Nahaufnahmen vom Auschwitz-Prozess gegen Oskar Gröning
7. Mai: Der Prozess
Am Kopfende des Saales stehen die republikweit für Bühnenveranstaltungen üblichen halbmeterhohen Podeste. Darüber hängt eine große Leinwand, die von einer fest installierten Batterie Scheinwerfer gerahmt wird. Das Podest und die Tische darauf sind mit schwarzen Stoffbahnen verhängt, die mit Gaffa-Band fixiert sind. Davor stehen wie Teleprompter zwei Samsung-Monitore. Am gegenüberliegenden Ende des Saals befindet sich das Mischpult für die Tontechnik. „Stilvolle Räumlichkeiten für jeden Anlass“ annonciert das Werbebanner, das an der Seitenfassade der Ritterakademie Lüneburg hängt. Normalerweise finden hier Hochzeitsfeiern, Kabarettabende oder regionale Messen statt. Die Installationen für den international beachteten Prozess gegen den „Buchhalter von Auschwitz“ wirken wie die Kulisse für eine Theateraufführung.
Dass die zahlreichen Polizei- und Justizbeamten keineswegs Komparsen in einer Provinzinszenierung von Peter Weiss’ Stück Die Ermittlung sind, wird dem Besucher aber doch recht bald klar. Die Besucherkontrollen sind strenger als beim Check-In am Flughafen. Als Pressevertreter darf ich ausschließlich zwei Bleistifte und einen Block mitnehmen, selbst der winzige Plastikanspitzer wird mir aus Sicherheitsgründen abgenommen. In der Ritterakademie sind alle Fenster verdunkelt. Ein Zimmermann hat auf der rückseitigen Empore ein Podest angebracht, auf dem drei mobile Übersetzerkabinen aufgestellt sind: Ungarisch, Hebräisch, Englisch. Es geht um die „Ungarnaktion“ genannte Ermordung von über 300.000 Menschen im Sommer 1944.
Der Beihilfe zum Mord angeklagt ist der zu Prozessbeginn 93jährige Oskar Gröning, der in Auschwitz als SS-Mann Dienst in der „Häftlingsvermögensverwaltung“ (HGV) tat. Im so genannten Kanada-Kommando (in Anspielung auf den Wohlstand Kanadas) wurden mitnichten die Effekten der Häftlinge verwaltet, sondern es diente der schnöden Ausplünderung der Todgeweihten (vgl. einen Überlebendenbericht hierzu: Link). Gröning und seine Kollegen – Mittäter wäre im Rahmen eines Strafprozesses wohl der angemessenere Ausdruck – ließen hier die Hinterlassenschaften ausweiden, die man den Häftlingen abgenommen hatte. Koffer wurden gefilzt, Kleider sortiert, versteckte Wertgegenstände eingesammelt, buchhalterisch erfasst und in regelmäßigen Abständen persönlich im Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS in Berlin abgeliefert.
Mit dem gegenwärtigen Prozess in Lüneburg scheint sich ein Kreis zu schließen, fand doch auch der allererste Auschwitzprozess – der Bergen-Belsen-Prozess, in dem 1945 zahlreiche SS-Aufseher vor Gericht standen, die zuvor in Auschwitz stationiert gewesen waren – ebenfalls in Lüneburg statt. Mit Gröning steht nun einer der allerletzten Täter den allerletzten Überlebenden der NS-Vernichtungspolitik gegenüber. Schon am Ende des laufenden Jahrzehnts wird man einen Prozess wie diesen nicht mehr führen können. Von den vier greisen ehemaligen SS-Angehörigen, die in Auschwitz waren und die man in Niedersachsen nach dem Demjanjuk-Urteil ausfindig machen konnte, gilt allein Gröning noch als verhandlungsfähig. Erst seit der Verurteilung von John Demjanjuk 2011 durch das Landgericht München II wegen der Beihilfe zum Mord in tausenden Fällen im Vernichtungslager Sobibor wendet die deutsche Justiz das Prinzip der Beihilfe auch auf die Wachleute in den Vernichtungslagern an, denen keine individuellen Handlungen nachgewiesen werden können.
Das Umdenken der Justiz angestoßen hat der die meisten Nebenkläger anführende Rechtsanwalt Thomas Walther, 72 Jahre alt, ehemaliger bayrischer Amtsrichter und ab 2006 an der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg tätig. Dort stieß er auf den Fall Demjanjuk, für den sich die deutschen Ermittlungsbehörden nicht zuständig erklärt hatten, und entwickelte die Theorie von Auschwitz als einer arbeitsteiligen Fabrik, deren Funktion durch jeden darin Tätigen gewährleistet und damit auch verantwortet wurde. Ähnlich wie der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (Link) in den 1960er Jahren argumentierte Walther so gegen eine Atomisierung des Vernichtungskomplexes in abertausende von Einzeltaten, für die jeweils der (oft nicht zu erbringende) Nachweis geführt werden musste, „dass ein Verdächtigter unmittelbar an einer räumlich und zeitlich eng gefassten Tötungshandlung mitgewirkt hatte.“ (Cornelius Nestler, Strafrechtsprofessor der Universität Köln und zusammen mit Walther quasi das Gesicht der Nebenklage, hat die Geschichte der Verhinderung der justiziellen Aufarbeitung von Auschwitz in seinem Schlussplädoyer dargelegt: Link)
Der Lüneburger Prozess machte zu Beginn mit bemerkenswerten, in vergleichbaren Verfahren so bislang wohl kaum erlebten Szenen Schlagzeilen: Gröning, der den reibungslosen Ablauf des Tötens in Auschwitz mitverantwortete, bekennt sich zumindest moralisch mitschuldig und straft so die notorischen Holocaustleugner, die zu Prozessbeginn vor dem Gebäude erschienen sind, Lügen. Im weiteren Prozessverlauf treten sie nicht mehr vor der Ritterakademie auf. Der Angeklagte leugnet die Geschehnisse nicht und will sich einem Verfahren stellen, obwohl er sich aufgrund seines hohen Alters vermutlich leicht hätte für verhandlungsunfähig erklären lassen können. Gröning will reden, denn „reden hilft“, hatte er schon 2005 in einem Interview mit dem Spiegel gehofft (Link). Ob er zu Prozessbeginn allerdings verstanden hat, worüber hier eigentlich „geredet“ werden soll, ist fraglich in Momenten wie jenem, als Gröning einen Schluck aus seiner Wasserflasche nimmt und sagt, er mache es jetzt wie in Auschwitz mit dem Wodka – zahlreiche Berichterstatter haben dieses Detail und von der dadurch ausgelösten Fassungslosigkeit im Gerichtssaal berichtet.
Eine Überlebende von Mengeles grauenvollen Zwillingsexperimenten, die einundachtzigjährige Eva Mozes Kor, reicht Gröning an einem der ersten Prozesstage die Hand und vergibt ihm. Die anderen Überlebenden, die als Nebenkläger und Zeugen auftreten, sind zum Teil schockiert (Link). Für Formen einer Reconciliation zwischen Opfern und Tätern, wie etwa nach dem Ende der Apartheidspolitik in Südafrika Mitte der 90er Jahre praktiziert, ist es in Deutschland 70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz zu spät. Daher muss der Vorschlag der Auschwitz-Überlebenden Eva Mozes Kor, Gröning möge nicht ins Gefängnis, sondern vielmehr als Aufklärer in eigener Sache in Schulen gehen, ins Leere laufen. Denn dazu müsste der Täter seine Taten erst einmal als Taten erkennen und benennen. Gröning jedoch rechnet zu Prozessbeginn noch mit einem Freispruch, weil er sich juristisch unschuldig glaubt (Link). Und welchem Überlebenden sollte es zuzumuten sein, ihn bei solchen Auftritten als notwendiges Korrektiv zu ergänzen? Rein rechtlich ist die Lage klar: Es kommen nur eine Haftstrafe, eine Geldbuße oder ein Freispruch in Frage.
Insgesamt sind zur Beobachtung des Lüneburger Auschwitzprozesses vom Gericht lediglich 60 Zuschauer und 60 Journalisten zugelassen worden. Um den mitgereisten Angehörigen der Überlebenden nicht zuzumuten, dass sie stundenlang für einen Platz im Besucherkontingent Schlange stehen müssen, hat die Antifa Lüneburg eine effektive „Platzhalteraktion“ organisiert: Die Aktivisten besetzen früh morgens vordere Plätze in der Schlange und geben diese frei, wenn Angehörige der Nebenkläger kommen. So wird auch verhindert, dass Rechtsextreme in den Saal gelangen. Die Anwälte der Überlebenden berichten allerdings, dass Mandanten im Internet von Antisemiten geschmäht und bedroht wurden (Link).
Am Nachmittag des 6. Mai erlitt Gröning einen Schwächeanfall und der Prozesstag musste abgebrochen werden. Als ich am Folgetag das erste Mal am Prozess teilnehmen kann, herrscht eine unaufgeregte Atmosphäre im Saal. Lebhafte Gespräche erklingen von der Bank der Zeugen. Journalisten und Anwälte tauschen Kärtchen aus und machen Termine für Interviews. In den Stunden vor dem Sitzungsbeginn um 09:30 Uhr läuft die ganze Routine ab, die jeden der Prozesstage begleitet: Unzählige Polizisten, Justiz- und Gerichtsbeamte, die Richter, Schöffen und Staatsanwälte, ein gutes Dutzend Anwälte der Nebenkläger sowie einige ihrer Mandanten, die beiden Verteidiger Oskar Grönings sowie zwei zu seiner Betreuung abgestellte Sanitäter, Dolmetscher und vom Gericht bestellte Sachverständige laufen auf; Medienvertreter, Schulklassen und andere interessierte Zuschauer sind eine gute Stunde vor Prozessbeginn erschienen. Die Zeugin Irene Weiss, die heute gehört werden soll, ist eigens aus Fairfax, Virginia, angereist. Weiss, auch sie eine Überlebende von Mengeles Zwillingsexperimenten, hat sich selbst und ihre Familie Jahrzehnte nach dem Geschehen auf den Fotos des Auschwitz-Albums wiederentdeckt, jenes Fotoalbums, das die ‚Abfertigung‘ eines Transportes während der Ungarnaktion aus der Perspektive der Täter fotografisch dokumentiert (Link).
Zu Beginn der Sitzung gibt der Vorsitzende Richter am Schwurgericht, Franz Kompisch (Link), bekannt, „dass der Angeklagte von seinem Fahrer abgeholt werden sollte, aber nicht aus dem Bett zu bringen war.“ Gröning sei zu schwach, um überhaupt zu stehen; anscheinend simuliere er nicht. Als die Sitzung nach der Verkündung dieser Nachricht unterbrochen wird, wirft eine Journalistin ungehalten die Frage in die Runde: „Stirbt der jetzt?!“ Unwillkürlich fragt man sich, ob ein Teil der elektrisierten Medienöffentlichkeit nicht in erster Linie fürchtet, dass ihr der alte Nazi wegstirbt, der die ganze Veranstaltung zusammenhält und sie – there is no business like Shoa business? – täglich mit Stoff für neue Artikel versorgt. Andere Journalisten versuchen durchaus, sich über die eigene Position als Beobachter eines Auschwitzprozesses klar zu werden. So berichtet mir eine Journalistin, die kontinuierlich am bisherigen Verfahren teilgenommen hat, wie nahe ihr trotz allen Vorwissens und aller professioneller Routine die Einlassungen der Überlebenden, aber auch der Auftritt des Angeklagten gegangen seien – und dass sie nun gleichwohl zunehmend die eigene Abstumpfung verspüre. Wird das Inkommensurable durch Wiederholung und Gewöhnung normal? Ist das Selbstschutz? Oder lässt man sich im Rahmen des Auschwitzprozesses fatalerweise auf die ‚Normalität‘ ein, die der Massenmord damals in Auschwitz für die Täter darstellte?
