Eichmann in Jerusalem. Eine Betrachtung in drei Teilen. Teil1 | Teil2 | Teil3
Zum Abschluss des gesamten Beitrages soll zum einen eine Übersicht verschiedener Prozesse gegen NS-Verbrecher verbunden mit der Entwicklung im Völkerrecht bei der strafrechtlichen Aufarbeitung von „Menschheitsverbrechen“, für die Tätertypen wie ein Adolf Eichmann besonders exemplarisch sind, und die erst in den letzten Jahrzehnten abgeschlossen werden konnte, vorgenommen werden. Wie hat sich die Rechtsordnung entwickelt, was wurde aus Versäumnissen bzw. Mängeln aus der Vergangenheit gelernt? Ist die internationale Rechtsordnung (gerne auch als „Wertegemeinschaft“ bezeichnet) heute besser aufgestellt? Wurden Hannah Arendts Befürchtungen, dass eine Wiederholung des „Noch-nie-Dagewesenen“ möglich sei, widerlegt? Schließlich soll es auch um aktuelle Ereignisse in Deutschland gehen, die immer noch nicht abgeschlossen sind. Zum anderen soll auch das spezielle Verhältnis von Historikern und Richtern hinterfragt werden.
C) Von Nürnberg nach Jerusalem und zurück nach Deutschland: zur Rezeption eines Strafverfahrens, den enttäuschten Erwartungen und zu aktuellen Ereignissen und Entwicklungen.
I) Vorbemerkung
Nach der Verkündung des Strafurteils vor dem Jerusalemer Bezirksgericht im Dezember 1961 ging Eichmann über seinen Verteidiger Dr. Servatius gegen den Schuldspruch in Berufung, die im Frühjahr 1962 vom Obersten Gericht („Appellationsgericht“) verhandelt wurde. Der Angeklagte selbst fühlte sich sowohl durch die Verurteilung an sich als auch durch die Begründung benachteiligt; dies hatte er in seinem Schlusswort deutlich zum Ausdruck gebracht:
„Seine Hoffnung auf Gerechtigkeit sei enttäuscht; das Gericht habe ihm nicht geglaubt, obwohl er sich stets bemüht habe, die Wahrheit zu sagen. (…) Seine Schuld war sein Gehorsam, und Gehorsam werde doch als Tugend gepriesen. Seine Tugend sei von den Regierenden mißbraucht worden.“ (1)
Bemerkenswert an Eichmanns Schlusswort sind eigentlich zwei Punkte:
Zum einen hatte er – im Gegensatz zu den meisten anderen Kriegsverbrechern, denen nach 1945 der Prozess gemacht wurde – in seinen wesentlichen Aussagen nicht bewusst gelogen. Die Abweichungen, die tatsächlich auftraten, beruhten meist vielmehr auf seinem in der Tat miserablen Gedächtnis (und natürlich auch an der langen Zeit, die inzwischen vergangen war: über 15, fast 20 Jahre); außerdem versuchte der leitende Staatsanwalt Hausner in zahlreichen Sitzungen, den Angeklagten zu Tatkomplexen und Zusammenhängen zu befragen, die objektiv nicht in Eichmanns Kompetenzen bzw. Verantwortung fielen.
Der Versuch der Anklage, in Eichmann den Hauptverantwortlichen für den Holocaust, insbesondere für die Millionen Toten in den Gaskammern, zu sehen, war im Ergebnis nicht zielführend, vielleicht sogar hinderlich. Denn objektiv war der Angeklagte, auch wenn er dies oft anders wahrgenommen haben mag, nicht derjenige, der politisch (aber auch militärisch) betrachtet, das große Rad drehte: das waren die bekannten Nazi- Größen und spätestens ab 1941 die berüchtigten hohen SS-Führer, wie Heydrich; der Obersturmbannführer Eichmann war hierzu kraft seines Ranges nicht mächtig genug (was ihn ja besonders wurmte).
Zum anderen hat der Angeklagte bis zum Schluss der (Wahn-)Vorstellung nachgehangen, es sei lediglich dieser unselige Gehorsam gegenüber den Gesetzen und Befehlen gewesen, der ihm zum Verhängnis geworden sei. Diese Fehlvorstellung bei Eichmann beruhte letztlich auf dem von Hannah Arendt attestierten Mangel an Vorstellungskraft (man könnte weniger akademisch sagen: Eichmann hat einfach die Augen vor der Realität verschlossen). Man darf ja nicht vergessen, dass Eichmann am 20. Januar 1942 als Protokollführer an der berüchtigten Wannsee-Konferenz teilgenommen hatte.
Dabei war er nicht nur an der organisatorischen Durchführung dieser Besprechung beteiligt oder mit der Reinschrift der stenografischen Mitschrift seiner Sekretärin, Frau Werlemann, beschäftigt, was allein schon zu einer sehr detaillierten Kenntnis der geplanten Vernichtungsmaßnahmen geführt hat (weit mehr als bei den „normalen“ SS-Führern).
Vielmehr wurde Eichmann aber auch in die konkrete Planung der durchzuführenden Deportationen miteinbezogen, z.B. wenn es um die Transportkapazitäten ging, die erforderlich werden sollten, um die „Endlösung“ unter Kriegsbedingungen zu gewährleisten. Auch wenn die rein politischen Entscheidungen andernorts getroffen wurden, ohne auf einen „kleinen“ Judenreferenten Rücksicht zu nehmen, so wurde der subalterne Beamte doch dringend für die Umsetzung dieser Politik benötigt. Bei anderen Tagesordnungspunkten der Wannsee-Konferenz, wie die juristisch aufgeladene Frage der Behandlung „jüdischer Mischlinge“ bzw. „Mischehen“, war der „Transportfachmann“ zwar außen vor, dennoch war Eichmann auch in diese, auf zukünftige Besprechungen verschobenen Planungen involviert; denn aus Sicht der NS-Größen (Hitler, Himmler oder auch dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes Heydrich) war es nur eine Frage der Zeit, wann auch diese spezielleren Fälle der Endlösung zugeführt werden sollten.
Denn ein Punkt, der bei der gesamthistorischen Betrachtung des Zweiten Weltkrieges (besonders der ideologischen Begründung und logistischen Planung) oft zu wenig beachtet wird, ist ja, dass es sich insbesondere um einen „Weltanschauungskrieg“ gehandelt hat: Ein wesentliches Kriegsziel war die Gewinnung von „Lebensraum im Osten“ für das deutsche Volk (eine Art binneneuropäischer Imperialismus).
Daher musste nach der Besetzung Polens und anderer ostmitteleuropäischer Gebiete zwangsläufig der (wenigstens) osteuropäische Teil der Sowjetunion – im Prinzip westlich des Urals und alles im Großraum des Kaukasus – erobert und danach „ethnisch gesäubert“ werden.
Spätestens seit Frühjahr 1940 wurden unter dem Begriff „Generalplan Ost“ detaillierte Pläne und Konzepte ausgearbeitet, die eine ganz neue Siedlungsstruktur für weite Teile Europas beinhalteten. Da es natürlich dabei um die Umsetzung der typischen NS-Rasseideologie ging (hinter allem stand der Reichsführer-SS Heinrich Himmler), verwundert es nicht, dass wesentliche Aufgaben für dieses Großprojekt dem Reichssicherheitshauptamt übertragen wurden – dort dem Amt III (nicht ganz zufällig das benachbarte von Amt IV, in dem das von Eichmann geführte „Judenreferat“ IV B 4 angesiedelt war).
Andere SS-Ämter, vor allem das „Planungsamt des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums“ oder auch das „Rasse- und Siedlungshauptamt“, waren zwar auch stark involviert, doch die Federführung bei diesem Großprojekt lag im von Heydrich bis zu seinem Tod geführten Reichssicherheitshauptamt.
Wären die Hitlerschen Kriegspläne erfolgreich gewesen, hätte dies für über 30 Millionen Menschen die zwangsweise Umsiedlung und Deportation bedeutet – so die tatsächlich geplanten Größenordnungen. Für derartige Größenordnungen war man in Berlin auf bewährte Spezialisten, wie Eichmann, dringend angewiesen; im Extremfall wären nicht nur knapp 11 Millionen Juden, sondern auch noch weit über 30 Millionen Menschen slawischer Herkunft (hauptsächlich Russen und Ukrainer, aber auch viele Polen, Tschechen etc.) von diesem imperialen Größenwahn betroffen gewesen – alles Zivilisten wohlgemerkt, für die die „normale“ Wehrmacht keinesfalls zuständig war, sondern die speziellen Einheiten von SS bzw. Sicherheitsdienst. (2)
Reinhard Heydrich wusste daher genau, wen er (gleichsam handverlesen) zur Wannsee-Konferenz eingeladen hatte und wer für welche Aufgaben geeignet erschien. (3)
Dies betraf natürlich nicht nur Eichmann, der unter all den Akademikern, vornehmlich promovierte Juristen, die sich da am 20. Januar 1942 zu ihrer kleinen „Dienstbesprechung“ am Wannsee eingefunden hatten, fast schon der „underdog“ war und sich geschmeichelt fühlen konnte, in dieser erlesenen Runde mitwirken zu dürfen. (4)
Wenn Eichmann daher bis zuletzt als Grund für seine Verurteilung im Jerusalemer Prozess den blinden Gehorsam, den er seinen Vorgesetzten (und damit augenscheinlich auch dem „Führer“) gegenüber an den Tag gelegt hatte, ankreidete, so belog er sich selbst bzw. weigerte sich, die ihn tatsächlich treffende Verantwortung zu übernehmen. In diesem Punkt war Eichmann prototypisch für viele seiner Generation. Denn der Hang, die – sicherlich unterschiedlich ausfallenden – Verantwortlichkeiten auf andere zu schieben, um das eigene Gewissen weitgehend zu entlasten, war ein weit verbreitetes Phänomen nach 1945/49 – und wurde z.B. in der alten BRD auch von der damaligen Regierung gefördert (Adenauer: „Schlussstrich ziehen“).
Dem Jerusalemer Bezirksgericht war es zumindest in weiten Teilen gelungen, eine objektive Darstellung der maßgeblichen Abläufe zu gewähren. Die drei Richter, allen voran der Vorsitzende Richter Landau, wollten sich nicht vor den Karren der Staatsanwaltschaft spannen lassen, wonach der Angeklagte im Ergebnis der wichtigste Mann im gesamten Holocaust gewesen sei, der die schwerwiegendsten Entscheidungen zu verantworten hatte – losgelöst von politisch über ihm stehenden Entscheidungsträgern. Nach dieser Sichtweise wäre der Völkermord letztlich sogar unterblieben, wäre Eichmann nicht gewesen: ohne Monster keine monströsen Taten (diese Sicht war jedoch auch beim Publikum beliebt).
Eine derart einseitige Betrachtung wäre nun aber wirklich völlig unangemessen gewesen, da man dadurch andere Beteiligte im Reichssicherheitshauptamt oder anderen Dienststellen und Ministerien (die alle Vertreter im Januar 1942 an den Wannsee geschickt hatten) zu Unrecht entlastet hätte.
Das Berufungsgericht allerdings ging bei seiner Begründung größtenteils den Weg, den hauptsächlich Generalstaatsanwalt Hausner von Anfang an einschlagen wollte. Nämlich Eichmann eine Entscheidungsbefugnis einzuräumen, die es ihm gestattet habe, nahezu autonom die Maßnahmen zu ergreifen, die zu massenhaften Deportationen und Transporten in die Konzentrationslager, Selektionen beim Entladen bis zum Gang in die Gaskammern führten. Als Grund bzw. Motiv für dieses Handeln stellten die Berufungsrichter bei Eichmann fanatischen Eifer und unstillbaren Blutdurst fest. (5)
Zu dieser überspitzten Beschreibung der Eichmann zugeschriebenen Bedeutung gehört auch, dass das Berufungsgericht Adolf Eichmann zum Kreis der Hauptkriegsverbrecher zählte. (6)
Da die Rechtsmittelinstanz in der größtmöglichen Besetzung (mit fünf Berufsrichtern) angetreten war, gab es gegen das Berufungsurteil auch kein weiteres Rechtsmittel, so dass das Todesurteil sofort vollstreckt werden konnte. Unterschiedliche Gnadenersuche wurden vom damaligen israelischen Staatspräsidenten unisono abgelehnt; unabhängig von den möglicherweise beachtenswerten Gründen, die teils in diesen Gesuchen vorgebracht wurden, hätte die Stattgabe das gesamte vorherige Verfahren seit dem Aufgreifen Eichmanns in Argentinien der Lächerlichkeit preisgegeben und der gesamten Reputation des Staates geschadet. (7) Umgehend, nachdem der Staatspräsident am 31. Mai 1962 die Gnadenersuche verworfen hatte, wurde das Urteil ohne weitere Verzögerung vollstreckt. Ende gut, alles gut? – Die Frage ließe sich nun einwenden.
