Eichmann in Jerusalem. Eine Betrachtung in drei Teilen. Teil1 | Teil2 | Teil3
Wie im ersten Teil des Beitrags angesprochen, soll hier in der Fortsetzung, über den eigentlichen Prozessstoff hinaus (also die Vorgeschichte und den Ablauf der Verhandlungen vor dem Strafgericht in Jerusalem), auch die ganz besondere Berichterstattung und Bewertung des Strafverfahrens und des Angeklagten durch Hannah Arendt betrachtet bzw. gewürdigt werden.
B) Hannah Arendts Beobachtungen und ihre Kritik am Eichmann-Prozess
I) Vorbemerkungen
Bereits an dieser frühen Stelle scheint es sinnvoll, darauf hinzuweisen, dass Hannah Arendt mit Sicherheit keinerlei Sympathien oder sonst wie positiv gestimmte Gefühle für Adolf Eichmann hegte. Obwohl sie schon im Sommer 1933 (sie hatte unglaubliches Glück, dass sie nach ihrer Verhaftung lediglich eine Woche in Polizeigewahrsam, in dem sie, wie ihre Mutter, zwar mehrfach, aber ohne Gewalt, verhört wurde, verbringen musste und dann einfach heimgeschickt wurde) Deutschland verlassen hatte, war Hannah Arendt in ihrem späteren amerikanischen Exil relativ gut informiert, so dass sie bereits 1943 erstmals von „Auschwitz“ und den unglaublichen Verbrechen hörte und dementsprechend erschüttert war:
„»Das war wirklich, als ob der Abgrund sich öffnete.« Daß Menschen aus Deutschland, in dessen Kultur sie lebte, tatsächlich daran gegangen waren, das jüdische Volk auszurotten, kam für sie einem irreparablen Riß in der Zivilisation gleich. Etwas Neues war in die Welt gekommen, das vielleicht sogar den Auftakt zu einem Zeitalter des ideologischen Massenmordes gab. Deshalb wollte sie herausfinden, wie totalitäre Regime funktionieren und woher sie ihre Macht über das Gewissen der Täter gewannen. Schließlich war dieses Verbrechen eine hoheitliche Unternehmung, an der Beamte, Soldaten und ganz normale Polizisten ebenso mitwirkten wie ein Reinhard Heydrich und Schreibtischtäter vom Schlage des SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann: Er war der Organisator der Deportationen in die Vernichtungslager, der Arendts beharrlich mißverstandene Chiffre von der „Banalität des Bösen“ provozierte.“ (1)
In der „Vorrede“ zur deutschen Ausgabe ihres Eichmann-Buches von 1964 spricht sie dies auch unmissverständlich aus:
„Er hat prinzipiell ganz gut gewußt, worum es ging, und in seinem Schlußwort vor Gericht von der »staatlicherseits vorgeschriebenen Umwertung der Werte« gesprochen; er war nicht dumm. Es war gewissermaßen schiere Gedankenlosigkeit – etwas, was mit Dummheit keineswegs identisch ist -, die ihn dafür prädisponierte, zu einem der größten Verbrecher jener Zeit zu werden. Und wenn dies »banal« ist und sogar komisch, wenn man ihm nämlich beim besten Willen keine teuflisch-dämonische Tiefe abgewinnen kann, so ist es darum doch noch lange nicht alltäglich. (…) Nicht weniger beunruhigend als dieser bisher unbekannte Verbrechertypus ist die Art des Verbrechens, das hier zur Verhandlung stand. Zwar ist sich alle Welt nachgerade darüber einig, daß das, was in Auschwitz geschah, beispiellos ist; aber die Kategorien, mit denen dies Beispiellose nun politisch und juristisch erfaßbar ist, sind immer noch gänzlich ungeklärt. Denn der hierfür neuerdings eingeführte Begriff des Völkermords (Genocid) ist zwar in gewissem Sinne zutreffend, aber nicht ausreichend“. (2)
Hannah Arendt versuchte diese „Kategorie“ erstmals offenbarter „Menschheitsverbrechen“ unter den Ausdruck des „Verwaltungsmassenmordes“ (administrative massacres, in Anlehnung an eine Beschreibung im Zusammenhang mit dem englischen Imperialismus) zu fassen. Sie hatte daher auch niemals die Absicht, historische, politische oder „rein“ juristische Aspekte von Eichmanns Verbrechen oder gar des NS-Unrechtsapparates zu „banalisieren“. Die „Banalität des Bösen“ erschien ihr lediglich in einem rein tatsächlichen Punkt von Eichmanns Persönlichkeit: seines mangelnden Vorstellungsvermögens; er habe sich niemals vorstellen können, was er eigentlich anstellte. (3)
„Eichmann behauptete mehr als einmal, sein Organisationstalent, die in seinem Amt geleistete Koordination von Evakuierungen und Deportationen, sei in Wahrheit den Opfern zugutegekommen und habe ihr Schicksal erleichtert. (…) Nicht einmal sein Verteidiger kam während des Prozesses auf diese Behauptung zurück, die offensichtlich in die gleiche Kategorie gehörte wie seine alberne und eigensinnig festgehaltene Behauptung, er habe Hunderttausenden von Juden das Leben durch »forcierte Auswanderung« gerettet.“ (4)