Das Gericht ordnet eine forensische Untersuchung des Angeklagten an, um seine künftige Verhandlungsfähigkeit festzustellen. Damit steht die Fortsetzung des gesamten Verfahrens in Frage: Ohne den Angeklagten kann nicht verhandelt werden. Ausnahmevorschriften greifen nicht, da Gröning sich nicht schuldhaft entzogen habe. Der Zeitplan ist nicht mehr zu halten. Gravierender jedoch ist, dass Irene Weiss somit nicht aussagen darf. Die 84jährige ist wenige Tage zuvor aus Übersee eingeflogen. Nun wird sie Lüneburg ohne die für die Überlebenden oft so wichtige Genugtuung verlassen müssen, vor einem deutschen Gericht, von einer interessierten Medienöffentlichkeit und nicht zuletzt von einem ihrer ehemaligen Peiniger gehört zu werden. Eine sogenannte kommissarische Vernehmung der Zeugin – ohne den Angeklagten und unter Ausschluss der Öffentlichkeit – lehnt das Gericht ab, zu groß wäre der Aufwand, die dazu notwendige Zustimmung aller rund 70 Nebenkläger einzuholen, zu groß auch das Risiko, den Prozess durch einen Verfahrensfehler angreifbar zu machen. Möglich erscheint lediglich, die im Vorfeld schriftlich aufgenommene Aussage von Irene Weiss vor Gericht später verlesen zu lassen. Für etwaige Rückfragen müsste sie dann aber erneut anreisen. Es sind juristische, formell und damit kalt erscheinende Bedingungen, die den Anfordernissen an einen menschlich würdigen Umgang mit Opfern eines traumatischen Gewaltverbrechens nicht genügen können. In einem Strafverfahren geht es um strafrechtliche Aufklärung, nicht mehr.
Nach Aussage des Budapester Rechtsanwalts Donat Ebert, eines der Anwälte der Nebenkläger, war der Verfall der Kräfte Grönings bereits über die ersten zwei Prozesswochen deutlich sichtbar. Im Laufe des Mai fallen weitere Sitzungstage aufgrund des Gesundheitszustandes von Gröning aus. Das Gericht beschließt, dass die Verhandlungen pro Tag fortan nicht länger als drei Stunden dauern sollen.
2. Juni: Die Zeugin
Als nach dem ursprünglichen Ablaufplan letzte Zeugin wird Angela Orosz-Richt gehört, Rentnerin aus Montreal. Sie wurde am 21. oder 22. Dezember 1944 in Auschwitz geboren. Der genaue Termin war von ihrer Mutter nicht exakt zu bestimmen, er hängt von der Frage ab, ob die Lager-SS am 24. oder 25. Dezember das Weihnachtsfest feierte – drei Tage vorher kam das Kind zur Welt. Es sind nach Aussage der Überlebenden überhaupt nur zwei Fälle von Kindern bekannt, die in Auschwitz geboren wurden und als Säuglinge gegen jede Wahrscheinlichkeit die Befreiung des Lagers erlebt haben. Orosz-Richt, die sagt, dass sie keine 5 Fuß, also nicht einmal 150 cm misst, will während ihrer Aussage stehen, und sie adressiert Oskar Gröning immer wieder direkt.
Die Geschichte, die sie bezeugt, ist die Geschichte ihrer Mutter, Veronika Ötvös, genannt Vera. Der intelligenten jungen Frau aus gutem Hause (der Vater war ein bekannter Architekt) war der Zugang zur Universität aufgrund des grassierenden Antisemitismus in Budapest bereits unmöglich. 1943 heiratete sie den Anwalt Tibor Bein. 1944 besetzten die Deutschen das Land und am Tag nach dem Passah-Fest wurde das junge Paar – Vera war schwanger – durch ungarische Milizionäre in ein Ghetto deportiert. Von dort schloss sich eine Fahrt im Viehwaggon an, die drei Tage dauerte und am 25. Mai 1944 in Auschwitz auf der Rampe endete.
Angela Orosz-Richt zitiert Oskar Gröning, der in seiner Einlassung zu Beginn des Prozesses ausgesagt hatte, dass an der Rampe, auf der er qua Amt von Zeit zu Zeit hatte Dienst tun müssen, „Ordnung“ geherrscht habe. Für uns war das nicht so, widerspricht Orosz-Richt. Auf uns prasselten Schläge, Tritte, Peitschenhiebe ein, Hunde wurden auf uns gehetzt, es herrschten Chaos und Leid, die Selektionen führten in den Tod. Anschaulich beschreibt die in Auschwitz Geborene die Wirkungsweise von Zyklon B. Sie will, dass Gröning und die Zuhörer sich klar machen, dass das Sterben und seine Organisation in Auschwitz keine technische, saubere, geordnete, sondern eine blutige, laute, stinkende Angelegenheit war. Sie besteht darauf, dass ihr Vater durch die ihm im Lager aufgezwungene, unmenschliche Arbeit ermordet wurde und nicht etwa an ‚Erschöpfung starb‘. Sie fragt den Angeklagten, ob ihm ihre Mutter an der Rampe aufgefallen sei – sie sei eine auffallend schöne Frau mit braunem Haar und grünen Augen gewesen. Eine rhetorische Frage, natürlich – aber eine, die implizit daran erinnert, welche unfassbaren Menschenmassen an den SS-Leuten auf der Rampe vorbei defilieren mussten. Und wie wenig dabei die Opfer von den Tätern noch als Menschen wahrgenommen wurden.
Die Mutter wird das Lager nicht mehr als die schöne und selbständige Frau verlassen, als die sie es betreten hatte. Orosz-Richt berichtet von den physischen und psychischen Versehrungen, die Vera Ötvös davongetragen hat. Duschen ist ihr nie wieder möglich, Hundegebell macht sie panisch, ebenso Tunnel, Schlaflosigkeit quält sie. Ein Bein ist schwarz geworden nach dem Tritt eines SS-Mannes, weitere Kinder kann sie nach der Geburt ihrer Erstgeborenen nicht bekommen. Als sie mit 71 Jahren an Krebs stirbt, fällt die Vergangenheit über sie her: Dr. Mengele steht wieder in der Tür; keine noch so starke Dosierung des Morphiums kann die Bilder vertreiben. Ihre Tochter aber wird getrieben von einer Mission: Zeugnis abzulegen für die Opfer. Und sie will berichten vom Wunder ihrer eigenen Geburt, von der menschlichen Größe der Mutter, die allen Widerständen zum Trotz ihr Kind bekommen und am Leben erhalten hat. Diese dramatische Geschichte eines Opfers (im doppelten Wortsinne von victim und sacrifice) berührt sich an einem Punkt mit der Tätergeschichte Oskar Grönings.
Denn Vera Ötvös wird als Häftling A6075 unter anderem im Kanada-Kommando eingesetzt, also in dem Arbeitsbereich des Lagers, dem auch der SS-Mann Oskar Gröning angehört. Sie sortiert Kleidung, Schuhe, Bettzeug, die nach versteckten Wertsachen abgesucht werden. Orosz-Richt berichtet von den Schlägen, die die SS-Aufseher austeilen, und von der nicht minder brutalen Unterernährung der Häftlinge, für die ein Knochen, Kartoffelschalen oder etwas Tierfutter Schätze darstellen. Aufgrund der extremen Unterernährung – im Lager gibt es nur Ersatzkaffee, aus Gras gekochte Suppe und abends ein Stück Brot – gelingt es Vera Ötvös, ihre Schwangerschaft bis zum Schluss zu verheimlichen. Diejenigen, die sie einweiht, verraten sie nicht (was den sicheren Tod bedeutet hätte), sondern helfen ihr. So wird sie in die menschenmedizinische Versuchsabteilung versetzt, wo sie jene Kinder betreut, die Mengele für seine Zwillingsexperimente missbraucht.
Im siebten Schwangerschaftsmonat führt einer der deutschen Ärzte Sterilisationsexperimente mit ihr durch. Wiederholt injiziert man ihr eine ätzende Substanz in den Gebärmutterhals. Der Fötus – „ich“, sagt Orosz-Richt – weicht dabei jedes Mal aus. Eine Abtreibung, die ihr eine ungarische Ärztin anbietet, lehnt Vera Ötvös ab, nachdem ihr die eigene Mutter im Traum geraten haben soll, auf Gott zu vertrauen. Die Entscheidung für das Kind ist hochriskant: Einer anderen Gebärenden schnürt Mengele die Brüste ab, um zu beobachten, wie lang ein Säugling ohne Milch überlebt. Diese Mutter und ihr Kind werden umgebracht. Die tschechische Blockälteste besorgt am Tag von Angela Orosz-Richts Geburt etwas warmes Wasser, ein Laken und eine Schere. Auf der obersten Etage eines Stockbettes in einer Häftlingsbaracke kommt das Kind zur Welt. Das Neugeborene wiegt gerade mal ein Kilo; dass es zu schwach zum Schreien ist, rettet ihm das Leben. Drei Stunden nach der Entbindung tritt die Mutter zum Appell an – die Tochter versetzt sich vor Gericht in ihre Gedanken: In Lumpen gehüllt in der Eiseskälte stehend, fürchtet sie, in den gefährlichen Holzpantinen auszurutschen, sich zu verletzen und dann nicht weiter für ihr Kind sorgen zu können.
Der Gedanke an das Kind gibt ihr jedoch auch die Kraft zum Weiterleben. Vera Ötvös wird sogar noch das zweite in Auschwitz geborene Baby stillen. Wie ihre Mutter das schafft, bei einer Nahrungsration von 300, vielleicht 400 Kalorien am Tag, ist für Orosz-Richt ein Wunder. Als die Überlebende fast ein Jahr nach der Befreiung nach Budapest zurückkehrt, hält man das völlig unterentwickelte, regungslose Kleinkind für eine Puppe und die Mutter, die um ärztliche Hilfe ersucht, für eine Verrückte.
Mit den Worten, dass es hier aber nicht um Wunder gehe, wendet Orosz-Richt sich schließlich wieder direkt an Oskar Gröning: Er habe die Gräber seiner Angehörigen, die er aufsuchen könne. Sie selbst dagegen wisse nicht, wo sie ihren Vater betrauern solle, der genau heute Geburtstag gehabt hätte: Sei seine Asche auf das KZ geregnet, sei sie im Wald verscharrt oder auf den Feldern als Dünger ausgebracht worden? Wegen ihres Vaters und wegen ihrer Mutter und wegen jedes anderen, den er ermordet habe, könne sie Oskar Gröning niemals vergeben. Der Schrecken von Auschwitz werde sie ein Leben lang begleiten. Der gegenwärtig wieder aufflammende Antisemitismus in Europa und der Welt mache ihr Angst.
Der Vorsitzende Richter dankt der Zeugin und versucht zu klären, wie das Zeugnis der Mutter überliefert wurde und ob dabei auch Informationen über Abläufe oder Namen, insbesondere den Grönings, zu gewinnen waren: Ja, sie habe es ihr persönlich erzählt, es gebe auch eine Tonbandaufnahme, und Nein, sie wisse nur, dass das Gepäck der Ankommenden nach „Kanada“ gebracht und dort gefleddert worden sei, allein der Name Josef Mengele sei von der Mutter erwähnt worden. Weder die beiden Staatsanwälte, noch die Reihe der Nebenkläger oder die Verteidiger haben weitere Fragen. Frau Orosz-Richt wird aus dem Zeugenstand entlassen. Sie ist im Alter von 74 Jahren zusammen mit ihrem Enkel, der das Andenken in die kommende Generation weiter tragen soll, aus Montreal angereist und hat etwa eine Dreiviertelstunde lang ihre Aussage mit hoher Stimme in englischer Sprache verlesen. Im Saal zu verstehen ist nur die mitunter etwas holprige simultane deutsche Übersetzung, die über Lautsprecher ertönt. Frau Orosz-Richt hat sich hingestellt und doch alle Sitzenden gerade einmal um Haupteslänge überragt. Gröning hat, wenn sie ihn direkt adressiert hat, stets an die Decke geschaut.
Nachdem durch die kurzen Nachfragen des Vorsitzenden erwiesen ist, dass sie zur eigentlichen Tätigkeit und persönlichen Schuld Oskar Grönings nichts weiter beitragen kann, hat niemand mehr Fragen an diese Frau, die gerade die kaum fassbare Geschichte ihrer höchst unwahrscheinlichen Existenz bezeugt hat. Abermals erweist sich der juristische Rahmen kaum als angemessen, um mit Menschen und ihren Gefühlen umzugehen. Selbst ein noch so umsichtig geführtes Gerichtsverfahren lässt keinen Zweifel daran, dass – hätten wir allein die Gerichte, um die NS-Vergangenheit zu verhandeln – es noch übler um die Überlebenden der Lager bestellt wäre als dies eh schon der Fall ist. Das, was die juristische Schuldfeststellung nicht leisten kann, müssen andere Verarbeitungsformen der NS-Vergangenheit wie die Historiografie, die Kunst oder die Autobiografik der Opfer und ihrer Nachfahren zu ergänzen versuchen.