Für den jungen Staat Israel kann mit Sicherheit festgestellt werden, dass – trotz der grauenhaften Vorgänge, die vor Gericht verhandelt wurden und besonders bei den Zeugen (aber auch den normalen Prozessbeobachtern) teils erschütternde Emotionen auslösten – ein rechtsstaatliches Verfahren durchgeführt werden konnte, das auch den Skeptikern dieses Staates zeigte, dass dessen Gründung sinnvoll und daher legitim war (auch wenn man die nicht ganz so positiven Begleiterscheinungen berücksichtigt). Dieser ermutigende Aspekt sollte auch heute noch einen innenpolitischen Vorbildcharakter haben. Wer auf der Seite des Rechts steht, muss jederzeit den Anspruch vertreten, dies auch zur Geltung kommen zu lassen.
Für Deutschland als Land des Täters (damals stand beim Thema „Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen“ eigentlich immer nur die alte BRD im Fokus der Öffentlichkeit – die DDR blieb eigenartigerweise unverdächtig, als wären alle Ex-Nazis nach 1945 auf einen Schlag in den Westen gegangen; doch warum gab es dann innerhalb der „SED“ eine sog. Blockpartei namens NDPD, wenn nicht auch „rechte Erblasten“ ins politische System der DDR integriert werden sollten?) fällt das Ergebnis des Eichmann-Prozesses eher zwiespältig aus. Von der – wie fast immer – dubiosen Rolle des Bundesnachrichtendienstes (und seiner Helfer) abgesehen und auch eingedenk der Tatsache, dass es höchsten Kreisen der Bundesregierung gelungen war, peinliche Enthüllungen zu vermeiden, bleibt der bereits im ersten Teil des Beitrags angesprochene äußerst fade Beigeschmack, dass es durchaus denkbar ist, Eichmann wäre bei einem Strafverfahren in (West-)Deutschland um 1960/61 glimpflicher davon gekommen.
Nicht nur, weil verfassungsrechtlich die Todesstrafe abgeschafft wurde, Artikel 102 des Grundgesetzes, sondern weil es keine gesonderte deutsche Gesetzgebung in Bezug auf die Nazi-Verbrechen (im Gegensatz zur gesetzgeberischen Tätigkeit des Alliierten Kontrollrates 1945/47 oder zur Rechtslage in Israel ab 1950) gegeben hat und alle Verfahren nach dem allgemeinen Strafgesetzbuch (und dem normalen Strafprozessrecht) behandelt wurden – bekanntlich bis heute.
II) Strafverfahren gegen andere NS-Massenmörder und Kriegsverbrecher in (West-)Deutschland
Dieser Punkt, dass ab Herbst 1945 durch die Alliierten Siegermächte verschiedene Strafverfahren gegen ganz unterschiedliche Funktionsträger des „Dritten Reichs“ durchgeführt wurden, zeigt doch, dass trotz aller Schwierigkeiten im juristischen Bereich, aber auch in den tatsächlichen Verhältnissen, eine angemessene Strafverfolgung möglich gewesen ist. Das besonders maßgebliche Londoner Statut für den Internationalen Militärgerichtshof soll an dieser Stelle nicht ausgebreitet werden; jedoch hat dieses sowohl Vorläufer als auch „Nachfolger“ – so lässt sich auch das für den Eichmann-Prozess maßgebliche Gesetz, Nazis and Nazi Collaborators (Punishment) Law, 5710-1950, s. Nachweise im ersten Teil des Beitrages, von diesem Statut ableiten.
Auf jeden Fall ist festzuhalten, dass vor allem Artikel 6c des Statuts für den Internationalen Militärgerichtshof (Verbrechen gegen die Menschlichkeit) große Wirkungen entfaltete – über die unmittelbare Anwendung bei den in Nürnberg durchgeführten Strafverfahren hinaus. Mit Abschluss der gesamten „Nürnberger Prozesse“ (neben dem ersten Verfahren gegen die „Hauptkriegsverbrecher“ gab es noch insgesamt zwölf „Nachfolgeprozesse“) im April 1949 – kurz vor der staatsrechtlichen Bildung zweier eigener Völkerrechtssubjekte mit stark eingeschränkter Souveränität – ging die Strafhoheit auf die alte BRD bzw. die DDR über. Da sich die Aufmerksamkeit, wie oben skizziert, mehr auf die alte BRD gerichtet hat, sollen auch nur die Besonderheiten, die das damalige West-Deutschland betrafen, betrachtet werden.
Daher scheint es zunächst angebracht, noch einmal auf die Nachkriegszeit einzugehen:
„Als Hannah Arendt im Winter 1949/50 im Auftrag (…) zum erstenmal wieder nach Deutschland kam, fand sie ihre Vermutung, daß die Weltlosigkeit der Menschen den Totalitarismus ermöglicht habe, in bestürzender Weise bestätigt. Die Deutschen leben von der Lebenslüge, (…) versuchen, dem Geschehenen (…) zu entfliehen, um dauernd beschäftigt zu sein, ermangeln allgemein der Emotionen und stellen die alliierte Politik als erfolgreichen Rachefeldzug dar. An den Universitäten haben die Herren Professoren offenbar von den Nazis gelernt (…). Die Entnazifizierung mußte in einem Volk scheitern, in welchem die Linie, die Verbrecher von normalen Menschen, Schuldige von Unschuldigen trennt, so effektiv verwischt worden ist, daß morgen niemand in Deutschland wissen wird, ob er es mit einem heimlichen Helden oder einem ehemaligen Massenmörder zu tun hat. (…) Adenauer konnte dreist die Lüge verbreiten, die Mehrheit des deutschen Volkes sei gegen Hitler gewesen. (…) Zu guter Letzt traf Arendt dann in den sechziger Jahren auf eine wirklich erstaunliche Unbekümmertheit, mit der man sich offenbar damit abgefunden hat, »die Mörder unter uns« zu wissen.“ (8)
Die ersten Eindrücke, die Arendt Ende 1949, knapp über drei Jahre seit dem Abschluss des Hauptkriegsverbrecherprozesses in Nürnberg und kein Jahr nach Ende des letzten der Folgeprozesse, gewinnen konnte, bestätigten lediglich ähnliche Aussagen von deutschstämmigen „Rückkehrern“, die meist im Dienst der US-Regierung (entweder bei der Army oder im militärischen Nachrichtendienst) ab Anfang 1945 in ihre ehemalige Heimat kamen und kaum einen Deutschen fanden, der „dabei gewesen“ war bzw. sich zu irgendetwas bekannte. Die bösen Nazis waren immer die anderen: Nachbarn, Kollegen oder Vorgesetzte; die Verdrängung der NS-Vergangenheit scheint bei vielen Deutschen mit dem Hissen der weißen Fahne (meist ein Betttuch o.ä.), wenn die Alliierten vor der eigenen Haustür standen, eingesetzt zu haben. Grund für dieses psychologische Paradox war für Arendt, wie auch für andere Beobachter, die unter den Bedingungen eines totalitären Regimes gemachten Erfahrungen, dass bestimmte politische Inhalte bzw. Ideologien nahezu unbegrenzt austauschbar sind:
„Nichts ist kennzeichnender für die totalitären Bewegungen im allgemeinen und für die Qualität ihrer Führer im besonderen als die verblüffende Schnelligkeit, mit der sie vergessen, und die verblüffende Leichtigkeit, mit der sie ausgewechselt werden können.“ (9)
Das galt nach Arendts Beobachtungen sowohl für Stalin (und seine Nachfolger) als auch noch viel deutlicher für Hitler, der zu Lebzeiten fast gottgleich verehrt oder sogar hündisch angehimmelt, aber kaum nach seinem Tod schnellstmöglich vergessen wurde. Als Grund für diese „Bestandlosigkeit“ vermutete Arendt eine sprichwörtliche Unbeständigkeit der Massen verknüpft mit einer totalitären Regimen immanenten „Bewegungssüchtigkeit“. Denn mit dem Wegfall des totalitären Regimes bzw. Tod des „Anführers“ fehlt zunächst der maßgebliche propagandistische Anknüpfungspunkt, um die „Ideologie“ massentauglich zu machen. (10) Als tiefere Ursache benennt Hannah Arendt eine „Weltlosigkeit“ oder in anderen Worten die Entwurzelung des „modernen Menschen“ in der Massengesellschaft.
Aber von diesen eher soziologischen Betrachtungen abgesehen, ist es doch frappierend, dass nach Abschluss der ganzen Nürnberger Prozesse so wenig von den Zielen der Siegermächte, die sie im Sommer 1945 auf der Potsdamer Konferenz zum Thema „Entnazifizierung“ gleichsam als künftige „Staatsräson“ aufgestellt hatten, in der Realität der Deutschen nach 1945 umgesetzt werden konnte; zumindest in der alten BRD.
Zwar hat bis 1949 in Westdeutschland tatsächlich eine relativ große Zahl an Verfahren gegen ehemalige NS-Verbrecher stattgefunden (solange ein gewisser Druck der Alliierten vorhanden war), doch änderte sich dies ab 1950 merklich: von 1523 Verurteilungen in 1949 ging die Zahl der rechtskräftigen Urteile auf 21 im Jahr 1955 zurück. (11) Diese Wende in der Praxis der Strafverfolgung hat natürlich verschiedene Ursachen, folgte aber in Westdeutschland einer gewissen Kontinuität bzw. „inneren Logik“. Bereits Ende 1946 erfolgte eine aufsehenerregende Verfahrenseinstellung, als das Landgericht Offenburg den Mordprozess gegen den Mittäter am tödlichen Attentat auf Matthias Erzberger im August 1921 (!), Heinrich Tillessen, einstellte; Begründung: der erst 25 Jahre nach der Tat angeklagte Mörder falle unter die Amnestie vom März 1933, mit der die neuen Machthaber allen „alten Kameraden“ Straffreiheit für die in der sog. Kampfzeit begangenen Straftaten gewährte. Rein methodisch („technisch“) betrachtet, hatte das Landgericht einen eleganten Weg gewählt, die vom Sach- verhalt unstreitige Täterschaft des Angeklagten auszublenden, indem ein angebliches Verfahrenshindernis, nämlich die sog. Straffreiheit, als gegeben angenommen wurde: die technische Verfahrenseinstellung glich einem Freispruch durch die Hintertür. Wahrscheinlich, weil Erzberger im heutigen Baden-Württemberg relativ beliebt war, was zu einer großen Empörung unter der Bevölkerung führte, und die damalige Besatzungsmacht Frankreich einen derartigen Affront nicht dulden konnte, wurde dieses Urteil von einem übergeordneten französischen Tribunal aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung an das Landgericht Konstanz überwiesen, wo es dann 1947 zu einem Schuldspruch gegen Tillessen gekommen ist. (12)
Ganz ähnlich haben viele andere westdeutsche Gerichte in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren argumentiert, wenn sie Verfahrenseinstellungen erreichen wollten. Meist gelang dies problemlos über die Verjährungsvorschriften, indem z.B. eigentliche Mordanklagen auf „einfachen“ Totschlag herabgestuft wurden, dieser verjährte dann nämlich 1960 (also 15 Jahre ab 1945), bis dann erst relativ spät diese Fristen verlängert wurden, so dass auch noch nach 1960 über diese Taten verhandelt werden konnte. Als dann 1968 die Verjährung für praktisch alle Beihilfetaten eingeführt wurde, konnten selbst große Verfahren, auf die die Staatsanwaltschaften viel Energie verwendet hatten, von den Landgerichten kurz und bündig eingestellt werden (Stichwort: Eduard Dreher und der Verjährungsskandal im Herbst 1968). Es hat sogar fast schon skurril anmutende Einstellungsbegründungen gegeben, wie in einem Fall des Landgerichts Memmingen, wo einem angeklagten Täter der Waffen-SS der sog. Strafklageverbrauch zugutegehalten wurde, weil dieser „Exzeßtäter“ sogar schon von einem SS-Gericht verurteilt worden war, aber wegen „Ungehorsams“ und „Pflichtverletzung“ (er war wohl selbst für SS-Verhältnisse zu krass), gerade nicht wegen typischer NS-Verbrechen. 1960 hatten sich die Richter am Landgericht Memmingen nicht entblödet, auf das Urteil eines SS-Gerichts abzustellen, um ein eigenes Verfahren nicht eröffnen zu müssen:
„Faktisch wurde damit von einem bundesdeutschen Gericht auch die Passage des damaligen Urteils mitvollzogen, in der die Ermordung der Juden als nicht strafwürdig erachtet wurde, da, so die Nazi-Juristen, es »um keinen der getöteten Juden schade« sei.“ (13)
Die von der Staatsanwaltschaft gegen die Einstellung eingelegte Beschwerde wurde dann auch erwartungsgemäß vom Oberlandesgericht München verworfen (der SS-Mann blieb also in der BRD straffrei; dagegen wurden Untergebene dieses SS-Mannes später wegen desselben Sachverhalts verurteilt, nachdem die Rechtslage in Bezug auf Beihilfehandlungen erneut geändert worden war).