Im November 1964 hatte Arendt die Gelegenheit, kurz nach dem Besuch einer mündlichen Verhandlung im Frankfurter Auschwitz-Prozess, in einem Rundfunkinterview mit Joachim Fest ausführlich darzulegen, wie sehr sie die „empörende Dummheit“, wie sie sich bewusst ausdrückte, bei Eichmann während der Verhöre und anhand des ihr zugänglichen Prozessmaterials in Erstaunen setzte:
„Eichmann war ganz intelligent, aber diese Dummheit hatte er. Das war die Dummheit, die so empörend war. Und das habe ich eigentlich gemeint mit der Banalität. Da ist keine Tiefe – das ist nicht dämonisch! Das ist einfach der Unwille, sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist, nicht wahr?“ (5)
Hannah Arendt war bewusst, dass ihre „These“ von der „Banalität des Bösen“ Missverständnisse bewirken, vielleicht sogar provozieren konnte: Sie war jedoch fest davon überzeugt, dass die ganze Polemik, die ihr bereits kurz nach der Veröffentlichung der ersten Artikel entgegenschlug, gleichsam automatisch und zwangsläufig entstand, da das Missverständnis darauf beruhte, dass „banal“ mit „alltäglich“ verwechselt bzw. gleich- gesetzt wurde:
„Die Arendtsche Darstellung des Eichmann-Prozesses, obwohl zunächst vom New Yorker als „Reportage“ präsentiert, ist ein Versuch, das monströseste Verbrechen der bisherigen Geschichte, das man übereingekommen ist, als „Verwaltungsmassenmord“ zu definieren, mit den Kategorien einer politisch-soziologischen Kritik zu erfassen, es also gewissermaßen dem Denken zu erschließen und insofern „begreiflich“ zu machen, aber auch das Verfahren selbst, seine politischen Hintergründe, seine juristischen Grundlagen und seine praktische Durchführung kritisch zu untersuchen. Es ist außerdem eine breit angelegte Darstellung der geschichtlichen Umstände, die das Unmögliche haben möglich und wirklich werden lassen, genauer des Verhaltens der beteiligten Völker, Gesellschaftsschichten und Einzelpersonen, vor allem des deutschen Volkes. Und es ist nicht zuletzt eine Studie über den Charakter, die Lebensgeschichte und die verbrecherischen Handlungen des Angeklagten.“ (6)
Auf die Grundlagen von Arendts Ansichten hierzu und welche Voraussetzungen man kennen sollte, um ihre Thesen und Theorien nachvollziehen zu können, ist weiter unten einzugehen.
II) Arendts Berichterstattung im Überblick
Nachdem Hannah Arendt, als sie im April 1961 der Eröffnung der mündlichen Verhandlung vor dem Jerusalemer Bezirksgericht beigewohnt hatte, schon sehr früh – ähnlich wie die Vernehmungsbeamten der israelischen Polizeibehörden (7) – von der absoluten Mittelmäßigkeit seiner Persönlichkeit überrascht worden war, versuchte sie, die maßgeblichen Motive Adolf Eichmanns zu ergründen und zu analysieren:
- sein über das normale Maß hinaus gesteigerter persönlicher Ehrgeiz (der Obersturmbannführer wollte die Karriereleiter hinaufklettern, Eichmann war mit seiner Amtsstellung unzufrieden, ja geradezu verärgert, dass er nicht weiterbefördert worden war),
- der aus diesem Antrieb folgende irregeleitete Pflichterfüllungstrieb (gar ein Fetisch) und
- ein besonders ausgeprägter bürokratischer „Kadavergehorsam“. (8)
Diese Charaktermerkmale stellte Arendt in einen größeren politisch-historischen Rahmen, wobei sie die Forschungsergebnisse aus ihrem früheren Buch über „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ heranzog und gleichsam durch „Deduktion“ überprüfte und ins Verhältnis setzte. (9)
Die Gelegenheit hierfür bzw. an dem Eichmann-Prozess in Jerusalem teilzunehmen, bot ihr ein US-amerikanisches Magazin, „The New Yorker“; eine Gelegenheit, die Hannah Arendt keinesfalls versäumen wollte, da sie die Nürnberger Prozesse (vor allem den ersten gegen die Hauptkriegsverbrecher) verpasst hatte. Daher ist sie (wohl im Herbst 1960) an den Herausgeber des New Yorker herangetreten, um sich als Berichterstatterin „anzubieten“. (10) Zum damaligen Zeitpunkt war ihre Befürchtung, dass eine solche Chance so schnell nicht wiederkehren würde, durchaus nachvollziehbar; dass einige Jahre später, ab Ende 1963, in Frankfurt am Main durch die unermüdliche Arbeit Fritz Bauers der sog. Auschwitz-Prozess durchgeführt werden konnte, war im Herbst 1960 noch überhaupt nicht aktuell bzw. absehbar.