Jenen, die nun wieder einmal nach einem Schlussstrich fragen (Martin Walser etwa hat gerade erst – und unwidersprochen – im Spiegel bekannt, er sei „dieses Hickhack“ um die NS-Vergangenheit endgültig leid) (Link) oder einfach nur noch den alten Mann in Ruhe lassen und damit auch selbst in Ruhe gelassen werden wollen, ist entgegenzuhalten: Gerade die Unabschließbarkeit derartiger Aushandlungsprozesse stellt nicht etwa ein Manko, sondern ihren eigentlichen Gewinn für die Selbstverständigung lebendiger Zivilgesellschaften dar. Dass die Vergangenheit – so die Genervtheit verratende Floskel – ‚nicht vergeht‘, ist ein Mehrwert der Debatten und Diskurse um die ‚Vergangenheitsbewältigung‘. In der fortwährenden öffentlichen Nachjustierung des Verhältnisses zur NS-Vergangenheit wird die Erinnerung ebenso gepflegt wie die westliche Wertegemeinschaft, die sich aus den Erfahrungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft entwickelt hat.
Eine ganz konkrete Rechtfertigung erfährt das verspätete Verfahren gegen Oskar Gröning zum einen durch das zumindest teilweise Schuldeingeständnis des Angeklagten und in seiner Bezeugung der Verbrechen mit der zwar zweifelhaften Autorität des Täters, der jedoch mit seiner Aussage alle Holocaustleugner Lügen straft. Zum anderen ist das Verfahren der Versuch, nunmehr rücksichtsvoll mit den Überlebenden des Holocaust umzugehen und ihnen Gehör zu schenken. Im Rückblick etwa auf den skandalösen Majdanekprozess von 1975 bis 1981, in dem die Überlebenden sich von den Verteidigern der Täter (die Anwälte waren zum Teil selbst ehemalige NSDAP- und spätere NPD-Mitglieder), die rundheraus alles bis hin zur Existenz der Gaskammern leugneten, dreiste Unterstellungen und retraumatisierende Befragungen bieten lassen mussten, ist der Umgang mit den Zeugen im Jahre 2015 doch ein grundlegend anderer. Viele von ihnen haben noch nie vor einem deutschen Gericht ausgesagt und hatten auch nicht mehr erwartet, dies jemals tun zu können. Denn Verbrechen werden vor Gericht schließlich nicht nur aufgearbeitet, um die Täter zu bestrafen. Ebenso wichtig ist die soziale Funktion von Strafverfahren, die Opfer öffentlich und offiziell wieder in die Gesellschaft zu reintegrieren, aus der sie durch das Verbrechen gewaltsam ausgeschlossen worden waren. Die juristische Aufarbeitung durchbricht im besten Fall das Schweigen, das die Täter ihren Opfern seinerzeit aufgezwungen hatten.
Die Sitzung am 3. Juni und auch die vom 9. Juni fällt aus, weil der Angeklagte erneut verhandlungsunfähig ist. Das Gericht beauftragt ein erneutes, ausführliches Gutachten zum Gesundheitszustand Grönings. Der Arzt erklärt ihn abermals grundsätzlich für verhandlungsfähig.
17. Juni: Der Sachverständige
Die lange Pause scheint Oskar Gröning gut getan zu haben. Er kommt an diesem Dienstagmorgen freundlich lächelnd in den Saal, begrüßt seinen Verteidiger Hans Holtermann mit „Ich freue mich, Sie zu sehen!“ und wirkt für einen nunmehr 94jährigen – am 10. Juni hat er Geburtstag gehabt – durchaus frisch. Der Angeklagte folgt dem Geschehen dieses Prozesstages aufmerksam. Er nickt manchmal zustimmend, etwa wenn Bilder der Sola-Hütte, des Erholungsheimes der Lager-SS von Auschwitz, gezeigt werden. Und er schüttelt den Kopf, als von den regelmäßigen Schießübungen die Rede ist, an denen dem historischen Sachverständigen zufolge alle SS-Leute teilnehmen mussten, auch die „Schreibtischtäter“ der Häftlingsgeldverwaltung (HGV) wie Gröning. Als seitens der Nebenklägervertreter die Frage aufgeworfen wird, ob der kurzzeitige Lagerkommandant von Auschwitz I, Arthur Liebehenschel, aufgrund einer zu ‚weichen‘ Einstellung zum Vernichtungsgeschehen abberufen worden sei und der Historiker Stefan Hördler daraufhin erläutert, dass Liebehenschel vielmehr wegen einer unstatthaften Affäre mit einer Sekretärin seinen Posten räumte, muss Gröning über die Anekdote schmunzeln.
Der vom Gericht beauftragte Sachverständige Stefan Hördler ist der frisch ernannte Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora und heute – aufgrund von Grönings krankheitsbedingten Ausfällen – zum wiederholten Male angereist. Er soll die „Ungarn-Aktion“ darstellen, die Gegenstand des Lüneburger Verfahrens ist: die Deportation von mindestens 430.000 und die Ermordung von mindestens 320.000 Menschen zwischen dem 14. Mai und dem 20. Juli 1944. Die Quellenlage zur Ungarn-Aktion ist besonders gut, Fotoserien (das von Lili Jacob gefundene Auschwitz-Album und das erst 2007 entdeckte Höcker-Album) sind ebenso überliefert wie Korrespondenzen der Leitungsebene (wie die Telegramme des SS-Brigadeführers und Reichsbevollmächtigten für Ungarn, Edmund Veesenmayer) und geheime Statistiken von ungarischen Bahnbeamten über den Grenzverkehr (die so genannte Kassa-Liste: Link) und einem Kapo über die im Lager eintreffenden Züge (Leo Glaser-Liste). Anhand diverser Bild- und Schriftzeugnisse unter anderem aus israelischen, US-amerikanischen, polnischen und deutschen Archiven vermittelt Hördler einen Einblick in die Arbeitsabläufe und Entscheidungsstrukturen des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Er schildert das Kompetenzgerangel zwischen dem Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS, für das die Ermordung die unwirtschaftlichste Variante im Umgang mit den Häftlingen war, und den Vernichtungsideologen, die im Laufe der Ungarn-Aktion die Oberhand gewannen. Das Personal in Birkenau wurde in dieser Zeit um Leute mit einschlägigen Erfahrungen etwa in der „offenen Leichenverbrennung“ aufgestockt, die Leitung aller Krematorien wurde neu besetzt, der Ablauf der Massentötung verändert und die Gleisanlage, die zur zentralen Rampe führt, umgebaut. Gröning betrachtet die projizierten Lagepläne aufmerksam.
Das berühmte Auschwitz-Album (Link), das die Anlieferung, Selektion, Täuschung, Ausplünderung und Ermordung respektive Einweisung ins Lager eines Transportes aus Ungarn am 24. Mai 1944 festhält, liest Hördler als einen Leistungsausweis der SS, die für die enorme Frequenz und Dimension bei der Ermordung der ungarischen Juden das ganze Prozedere reorganisiert hatte und den nunmehr ‚reibungslosen‘ Ablauf dokumentieren wollte. Dafür spricht zum Beispiel, dass das Album exakt Motive und Perspektiven nachahmt, die in einer Schulungs-Broschüre der Lager-SS („Richtig/Falsch“ von 1943) über das idealtypische ‚Abfertigen‘ eines Häftlingstransportes zeichnerisch präfiguriert waren. Dass das darauf basierende Auschwitz-Album aus Tätersicht eine Fiktion dieser Abläufe darstellt und das tatsächliche, allemal für die Opfer brutale Vorgehen etwa bei der Selektion unterschlägt – auch Gröning hatte das Geschehen auf der Rampe als geordneten Vorgang schöngeredet –, daran lässt Hördler keinen Zweifel.
Hördler zufolge steht im Abkommandierungsbefehl der für die so genannte „Aktion Reinhardt“ (die Ermordung polnischer und ukrainischer Juden 1942/43) bestimmten SS-Leute bereits im Klartext der Auftrag „Aktion Judenaussiedlung“. Es habe somit keinen Zweifel bei den Beteiligten gegeben über Sinn und Zweck dieses Unterfangens, das Anlass für Grönings Entsendung nach Auschwitz war. Im Nachgang zur Ungarnaktion gibt es ebenfalls Beispiele dafür, dass daran beteiligte SS-Leute ihrem eigenen Verständnis nach an einer Vernichtungsaktion teilgenommen hatten: Ein Kollege Grönings wollte die eigene ‚Leistung‘ in diesem Zusammenhang vor dem SS-Apparat herausstellen und schrieb in seinem Lebenslauf von seiner Mitwirkung bei einem „Sonderkommando“. Dieses Selbstverständnis herrschte also auch bei den (wie Gröning) in der Administration der HGV Tätigen.
Gröning war zu diesem Zeitpunkt schon seit fast zwei Jahren in Auschwitz. Dass er mehrfach um eine Versetzung ersucht haben will, hält der Sachverständige für wenig glaubhaft: Wer den Druck des Vernichtungslagers nicht mehr ausgehalten habe, sei auch versetzt worden – schon um den reibungslosen und eben auch unhinterfragten Ablauf der Mordmaschinerie nicht zu stören. Hördler führt Beispiele sowohl von einfachen Dienstgraden (wie eine Aufseherin aus Auschwitz-Birkenau) als auch von Funktionseliten (wie ein leitender KZ-‚Veteran‘ mit einem für die Organisation ‚wertvollen‘ Erfahrungsschatz) an, die sich versetzen lassen konnten, als sie dies wünschten beziehungsweise als sie drohten, psychisch zusammenzubrechen. Für Männer bestand dabei nur die Alternative, sich freiwillig zum Fronteinsatz zu melden. Die SS habe Versetzungsanträgen jedenfalls entsprochen, auch unter den verschiedenen Konzentrationslagern seien Wechsel möglich gewesen. Hördler zeigt ein Dokument, aus dem hervorgeht, dass Gröning sich zumindest mit Stand vom 1. Juni 1944 noch nicht freiwillig zum Fronteinsatz gemeldet hatte. Solche ‚freiwilligen‘ Meldungen seien – aus Gründen der Optimierung der eigenen Personalakte – erst dann erfolgt, wenn der Fronteinsatz konkret angeordnet und unumgänglich geworden sei. (Berlin forderte im Herbst 1944 zur Verstärkung des letzten Aufgebotes 500 SS-Männer „Kv.“ – kriegsverwendungsfähig – aus Auschwitz an. Gröning wurde daraufhin Mitte Oktober 1944 zum Fronteinsatz abgezogen. Erst jetzt machten er und gleichzeitig ausnahmslos alle, die mit ihm zusammen abkommandiert wurden, die besagte Freiwilligenmeldung – ein Automatismus.)
Der Bericht des jungen Historikers, der über Das KZ-System im letzten Kriegsjahr (Link) promoviert hat und ein ausgewiesener Spezialist für die KZ-Wachmannschaften ist, ist sachlich und kompetent, er spricht frei und macht auf viele Details aufmerksam. So kann er anhand von Fotografien nachweisen, dass im Gegensatz zu Grönings Darstellung, als Unterscharführer nicht für den Rampendienst zuständig gewesen zu sein, gerade diese Gruppe (erkennbar an den weiß eingefassten Kragenspiegeln) hier ständig eingesetzt wurde. Einfache Mannschaftsdienstgrade hätten auch gar nicht die notwendige Befehlsgewalt gehabt, um an der Rampe im Notfall zum Beispiel der Postenkette Anweisungen zu geben. Gewagt wirkt allerdings seine insinuierende Frage, ob der völlig unscharf getroffene SS-Mann im Hintergrund eines Bildes von der Rampe Oskar Gröning selbst sei, da dieser ein Unterscharführer und Brillenträger wie Gröning sei. Die Bild-Zeitung ist hierauf sofort angesprungen, hat allerdings die falsche Person auf dem Bild umkringelt (mittlerweile korrigiert: Link).