Allerdings hat es auch eine beachtliche Zahl an positiven Beispielen gegeben, in denen die westdeutsche Justiz den Strafanspruch eines Rechtsstaates (zumindest dem Grunde nach) umgesetzt hat. Quasi zur Ehrenrettung sollen stichpunktartig folgende Strafverfahren vor verschiedenen Landgerichten genannt werden: wie den Chełmno-Prozess in Bonn, den Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main, den Sobibór-Prozess in Hagen und die Prozesse zu Treblinka und Majdanek in Düsseldorf. Darüber hinaus der über die Stadtgrenzen hinaus bekannt gewordene „Ulmer Einsatzgruppen-Prozess“ 1958 oder auch ein weniger bekanntes Strafverfahren vor dem Braunschweiger Landgericht, in dem 1964 ehemalige Angehörige der SS-Kavallerie wegen Massenmordes und Kriegsverbrechen angeklagt worden waren. (14) Der Hauptangeklagte, der ehemalige Chef der Reiterabteilung Franz Magill, wurde wegen Beihilfe zum Mord in über 5200 Fällen zu fünf Jahren (damals noch) Zuchthaus verurteilt.
Gerade an diesem Verfahren sind zwei Punkte interessant:
In der Zeit von Ende Juli bis nicht einmal Mitte August 1941 wurden im Großraum Pinsk (heute Belarus) „eine Größenordnung von ungefähr 14 000 Juden, fast ausschließlich Männer und Jungen (…) von Magills Abteilung während ihres ersten Einsatzes im Pripjet-Gebiet ermordet“. (15) Dieses Massaker hatte augenfällig mit Eichmanns Wirken im Reichssicherheitshauptamt rein gar nichts zu tun, die von ihm geleitete Abteilung wurde im Sommer 1941 überhaupt erst eingerichtet und vor allem waren die o.g. Opfer ja alle vor Ort ansässig, so dass keinerlei Transport notwendig war. Gleiches gilt für das im Herbst 1941 in der Schlucht von Babyn Jar (Ukraine) verübte Massaker.
Und zum zweiten, dass es wohl das einzige Strafverfahren gegen ehemalige Angehörige der SS-Kavallerie geblieben ist, das tatsächlich mit Verurteilungen endete. Weitere Ermittlungsverfahren dieser Art wurden unter Hinweis auf die Verjährung (siehe oben) eingestellt.
Dass überhaupt eine relativ kleine Schar williger Staatsanwälte ab 1960 unverdrossen gegen NS-Verbrecher zumindest „Vorermittlungen“ anstellten, war auch eine -zumindest mittelbare- Folge des o.g. Ulmer Prozesses, da dieser zum Anlass genommen wurde, Ende 1958 die sog. „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ mit Sitz in Ludwigsburg einzurichten. Dort konnten wenigstens bestimmte Aufgaben zur Koordinierung und zum Austausch bzw. Abstimmung von Informationen und Beweismitteln vorgenommen werden. Der im ersten Teil des Beitrages kurz genannte Staatsanwalt Zeug gehörte dieser Behörde an, als er 1961 als eine Art besonderer Prozessbeobachter in Jerusalem vor Ort war, um Erkenntnisse aus den Aussagen Eichmanns für bundesdeutsche Strafverfahren zu sammeln; seine Ausbeute war jedoch eher dürftig, genauso wie die Erfolgsbilanz der „Ludwigsburger Zentralstelle“ lange Jahre durchwachsen gewesen ist. Dennoch sind bis heute (trotz des natürlichen Schwunds möglicher Angeklagter) immer noch Ermittlungs- und auch Strafverfahren anhängig, die auf Initiative der Ludwigsburger Behörde beruhen; ein langer Atem ist für derartige Bemühungen notwendig (siehe auch weiter unten).
Außerdem sei noch angemerkt, dass neben der justiziellen Zentralstelle auch noch eine „Forschungsstelle“ in Ludwigsburg ansässig ist, die nicht mehr benötigte Unterlagen aus NS-Verfahren auswertet; auch hierbei ist viel Akribie und Fleißarbeit nötig. Insgesamt wird man wohl neutral festhalten können, dass die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen insgesamt (nicht nur die mit Bezug zum Holocaust) in West-Deutschland in den ersten Jahrzehnten nach 1945 ambivalent vonstatten gegangen ist.
Nach Abschluss der „Nürnberger Verfahren“ Anfang 1949 ging mit der staatsrechtlichen Gründung der Bundesrepublik auch (zumindest größtenteils) die „Strafgewalt“ auf den neuen Staat über.
Soweit die Opfer von NS-Verbrechen keinen Bezug zu den (westlichen) Siegermächten hatten, also nahezu alle zivilen Opfer in den Konzentrationslagern oder auch schon zuvor bei den Einsatzgruppen, war die deutsche Justiz ausschließlich zuständig; die sehr unterschiedlichen Entwicklungen wurden zumindest im Überblick angerissen. Von den o.g. erfolgreich durchgeführten Strafverfahren vor verschiedenen Landgerichten abgesehen, blieben – allein schon wegen der schieren Menge – sehr viele Täter ungestraft (erst die letzten knapp über zehn Jahre sind dann auf einmal doch noch diverse Verfahren in Gang gekommen: gegen Beschuldigte/Angeklagte, die meist nur untergeordnete Tätigkeiten verrichteten und durchweg weit über 90 Jahre alt sind und sich im Falle der Anklageerhebung oft vor Jugendstrafgerichten wiederfinden). In den 1950er und 60er Jahren ging daher zu Recht das Wort umher: „die Mörder leben unter uns“. (16)
Doch selbst wenn bestimmte Täter und Tätergruppen angeklagt wurden, gab es -zumindest zeitweise und auch regional unterschiedlich – eine feststellbare Tendenz der Gerichte, relativ milde zu urteilen. Daher waren die Befürchtungen, die anlässlich des Eichmann-Prozesses geäußert wurden, dass dieser vor einem westdeutschen Gericht weniger streng behandelt bzw. milder verurteilt worden wäre (z.B. statt Täterschaft lediglich wegen Beihilfe) nicht von der Hand zu weisen.
III) Entwicklungen auf internationaler Ebene
Wie bereits ab Herbst 1945 anlässlich des Hauptkriegsverbrecherprozesses vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg deutlich wurde, hatte eine unterschiedliche strafrechtliche Aufarbeitung der gesamten NS-Verbrechen stattgefunden, insbesondere unterschieden nach der Herkunft der Opfer. Sofern lediglich innerstaatliche Straftaten aufzuklären waren, hielten sich die drei westlichen Siegermächte in ihren Zonen auffällig zurück und überließen diese Aufarbeitung (Ermittlung und Anklageerhebung) den jeweiligen deutschen Justizbehörden; die sowjetrussische Militäradministration hatte jedoch von Anfang an andere Ziele in ihrer „Zone“ verfolgt, die nur noch vage mit den Vorgaben des Potsdamer Abkommens zusammenhingen. Davon abgesehen, hatte der sich rasant ausbreitende Ost-/West-Konflikt ab Frühjahr 1947 dazu geführt, dass die ehemaligen Alliierten keine gemeinsamen Interessen mehr in Bezug auf „Deutschland als Ganzes“ verfolgten. Die ab Frühjahr/Sommer 1949 endgültig zementierte Teilung in einen west- und ostdeutschen (Teil-)Staat wirkte sich natürlich auch auf die Praxis der Strafverfolgung von NS-Verbrechern aus.
Als (wenn auch eher unbeabsichtigte) Konsequenz der „Blockbildung“ gab es dann auch keinerlei gemeinsame Anstrengungen der ehemaligen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, die teils weltweit verstreut lebenden ehemaligen SS-Männer, deren Verbrechen nahezu alle aktenkundig waren, zur Verantwortung zu ziehen. Dies hatte aber, neben den weltpolitischen Auswirkungen des „Kalten Krieges“, auch noch andere Gründe: Vor allem westliche Geheimdienste hielten ihre schützenden Hände über viele Ex-Nazis (wohl wissend, mit wem sie „das Bett teilten“); daneben sorgten die bei Katholiken besonders beliebte „Rattenlinie“ nach Südamerika (nicht nur nach Argentinien) und die Möglichkeit, bestimmte Hauptstädte im „Nahen Osten“ als Unterschlupf zu nutzen, dafür dass eine Vielzahl dieser Verbrecher in Freiheit leben konnten.
Dieser kurze Abriss soll zeigen, wie schwierig es auf internationaler Ebene gewesen ist (eigentlich sogar noch bis heute geblieben ist, Stichwort: Ukraine-Krieg), Kriegsverbrecher und „Verwaltungsmassenmörder“ strafrechtlich zu verfolgen. Im besonders gewalttätigen 20. Jahrhundert zeigte sich diese institutionelle Schwäche bereits direkt nach Ende des Ersten Weltkrieges, als es den damaligen Siegermächten nicht gelang, einen der als Aggressor gesuchten Hauptverantwortlichen für den Kriegsausbruch, den ehemaligen deutschen Kaiser Wilhelm II., „unter öffentliche Anklage“ zu stellen (so die unmissverständliche Regelung in Artikel 227 Abs. 1 des Versailler Vertrages).
Davon abgesehen, dass der eigentliche Hauptvorwurf, den man dem letzten Hohenzollern machen muss, in seiner eklatanten Unfähigkeit in politischen Angelegenheiten bestand, und sein Hauptbeitrag an der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (die berühmte Formulierung George F. Kennans) darin bestand, gemäß Artikel 11 Abs. 1 der Reichsverfassung von 1871 völkerrechtlich verbindlich die Kriegserklärungen gegenüber Russland und Frankreich abgeben zu haben (Großbritannien folgte seinerseits aufgrund der Bündnisverpflichtungen und der Kriegseintritt der USA 1917 erfolgte durch den damaligen US-Präsidenten als Reaktion auf den U-Boot-Krieg), die wahren Kriegstreiber aber im Generalstab und in großen Teilen der Waffenindustrie zu suchen waren, war auch die innenpolitische Situation in der frühen Weimarer Republik viel zu aufgeheizt (vor allem wegen des Kriegsschuld-Artikels 232 des Versailler Vertrages), um eine sachgerechte juristische Aufarbeitung der Ursachen für den Kriegsausbruch 1914 vornehmen zu können; die Weigerung der Niederlande, den Ex-Kaiser auszuliefern, und ein schnell einsetzendes Desinteresse der Engländer taten ihr Übriges, um Wilhelm von Preußen vor einem internationalen Strafverfahren zu bewahren.
