu einer detaillierten Darstellung des Aufstands und seiner Vorgeschichte vgl. The Marsaw Ghetto Uprising, by Marek Edelman, unter: www.writing.upenn.edu/~afilreis/Holocaust/warsaw-uprising.html
[34] Silke Lent: Die Stunde „W“, in: Die Zeit Nr. 32, 29.7.2004; Werner Röhr: „Gewitterstrum“ über Warschau. Politische Akzente des Aufstands 1944, Teil 1-2, in: Junge Welt 31.7.2004, 2.8.2004
[35] Zenon Jagoda et a.: Das Überleben im Lager aus der Sicht ehemaliger Häftlinge von Auschwitz-Birkenau, in: Die Auschwitz-Hefte, Bd. 1-2, Weinheim und Basel 1987, Bd. 1, S. 13-51, zit. S. 13
[36] Anna Pawełczyńska: Przemiany struktury społecznej a możliwości przeżycia obozu oświęcimskiego (Veränderungen der Sozialstruktur und die Möglichkeiten eines Überlebens im Lager Auschwitz), in: Przegląd Lekarski – Oświęcim Nr. 1/1973, S. 76-81