Auch Grönings Behauptung, nur maximal dreimal an der Rampe Dienst getan zu haben und dies auch nur in Vertretung von Kameraden, wird vom Sachverständigen angezweifelt, ebenso seine Darstellung, er habe Gottfried Weise nicht gekannt. Weise war ebenfalls ein nach Auschwitz abkommandierter Unterscharführer, der auch in der Häftlingsvermögensverwaltung tätig war. Er war unter anderem wegen im Rampendienst verübten Morden an Häftlingen, die sich hatten verstecken wollen, als so genannter Exzesstäter schuldig gesprochen worden (Landgericht Wuppertal 1988; Weise konnte sich jedoch einer Haftstrafe entziehen). Hördler schätzt die Stärke der HGV zu Spitzenzeiten wie der Ungarn-Aktion auf etwa 30 Mann. Man habe sich kennen müssen, schon weil während der Ungarn-Aktion strikte Urlaubssperre geherrscht habe, und es sei nach dem Rotationsprinzip gearbeitet worden. Das heißt, dass jedes Mitglied der HGV regelmäßig an der Reihe gewesen sei, auf der Rampe die Häftlingskommandos („Kanada“) beim Abtransport der von den ankommenden Menschen erbeuteten Gepäckstücke zu beaufsichtigen. Mit der strikten Beteiligung aller habe die SS zwei Zwecke verfolgt: Erstens sei durch das Mitschuldigwerden eines jeden auch die erwünschte Verschwiegenheit über den Massenmord sichergestellt worden; zweitens habe die allgemein verpflichtende Teilnahme an den Rampendiensten den Korpsgeist gestärkt. Hördler schätzt, dass Gröning und seine Kollegen etwa einmal pro Woche Dienst auf der Rampe gehabt haben müssen – entsprechend müssten bei Gröning zig Einsätze im Rahmen der Selektion und der Ausplünderung auf der Rampe zusammengekommen sein. Schon die enorme Zahl von rund 1.000 Häftlingen, die während der Ungarn-Aktion im Kanada-Kommando zum Bergen und Sortieren der ‚Effekten‘ eingesetzt wurden und somit zu beaufsichtigen waren, legt nahe, dass sämtliche Abteilungen der Häftlingsvermögensverwaltung zum Rampendienst herangezogen wurden.
Gestützt wird diese Annahme auch durch eine frühere Zeugenaussage, die Gröning selbst als Zeuge in einem anderen Prozess getätigt hatte: nämlich dass die Ungarnaktion, während der bis zu fünf Deportationszüge pro Tag in Auschwitz ankamen, je nach anfallender ‚Arbeit‘ zu Schichten von bis zu 24 Stunden geführt habe. Hierfür gab es Dienstpläne, die den rotierenden Rampendienst regelten, sowie ad hoc beorderte Kommandos bei erhöhtem Bedarf. Gröning nimmt die Ausführungen Hördlers, die seine aktuellen Aussagen Lüge strafen, ohne Regung hin. Nur als der Historiker es für höchst unwahrscheinlich erklärt, dass Gröning und seine Kollegen nicht höchstpersönlich die Kiste mit dem auf der Rampe erbeuteten Geld von Auschwitz II nach Auschwitz I – über öffentlichen Raum zwischen den Lagern – geleitet hätten, signalisiert er vehement Widerspruch. Der Sachverständige macht deutlich, dass, wenn der Transport nicht von den SS-Männern geleitet worden wäre, dies so gewesen wäre, als würde man heute den Putzfrauen eines Geldtransporters auch das Geld zur Auslieferung anvertrauen.
Ob die auf der Rampe agierenden Unterscharführer aus der HGV auch Bewacher der Deportierten waren, will der Vorsitzende Richter wissen. Gröning hatte für sich in Anspruch genommen, nur „Koffer bewacht“ zu haben, keine Menschen. Die Frage ist wichtig, denn im Rampendienst war der Buchhalter Gröning KZ-Aufseher und hat damit als Teil der Wachmannschaft von Auschwitz aktiv Beihilfe zum Massenmord geleistet. Hördler führt aus, dass Gröning und seine Kollegen zwar in erster Linie zur Beaufsichtigung des Abtransports der ‚Effekten‘ abgestellt waren, jedoch für den Fall einer Eskalation (beispielsweise Flucht oder Häftlingsrevolte) Schießbefehl hatten. Ein Rückzug der SS-Männer oder eine Verweigerung des Schusswaffengebrauchs wären in so einem Fall als Fahnenflucht gewertet worden und somit undenkbar gewesen.
Die Nebenklagevertreter, die sich bei der Zeugenbefragung der Auschwitz-Überlebenden Orosz-Richt gänzlich passiv verhalten hatten, fragen durchaus rege nach etlichen Details. Thomas Walther spricht Grönings Personalakte an. Der will sie in den 1970er Jahren von dem Frankfurter Oberstaatsanwalt Hans Eberhard Klein inklusive seiner darin enthaltenen Versetzungsanträge – das heißt: der Freiwilligenmeldungen zur Front – gezeigt bekommen haben. Die Akte sei aber verschwunden. Ist das plausibel? Hördler verweist abermals auf jene Liste der „Kv.“-Männer vom 1. Juni 1944, auf der Gröning ohne den Eintrag einer Freiwilligenmeldung, für die es eine entsprechende Spalte gegeben hätte, geführt wird. Warum Gröning hier den Kopf schüttelt und leise lacht, kann man nur mutmaßen: Stellt er die Expertise eines Nachgeborenen in Frage? Oder drückt er damit (entgegen seiner Verteidigungsstrategie) aus, dass sich kaum jemand in den letzten Kriegsmonaten freiwillig zur Front gemeldet haben dürfte?
1. Juli: Der Angeklagte
Die Pressestelle des Landgerichts hat zwischenzeitlich über die Medien die Nachricht verbreiten lassen, dass Oskar Gröning sich noch einmal ergänzend äußern wolle. Entsprechend groß ist das Interesse der Medien, zahlreiche ausländische Nachrichtenagenturen haben Korrespondenten geschickt, die BBC filmt mit zwei Teams, die New York Times ist vertreten, ebenso israelische und ungarische Blätter. Die nicht vom Gericht akkreditierten Berichterstatter, zu denen ich gehöre, müssen warten, ob einige der fest vergebenen Plätze frei bleiben und dürfen schließlich nachrücken. Für die Medien sind die Einlassungen eines Täters offensichtlich weitaus interessanter als die der Opfer. Die Aussage von Angela Orosz-Richt vor einem Monat hatten vielleicht ein Dutzend Journalisten gehört und dokumentiert; heute dagegen sind die 60 Presseplätze annähernd gefüllt.
Zunächst müssen jedoch einige Anträge auf Zulassung weiterer Beweismittel vom Gericht abgearbeitet werden, die schließlich mit Blick auf die „Prozessökonomie“ von der Kammer abgelehnt werden. Anschließend begrüßt Kompisch die Nebenklägerin Irene Weiss, die Anfang Mai wegen Grönings Schwäche nicht hatte aussagen können und nun erneut die Reise aus den USA auf sich genommen hat, sowie den Nebenkläger Andor Sternberg, ebenfalls aus den USA. Sternberg steht auf, als er begrüßt wird, und salutiert vor dem deutschen Richter.
Mit einem Seitenblick auf einen der Anwälte, der heute eine medizinische Halskrause trägt, fragt Franz Kompisch launig in die Runde „Sonst alle fit?“ Gröning nickt. Kompisch bekennt, dass er keine „befriedigende oder vernünftige“ Lösung für die Frage habe finden können, ob zunächst Frau Weiss oder Gröning sprechen solle. Vielleicht mit Rücksicht auf Grönings Gesundheitszustand beschließt er, diesem den Vortritt zu lassen. Der Gesundheitszustand des Angeklagten ist auch das Thema von Verteidiger Holtermanns Einleitung zur erwarteten Erklärung Grönings. Das jüngste medizinische Gutachten über den Gesundheitszustand von Oskar Gröning habe ergeben, dass die im Verfahren geschilderten Vorgänge den Angeklagten gesundheitlich sehr mitnähmen. Er müsse daher, um sich zu schonen, seine Erklärung von seinen Anwälten verlesen lassen, lege aber ausdrücklich Wert auf die Feststellung, dass diese Erklärung die seine sei. Anschließend verliest die Verteidigerin Susanne Frangenberg Grönings Text.
Gröning erklärt, noch einmal seine konkrete Tätigkeit in Auschwitz schildern zu wollen. Er sei der HGV zugeteilt worden, einer kleinen Abteilung von etwa 10 Mann, untergebracht in einem Verwaltungsgebäude außerhalb des Lagers. Er sei für das Zählen der Devisen zuständig gewesen, auch derjenigen, die vom Kanada-Kommando aus Auschwitz-Birkenau an die HGV von bewachten Häftlingen überstellt worden seien. (Gröning sagt immer wieder über seine verschiedenen Tätigkeiten: „ich musste …“). Das zu zählende Geld „war den Menschen abgenommen worden, was mir bekannt war.“ Ist das ein Schuldeingeständnis? Offensichtlich nicht, denn Gröning spricht stets davon, dass er die „Häftlingsgelder verwaltet“ habe. Das mag sich aus der Abteilungsbezeichnung der HGV ergeben, ist aber ein bodenloser Euphemismus für den Raubmord, der an dieser Stelle des Komplexes Auschwitz zusammenlief.
Neben dieser Arbeit sei er „immer mal wieder zum Dienst auf der Rampe eingesetzt“ worden. Gleich bei seinem ersten Rampendienst habe er die schreckliche Szene erlebt, wie ein SS-Mann ein Baby gegen einen Lastwagen schlug, bis es tot war. Er habe gleich darauf im Herbst 1942 ein Versetzungsgesuch gestellt. Sein Vorgesetzter, SS-Obersturmführer Theodor Krätzer, sei daraufhin laut geworden und er habe sich gefügt. Ende 1942 habe er ein zweites Gesuch gestellt, um an die Front zu entkommen, nachdem er Zeuge der Vergasung von Häftlingen im Alten Bauernhaus („Bunker“) und der Verbrennung von Leichen in offenen Gruben geworden war. Aufgrund seines Heiratswunsches habe er in der Kommandantur an sein Versetzungsgesuch erinnert, sei dort aber nur an seine Pflichten erinnert worden. Er habe sich, so Gröning heute selbstkritisch, wohl nicht engagiert genug um seine Versetzung bemüht. Viel später habe ihm Theodor Krätzer mitgeteilt, dass die Kommandantur auch gar nicht für ihn zuständig gewesen sei.
Als die Ungarnaktion anlief, seien sehr viele Menschen ins Lager gekommen, die Folge sei ein erhöhter Arbeitsanfall gewesen. Er sei zu dieser Zeit nicht mehr im regulären Rampendienst tätig gewesen, was er sich mit seiner Beförderung zum Unterscharführer erklärt habe – möglicherweise fälschlich. Er habe das nicht hinterfragt, sei nur froh gewesen, keinen Dienst mehr auf der Rampe tun zu müssen. „Bis heute lassen mich die Erlebnisse an der Rampe wie der Babymord nicht los.“ Er habe Bescheid gewusst über die im Lager verübten Grausamkeiten, und auch wenn er damit nichts zu tun gehabt habe, habe er zum Funktionieren des Lagers beigetragen. Damals habe er verdrängt und funktioniert. Seine Verdrängung sei ihm heute selbst unerklärlich, es sei wohl auch die „Bequemlichkeit des Gehorsams“ gewesen, zu dem seine Generation erzogen worden sei. „Es ist nach heutigen Maßstäben nicht zu fassen.“ Als die Räumung eines Ghettos anstand, habe er gewusst, dass er nun an Tötungsaktionen würde teilnehmen müssen. Er habe sich von seiner Unterkunft fern gehalten und so vermieden, dass ihn der Befehl erreichte. Er habe daraufhin zum dritten Mal um seine Versetzung an die Front gebeten, die ja schließlich auch im Herbst 1944 erfolgt sei.