Bekanntlich gelang es den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges ab Herbst 1945, ein solches Militärtribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher durchzuführen; jedoch war die Zahl der Hauptangeklagten aus mehreren Gründen überschaubar und vor allem die Täter, die gleichsam in zweiter Reihe standen, mussten in den sog. Nürnberger Folgeverfahren behandelt werden, als das öffentliche Interesse im In- und Ausland bereits merklich nachgelassen hatte, oder konnten sich ihrer juristischen Verantwortung ganz oder zumindest lange Zeit entziehen. Wie bereits ausgeführt, haben dann ab den späten 1940er Jahren die weltpolitischen Ereignisse maßgeblich dazu beigetragen, dass viele der Täter, die als Angehörige der (Waffen-)SS oder des „Sicherheitsdienstes“ besonders an der Ostfront eingesetzt waren, um dort bewusst am Völkermord teilzunehmen, vom Radar der Strafverfolger verschwanden. Sobald die Siegermächte mit der BRD und der DDR zumindest teilweise souveräne Staaten errichtet hatten, denen die Zuständigkeit für die Strafverfolgung auch von NS-Verbrechern übertragen wurde und eine zumindest formal unabhängige Justiz geschaffen worden war, lag es auch nicht mehr in der Hand der ehemaligen Alliierten, unmittelbar gegen SS-Männer vom Schlage eines Adolf Eichmanns vorzugehen.
Selbst wenn eine international agierende Organisation (als erstes würde einem z.B. der Jüdische Weltkongress o.ä. einfallen) versucht hätte, auf Ebene der Vereinten Nationen vorzugehen, wäre ein solches Unterfangen im Ergebnis wirkungslos geblieben. Die Charta der Vereinten Nationen sieht keine Prozesse oder ähnliche Verfahren vor, die auf konkrete Sanktionen gegen individuelle Straftäter abzielen würden. Gemäß Artikel 92ff. der Charta der Vereinten Nationen gibt es zwar einen „Internationalen Gerichtshof“, für den sogar ein separates Statut erlassen wurde, doch gilt dieser grundsätzlich nur für UN-Mitglieder. Und wie aktuell im Ukraine-Krieg vor Augen geführt, kann ein ständiges Mitglied im sog. UN-Sicherheitsrat alle möglichen „Entscheidungen“ durch ein Veto blockieren.
Bedenkt man dabei, dass zumindest die Grundgedanken, die heute als „Kriegsverbrechen“, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ oder auch als „Völkermord“ zum alltäglichen Vokabular in der medialen Berichterstattung avanciert sind, teils seit dem 17. Jahrhundert (insbesondere verbunden mit dem Namen Hugo Grotius, „Vater des modernen Völkerrechts“) bekannt sind und diskutiert werden und dass besonders die Haager Landkriegsordnung (1899/1907) eigentlich schon moderne juristische Begriffe und Sanktionen entwickelt hat, dass das Statut des Internationalen Militärtribunals 1945 einschließlich der Vorarbeiten seit 1942 (United Nations War Crimes Commission) die maßgeblichen Tatbestände und Verfahrensvorschriften zur Verfügung stellt und auch das israelische Gesetz zur Aburteilung von Nationalsozialisten und ihren Helfern von 1950 hierauf aufgebaut ist (wobei hier speziell ein Schwerpunkt auf Verbrechen gegen das jüdische Volk gelegt wurde) und schließlich auch das Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949 Befugnisse einräumt, wundert es doch, wie schwierig sich insgesamt die Strafverfolgung ehemaliger Nazis gestaltet hat.
Ein wesentlicher Grund für diese lückenhafte Aufarbeitung war über lange Jahrzehnte nach 1945, dass das Strafrecht als Bestandteil einer objektiven Rechtsordnung nach wie vor zum Kernbereich jedes Nationalstaates gehört (die westliche Politik- bzw. Staatstheorie beruht ganz wesentlich bei der Konstruktion des „Staates“ auf den drei Elementen von Staatsgebiet, Staatsvolk und besonders der „Staatsgewalt“ – nach wie vor maßgebend: Georg Jellinek; außerhalb der westlichen Hemisphäre gibt es natürlich auch andere Theorien und Definitionen zum Staatsbegriff). Ganz besondere Domäne der innerstaatlichen „Staatsgewalt“ ist naturgemäß das Strafrecht (in Deutschland zumindest seit Beginn der sog. Neuzeit; zuvor gab es bis Ende des späten Mittelalters ausgeprägt „private“ Strafverfolgung; im angelsächsischen Raum gibt es noch heute die Möglichkeit, in Zivilverfahren auch strafrechtliche Sanktionen zu verhängen, z.B. exorbitant hohe Strafzahlungen). Konkret auf den Eichmann-Prozess bezogen: An seinem Aufenthaltsort in Argentinien waren viele der Straftatbestände, für die Adolf Eichmann in Jerusalem vor Gericht stand, überhaupt nicht bekannt und somit auch nicht verfolg- und sanktionierbar; und sofern allgemeine Straftaten (im Bereich der „Kapitalverbrechen“, also Schwerstkriminalität) auch in Argentinien bekannt waren und justiziell verfolgt wurden, waren diese im Jahr 1960, als man Eichmann habhaft wurde, wohl alle kurz vorher verjährt. Sprich: von seiner aufgrund gefälschter Dokumente illegalen Einreise nach Argentinien abgesehen, hatte Adolf Eichmann 1960 in seinem Exil strafrechtlich eine „weiße Weste“.
Im damaligen Deutschland hätte es in Ost-Berlin zwar mit Sicherheit ein großes Interesse an einem Schauprozess gegen Eichmann gegeben, aber die DDR war zu keinem Zeitpunkt involviert, um seine Auslieferung zu erreichen; Bonn (also verkürzt gesagt: die Adenauer-Regierung) hatte mangels Interesses nicht einmal versucht, die vorhandenen diplomatischen Kanäle zu aktivieren: ein Strafprozess gegen Eichmann war in der alten Bundesrepublik Anfang der 1960er Jahre einfach nicht opportun. Ein Dritt-Staat, also einer, bei dem es keine sog. „Anknüpfungspunkte“ territorialer oder personaler Art gegeben hätte, so dass das erst später etablierte „Weltrechtsprinzip“ zur Anwendung gekommen wäre, war ebenfalls keiner vorhanden; außer eben Israel.
Soweit zur Erklärung, warum die „Causa Eichmann“ (aber auch andere Fälle) in dem geschilderten Kompetenz-Wirrwarr unterzugehen drohte, nämlich aufgrund der einzel- bzw. nationalstaatlichen Unterschiede in den jeweiligen Rechtsordnungen und divergierender politischer Interessen.
Um diesen nationalstaatlich völlig unterschiedlich geknüpften Flickenteppich im Bereich des Strafrechts zu vereinheitlichen, hätte es also einer supra- oder internationalen Übereinkunft bedurft, die jedoch um 1960 völlig utopisch gewesen ist. Man kann daher die von zahlreichen Persönlichkeiten geäußerte Kritik an der Zulässigkeit des Jerusalemer Strafverfahrens (vor allem hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit) nachvollziehen, doch realpolitisch gab es wohl kaum eine Alternative. Gegen New York als Hauptsitz der Vereinten Nationen hätte neben der fehlenden rechtlichen Grundlage in der UN-Charta auch das gleiche Argument gesprochen, das gegen Jerusalem als Gerichtsort vorgebracht wurde, nämlich zum Zeitpunkt der inkriminierten Handlungen (also Eichmanns Verbrechen ab 1941 bis Frühjahr 1945) haben die Vereinten Nationen als Institution noch gar nicht existiert. Theoretisch hätte an Genf als Sitz des früheren Völkerbundes gedacht werden können, wenn man ein internationales Tribunal gegen Eichmann hätte einrichten wollen. Doch hätte dies mit Sicherheit zu größeren Verzögerungen geführt, für die zumindest in Israel aus guten Gründen niemand Verständnis gehabt hätte.
Kurzum: Ein international anerkanntes und verbindliches „Statut“ zur Verfolgung Eichmanns (und ähnlich gelagerter Fälle) hat es nach Auslaufen der Nürnberger Prozesse zum Zeitpunkt des Jerusalemer Strafverfahrens 1961 (noch) nicht gegeben und ein universell anerkanntes „Weltrechtsprinzip“ hat sich auch erst viel später endgültig durchgesetzt. Nur langsam konnte die Lücke geschlossen werden, die seit dem Ende der Nürnberger Prozesse entstanden war; insoweit musste eine spürbare Enttäuschung der Weltöffentlichkeit wegen dieser Folgenlosigkeit einsetzen. Ein Resultat dieses langsam einsetzenden Umdenkens war, dass etwa ab 1980 erste internationale Treffen oder sog. Tribunale abgehalten wurden, auf denen die nach wie vor virulenten Themen wie Angriffskrieg und Kriegsverbrechen bzw. Völkermorde und Verbrechen gegen die Menschlichkeit öffentlich behandelt wurden. Erste wirklich greifbare Resultate des sich nun etablierenden Völkerstrafrechts waren die „Tribunale“ für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda; daran war besonders der UN-Sicherheitsrat beteiligt, nachdem sich 1990/91 die bis dahin alles bestimmende „Blockbildung“ (zumindest teilweise) auflöste und die Großmächte ihre Verantwortung erkannten und auch wahrnahmen. Somit war nunmehr der juristische Weg eröffnet, allgemein verbindliche Regeln zur Verfolgung und Aburteilung von Kriegsverbrechen, Völkermord oder auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit etc. zu erlassen. Über fünf Jahrzehnte nach Gründung der UN gelang es 1998, mit dem sog. Römischen Statut, eine (theoretisch) weltweit gültige Rechtsgrundlage für derartige Verbrechen zu schaffen, welches auf viele bewährte Vorgänger aufbauen konnte. Das wichtigste Organ, das im Römischen Statut verankert und mit eigenen Befugnissen ausgestattet worden ist, fungiert seither als „Internationaler Strafgerichtshof“ (IStGH) mit Sitz in Den Haag. Das Statut umfasst knapp 130 Artikel; die wichtigsten Gegenstände der Gerichtsbarkeit, für die der IstGH zuständig ist, sind in Art. 5 aufgezählt, siehe Absatz 1: „Die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs ist auf die schwersten Verbrechen beschränkt, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren. Die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs erstreckt sich in Übereinstimmung mit diesem Statut auf folgende Verbrechen:
- das Verbrechen des Völkermords;
- Verbrechen gegen die Menschlichkeit;
- Kriegsverbrechen;
- das Verbrechen der Aggression.“
Die relevanten Tatbestandsmerkmale werden dann in den folgenden Artikeln näher konkretisiert. Die Bundesrepublik Deutschland hat dann auch (immerhin) im Jahre 2002 reagiert und das sog. Völkerstrafgesetzbuch erlassen. (17)
Es hat daher etliche Gründe gegeben, warum es nach Abschluss der Nürnberger Verfahren so lange gedauert hat, bis man einzelne Personen wegen ihrer individuell begangenen Straftaten auf internationaler Ebene zur Verantwortung ziehen konnte; neben den dogmatischen Besonderheiten des Völkerrechts (dort sind im Regelfall nur „Völkerrechtssubjekte“ parteifähig) im allgemeinen, war es besonders häufig der Egoismus der Nationalstaaten, der einem sachgerechten Ausgleich von nationalem und supranationalem (Völker-)Strafrecht im Wege stand. 1998/2002 hat somit ein steiniger und langwieriger Entstehungsprozess zu einer zumindest theoretisch verbindlichen internationalen Rechtsordnung geführt, die nunmehr seit knapp zwanzig Jahren für die zivilisierte Welt verfügbar ist. Ob diese aber auch immer angewendet werden kann, steht jedoch auf einem anderen Blatt (wie sich ganz aktuell in der Ukraine nur zu deutlich zeigt; Stichwort: normative Kraft des Faktischen).
Exkurs: Alternativen in der gesamt-deutschen Politik
Natürlich hätten die Deutschen eigentlich allen Grund gehabt, bei dieser Entwicklung als politische Vorreiter oder wenigstens geistige Wegbereiter hervorzustechen; die Realität belehrt eines Besseren. Von den sicherlich objektiv vorhandenen Problemen bzw. Fußfesseln, die die Einbindung der BRD und der DDR in die beiden internationalen Machtblöcke mit sich brachten, abgesehen, waren die jeweiligen Regierungen (wenigstens in Westdeutschland hat es ja tatsächlich verschiedene Konstellationen gegeben), nicht willens, bei der Verfolgung von NS-Straftätern auf internationaler Ebene erkennbare Zeichen zu setzen. Die 1950er und 60er Jahre waren wohl auch nicht für derart souveräne Schritte geeignet, doch ab Ende der 1960er Jahre hätte aber Einiges passieren können:
So wurden 1973 die beiden damals deutschen Staaten Mitglied der UN. Dies hätte durchaus zum Anlass genommen werden können, durch gemeinsame Anstrengungen der damaligen Regierungen in Bonn und Ost-Berlin, auf der neu eröffneten Weltbühne ein gemeinsames Zeichen gegen die Ex-Nazis zu setzen. Beide Regierungschefs, Willy Brandt (geb. Frahm) und Honecker, haben doch zumindest in ihrer Jugend die gleichen Ideale der „Arbeiterbewegung“ geteilt (auch wenn Ideale und praktisches Handeln später weit auseinanderfielen). Weder Washington noch Moskau hätten gegen eine solche „Absichtserklärung“ etwas haben können (davon abgesehen, hätte sich eine solche Geste von beiden Supermächten propagandistisch bestens vermarkten lassen). Dann hat es im Zuge der Verhandlungen zur Vorbereitung der deutschen Einheit im Frühsommer 1990 genug Möglichkeiten gegeben, dass beide Verhandlungsdelegationen auch das Thema „Strafverfolgung gegen ehemalige NS-Täter“ auf die Agenda hätten setzen können; das Thema Ausgleichsansprüche, Restitution etc. war ja auch wichtig genug, um dann später in Gesetzesform umgesetzt zu werden. Auch insoweit hätten die ehemaligen Siegermächte keinen Grund gehabt, im Rahmen der „Zwei-plus-vier-Verhandlungen“ im Sommer/Herbst 1990 dem Ansinnen der deutschen Politik auf (wenn auch verspätete) juristische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit die Zustimmung zu verweigern. War es den damaligen Ost-Berliner Verhandlungsführern egal, weil viele befürchten mussten, in einem wiedervereinigten Deutschland von der politischen Bühne zu verschwinden? Hatte Bonn die Befürchtung, wenn das Thema „Aufarbeitung der NS-Vergangenheit“ während des Wiedervereinigungsprozesses zu präsent geworden wäre, dass auch z.B. Polen als direkter Nachbar bereits Mitte 1990 Entschädigungs- und Reparationsansprüche geltend gemacht hätte oder gar davon die Ratifizierung des völkerrechtlich verbindlichen „Zwei-plus-vier-Vertrages“ abhängig gemacht worden wäre?
Diese politisch auch heute noch brisanten Fragen können hier nicht vertieft werden, doch lässt sich mit Hannah Arendt aus guten Gründen fragen, welche moralischen Grundsätze die letzten Jahrzehnte „in der Politik“ angelegt wurden und wie tief diese spezielle Form der Heuchelei (hierzu s. weiter unten) verwurzelt ist. Stattdessen soll noch kurz auf eine andere Beziehung eingegangen werden, die gerade im Eichmann-Prozess besonderes Interesse aufgeworfen hat.
Exkurs: Zum Verhältnis zwischen Historiker und Richter
Ein Anlass, sich kurz mit diesem Thema zu befassen, ist die spezielle Taktik des israelischen Chefanklägers im Eichmann-Prozess, Generalstaatsanwalt Gideon Hausner, der besonders die historischen Bezüge des Antisemitismus beim Thema Holocaust in seinem Eröffnungsplädoyer in Rechnung stellte. Dies erfolgte auch mit Zustimmung des damaligen Ministerpräsidenten, was besonders die Kritik Hannah Arendts auslöste; sie war absolut dagegen, in einem Strafverfahren die Wurzeln und Geschichte des jüdischen Volkes zu thematisieren. Sie sprach von einer Demonstration und Lektion für die nichtjüdische Welt; für die Anklagebehörde (und die israelische Regierung) habe die Geschichte selbst im Mittelpunkt des Verfahrens gestanden. (18)
Aber gerade dieser Punkt bzw. Vorwurf macht die Sache besonders interessant: Beide – Historiker wie Richter (zumindest in Strafsachen, in anderen Rechtsgebieten gibt es große Abweichungen) – bemühen sich, aus abgeschlossenen Sachverhalten Rückschlüsse und Kriterien für ihre Arbeit zu finden. Der Historiker stellt eine These auf, z.B. alle Angehörigen der Waffen-SS, die nachweislich an der Ostfront eingesetzt worden waren, hätten bewusst und ohne größere Gewissenskonflikte an Vernichtungsaktionen teilgenommen bzw. mitgewirkt, und versucht diese These anhand von Quellen nachzuweisen. Der Richter in Strafsachen muss für sein Urteil Rechtsnormen (Strafvorschriften) anwenden, indem er die jeweiligen Tatbestandsmerkmale überprüft, ob diese (vom Angeklagten) verwirklicht worden sind, z.B. die Tötung unschuldiger Menschen (in der Regel Zivilisten) auf eine bestimmte Art und Weise. In beiden Fällen, „Verfahrensweisen“ oder Methoden, werden in gewisser Weise „Geschichten“ nacherzählt und auf ihre Nachprüfbarkeit bzw. Glaubwürdigkeit hin beurteilt. Der wesentliche Unterschied zwischen Historikerarbeit und Rechtsprechung ist, dass der Richter für eine methodengerechte, widerspruchsfreie Arbeit den ihm geschilderten Sachverhalt in zweierlei Hinsicht einteilen muss, einmal danach, was ist für die Lösung überhaupt von Bedeutung (alles ohne Fallrelevanz bleibt unbeachtlich) und zweitens, welche Merkmale, die von Relevanz sind, liegen unstreitig vor oder müssen anhand anerkannter Beweislastregeln nachgewiesen werden, um dann im abschließenden Urteil zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten berücksichtigt zu werden.
Unter diesem Gesichtspunkt methodengerechter Prozessführung ist es schon erstaunlich, wenn ein Staatsanwalt den Antisemitismus im Verlauf der Geschichte zum Verfahrensgegenstand (wie eine Art Anklagepunkt) erhebt, obwohl ein derart pauschaler Unrechtsgehalt überhaupt nicht im „Nazis and Nazi Collaborators (Punishment) Law, 5710-1950“ gesetzlich formuliert worden ist. Dieser Antisemitismusvorwurf an die Geschichte sollte auch lediglich als „Aufhänger“ dienen, um der Prozessführung der Staatsanwaltschaft größeren Nachdruck zu verleihen.
Wenn dann aber „die Geschichte selbst“ gleichsam zur Zeugin der Anklage wird, weil der Staatsanwalt versucht, Eichmanns Verbrechen mit historischen Geschehnissen des Alten Testaments – z.B. die auf reine Unterdrückung abzielenden Frondienste des jüdischen Volkes zur Zeit des ägyptischen Pharaos Ramses (2. Buch Moses) oder den Ausrottungsbefehl eines persischen Fürsten namens Haman im Buch Esther (der dort genannte König Ahasveros ist identisch mit dem realen Perserkönig Xerxes um 500 v. Chr.) – in Bezug zu setzen, stellt sich automatisch die Frage nach der Legitimität solch einer Inanspruchnahme der Historie für strafrechtliche Zwecke.
Sofern eine solche Taktik nur zu Showzwecken angewandt wird (weil es halt gut klingt und Aufmerksamkeit verspricht, wenn auf eine mehrtausendjährige Vergangenheit abgehoben wird), ist ein solches Vorgehen seitens eines Staatsanwalts schon fragwürdig. Sollten aber tatsächlich objektiv überprüfbare Fakten und Kausalzusammenhänge in einer Anklageschrift zur gerichtlichen Prüfung gestellt werden, kann eine solche Methode durchaus sinnvoll sein. Im konkreten Fall kann die offizielle Politik des NS-Staates, die ja maßgeblich von den Vorstellungen Adolf Hitlers geprägt gewesen war, auf ihre Bezüge zu bekannten historischen Geschehnissen überprüft werden, um dadurch auch Rückschlüsse auf die Einstellung von subalternen Beamten, wie ein Adolf Eichmann, zu gewinnen. So haben Hitler und viele andere NS-Größen gerne auf ihre geschichtliche Mission hingewiesen und dass sie einen historischen Auftrag zu erfüllen hätten. (19)
Wenn dann die SS-Männer, egal ob in Einsatzgruppen an der Ostfront oder als Schreibtischtäter in ihren Dienstbüros, diese politischen Vorgaben kannten und bereit waren, diese ungefragt umzusetzen, dann kann an einem strafrechtlich relevanten Vorsatz kein Zweifel mehr bestehen. Unter diesem Aspekt wäre eine „Historisierung“ der Tätigkeit von Eichmanns Judenreferat und ganz persönlich von ihm selbst tatsächlich ein Merkmal, das für die Urteilsfindung des Gerichts Relevanz hätte. Bloße „Stimmungsmache“ gegen den Angeklagten hätte diese Relevanz nicht haben können; davon abgesehen, kann natürlich auch die sicher nicht beabsichtigte Nebenwirkung eintreten, dass unterschiedliche Ereignisse „relativiert“ werden, im Sinne von abgemildert (aktuell sehr oft der Fall).
Hannah Arendt fand die vom Chefankläger Hausner versuchte Historisierung zumindest für unpassend, um über einen einzelnen Angeklagten zu Gericht zu sitzen und eben dieses Gericht in Jerusalem (wenigstens in der ersten Instanz) hat sich dadurch auch nicht von seiner eigentlichen Aufgabe ablenken lassen.
Dennoch stellt sich auch ganz losgelöst vom Eichmann-Prozess die Frage, wie weit es legitim und auch sachgerecht ist, historisch-politisches Unrecht mit den Mitteln des „normalen“ Rechts zu begegnen und zu lösen. Derartige Fragen und Problemstellungen sind – in abgewandelter Form – nach 1990 aufgrund des Wiedervereinigungsprozesses ebenfalls aufgetreten und waren sogar Thema auf dem 42. Deutschen Historikertag 1998. Im seinerzeit herausgegebenen Tagungsband (Intentionen und Wirklichkeiten) gibt es in der „Sektion Zeitgeschichte“ einen Überblick zum Thema „Historiker als Richter und Richter als Historiker“. An dieser Stelle können nicht alle Überlegungen zu diesem Thema wiedergegeben werden, aber die Frage, ob Historisierung nicht genau das Gegenteil von Rechtsprechung bedeutet und wie sinnvoll eine möglichst scharfe Trennung „von Justiz, Politik und Historiographie“ (Michael Stolleis, Rechtshistoriker) erscheint und wie strikt diese durchgeführt werden sollte, ist über den inzwischen auch schon länger zurückliegenden Historikertag hinaus von großer Bedeutung. So muss ein Strafrichter zwar einerseits die historischen Begleitumstände kennen und einordnen können, darf sich andererseits aber auch nicht durch „außerjuristische“ Argumente und Einflüsse (wie „Ideologie“, Parteipolitik oder „öffentliche Meinung“) ablenken lassen. Der Historiker sollte, trotz der hohen und wichtigen Stellung der „Wissenschaftsfreiheit“ als Grundrecht, vermeiden, in sog. Politischen Verfahren Stimmung zu machen bzw. sein eigenes Vorverständnis/Vorurteil unreflektiert als bare Münze zu verkaufen. Müssen aber bei bestimmten Rechtsfragen auch historische Vorfragen oder spezielle Themen angesprochen und geklärt werden (aktuell bei den letzten Strafverfahren gegen „einfache“ SS-Wachmänner oder gar eine Lagersekretärin z.B. die Möglichkeit, sich ohne Nachteile versetzen zu lassen, um nicht mehr in einem Vernichtungslager tätig bleiben zu müssen), müssen solche Gutachten und Expertisen sachlich und unvoreingenommen bleiben. Insoweit liegt es in der Prozessführungskunst des Strafrichters (als dem verantwortlichen Verfahrensleiter), die Beweisthemen so unzweideutig und zielführend zu formulieren und die Gutachter so zu befragen, dass das spätere Strafurteil zweifelsfrei ausfällt. Diese Kunst zweifelsfreier Prozessführung und Urteilsfindung benötigt natürlich außer großer Routine ganz besonders exakt formulierter Rechtsgrundlagen.