Zuletzt geht Gröning auf seine erste Einlassung zu Prozessbeginn ein. Er habe seinerzeit Begriffe gebraucht, die damals üblich waren. „Diese Äußerungen entsprechen in keiner Weise meiner heutigen Auffassung. Hierfür bitte ich um Entschuldigung.“ Er habe die Gefühle der Opfer nicht verletzen wollen. Auch habe er sich zwar längst vor dem Prozess mit dem Holocaust auseinandergesetzt, doch die Schilderungen der Überlebenden „haben mich außerordentlich stark beeindruckt.“ Er habe erst jetzt erkannt, wie sehr die Überlebenden ein Leben lang unter ihren Erlebnissen litten. „Mir ist bewusst, dass ich mich durch meine Tätigkeit in der HGV am Holocaust mitschuldig gemacht habe, mag mein Anteil auch klein gewesen sein.“ Er stehe in Demut und Reue vor den Überlebenden und den Angehörigen der Opfer. Um Vergebung könne er sie nicht bitten, das stehe ihn nicht zu angesichts der Monströsität des Geschehenen. Um Vergebung könne er nur „meinen Herrgott“ bitten.
Die routinemäßige Nachfrage des Vorsitzenden, ob dies seine Einlassung sei, bekräftigt der Angeklagte mit fester Stimme: „Sie ist meine Einlassung.“ Was wir von Oskar Gröning durch den Mund seiner Anwältin gehört haben, erscheint mir außerordentlich und zugleich außerordentlich schwierig zu bewerten. Inwieweit ist diese zweite Erklärung in ihrer (neuen) Sensibilität den Opfern gegenüber das Produkt anwaltlicher Beratung und Teil der Verteidigungsstrategie? Sind die Schuldeingeständnisse mehr als ein Lippenbekenntnis? Wie verträgt sich diese Schilderung mit dem Gutachten des Sachverständigen, der diverse Aussagen Grönings wie die, nicht regelmäßig an der Rampe Dienst getan oder sich dreimal weg zur Front gemeldet zu haben, deutlich angezweifelt und nach Aktenlage und geschichtswissenschaftlichem Ermessen widerlegt hat? Versucht Gröning immer noch, sich aus der Position des Angeklagten davonzustehlen, indem er sich als aussagewilliger Zeitzeuge der Justiz andient, wie er sich bereits zehn Jahre zuvor den Medien gegenüber geöffnet hatte?
Andererseits: Misst man zumindest diese zweite Einlassung an den Aussagen, die andere Täter in anderen Konzentrationslagerprozessen getätigt haben, dann ist dies gleichsam eine Aussage aus dem 21. Jahrhundert: Empathisch und nicht aggressiv, den Holocaust bezeugend und nicht leugnend, sogar selbstreflexiv und nicht zuletzt ganz offensichtlich ohne Larmoyanz leidend unter dem Druck der Zeugenaussagen. Während andere Täter im besten Fall ein unbedeutendes Rädchen im Getriebe hatten sein wollen, hat Gröning sich im Laufe des Prozesses möglicherweise wirklich klar gemacht, dass dieses Getriebe eben wegen der kleinen Rädchen auch funktioniert hat. Dass Menschen ihnen Unangenehmes, dass Täter ihre Taten verdrängen und dass Gedächtnisse und Erinnerungen nicht stabil sind, wissen wir aus Sozialpsychologie und Erinnerungsforschung. Gut möglich also, dass Oskar Gröning glaubt, was er sagt; dass er aussagt, was er zu erinnern meint. Dass er, um sich nicht selbst zu belasten (was jedem Angeklagten zusteht), darauf beharrt, nicht getötet zu haben. Bei der moralischen Wertung seiner Aussage ist die Möglichkeit einer subjektiven Wahrheit zumindest mitzudenken, auch wenn ein Gericht sich damit nicht zufrieden geben kann. Zweifel bleiben dennoch: Warum etwa will er vertretungsweise dreimal für Kollegen auf der Rampe freiwillig eingesprungen sein, wenn er gerade die Rampe angeblich so gefürchtet hat?
In der durchweg kritischen Aufnahme der Einlassung des Angeklagten, die in den Stunden und Tagen danach einsetzt, wird deutlich, in welchen Zwängen sämtliche Verfahrensbeteiligten eines solchen Prozesses gefangen sind: Natürlich kann diese Erklärung den Anwälten der Opfer und ihren Mandanten nicht genügen. Es wäre im Sinne der Prozessführung auch geradezu widersinnig, sie würden der Geste von Eva Mozes Kor folgen und Grönings Aussage als das selbstkritische Schuldbekenntnis akzeptieren, als das er es wohl empfindet. Eine Erklärung des Angeklagten, die angesichts der von ihm mitverantworteten Massenmorde irgendwie ‚befriedigend‘ wäre, kann ich mir allerdings auch gar nicht vorstellen. Jede Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld muss zwangsläufig an der Dimension des Verbrechens scheitern, jede nur denkbare Geste erscheint unangemessen. Insofern kann man von der Aussage eines Täters in so einem Prozess vermutlich nicht viel mehr erwarten als das, was Gröning hat vortragen lassen – vielleicht kann man es nicht einmal sehr viel besser machen. Wunden, das lehrt auch das späte Lüneburger Verfahren wieder, kann ein derartiger Prozess nicht heilen. Aber Grönings Aussage bezeugt immerhin, dass er den Opfern zugehört hat.
*
Vor dem Hintergrund der Berichte der Überlebenden verblassen solche Überlegungen. Was die Rampe für diejenigen bedeutete, die dort ankamen, kann vermutlich niemand besser bezeugen als Irene Weiss. Weiss ist auf den Bildern des Auschwitzalbums zu sehen, genau in jenem Augenblick, in dem ihre Familie bei der Selektion endgültig zerrissen wurde. Zwei Fotografien aus dem Album werden gezeigt und Irene Weiss beschreibt mit ruhiger, nie brüchiger Stimme, was darauf zu sehen ist und wer die Menschen waren, deren Schicksal hier gewaltsam besiegelt wurde.
In knappen Worten schildert die pensionierte Lehrerin ihre Familie: Vater, Mutter und sechs Kinder, zum Zeitpunkt der Einlieferung in Auschwitz zwischen sieben und siebzehn Jahren. Sie berichtet von der Einführung der Nürnberger Gesetze in Ungarn, dem Tragen des gelben Sterns, dem Verweis von der Schule, der Enteignung des väterlichen Holzhandels, der Ankündigung der Deportation. Auch die ganz pragmatischen Sorgen der Familie sind bewegend – vielleicht, weil sie noch anschlussfähig auch für all jene sind, die nicht Überlebende eines Massenmordes sind. Wenn Weiss die Erinnerung an die Essensvorbereitungen der Mutter am Vorabend des Abtransports aufruft, so erscheint uns dieses Verhalten noch innerhalb einer gemeinsamen Plotstruktur zu stehen, die wir Nachgeborenen mit der exorbitant zunehmenden Gewalt, die den Opfern in den Lagern angetan wurde, bald nicht mehr finden. Die Mutter näht den Familienschmuck in die Kleidung ein. Am nächsten Morgen klingelt die ungarische Polizei und plündert. Die Familie wird zusammen mit unzähligen anderen ungarischen Juden in einer verlassenen Ziegelei eingepfercht. Einen Monat verbringt sie dort, mit nur einer Suppenmahlzeit täglich. Allen Mädchen unter 16 Jahren werden die Haare abrasiert. Die Mutter wickelt der 13jährigen Irene anschließend ein Tuch um den Kopf.
Mitte Mai 1944 rollt ein Güterzug ein, Ziel unbekannt. 80 bis 100 Menschen werden in jeden Waggon gequetscht, mit einem Eimer für die Notdurft. Irene Weiss schildert den Moment der Finsternis, als die Türen verriegelt werden, aber auch, dass die Eingeschlossenen sich aus Gründen des Anstands nach Geschlechtern getrennt aufstellten. Gerade diese Details aus dem Inneren dessen, was wir mit der Metapher ‚Holocaust‘ belegt haben, sind es, die berühren. Gerüchte über Massenerschießungen in den polnischen Wäldern waren den ungarischen Juden zu Ohren gekommen, von den Vernichtungslagern hatten sie bis dato nichts gehört. Als der Zug in Auschwitz einläuft, ist das daher zunächst eine Erleichterung: Der Vater glaubt, sie seien in einem Arbeitslager eingetroffen. „Raus! Raus! Schnell!“ Die Insassen der Waggons sollen sämtliches Gepäck zurücklassen. Die Mutter verordnet in der Hast ihren Kindern, Kleidungsstücke aus den Koffern übereinander anzuziehen – eine Maßnahme, die Irene Weiss möglicherweise das Leben gerettet hat.
Anhand des ersten Fotos beschreibt sie die Abläufe auf der Rampe: Den verzweifelten Versuch der achtköpfigen Familie, nach dem Aussteigen im Gewühl der Rampe nicht auseinandergerissen zu werden; die Plünderung der Waggons durch das Kanada-Kommando; das Vorwärtsschieben der Menschenmasse durch die SS; die plötzliche Trennung von Männern und Frauen. Alles geschieht rasend schnell, die Wahrnehmung der Schockierten hält kaum Schritt mit den Ereignissen. Den Vater und den großen Bruder verliert sie ohne jeden Abschied schon hier, Irene Weiss wird sie niemals wieder sehen. Aus einem entfernten Schornstein steigt Rauch auf. Am Ende der Rampe stehen zehn SS-Männer. Einer von ihnen trägt einen kleinen Stock und dirigiert damit den Menschenstrom. Die Mutter und die beiden kleinen Brüder werden auf die eine Seite selektiert – Frauen mit kleinen Kindern gingen stets direkt in die Gaskammern –, die große Schwester Serena in die andere. Die kleinere Schwester wiederum wird in den Tod geschickt. Als sie sich einreiht, wird die 13jährige Irene starr vor Schreck:
„I didn’t move. I leaned over, peering into the crowd and trying to see if Edith had caught up with my mother and my two little brothers. Women and children continued to move in that direction. It was not possible to see what had happened to Edith in the fast-moving crowd. During the separation, we made normal assumptions that this was a work camp and that we would be reunited with the family. I was horrified that she would not find our mother. No names or identity information were taken. She would be lost to our family, alone among strangers. Our family had tried so hard to stay together, with the older children looking after the younger. We were now completely torn apart. The trauma of this separation lingers with me to this day.“ (Die Aussage von Irene Weiss steht auf der Homepage der Nebenkläger: (Link)
Das Foto aus dem Auschwitzalbum hält die Situation fest, in der Irene Weiss unter Schock bewegungsunfähig auf der Rampe stehen bleibt – Irene Weiss ist die zweite Person von links in der linken unteren Bildecke). Dank ihres Kopftuches und des dicken Wintermantels, den sie noch im Waggon auf Veranlassung der Mutter übergeworfen hat, ist sie auf die Seite der Lebenden geschickt worden, ihr Blick aber geht der jüngeren Schwester nach, die nun mutterseelenallein weitergehen muss. Vor Schreck hat Irene Weiss sich die linke Hand in einer Geste der Betroffenheit vor das Gesicht geschlagen. Das kleine Mädchen, dem sie nachblickt, ist bereits nicht mehr auf dem Bild zu sehen. Panik überfällt sie: Werden sie sich jemals wiederfinden, da doch niemand ihre Personalien aufgenommen hat? Für die letzten 70 Jahre sei dieses Bild in ihr Gedächtnis gebrannt.
Es folgen Desinfektion, Einkleidung und Einweisung in eine Baracke. Die Frage nach dem Schicksal der Angehörigen beantwortet eine ältere Gefangene: „A woman pointed to a chimney and said, ‘Do you see the smoke? There is your family.’ I thought—‘Why would anyone say such a thing?’“ Auf einem zweiten Bild ist zu sehen, was unterdessen mit ihrer Mutter und den beiden kleinen Brüdern geschieht. Der der SS angehörende Fotograf des Auschwitzalbums nimmt eine Menschenmenge aus Alten sowie Müttern und ihren Kindern auf, die in einem Birkenwäldchen warten. „My brothers Reuven, age 9, and Gershon, age 7, stand in the lower left of this picture. My mother Leah, age 44, is seated just behind them.“ Die Szene wirkt fast friedlich. Sie ist in unmittelbarer Nähe der Krematorien IV und V situiert. Wir wissen, dass diese Rast im Wäldchen ihre letzte Station vor der Gaskammer war. Unvorstellbar, mit welcher Kälte die Täter selbst auf die schutzlosesten ihrer Opfer geblickt haben. Genügte für diesen Blick allein jene „Bequemlichkeit des Gehorsams“, die Gröning für sich anführt? Wie hält man die auf dem Täter-Foto festgehaltenen Blicke der Opfer aus?
Irenes Schwester Serena habe sich später daran erinnert, dass Irene tagelang geweint habe. Jeden Morgen droht der „Zählappell“ – Irene Weiss benutzt das deutsche Wort –, der auch dem Aussieben bei der Selektion übersehener Kinder dient. Irene Weiss versucht, sich auf einen Stein zu stellen und reibt ihre Wangen rot, um größer und kräftiger zu erscheinen. Sie finden in einer Baracke zwei Tanten, Schwestern der Mutter, die ihnen helfen. Es folgen Tätowierung und Zwangsarbeit. Irene Weiss kommt nach „Kanada“, wo sie Berge von Kleidung, Schuhen, Zahnbürsten, Kinderwagen sortiert. Die Haufen stapeln sich bis unter die Decke und werden nie kleiner. Gefundene Wertsachen müssen abgegeben werden. Eines Tages findet sie das Kleid der Mutter und einen Schal.
Das Kommando von Irene Weiss arbeitet und wohnt neben den Gaskammern. Tag und Nacht ziehen am Gebäude die für das Gas Selektierten vorbei, oft noch ahnungslos. Irene Weiss hört die Pfiffe der einfahrenden Züge, nachts die Schreie und Gebete der Menschen auf der Rampe, die die brennenden Feuer und die rauchenden Schlote sehen – und dann die Stille, bis das Stampfen einer Lokomotive den nächsten Transport ankündigt. Im Januar beginnt ein Todesmarsch ins Reich, über das KZ Ravensbrück bis nach Neustadt-Glewe. Eine Tante erkrankt an Typhus und wird ermordet. „Soon after, Serena was also selected for death. When I realized that we were about to be separated, I said, ‚I am her sister!‘ I was told, ‚You can go, too.‘“ Unfassbar, in welcher Gefasstheit die Überlebenden immer wieder von derart tragischen Erlebnissen und auch – der Begriff scheint hier durchaus angemessen – der heroischen Haltung der Häftlinge berichten. Die Todgeweihten warten auf den LKW, der sie zur Exekution abholen soll, doch der kommt nicht mehr. Die Wachen sind geflohen, das Lager befreit sich selbst.
Irene Weiss berichtet jedoch von familiären Erinnerungen. Und sie bricht damit vor diesem deutschen Gericht erstmals ein ganz persönliches, lebenslanges Schweigen:
„In the years since I was in Auschwitz, I never talked about my father, other than to say that he didn’t survive. I couldn’t bear to talk about how he died. He was a loving, gentle, kind person. When we were little, he found a fun way to teach us the Hebrew alphabet, so that we would be able to read the prayers. Our living room ceiling had wood beams, with knots in them. He would attach a coin to the tip of a broom handle, and when we performed well, he would lift the broom handle to the ceiling and hit a knot in the beam, causing the coin to fall, as if from heaven. We were delighted and amazed, and would run to the store across the street to buy candy with the coins. Every night, when he came home from work, we children would surround him, and he would give each of us his attention and love. His whole life was his family and his faith. This was my father, aged 47, who upon arrival in Auschwitz, was forced to work in the Sonderkommando, pulling bodies from the gas chambers. We learned that he was in the Sonderkommando from a young man from our town, who passed us a note over an electrified fence separating us from crematorium 4. From this note, we learned that he was shot not long after being made to do this work.“
Was aus dem 16jährigen Bruder wurde, ist nie bekannt geworden. Serena und Irene überleben. Vater, Mutter, vier Geschwister, 13 Cousins und deren Mütter werden ermordet. Nach ihrer Befreiung sei sie, als sie Kinder auf offener Straße sah, wie angewurzelt stehengeblieben und habe nur gestarrt. In Auschwitz, wo sie die letzten anderthalb Jahre verbracht hatte, waren Kindern inexistent.
Am Ende ihrer Aussage kommentiert Irene Weiss Grönings Selbsteinschätzung, er sei in Auschwitz kein Täter gewesen. „But if he were sitting here today wearing his SS uniform, I would tremble, and all the horror that I experienced as a 13-year old would return to me. To that 13-year-old, any person who wore that uniform in that place, represented terror and the depths to which humanity can sink, regardless of what function they performed. And today, at the age of 84, I still feel the same way.“
Anschließend gibt es wieder kaum Fragen an die Zeugin, es wiederholt sich das Schauspiel nach der Zeugenaussage von Angela Orosz-Richt im Vormonat: Nur der Vorsitzende Richter fragt kurz nach, Staatsanwaltschaft und Verteidigung fragen gar nichts, von den Nebenklägeranwälten lediglich ein einziger. Auch dieses Lebens-, Sterbens- und Leidenszeugnis von Irene Weiss und ihrer ermordeten Familie kann vor Gericht kaum adäquat gewürdigt werden. Bezeichnend ist dabei ein Missverständnis zwischen Richter und Zeugin: Franz Kompisch will wissen, ob die Häftlinge des Kanada-Kommandos bei ihrer Arbeit im Effektenlager bewacht worden seien. Irene Weiss berichtet von der Anwesenheit eines Kapos in jeder Baracke sowie regelmäßigen Kontrollen durch die SS. Kompisch fragt, ob dort gestohlen wurde. Die Zeugin antwortet, dass ihr auf der Rampe klar geworden sei, dass sie bestohlen wurden. Doch letztlich sei ihre Familie ab dem Zeitpunkt der Vertreibung aus ihrem Haus in Ungarn bestohlen worden. Kompisch insistiert, denn was er wissen will, ist, ob im Kanada-Kommando Diebstähle vorkamen, was Irene Weiss schließlich für die Gruppe von sechs Frauen, in der sie arbeitete, verneint. Bezeichnend ist dieser Dialog, weil er offenbart, dass das Gericht hier implizit die zeitgenössische Logik reproduziert, als könne von einer rechtmäßigen Inbesitznahme der Kleider und Wertsachen der Opfer durch die SS ausgegangen werden. Eine solche Frage muss die Zeugin ganz anders verstehen.
Auf die Frage von Nebenklägervertreter Christoph Rückel nach ihrer Reaktion, als sie sich erstmals auf den Bildern des Auschwitzalbums entdeckt habe, antwortet Irene Weiss, dass diese Bilder einen Teil von ihr dokumentierten, der ihr noch einmal schockartig klar gemacht hätte: dies war kein Alptraum, dies hast Du wirklich erlebt. – Keine weiteren Fragen.
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Grönings Verteidiger Hans Holtermann versucht noch, den bisherigen Gang der Ermittlungen formal feststellen zu lassen: Laut Europäischem Menschenrechtsgerichtshof habe jeder Angeklagte das Recht auf ein zeitlich angemessenes Verfahren. Die Ermittlungen gegen Gröning dauerten bereits seit 1977 an, weil ein erstes Verfahren nie formal abgeschlossen wurde und damit immer noch als offen gelten müsse. Seit 38 Jahren werde gegen Gröning ermittelt, dem damit eigentlich eine Entschädigung wegen Verfahrensverzögerung zustehe. Dazu befragt, gibt Gröning allerdings an, die (angeblichen) Ermittlungen gegen ihn gar nicht realisiert zu haben. Tatsächlich hatte der damalige Staatsanwalt Gröning seinerzeit mitgeteilt, er habe mit keiner Strafverfolgung zu rechnen. Und so ist es ja auch gekommen, bis zur Wiederaufnahme der Ermittlungen 2014 und der Anklageerhebung in Lüneburg. Dass hier nun ein über neunzigjähriger Greis vor Gericht gestellt wird, zeugt also nicht etwa von grausamer Unerbittlichkeit der Strafverfolgungsbehörden, sondern vielmehr von ihren schmählichen Versäumnissen seit deutlich über einem halben Jahrhundert.
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Am 2. Juli ist Oskar Gröning laut Aussage seiner Verteidiger „schwächer denn je“. Der Angeklagte hatte bereits am Vortag beim Verlassen des Gerichtssaals deutliche gesundheitliche Probleme gezeigt. Richter Franz Kompisch schließt die wenige Minuten kurze Sitzung mit der lapidaren Feststellung: „Ohne ihn geit dat nich.“
In den folgenden Prozesstagen, an denen ich nicht teilnehmen kann, tragen Staatsanwälte, Nebenklagevertreter, Nebenkläger und Verteidigung ihre Plädoyers vor. Staatsanwalt Jens Lehmann von der ermittelnden Staatsanwaltschaft Hannover beantragt in seinem Schlussplädoyer am 7. Juli, den Angeklagten wegen „Beihilfe zum Mord in 300.000 rechtlich zusammentreffenden Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten zu verurteilen“, mindestens ein Drittel dieser Strafe sei jedoch wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung bereits für abgebüßt zu erklären. (Die Höchststrafe würde 15 Jahre betragen.)
Rechtsanwalt Thomas Walther, der 51 Nebenkläger führend vertritt, wird noch einmal deutlich machen, warum die Klage gegen Oskar Gröning geführt wurde. In der gleichen Zeitspanne von wenigen Wochen, in der das Lüneburger Gericht verhandelt hat, wurden 427.000 ungarische Juden nach Auschwitz deportiert, drei Viertel von Ihnen wurden dort sofort ermordet. „Unter diesen Mordopfern waren die Familien unserer Mandanten. Entsetzen hilft da nicht. Mitleid auch nicht.“ Die Angeklagten hätten das Recht zu klagen und verspürten zudem die Pflicht, für ihre ermordeten Angehörigen Klage zu erheben – die Nebenkläger haben zusammen annähernd 1.000 Angehörige durch den Holocaust verloren. Für sie selbst sei die Situation auf der Rampe kurz, überwältigend und traumatisch gewesen, Gröning dagegen habe das Geschehen der Selektion immer und immer wieder miterlebt. Noch könne er darüber aussagen und so zur Aufklärung der Verbrechen beitragen: „Er hat nach wie vor die Möglichkeit und Freiheit, die unaussprechlichen Verbrechen konkret zu beschreiben, wenn er nur seine eigene Traumwelt der Verharmlosung und die Wortkargheit bei der Erinnerung des Massenmordes verlässt. Die Nebenkläger geben die Hoffnung nicht auf, dass der Angeklagte in seinem ‚Letzten Wort‘ endlich seine eigene Seele befreit und darüber spricht, was auf der Rampe und in Birkenau während der Ungarnaktion geschah und was er gesehen hat. Der Angeklagte ist für das lebenslange Leid der Nebenkläger mitverantwortlich. Er kann ihnen dieses Leid durch keine Worte nehmen. Aber er kann ihnen ein wenig dabei helfen, im Kontext dieses Strafverfahrens mit diesem Leid umzugehen.“ (Link)
Grönings Verteidiger plädieren am 14. Juli auf Freispruch oder aber die Nichtvollstreckung einer etwaigen Strafe. Hans Holtermann zufolge bewachte Gröning auf der Rampe von Auschwitz-Birkenau nur Koffer, keine Menschen. Er sei quasi ein Zuschauer des Massenmordes gewesen, seine bloße Anwesenheit auf der Rampe habe die Tat nicht befördert. Auch habe man bislang keinen einzigen Lokführer dafür verurteilt, dass er Transporte nach Auschwitz gefahren habe. Susanne Frangenberg führte als mildernde Umstände an, dass der Angeklagte geständig sei, dass er die Neo-Nazi-Lügen von Auschwitz-Leugnern widerlegt habe, dass er in Prozessen gegen andere NS-Täter ausgesagt und somit zu deren Verurteilung beigetragen habe. Zudem sei die Aktenlage zu Grönings Tätigkeit in Auschwitz extrem dünn, die historischen Sachverständigen hätten lediglich geschlussfolgert, doch nur wenig konkret belegen können. Die Ermittlungen gegen Gröning würden seit nunmehr 38 Jahren geführt, was strafmildernd zu berücksichtigen sei.