Das israelische Gesetz von 1950 hat, bis auf wenige Ausnahmen, diese Voraussetzung erfüllen können; vor allem, weil es eine klare gesetzgeberische Absicht verfolgte, nämlich „Nazis and Nazi Collaborators Punishment“: übersichtliche Tatbestandsmerkmale mit einer eindeutigen Intention. Hier liegen die eklatanten Unterschiede zur (gesamt-)deutschen Rechtslage nach 1949, als das Regime des Internationalen Militärtribunals aufgegeben wurde. Danach musste die Verfolgung von NS-Straftätern, insbesondere den Schreibtischtätern oder den einfachen SS-Männern, gemäß der allgemeinen Vorschriften des Strafgesetzbuches und der üblichen Verfahrensvorschriften erfolgen, die allesamt nicht auf solche bis dahin unvorstellbaren Gräueltaten und barbarischen Exzesse eingestellt waren. Die „normalen“ Straftatbestände zu Mord und Totschlag (traditionell §§ 211, 212 Strafgesetzbuch) sind auf Einzeltäter oder einmalige Taten (auch mehrerer Täter) konzipiert, nicht auf staatlich angeordnete Verwaltungsmassenmorde, die beinahe sechs Jahre andauerten – ohne die bereits vor Kriegsausbruch verübten Morde an deutschen Zivilisten. (20)
Die Unfähigkeit der deutschen Gesetzgebungsorgane (allen voran des Bundestages), vorbehaltlos nach 1949 die Strafverfolgung gegen NS-Täter zu betreiben, lässt sich auch nicht mehr dadurch „relativieren“, dass die letzten 10 bis 15 Jahre gegen untere Dienstränge oder gar Zivilangestellte, die meist noch als Jugendliche in Konzentrationslagern eingesetzt wurden, Ermittlungs- bzw. Strafverfahren eingeleitet und eröffnet worden sind. Zu dieser jüngst ausgelösten Welle hat ausschließlich ein Wandel in der Rechtsprechung der Strafgerichte geführt (wenn man so will, sind es rechtstreue engagierte Staatsanwälte und Richter); die Legislative war daran direkt überhaupt nicht beteiligt. Die jetzt mit weit über 90 Jahren in den Fokus der Öffentlichkeit gestellten Beschuldigten/Angeklagten hätten entweder schon vor über 60 Jahren bestraft werden müssen (dann hätte der Strafzweck „Resozialisierung“ noch Sinn gemacht) oder man müsste, soweit jetzt überhaupt noch möglich, über eine angemessene Form des Täter-Opfer-Ausgleichs nachdenken. Die ganz wenigen noch lebenden unmittelbaren Opfer, aber auch die vielen Hinterbliebenen, haben mehr verdient, als alte Greise in Rollstühlen mit dicken Sonnenbrillen, meist nur noch bedingt verhandlungsfähig, zu erleben, die nur noch mit ihrem Schicksal hadern, weil sie erst über 75 Jahre nach Beendigung der Tathandlungen vor dem (Jugend-)Richter stehen.
IV) Resümee
Dass trotz aller Widrigkeiten der Strafprozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem stattfinden konnte und entgegen gewisser Befürchtungen insgesamt den rechtsstaatlichen Standards, die in den „westlichen“ Staaten üblich sind, entsprochen hat, ist allein schon als ein Erfolg zu nennen. Auch wenn teilweise der Charakter eines Schauprozesses nur schwer zu vermeiden war, und viele der Anklagepunkte neutral betrachtet das Verfahren zu überfrachten drohten, da Eichmann für viele Aktionen und Maßnahmen nun wirklich nicht zuständig oder verantwortlich gewesen sein konnte, hat der Prozess wertvolle Erkenntnisse gebracht.
Wertvolle Erkenntnisse haben aber auch Hannah Arendts Prozessbericht (besonders als Buchausgabe) und die sich daran anschließende Kontroverse für die Nachwelt ergeben. Wie im 2. Teil ausführlich dargestellt, löste Hannah Arendts Buch Eichmann in Jerusalem in den USA, Israel und Deutschland einen »Sturm der Entrüstung« aus: Die Autorin, so lauteten die Vorwürfe, verharmlose die Gestalt Eichmanns, sei als Jüdin nicht solidarisch mit dem eigenen Volk, beschimpfe viele der unfreiwillig als Judenräte eingesetzten Männer als Nazi-Kollaborateure und verkenne die Leistung der deutschen Widerstandskämpfer.
Viele der seinerzeit geäußerten Kritikpunkte erschienen zumindest damals bei oberflächlicher Betrachtung bzw. Befassung mit dem Buch durchaus zutreffend. So hatten natürlich gerade die überlebenden Judenräte bzw. Angehörigen allen Grund, sich von vermeintlich falschen Vorwürfen zu distanzieren. Allerdings hat die Darstellung der Tätigkeit von Judenräten insgesamt nur einen relativ kleinen Teil des Eichmann-Buches ausgemacht und stand sicherlich nicht im Mittelpunkt ihres Interesses:
Arendt wollte vielmehr insbesondere prinzipielle Mängel des Verfahrens aufzeigen, ohne es generell in Frage zu stellen. Drei Probleme waren aus ihrer Sicht grundsätzlicher Art, die sämtlich seit den Nürnberger Prozessen bekannt waren und diskutiert wurden: nämlich, ob eine Beeinträchtigung der Gerechtigkeit und Billigkeit vor einem Gerichtshof des Siegers eintritt, die Klärung des Begriffs „Verbrechen an der Menschheit“ und den neuen Typ des staatlichen Verwaltungsmörders, der erstmals ganz „eigenartige“ Delikte verwirklicht hat.
Viele dieser Kritikpunkte wurden auch von anderen bekannten Persönlichkeiten (insbesondere die Frage, ob das Verfahren vor ein internationales Tribunal gehört hätte) geteilt. Vor 60 Jahren waren außerdem auch viele der streitigen Rechtsfragen noch nicht gelöst oder aber konkretisierungsbedürftig (was sogar danach noch lange Zeit andauerte). Der Begriff „Verbrechen an der Menschheit“ blieb vage, weil er nicht hinsichtlich Vertreibung und Völkermord spezifiziert wurde Schließlich wurde deutlich, dass die bis dahin gebräuchlichen juristischen Begriffe des „gerichtsfreien Hoheitsakts“ eines Staates und des Handelns „auf höheren Befehl“ zur Verurteilung von Straftätern eines verbrecherischen Staates sinnlos geworden waren, wenn in diesem Staat selbst „das Recht“ die Ausnahme war und „Recht und Gesetz“ zu einer völlig verschwommenen Handlungskategorie herabgestuft worden waren. Vor allem weil Normen und Maßnahmen im politischen wie juristischen Raum zu einer ununterscheidbaren Begründungschimäre des allgegenwärtigen Ausnahmezustandes (vgl. Carl Schmitt) wurden – pointiert formuliert: Willkür als Staatszweck. (21) Dies galt jedoch nicht nur für das Deutsche Reich in Gestalt der NS-Diktatur, sondern auch für andere Erscheinungsformen bzw. Ausprägungen des Totalitarismus.
Auf all diese Eigenarten und „Zivilisationsbrüche“ im 20. Jahrhundert versuchte Hannah Arendt (nicht nur im Eichmann-Buch) einzugehen und eine Lösung zu zeigen, um wenigstens die moralischen Konsequenzen von politischem Handeln im weitesten Sinne zu verdeutlichen und zumindest implizit auch immer die Erfahrung eines Neuanfangs mit der Idee der Freiheit zu verbinden (ebenfalls ein oft wiederkehrendes Motiv in Arendts Werken); hieran hat es in ganz Nachkriegsdeutschland nur zu oft gemangelt.
Als Minimum für ein derartiges Verständnis hat sie dabei aber die Fähigkeit zu denken gefordert und vorausgesetzt. Ohne diese Fähigkeit bzw. den Unwillen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, müssen selbst die größten Massenmörder als Kretins oder aber als hirnlose Befehlsempfänger entlarvt werden (was aber keinesfalls zu einer Entschuldigung bzw. Straffreiheit führen kann). An der Strafwürdigkeit Eichmanns hat Arendt nie auch nur einen Zweifel gelassen.
Dennoch war der Obersturmbannführer selbst in seiner affektierten Lächerlichkeit, die Eichmann vor Gericht beinahe in jeder Sitzung offenbarte, in gewisser Weise authentisch. Sein fast schon pathetisch wirkender Vortrag, er habe stets bloß funktionieren wollen, seine Hingabe an die ihm übertragenen Pflichten und der unbedingte Gehorsam waren nicht gespielt oder einstudiert. Vor allem war Eichmann mit dieser Einstellung kein Einzelfall; vielmehr ein Prototyp oder auch Spiegelbild unzähliger anderer Funktionsträger und Bürokraten im Dritten Reich. Insoweit hat die besonders umstrittene Umschreibung von der „Banalität des Bösen“ geradezu eine Allgemeingültigkeit erlangen können. Zu den Hintergründen, worauf diese Formulierung Arendts konkret zurückzuführen war, wurde bereits im zweiten Teil eingegangen; hier soll nur kurz ergänzt werden, dass die Begrifflichkeit von der „Banalität“ bereits in einem Briefwechsel zwischen Arendt und ihrem Doktorvater Karl Jaspers, den sie im Jahre 1946 führten, zirkulierte. (22) Auch insoweit zeigt sich, dass ihre Wortwahl weder zufällig noch ohne Beziehung zu ihrer konkreten Umwelt erfolgte. Dies haben zwar die meisten ihrer damaligen Kritiker nicht gewusst (oder es war ihnen gleichgültig), sollte aber gegenwärtigen Lesern zumindest einen Augenblick des Nachdenkens wert sein.