Oskar Gröning schließlich nutzt das ihm zustehende und von den Nebenklagevertretern eingeforderte letzte Wort des Angeklagten: „Auschwitz war ein Ort, an dem man nicht mitmachen durfte, hat Professor Nestler hier gesagt. Das ist mir bewusst. Ich bereue aufrichtig, dass ich diese Erkenntnis nicht viel früher und konsequenter umgesetzt habe.“ Als die Sitzung geschlossen ist und sich der Saal schon fast geleert hat, so berichtet mir eine Journalistin des ZDF, sitzt Gröning auf seinem Platz und weint.
15. Juli: Das Urteil
Am 14. Juli hat das Landgericht Lüneburg eine Presseerklärung verschickt, die schon für den folgenden Tag das Urteil im Fall Gröning ankündigt. Für die Überlebenden von Auschwitz aus Ungarn, USA, Kanada, Israel und anderen Staaten kommt diese Ankündigung zu kurzfristig, um persönlich anzureisen. Opferanwälte berichten von der Wut und Enttäuschung ihrer Mandanten über die Entscheidung des Gerichts, das den zeitnahen Abschluss des Verfahrens derart forciert. Einziger Vertreter der Opfer im Saal ist heute Leon Schwarzbaum, ein 1921 in Hamburg geborener und in Polen aufgewachsener Überlebender von Auschwitz. Die Antifa Lüneburg hat für ihn einen Platz in der Besucherschlange freigehalten. Das Medieninteresse ist abermals enorm, mindestens zehn Fernsehteams sind vor Ort. Wir nichtakkreditierten Berichterstatter finden uns – wie die Prozesszuschauer – schon Stunden vor der Verhandlung vor dem Einlass ein.
Wie immer erheben sich alle Anwesenden, als das Gericht um 09:30 Uhr den Saal betritt. Richter Franz Kompisch kommt gleich zur Sache und gebietet nicht wie üblich, sich hinzusetzen, sondern vereidigt noch schnell einen offensichtlich kurzfristig eingesprungenen Übersetzer, der die hebräische Tonspur bedienen soll, um dann das Urteil zu sprechen: Der Angeklagte wird wegen der Beihilfe zum Mord in 300.000 rechtlich zusammentreffenden Fällen schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt. Er hat die Kosten des Verfahrens und die Auslagen der Nebenklage zu tragen. Gröning ist keine äußerliche Reaktion anzusehen.
Anschließend begründet der Vorsitzende den Spruch der Kammer ausführlich. Er spricht völlig frei, adressiert das Publikum und den Angeklagten direkt, vor ihm liegen lediglich handschriftliche Notizen. Einmal mehr wird deutlich, was für ein – ja: Glück es ist, dass dieses Verfahren vor einen Richter von diesem Format gekommen ist. Sein umfassender Respekt gegenüber allen Verfahrensbeteiligten ist es, der zumindest die Prozessführung über etwas so Unerträgliches wie die Ermordung der jüdischen Bevölkerung Ungarns in Auschwitz für alle Seiten erträglich macht.
„Wie wird man gerecht?“, fragt Franz Kompisch einleitend, und wiederholt die Frage gleich noch einmal: „Wie wird man gerecht?“ – den Opfern, dem 94jährigen Angeklagten, der Öffentlichkeit, dem Verfahren selbst, das „auch für uns als Gerichtsmitglieder nicht einfach“ ist? Kompisch spricht offen aus Sicht der Kammer darüber, dass der Prozess „eine Veränderung in unserer Gedankenwelt“ bewirkt habe. Zudem müsse sich ein derartiges Verfahren auch den in der Öffentlichkeit aufgeworfenen Fragen stellen, etwa, ob es überhaupt noch Sinn mache, diesen Prozess so spät gegen einen so alten Angeklagten zu führen, oder zum bisherigen justiziellen Umgang mit NS-Verbrechen in der Bundesrepublik. Zur Frage nach dem Sinn eines derart verspäteten Verfahrens über so lange zurückliegende Taten stellt der Richter unmissverständlich klar: „Man kann auch nach 70 Jahren Gerechtigkeit schaffen.“ In einem Prozess könne man in die Geschichte eintauchen, sich Klarheit über Geschehenes verschaffen und auch neue Aspekte erkennen. Doch bei allen vielfältigen Interessenlagen in Bezug auf Auschwitz: „Es ist und bleibt ein Strafprozess, bei dem es um die Taten des Oskar Gröning geht.“
Kompisch rekapituliert die Vita des Angeklagten und weist an verschiedenen Stationen nach, dass dessen Lebensweg keineswegs zwangsläufig über Auschwitz führen musste. Oskar Gröning hatte berichtet, 1921 in ein kaisertreues Elternhaus hineingeboren worden zu sein; der Vater war Mitglied im Stahlhelm, eine nationalkonservative Prägung sei ihm damit quasi in die Wiege gelegt gewesen. Zwar stehe Grönings Gesinnung nicht vor Gericht, so der Vorsitzende, aber auch eine solche Erziehung führe nicht unausweichlich nach Auschwitz. Denn eine kaisertreue Gesinnung hatten auch viele der Vorfahren der Opfer. Kompisch erinnert an die Aussage einer Überlebenden, die berichtet hatte, wie einer ihrer männlichen Vorfahren bei der Ankündigung der Deportation im festen Vertrauen auf die unverrückbaren Werte der hoch geschätzten deutschen Kulturnation seine k.u.k-Uniform herausgeholt und angezogen habe. Der Eintritt in die SS sei vielmehr Grönings bewusste und freie Wahl gewesen: „Das war Ihre Entscheidung, sicher aus der Zeit heraus bedingt, aber nicht unfrei.“ Der Vorsitzende beharrt darauf, dass man auch in dem 1930er Jahren zunächst einmal „ein ganz normaler Mensch“ war: „Sie hatten auch ein eigenes Denken. Sie tragen mit sich als durchaus gebildeter Mensch die Erfahrungen einer jahrhundertelangen deutschen Kultur und Geschichte.“ Dies alles sei für Gröning wie für seine deutschen Zeitgenossen ihr geistiges Rüstzeug gewesen. Die Ermordung unschuldiger Menschen sei darin, trotz des seinerzeit verbreiteten Antisemitismus, genauso wenig vorgesehen gewesen wie heute. In Richtung Gröning, der angeführt hatte, zu unhinterfragtem Gehorsam erzogen worden zu sein, fährt er fort: „Sie haben auch gedacht. Sie haben gedacht und Sie haben sich auch entschieden.“ Angesichts der anfänglichen Erfolge der deutschen Kriegsführung und der Attraktivität der SS als zackige Elitetruppe stellt er klar: „Sie wollten dabei sein.“ Oskar Gröning, referiert Kompisch weiter, meldete sich 1940 freiwillig zur SS und kam zur Ausbildung nach Dachau. Er war mit seinen speziellen Fähigkeiten als Sparkassenangestellter willkommen, weil der Vernichtungsapparat mehr Mitwirkende als nur die Mörder brauchte. Und so wurde Gröning im Herbst 1942 im Rahmen der Aktion Reinhardt zur Ermordung der polnischen Juden nach Auschwitz versetzt.
„Was war Auschwitz?“, fragt der Richter, und liefert die knappe Definition des zentralen NS-Vernichtungslagers aus der Sicht der Kammer: „Auschwitz war eine insgesamt auf die Tötung von Menschen ausgerichtete Maschinerie.“ „Rasse“ und „Weltanschauung“ waren die bestimmenden Parameter für die Vernichtung. „Auschwitz war wie eine Behörde aufgebaut“ und perfekt organisiert. Euphemismen wie „Häftlingsgeldverwaltung“, „Effekten“ etc. sollten verschleiern, um was es hier wirklich ging. Die kleinteilige Arbeitsteilung in Auschwitz (die einen Gröning nicht als unmittelbaren Täter erscheinen lässt und zu seiner Verteidigung bemüht wurde) sei ein fundamentaler Teil des Plans zur Ermordung der Juden gewesen. „Zentral war die Zerstückelung des Tötungsvorgangs in viele kleine Teile mit dem Ziel, niemand sollte alleine verantwortlich sein.“ Denn jeder Beteiligte habe gewusst, dass hier etwas auch nach damaligen Maßstäben Verbotenes, eigentlich Unerträgliches geschah. Doch Gröning wirkte lieber hier mit, als an die Front zu gehen. Er wolle keine Feigheit unterstellen, so Kompisch, aber: „Im Ergebnis war es ihm lieber, dort [in Auschwitz] zu sein, als an der Front.“ (Gröning, der den Richter die ganze Zeit unverwandt fokussiert, schüttelt den Kopf. Dass er Auschwitz der Front vorgezogen habe, soll niemand glauben, das will er gestisch unmissverständlich deutlich machen.)
Als Gröning, führt Kompisch weiter aus, beim Rampendienst den oft zitierten brutalen Mord an einem Baby erlebt, protestiert er bei seinem Vorgesetzten Krätzer: so gehe das doch nicht. „Herr Gröning ist kein Unmensch.“ Doch Obersturmführer Krätzer erinnert ihn an seine Pflichten, mit Erfolg: „Herr Gröning macht weiter.“ Er zählt und transportiert das Geld der Häftlinge und Ermordeten, er versieht Dienste auf der Rampe und er erlebt die Vergasung von Häftlingen. Die Behauptung, dass man sich das heute alles gar nicht mehr vorstellen könne, weist Kompisch energisch zurück. Nach dem Tod seines Bruders sei Gröning hin- und hergerissen gewesen, er habe seine Optionen abgewogen und sich für den sicheren Schreibtischjob im Vernichtungslager entschieden, wo er trotz des Krieges, dessen Verlauf sich mittlerweile gegen das Deutsche Reich gewendet hatte, kaum Gefahren zu fürchten hatte. 1943 erkrankt Gröning an Flecktyphus, nach Genesung und Kurmaßnahmen kehrt er nach Auschwitz zurück. Dann plant er die Hochzeit mit der Verlobten seines gefallenen Bruders. Kompisch resümiert das Verhalten des Angeklagten: „Sie bleiben da. Sie wägen ab.“ (Wieder Kopfschütteln auf der Anklagebank.)
Als 1944 die Ungarnaktion anlief, sei allen längst klar gewesen, dass der NS-Staat bröckelte und der Krieg aussichtslos war. Das ‚Dritte Reich‘ habe jedoch noch einmal um sich geschlagen: Kompisch interpretiert die Ungarnaktion als eine Ersatzhandlung für die nunmehr ausbleibenden Kriegserfolge. Vielleicht denkt der Vorsitzende im folgenden Satz mit, dass Gröning bei seiner Befragung zu Protokoll gegeben hatte, konform zur NS-Ideologie vom Rassenkrieg die zu ermordenden Juden als Kriegsgegner empfunden zu haben, deren Ermordung also in Kriegszeiten gerechtfertigt sei. „Alle die Juden hatten mit der Kriegsführung überhaupt nichts zu tun.“ Sie lebten weitgehend unbeeinflusst vom Kriegsgeschehen unauffällig in Ungarn und glaubten noch an die Humanität der Deutschen. Als sie den Deportationsbefehlen Folge leisteten, gingen sie davon aus, in Arbeitslagern interniert zu werden. Das Kriegsende schien absehbar und so fügten sie sich in fataler Hoffnung. Kompisch rekapituliert die Täuschung der ungarischen Juden durch die deutschen Behörden, die sogar gefälschte Postkarten kursieren ließen, in denen angebliche deportierte Juden davon berichteten, sie seien jetzt Siedler. Gerade auch die Vorspiegelung der Tatsache, man könne, wenn auch im stark beschränkten Rahmen, Gepäck mitnehmen, hat zu jenen Illusionen beigetragen, die die ungarischen Juden sich machten. Der Vorsitzende macht deutlich, wie verabscheuungswürdig die Perfidie der Täuschung von hier aus bis zu den als Duschen getarnten Gaskammern war und wie sehr ihn die diesbezüglichen Zeugenaussagen im Gröning-Prozess berührt haben: etwa die jener Kinder, die eine kleine Nähmaschine mitnahmen in der irrigen Hoffnung, sich am Zielort der Deportation neue Kleidung nähen zu können.
Die drei Tage dauernden Zugfahrten von 2.000 bis 5.000 Juden, die je zu 80 bis 100 Personen in einem Viehwaggon zusammengequetscht waren, dienten auch dazu, einen Erschöpfungsgrad bei den Deportierten herbeizuführen, die dadurch umso wehrloser auf der Rampe von Auschwitz eintrafen. Franz Kompisch beschreibt noch einmal die Abläufe auf der Rampe. Die Sammlung der Gepäckstücke, die auch Oskar Gröning mit beaufsichtigte, diente hier abermals der Täuschung der Opfer. Was wäre wohl passiert, wenn sie schon auf der Rampe erkannt hätten, dass ihr Gepäck wild geplündert wird? Vermutlich hätten dann die erschöpften und desorientierten Opfer, vermutet Kompisch, sich nicht so gefügt wie geschehen, weil ihnen die letzten Illusionen geraubt worden wären. Insofern hat auch der, der durch das Bewachen des Gepäcks für Ordnung sorgte, zur Täuschung der Opfer beigetragen. Dass der Angeklagte, der mit dem Vernichtungsapparat nichts zu tun haben wollte, nur auf die Koffer gesehen haben will, lässt der Richter ihm nicht durchgehen: Er wolle uns doch wohl nicht erzählen, dass er das Leid neben dem Gepäck nicht mitbekommen habe! Ob er auf der Rampe Menschen oder Koffer bewacht habe, sei für die Frage der Beihilfe unerheblich: „Das Gepäckbewachen reicht schon aus.“ Es war Teil der Täuschung, die den für die Täter reibungslosen Tötungsablauf gewährleistete, und damit auch Teil der Vernichtung.
Die Vernichtung mit Zyklon B wird noch einmal beschrieben: Wie die Menschen dreißig Minuten mit dem Tod ringen, wie die Größeren zuerst sterben, weil das Gas des Zyklon B leichter ist als Luft, wie am Ende die Kinder den Tod ihrer Eltern ansehen müssen, bevor sie selbst auch ersticken. „Viel grausamer kann man so etwas nicht tun.“ Doch auch die nicht für die Gaskammern Selektierten waren nicht zum Überleben ausgewählt, macht Kompisch deutlich, sondern zur Vernichtung durch Arbeit. Immer wieder unterstreicht er die Abscheulichkeit der Taten, die „Perversion und Perfidie“ gegenüber den arglosen Opfern, er flicht Bemerkungen wie „Fürchterlich!“ und „Das muss man sich mal vorstellen.“ in seine Schilderungen ein. Drei Viertel der ungarischen Juden werden in Auschwitz umgebracht. „Nach zwei Monaten ist alles vorbei. Eine Kultur und ihre Träger ist [sic] weitgehend ausgelöscht.“ Die wenigen, die übrig bleiben, überleben mit traumatischen Erinnerungen, die jegliche Form eines Friedensschlusses mit der Vergangenheit ausschließen.
Oskar Gröning wird von seiner Vergangenheit erst 1978 eingeholt. Dabei waren bereits in den frühen 1960er Jahren unter dem Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer alle juristischen Grundlagen für eine Strafverfolgung gegeben, alle Theorien zum Verbrechenskomplex Auschwitz und zur Beihilfe entwickelt und alle Argumente ausgetauscht. Durch die im Wortsinne revisionistische Revision des Frankfurter Auschwitz-Urteils durch den Bundesgerichtshof (BGH) 1969 wurde die Tötungsmaschinerie wieder genau in dem Sinne atomisiert, wie dies bereits von den Vordenkern der Vernichtung eingeplant worden war: tausendfache Einzeltaten und Einzelschuld mussten fortan festgestellt werden; als Täter galten nur noch so genannte Exzesstäter, deren Grausamkeit über das ‚ganz normale‘ Tötungsgeschehen in Auschwitz hinausging. Schwere justizielle Versäumnisse waren die Folge, Verfahren wie auch das gegen Gröning und die anderen Angehörigen der Gefangenen-Eigentumsverwaltung von Auschwitz verebbten. Wieviel ungesühnt blieb, weil die ermittelnden Juristen kein Interesse zeigten oder aber den Verfahrensaufwand mit großen Gruppen von Angeklagten, aber auch Auslandszeugen scheuten, macht Franz Kompisch an einem simplen Zahlen-Beispiel deutlich: Rund 6.500 Personen waren in Auschwitz tätig. Davon wurden bis zum heutigen Tage 49 rechtskräftig verurteilt. Gröning wäre also überhaupt erst der 50. Täter, der zur Rechenschaft gezogen wird. Die Aufklärungsquote gegenüber den Tätern von Auschwitz ist damit statistisch kaum messbar, sie liegt 70 Jahre nach der Befreiung der Lager nicht einmal bei einem Prozent. Allein die Lüneburger Staatsanwaltschaft bearbeite, so Kompisch, jährlich 30.000 Verfahren. Angesichts dessen verblasse das Argument, hier hätte man bei 6.500 Tätern vor zu vielen Verfahren gestanden, die nicht abzuarbeiten gewesen wären.
Es folgt die strafrechtliche Bewertung von Oskar Grönings Verhalten in Auschwitz während der Ungarn-Aktion. Der Angeklagte habe eine moralische Schuld und sein Mitwirken als kleines Rad im Getriebe eingestanden. Genau dies aber sei es, was der Gesetzgeber Beihilfe zum Mord nennt. „Er war ein Rad im Getriebe.“ Ob das Rad dabei notwendig zum Funktionieren des Getriebes beigetragen habe oder nicht, sei egal. Für den Beihilfeparagraphen sei Kausalität unerheblich. Wie Gröning Ordnung auf der Rampe zu schaffen sei ein Beitrag zur Täuschung der Opfer und zum Vernichtungsvorgang gewesen. Schon die Häftlingsgeldverwaltung sei eine Beihilfehandlung gewesen. Auch die Finanzierung der Tat ist eine Beihilfe, selbst wenn die Ausplünderung nicht das vordringliche Ziel der Vernichtung war. Gröning habe das Ausmaß der Haupttat, die Vergasung von 300.000 ungarischen Juden, gekannt – das Wissen um die Dimension der Haupttat ist einer der Parameter für die Straftat der Beihilfe zum Mord. „Täterschaftlich handelte er nicht“, antwortet Kompisch all jenen, die Gröning lieber als Täter denn als Beihelfer angeklagt hätten; weder habe er ein eigenes Motiv, noch Einfluss auf die Haupttat gehabt. Juristisch ist auch zu klären, ob hier in Tateinheit oder Tatmehrheit Beihilfe zum Mord geleistet wurde. Das Gericht folgt hier ganz der Tradition von Fritz Bauers Anklage im Frankfurter Auschwitzprozess 1963, indem es Auschwitz als eine einzige Tat annimmt. Dabei beruft sich die Kammer auf einen aktuellen Entscheid des 4. Senats des BGH vom 19.11.2014, demzufolge, wenn die Anzahl der Taten nicht feststellbar ist, im Sinne des Angeklagten von nur einer Tat auszugehen sei. Um Gröning wegen Beihilfe zum Mord zu verurteilen, muss das Gericht auch noch einmal formaljuristisch feststellen, dass Auschwitz ein (millionenfacher) Mord war. Der Vorsitzende führt aus, dass die Mordmerkmale der Grausamkeit und Heimtücke in Auschwitz gegeben waren.
Abermals erinnert er daran, dass es in einem Strafprozess lediglich darum gehen könne, Oskar Grönings Tun zu bewerten. Keinesfalls dürfe man an dem Angeklagten stellvertretend exekutieren, was die Justiz jahrzehntelang versäumt habe. Kompisch führt aus, welche Kriterien bei der Strafzumessung anzulegen waren. Für den Angeklagten spreche sein Geständnis, das bei einer so schwerwiegenden Tat eben auch besonders schwer wiege. Der Angeklagte habe nicht gemauert. Auch sei er ansonsten strafrechtlich unbelastet. Gröning wird ebenfalls positiv angerechnet, dass er sich mit den Opfern und mit seinen Taten konfrontiert habe. Kompisch stellt die Ehrlichkeit von Grönings Aussagen heraus. Auch und gerade durch den Jargon der SS in seiner ersten Einlassung habe er ein Bild davon vermittelt, wie damals gehandelt, gedacht und verdrängt wurde. Erst hierdurch seien auch die inneren Abläufe des Lagers nachvollziehbar geworden. Zuletzt müsse bei der Zumessung der Strafe das hohe Alter und die gesundheitliche Gefährdung des Angeklagten berücksichtigt werden. Jeder Verurteilte habe das Recht auf die zumindest theoretische Möglichkeit, nach dem Abbüßen seiner Strafe noch in Freiheit weiterzuleben.
Als belastende Faktoren nennt der Richter die herausragende Qualität der Mordtat, die extreme Zahl der Opfer, die massiven Folgen für die Opfer und die Hinterbliebenen. Und eine Mordtat müsse eine „Rechtsfolge“ haben, egal wie lange sie zurückliege. Eine Ermäßigung des Strafmaßes, die sogar die Staatsanwaltschaft gefordert hatte, lehnt das Gericht nachdrücklich ab. Weder habe eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorgelegen, da ja über weite Strecken jener 38 Jahre überhaupt nicht gegen Gröning ermittelt wurde, noch könne Gröning als Kronzeuge gelten. Zur konkreten Verurteilung anderer Täter in früheren Verfahren, in denen er als Zeuge gehört wurde, habe er nichts Wesentliches beigetragen.
Der Vorsitzende dreht zum Schluss das von der Verteidigung aufgebrachte Argument der Prozessverschleppung um: Die lange Verfahrensdauer sei tatsächlich eine Belastung gewesen – aber für die Opfer, die so lange haben warten müssen. Es stehe ihm zwar nicht zu, sich für das jahrzehntelange Versagen der bundesdeutschen Justiz zu entschuldigen oder sich über verstorbene Kollegen zu erheben, so der Richter in seiner auch hierin wirklich bemerkenswerten mündlichen Urteilsbegründung, doch er hoffe, dass zumindest das heutige Verfahren gegen Oskar Gröning die Opfer ein Stück weit mit Deutschland versöhnen könne. „Die geschichtliche und juristische Aufarbeitung wird insgesamt nicht so bald ein Ende finden.“ Damit ergeht im Namen des Volkes das Urteil: der Schuldspruch, die Verurteilung zu vier Jahren Haft und zur Erstattung der Kosten des Verfahrens und der Auslagen der Nebenklage. Oskar Gröning hat Prozesskosten in Höhe von mehreren Hunderttausend Euro zu erwarten; ob er seine Haftstrafe angesichts seines hohen Alters und der prekären Gesundheit wirklich antreten muss, obliegt einer Haftprüfung durch die Staatsanwaltschaft.
Zum Abschluss wendet sich Franz Kompisch noch einmal direkt an den Angeklagten: „Insgesamt verdient Ihr Verhalten durchaus Respekt.“ Tatsächlich ist Oskar Gröning der erste Auschwitz-Täter, der sich bei seinen Opfern entschuldigt hat. „Sie haben in diesem Verfahren gelitten, sie haben ausgehalten“, erkennt der Vorsitzende an. Er hoffe, dass Gröning mit dieser Entscheidung des Gerichts auch einen ‚Schlussstrich‘ für sich selbst ziehen könne. Das Lüneburger Urteil nehme vielleicht etwas von dem vorweg, was Oskar Gröning sich von seinem Herrgott erhoffe.
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Leon Schwarzbaum, heute der einzige Auschwitzüberlebende im Saal, verspürt Genugtuung, weil Gerechtigkeit gesprochen wurde. Der selbst ebenfalls 94jährige zollt dem Angeklagten Respekt, vergeben könne er ihm aber nicht. – „It’s too late.“
Autor: Prof. Dr. Matthias N. Lorenz lehrt zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur an der Universität Bern. Er ist zusammen mit Torben Fischer Herausgeber des Lexikons der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 (Bielefeld: transcript, 3. Aufl. 2015) und leitet u.a. ein SNF-Projekt über „Biografie- und generationengeschichtliche Brüche und Kontinuitäten in literarischen Texten von Autoren der Gruppe 47“.
Gröning-Urteil vom Landgericht Lüneburg