In diesem Zusammenhang kann – zur Abrundung des Psychogramms von Adolf Eichmann – auch noch eine ganz andere Charakterisierung herangezogen werden, um die von Hannah Arendt als »Allerweltsexistenz« beschriebenen „Eigenschaften“ (nämlich ein im Grunde prinzipienloser Mensch, unfähig zur moralischen Unterscheidung von Recht und Unrecht, der noch über fünfzehn Jahre nach Untergang des NS-Regimes stolz auf seine „gewissenhafte“ Pflichterfüllung gewesen ist) zu betonen: Eichmann als „autoritärer Charakter“. Ein spezieller Begriff, der auf Theodor W. Adorno zurückgeführt wird, und auf einer bestimmten psychoanalytischen Grundlagenforschung der 1940er und 50er Jahre beruht: Beim „autoritären Charakter“ geht es um ein »potentiell faschistisches Individuum« mit zutiefst sadomasochistischen Wesenszügen, das sich durch eine besondere Beziehung zur „Autorität“ auszeichnet: Einerseits eine obsessive Bewunderung von Autoritäten nebst dem tiefen Bedürfnis zur Unterwerfung, andererseits gepaart mit dem unbändigen Verlangen, andere zu beherrschen. (23)
So wie Arendt Eichmanns Persönlichkeit wahrgenommen hat, war dieser geradezu ein mustergültiges Beispiel eines autoritären Charakters im pathologischen Sinne. Die bei der richterlichen Befragung gezeigte unspezifische Empfindungslosigkeit und die seinen Antworten/Reaktionen immanente Gefühllosigkeit war keine einstudierte „Kaltschnäuzigkeit“ und entsprang auch keiner juristischen Finte seines Strafverteidigers, um z.B. den strafrechtlichen Vorsatz zu leugnen, sondern waren, wie oben schon angedeutet, authentisch. Dass dies die allermeisten Zuschauer und Prozessbeobachter verwirrte, da sie ein solches Verhalten nicht einordnen konnten, verwundert daher nicht. Auch Hannah Arendt war ja selbst erstaunt, was für ein schwacher, feiger und geradezu „unbedeutender“ Mensch auf der Anklagebank saß (im besonderen Kontrast zu dem Glaskäfig, in dem er quasi vorgeführt wurde). In diesem Punkt unterschied sich die emotionale und psychologische Ausgangssituation Arendts in nichts von der der sonstigen Öffentlichkeit, die den Prozess verfolgte. Der große Unterschied bestand nun darin, dass die überwiegende Mehrheit der Zeitgenossen trotzdem in diesem „Hanswurst“ ein besonders abscheuliches Monstrum erblicken wollte, weil nur ein Monster derart monströse Verbrechen begangen haben konnte; diejenigen, die so dachten und empfanden, haben somit bewusst oder unbewusst dem Angeklagten fast schon eine Ausnahmestellung zuerkannt, die Arendt nun überhaupt nicht gelten lassen konnte – dies führte dann endgültig zum Dissens mit ihren zahlreichen Kritikern. Hätte sie diese eine zugespitzte Formulierung weggelassen (und ihr Verlag auf den Untertitel verzichtet), wäre die Empörung sicherlich weit weniger aufgeladen gewesen; doch war dies für die Autorin undenkbar. Vielleicht hätte sie auch ihre Analyse mit der bereits damals bekannten Theorie zum „autoritären Charakter“ verbinden oder diese Formulierung wenigstens sprachlich entlehnen können; doch an dieser Stelle dürfte die tiefsitzende persönliche Fehde zwischen Arendt und insbesondere Adorno (aber auch teilweise anderen Vertretern der später sog. „Frankfurter Schule“) zum Tragen gekommen sein. (24)
„»Der kommt mir nicht ins Haus«, soll Hannah Arendt über Theodor Adorno gesagt haben. Drastischeren Ausdruck hätte die Jahrzehnte herrschende Aversion zwischen beiden Denkern wohl kaum erhalten können, wobei sich der persönliche Widerwille beider auch auf die gegenseitige intellektuelle Wahrnehmung (bzw. eben dezidierte Nichtwahrnehmung) niederschlug“. (25)
Damit hatte sich auch eine ausdrückliche Bezugnahme auf die fachliche Formulierung vom „autoritären Charakter“ erledigt. Interessant ist aber auch noch eine andere unterlassene Bezugnahme, die sie sich ankreiden lassen müsste. Hannah Arendt hat 1963 nämlich neben dem Eichmann-Buch, das wegen des gesteigerten öffentlichen Interesses ein Bestseller wurde und daher weit verbreitet gewesen ist, aber noch ein weiteres Buch herausgebracht, das mehr zu ihren sonstigen Veröffentlichungen im Rahmen politischer Wissenschaften passt: „On Revolution“ (dt. Ausgabe 1965: Über die Revolution). In diesem damals eher weniger beachteten Werk hat Arendt in Kapitel 2 zur „sozialen Frage“ im Wege einer vergleichenden Betrachtung zwei auf den ersten Blick sehr gegensätzliche Autoren herangezogen: Sokrates und Machiavelli (antikes Griechenland und das Zeitalter der italienischen Renaissance zu Beginn der Neuzeit). Ausgangspunkt war die von ihr beschriebene historische Entwicklung von einer „Machtergreifung“ hin zum staatlichen „Terror“. (26) Sokrates und Machiavelli haben sich mit dem Thema (modern formuliert) „Außendarstellung“ beschäftigt und welche Prinzipien eine (politisch handelnde) Person beherzigen sollte. Arendt thematisierte dabei das Begriffspaar der „Lüge und Heuchelei“. Die eigentliche Querverbindung zu Adolf Eichmann kann aus Arendts folgenden Gedanken gezogen werden:
„Aber Heuchelei ist nicht Betrug, und die Verlogenheit des Heuchlers unterscheidet sich von dem Lügen des Lügners und Betrügers. (…) Im Gegensatz zum Lügner hat der Heuchler gleichsam kein alter ego, vor dem er in seiner wahren Gestalt erscheinen könnte, jedenfalls nicht, solange er heuchelt und eine Rolle spielt. Er lügt nicht, sondern er ist verlogen, d.h. seine Lügen sind auf ihn selbst zurückgeschlagen (…). Psychologisch gesprochen, könnte man meinen, der Heuchler sei zu ehrgeizig; er will nicht nur vor anderen tugendhaft erscheinen, sondern auch noch vor sich selbst.“ (27)
Eichmann war gerade keiner der üblichen NS-Täter, die nur zu gerne vor Gericht ihre Handlungen abstritten oder versuchten, diese „kleinzureden“, also die klassischen Lügner (egal, ob Hauptkriegsverbrecher oder „kleiner“ Wachmann eines Lagers). Im Gegenteil, er war ein ganz besonderer Heuchler, der voll und ganz in seiner Rolle des gehorsamen Befehlsempfängers und Funktionärs aufging. Obwohl sich Hannah Arendt nahezu zeitgleich mit beiden politischen Phänomenen beschäftigte, einerseits der Banalität an sich monströser Straftaten einer Allerweltsexistenz und andererseits die eigenartigen Verläufe von Revolutionen in der Neuzeit, hat sie keine unmittelbare Anknüpfung an der Person Eichmanns vorgenommen, was sich aber angeboten hätte: Denn Adolf Eichmann war nicht nur ein „autoritärer Charakter“ im pathologischen Sinne, sondern obendrein auch noch der Prototyp eines Heuchlers im übertragen philosophischen Sinne.
Auch wenn Arendt diese Verknüpfung zumindest im Ergebnis nicht direkt nachvollzogen und zu Ende gedacht hat, liegt sie mit ihrer Analyse Eichmanns aber genau auf diesem Weg und hilft, diese speziellen Umstände besser erkennen und verstehen zu können. (28) Dies gilt umso mehr, wenn man insoweit Arendts Ausführungen zu ihren Befürchtungen einer durchaus realen „Möglichkeit einer Wiederholung der von den Nazis begangenen Verbrechen“ betrachtet und ernst nimmt; obwohl es zu den Binsenweisheiten gehört, dass sich „Geschichte“ nie im Detail wiederholt.
Dennoch sind bestimmte Strukturen und systemische Abläufe kopierbar und vor allem wandelbar. Arendt empfand den Holocaust als eine Art „Präzedenzfall für die Zukunft“ und sie erwartete, nachdem das „Noch-nie-Dagewesene“ sich dann doch einmal Bahn gebrochen hatte, dass Völkermorde „im tatsächlichen Bereich zukünftiger Möglichkeiten“ liegen werden. (29) Vor allem führte sie dies ganz besonders auf den technischen Fortschritt zurück:
„Die erschreckende Koinzidenz der modernen Bevölkerungsexplosion mit den technischen Erfindungen der Automation einerseits, die große Teile der Bevölkerung als Arbeitskräfte »überflüssig« zu machen droht, und mit der Entdeckung der Atomenergie andererseits hat eine Situation geschaffen, in der man »Probleme« mit einem Vernichtungspotential lösen könnte, dem gegenüber Hitlers Gasanlagen sich wie die stümperhaften Versuche eines bösartigen Kindes ausnehmen. Es besteht aller Grund, sich zu fürchten“. (30)
Diese beinahe schon dystopisch anmutende Vision (die bereits vor knapp 60 Jahren erfolgte) konnte in den letzten Jahrzehnten, trotz des 1989/90 scheinbar überwundenen Ost-West-Konflikts, bedauerlicherweise nicht wirklich entkräftet oder gar widerlegt werden: Nicht nur die Bevölkerungsexplosion hat seit den frühen 1960er Jahren eher noch dramatisch zugenommen, was mit den hinlänglich bekannten Umweltproblemen und auch den sozioökonomischen Zuspitzungen zusammenhängt, sondern es ist auch ein Stillstand, wenn nicht gar eklatanter Rückschritt, im Bereich der Politik zu registrieren. Sicher hat es gerade auf dem Feld sog. supranationaler und multilateraler Vereinbarungen (scheinbar) Fortschritte gegeben, wie die oben skizzierte Entwicklung beim „Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs“ zeigen sollte; aber diese im Rahmen der Tätigkeit der Vereinten Nationen vollzogenen Erklärungen und Vereinbarungen sind in der Praxis nur bedingt tauglich, solange bestimmte UN-Mitgliedsstaaten die ihnen missliebigen Verträge entweder gar nicht ratifizieren oder im Extremfall als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat ein Vetorecht geltend machen können, so dass sogar eindeutige aggressive Angriffskriegshandlungen nicht wirksam sanktioniert werden können.
Aber auch diejenigen, die sich gerne als Nachfahren der europäischen Aufklärung präsentieren möchten, können bestimmte Rückschritte nicht leugnen: Zumindest in Teilen der Fachwissenschaften bzw. Publizistik ist es inzwischen Allgemeingut, dass viele Regierungen -auch der westlichen Staaten- eine offene oder verdeckte Tendenz entwickelt haben, die ihnen in einem langen historischen Prozess auferlegten rechtsstaatlichen Bindungen aus politischen Gründen wenn nicht abzustreifen, so doch zu lockern. (31) Ob in West-Europa oder in den USA, es ist nur schwer zu übersehen, dass sich die politischen Gewichte von der Legislative zur Exekutive verschoben haben. Nicht erst seit dem Frühjahr 2020 mit dem Ausbruch einer weltweiten Pandemie hat sich z.B. in der Bundesrepublik eine Tendenz hin zum „Schutzstaat“ ausgeprägt und verstärkt. Wenn selbst eine Mehrheit der Volksvertreter dem Satz, Krisenzeiten seien die Zeit der Exekutive, zustimmen oder zumindest hinnehmen, dass Parlamentsrechte ausgesetzt oder umgangen werden, sagt dies viel über das Selbstverständnis der herrschenden politischen Kaste aus. Die Krux der gegenwärtigen Situation ist, sicher zu bestimmen, ab welchem Punkt eine unbestreitbar kritische Situation umschlägt und zu einem alles beherrschenden permanenten Ausnahmezustand wird – ein Anzeichen ist die stillschweigende Erosion bis dahin liebgewonnener Grundrechte (was natürlich nur für den „Westen“ gelten kann; politische Räume, die ohnehin keine grundrechtsbasierte Staatsordnung besitzen, sind von einem derartigen Ausnahmezustand noch viel stärker betroffen). Möglicherweise ist der „Ausnahmezustand“ (nicht mehr unbedingt exakt im Sinne Carl Schmitts, sondern den Bedingungen des 21. Jahrhunderts angepasst) schon zu einer Art Vorbild modernen Regierungshandelns geworden oder zumindest latent vorhanden.
Hier schließt sich auch wieder der Kreis zu Adolf Eichmann: Aus seiner Sicht, aber auch (und das ist viel entscheidender) aus Sicht seiner Vorgesetzten, also der bürokratischen Spitze im Reichssicherheitshauptamt, war er tatsächlich ein „Spezialist“, das Ideal eines technokratischen Beamten und Funktionärs. Dieser Typus des geschäftsmäßigen Bürokraten und stets funktionierenden Befehlsempfängers ist in Zeiten der Globalisierung häufiger anzutreffen als dies vielleicht noch vor vierzig oder fünfzig Jahren vorstellbar gewesen wäre. Hinzu kommt in Zeiten moderner Informationstechnologie der Einsatz manipulativer Techniken zur Beeinflussung der „öffentlichen Meinung“ (sei es zu Wahlkampfzwecken oder für Kriegspropaganda). Eigentlich braucht es heute keinen Goebbels mehr, der (wie altmodisch) mit seinen Rundfunkansprachen die Bevölkerung desinformierte und gleichzeitig fanatisierte; all dies geht aktuell schneller und günstiger per Mausklick, den IT-Spezialisten sei Dank. Die durchaus kritische Beschäftigung mit Arendts Thesen und Ausführungen im Eichmann-Buch hat in der neueren historischen wie politikwissenschaftlichen Forschung zu einem aktuell bedeutenden Fazit geführt:
„Funktionseliten handeln keineswegs völlig emotionslos und innerlich unbeteiligt, sondern im Rahmen eigener Sinnkonzepte, die verbrecherische Taten legitim und notwendig erscheinen lassen können.“ (32)
Das Phänomen Eichmann, sowohl als autoritärer Charakter wie auch als politischer Heuchler, ist daher (zumindest latent) immer noch allgegenwärtig; ein Befund, mit dem eigentlich vor sechzig Jahren keiner rechnen konnte.
Autor: Thomas Fuchs, Assessor iur., Rechtshistoriker
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Anmerkungen
1) Arendt, Eichmann, S. 365.
2) Zum „Generalplan Ost“ (Überblick): https://www.1000dokumente.de/pdf/dok_0138_gpo_de.pdf oder auch detaillierter bei Heiber, VfZ 1958, besonders ab S. 290 und die abgedruckten Dokumente. Diese strategischen Überlegungen zur Nutzung des neugewonnenen „Lebensraums im Osten“ standen in einem viel umfassenderen Zusammenhang einer „Großraumplanung“ für Gesamteuropa. Hitler wollte der absolut einmalige Architekt für einen „neuen“ Kontinent sein; neben den gewaltigen Infrastrukturmaßnahmen, die der Diktator zusammen mit seinem Liebling Albert Speer am Reißbrett entworfen hatte (z.B. Umgestaltung Berlins zur Welthauptstadt „Germania“), verfolgten die Nazis, allen voran Himmler, eine erbbiologische Bestandsaufnahme und Ressourcensteuerung (Rassenhygiene als wesentliches Merkmal der NS-Gesellschaftspolitik).
3) Kampe, ein fundierter Kenner der Wannsee-Konferenz, hat dies wie folgt zusammengefasst: „Tatsächlich erlangte Eichmanns Referat im RSHA die Vollmacht zur Organisation der Deportation der reichsdeutschen wie west- und südeuropäischen Juden bis hin zum letzten Einsatz in Budapest 1944 (…). Das Protokoll der Wannsee-Konferenz ermöglicht einen Einblick in die Phase des Übergangs vom bereits in den besetzten Gebieten der Sowjetunion stattfindenden Massenmord zum systematischen Völkermord an allen europäischen Juden. Durch die Konferenz wurden hochrangige Vertreter des deutschen Staatsapparats zu Mitwissern und Komplizen bei einem Völkermord, dem dann etwa sechs Millionen Menschen zum Opfer fallen sollten.“ (Kampe, S. 24). Heydrich wollte zum einen seine unbegrenzten Machtbefugnisse, die ihm als SS-Mann zustanden, auf Ebene der Ministerialbürokratie, wenn man so will verwaltungsrechtlich, absichern und die hohen Herren im feinen Zwirn in seine Pläne unumkehrbar einbinden und verstricken.
4) Arendt, Eichmann, beschreibt dies im Kapitel „Die Wannsee-Konferenz oder Pontius Pilatus“, S. 204ff.
5) Arendt, dito., S. 367.
6) Cohen, S. 92.
7) Ein kurzer Überblick zu den Gnadengesuchen bei Arendt, a.a.O. (S. 367).
8) Heuer, S. 45.
9) Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 657.
10) Arendt, dito., S. 658.
11) Cüppers, S. 323.
12) Zum Prozess gegen die Erzberger-Attentäter s. Darstellung von Christopher Dowe: https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/erzberger-attentat/ oder meinen Beitrag zu den politischen Morden in Weimar: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/politische-morde-in-der-weimarer-republik/
13) Cüppers, S. 326.
14) Cüppers, S. 323f.
15) Cüppers, S. 165.
16) Siehe z.B. bei Heuer (oben Anmerkung 8) oder im Interview zwischen Arendt und Joachim Fest im zweiten Teil des Beitrags. Außerdem sollte nicht vergessen werden, dass viele der SS-Mörder (aber auch sonstige ehemalige Nazis) nach 1945/49 im Westen in den Staatsdienst (zurück-)fanden, meist im höheren Verwaltungs- oder gar Justizdienst (oft als Richter oder Staatsanwälte). Daneben gab es Abgeordnete, Minister oder Ministerpräsidenten und je einen Bundeskanzler und Bundespräsidenten mit NSDAP-Parteibuch.
17) Zum Römischen Statut (1998): https://www.geschichte-menschenrechte.de/fileadmin/editorial/download/roemisches_statut.pdf Zum Völker-Strafgesetzbuch (2002): https://www.gesetze-im-internet.de/vstgb/VStGB.pdf Im Vergleich zu den älteren Kodifikationen: a) Statut für den Internationalen Militärgerichtshof (Nürnberg 1945): https://www.uni-marburg.de/de/icwc/zentrum/pdfs/imtcdeutsch.pdf b) „Nazis and Nazi Collaborators (Punishment) Law, 5710-1950“ (Gesetz zur Bestrafung von Nationalsozialisten und ihren Helfern Nr. 5710 vom 1. August 1950) in der englischen Originalversion: https://laws4me.com/wp-content/uploads/Laws/Israel/Nazi_and_Nazi_Collaborators_Law.pdf außerdem: https://de.wikipedia.org/wiki/Gesetz_zur_Bestrafung_von_Nazis_und_Nazihelfern
18) Vgl. Arendt, Eichmann, S. 77, 91.
19) Dies rechtfertigte dann auch den radikalen Umbau der bisherigen staatlichen Ordnung: der Staat wurde zur bloßen Fassade der Partei und die Massen wurden zu Sympathisanten einer Ideologie, d.h. aber auch zu Komplizen späterer Verbrechen gemacht.
20) Gleich nach der Machtübernahme hat es im Frühjahr 1933 brutale Verfolgungsmaßnahmen gegen politische Gegner im gesamten Deutschen Reich gegeben (meist nicht-jüdische Opfer). Die ca. 100 direkten Todesopfer infolge des sog. Röhm-Putsches 30.06./01.07.1934 wurden nicht wegen ihrer rassischen Zugehörigkeit ermordet, sondern weil sie zum damaligen Zeitpunkt noch als politische Opposition gegen Hitler wahrgenommen wurden (oder einfach aus Rache).
21) Gerade um die staatliche Willkür künftig zu verhindern, wollten die Teilnehmer am Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee im August 1948 gleich zu Beginn des Grundrechtsteils folgenden Artikel 1 Absatz 1 aufnehmen: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“ Wie diese Formulierung erkennen lässt, war im Verfassungskonvent für den Unterausschuss „Grundrechte“ mit Prof. Nawiasky ein Staatsrechtslehrer als Berichterstatter tätig, der selbst von den Nationalsozialisten verfolgt worden war. Diese Formulierung lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig, man könnte fast Kelsens „Reine Rechtslehre“ wiederfinden. Dieser Entwurfstext wurde jedoch vom Parlamentarischen Rat im späteren Grundgesetz vollständig weggelassen; im Übrigen auch der Minderheitsvorschlag für eine Präambel („Bund deutscher Länder“). Auf Herrenchiemsee waren alles Fachleute versammelt, die sich meist noch aus der Zeit vor 1933 kannten und schätzten; völlig gleichgültig welcher Herkunft: allein Sachverstand zählte. Im Parlamentarischen Rat mit seinen zahllosen politischen Einflüssen (oft von außen eingebracht) sah dies schon anders aus; ob Nawiaskys Entwurf (auch) wegen seiner jüdischen Abstammung in Bonn keine Mehrheit fand, muss offenbleiben. Interessant ist jedoch, dass eben dieser Prof. Nawiasky der bayerischen Delegation von Herrenchiemsee angehörte und auch in Bonn (parlament. Rat) waren es bekanntlich die Vertreter Bayerns, die gegen zu viel Zentralismus Vorbehalte hatten – damals gab es noch eine Liberalität in Bayern.
22) Zum Folgenden: Konitzer, S. 16f. In einem Antwortschreiben im Oktober 1946 ging Jaspers auf Arendts kritische Hinweise zur Angemessenheit einer konkreten Bestrafung der NS-Verbrecher (aus Arendts Brief an Jaspers v. August 1946: „Diese Verbrechen lassen sich, scheint mir, juristisch nicht mehr fassen, und das macht gerade ihre Ungeheuerlichkeit aus. Für diese Verbrechen gibt es keine angemessene Strafe mehr“) wie folgt ein: „»[W]eil die Schuld, die alle kriminelle Schuld übersteigt, unvermeidlich einen Zug von ›Größe‹ – satanischer Größe – bekommt, die meinem Gefühl angesichts der Nazis so fern ist, wie das Reden vom ›Dämonischen‹ in Hitler und dergleichen. Mir scheint, man muss, weil es wirklich so war, die Dinge in ihrer ganzen Banalität nehmen, ihrer ganz nüchternen Nichtigkeit […].«“ Jaspers, der nach 1933 bewusst nicht ins Ausland emigrierte und stattdessen lieber ein Berufs- und Publikationsverbot hinnahm und riskierte, dass er selbst und besonders seine Ehefrau von der Gestapo verhaftet und interniert werden würden, hat mit seinem Bezug auf die Banalität im Allgemeinen bereits kurz nach Kriegsende den Kontext bzw. Bezugsrahmen abgesteckt, in dem sich Hannah Arendts Reflexionen über die Herausforderungen, die die nationalsozialistischen Verbrechen für das ethische und politische Selbstverständnis der von der NS-Zeit insgesamt betroffenen Menschen und besonders für die Deutschen bedeuteten, die nächsten Jahrzehnte bewegen sollten. Der Untertitel ihres Eichmann-Buches von 1963 hat daher auch einen Anklang bereits im Briefwechsel Arendts mit Japers im Jahre 1946.
23) Vgl. Zuckerman, S. 678ff. mit weiteren Nachweisen. Der Volksmund nennt dieses typische Vorgehen: „Nach oben buckeln und nach unten treten“.
24) Auslöser für diese jahrzehntelange „Verstimmung“ zwischen Arendt und gerade Adorno war die aus ihrer Sicht schäbige Behandlung des von ihr sehr geschätzten Walter Benjamin durch Adorno und anderer Vertreter des „Instituts für Sozialforschung“. Es ging aus ihrer Sicht um eine zu geringe finanzielle Unterstützung für Benjamin während seines Exils und – viel gravierender – um Plagiatsvorwürfe bzgl. der „Kritischen Theorie“ (oder um sog. „geistige Aneignungen“).
25) Zitiert nach Zuckerman, S. 677.
26) In der Französischen Revolution war dieser Zusammenhang mit dem Namen Robespierres und dem sog. Wohlfahrtsausschuss verbunden, in der Russischen Oktoberrevolution sind Lenin (später dann vor allem Stalin) und das spezielle sowjetrussische Lagersystem „Gulag“ zu nennen.
27) Arendt, Über die Revolution, S. 152f.
28) Gerade „das Verstehen“ steht im Mittelpunkt vieler Überlegungen Arendts; im Zusammenhang mit „dem Urteilen“ wurde versucht, dies im zweiten Teil des Beitrages zu verdeutlichen.
29) Arendt, Eichmann, S. 397.
30) Dito., S. 396.
31) Ein Thema, das Juristen, Ökonomen, Politologen und Soziologen, sofern sie eine kritische Haltung gegenüber der politischen Ordnungsfunktion bzw. Verwaltungseinheit namens „Staat“ beibehalten haben, beschäftigt. Besonders prägnant ist insoweit Giorgio Agamben, italienischer Philosoph, der zumindest in jungen Jahren von sich aus den Kontakt zu Hannah Arendt gesucht hat.
32) Siehe Krause, S. 158. Zu den neueren Forschungsansätzen (in den Geschichts- u. Politikwissenschaften) zählen allerdings kaum solche aus dem rechtswissenschaftlichen Fachbereich; außer bei wenigen Strafjuristen, die z. B. im ersten Teil des Beitrages benannt wurden, hat eine fundierte Rezeption von Arendts Prozessbericht in der juristischen Profession kaum stattgefunden (siehe auch die überschaubaren Literaturangaben dort bei Udo Ebert).
Literatur
Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, erweiterte Taschenbuchausgabe, 17. Aufl., München 2021 (Erstaufl. 1964).
Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, Taschenbuchausgabe 20. Aufl., München 2017.
Arendt, Hannah: Über die Revolution, hrsg. v. Thomas Meyer. Mit einem Nachwort v. Jürgen Förster. Erweiterte Neuausgabe (Studienausgabe), München 2020.
Cohen, Nathan: Rechtliche Gesichtspunkte zum Eichmann-Prozess, Frankfurt/M. 1963.
Cüppers, Martin: Wegbereiter der Shoa. Die Waffen-SS, der Kommandostab Reichsführer-SS und die Judenvernichtung (Veröffentlichung der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, Bd. 4), 2. Aufl., Darmstadt 2011.
Heiber, Helmut: Der Generalplan Ost, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 1958, S. 281 – 325.
Heuer, Wolfgang: Hannah Arendt mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1987.
Kampe, Norbert: »Besprechung über die Endlösung der Judenfrage« – Das Protokoll der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942, in: Einsicht 07, Bulletin des Fritz Bauer Instituts, Frankfurt 2012, S. 16 – 26.
Konitzer, Werner: Hannah Arendt und die Frankfurter Schule. Eine Einleitung, in: Einsicht 03, Bulletin des Fritz Bauer Instituts, Frankfurt 2010, S. 16 – 17.
Krause, Peter: Kann das Böse „banal“ sein? Hannah Arendts Bericht aus Jerusalem, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 6 (2009), S. 153 – 158. Im Internet: Zeithistorische Forschungen (als PDF) / Zeitgeschichte digital (als PDF)
Zuckerman, Moshe: Zur Bedeutung von Hannah Arendts »Eichmann in Jerusalem«, in: UTOPIE kreativ, Heft 201/202 (Juli/August 2007), S. 674 – 680. Im Internet: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Utopie_kreativ/201-202/201-202Zuckerman.pdf