Die Ergreifung Eichmanns 1960 und die sich durch die Anklageerhebung in Israel bietende Chance, eine umfassende Aufarbeitung des Holocaust (im Bürokratendeutsch: „Endlösung der Judenfrage“) und eine Gesamtdeutung des politischen Geschehens vorzunehmen, war tatsächlich eine Möglichkeit für Hannah Arendt, die sie nicht ungenutzt vergehen lassen konnte – selbst wenn sie bereits damals von dem späteren Frankfurter Auschwitz-Prozess Kenntnis gehabt hätte: Die Strafsache „gegen Mulka und andere“ (so die staubtrockene Bezeichnung des Frankfurter Prozesses) hatte bei weitem nicht den Klang und die Bedeutung des Namens Adolf Eichmanns. Außerdem wäre nach deutschem Verfahrensrecht Anfang der 1960er Jahre überhaupt nicht sichergestellt gewesen, dass ausländische Journalisten (Arendt hatte 1951 die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen, nachdem sie achtzehn Jahre „staatenlos“ gewesen war) unbeschränkte Einsicht in das Prozessmaterial gewährt worden wäre – das Bezirksgericht in Jerusalem machte da keinerlei Schwierigkeiten; auch nachdem sie wieder in die Staaten zurückgekehrt war (es wurden tausende von Seiten aus den Prozessakten in Kopie zu Händen Arendts über den Atlantik geschickt).
So war also die grundsätzliche Idee entstanden, für die Zeitschrift New Yorker eine Reportage zu erstellen; außer dem eigentlichen Gegenstand der Berichterstattung, die Eröffnung des Prozesses gegen Eichmann und eine zeitweise Beobachtung der gerichtlichen Verhandlungen, gab es für Arendt keine inhaltlichen oder „redaktionellen“ Vorgaben seitens des Herausgebers (wenn man so will, Ausdruck einer liberalen Grundeinstellung zumindest eines Teils der damaligen US-amerikanischen Presse; dass der New Yorker danach z.B. in Deutschland als eine Art Witzblatt heruntergemacht wurde, zeigt eher ein eigenartiges Verständnis von Presse an diesen Orten).
Da absehbar war, dass der inhaltliche Umfang von Arendts Reportage mehr als nur ein paar Zeilen ausmachen würde (dafür hätte kein Verleger die doch sehr hohen Kosten ausgelegt), war der gesamte Beitrag auf eine Serie von fünf Einzelartikeln konzipiert, die im Februar und März 1963 in der Rubrik „A Reporter at Large“ unter dem Titel Eichmann in Jerusalem erschienen; ursprünglich ohne weiteren Untertitel. Erst im Laufe des Jahres 1963 erfolgte eine im Vergleich zu den Zeitschriftenartikeln leicht veränderte Buchausgabe: Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil (dieser Untertitel ist bis heute markant). Die 1964 erstmals erschienene deutsche Ausgabe (vollständiger Titel: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen) war noch einmal erweitert bzw. ergänzt worden; seit 1986 erscheinen die deutschen Auflagen mit einer Einleitung von Hans Mommsen, der in der aktuellen Auflage auch noch ein kurzes Nachwort liefert.
Am zeitlichen Ablauf kann bereits abgelesen werden, dass Arendt ihre Aufgabe einer Berichterstattung nicht auf die leichte Schulter nahm; zwischen ihrer persönlichen Teilnahme als Zuschauerin während der ersten Wochen in Jerusalem bzw. dem endgültigen Prozessende im Mai 1962 und dem Erscheinen der Artikel im New Yorker und dann der Buchausgabe 1963 liegt eine messbare Zeitspanne, die nicht nur durch private Verhinderungen erklärt werden kann, sondern weil sie die umfangreichen Prozessakten (und sogar noch weitere Nachweise und Schriften, die im Prozess keine Rolle spielten) teils penibel studierte.
Vergleicht man diese Arbeitsweise mit der heutigen hektischen Jagd nach der schnellen Schlagzeile und dem angesagtesten Tweet, der am meisten geteilt wird, welche die moderne journalistische Arbeit kennzeichnet, war Hannah Arendt in ihrer Berufsauffassung absolut „oldschool“. Gerade deshalb sind ihre Feststellungen, Bewertungen und Charakterisierungen mehr als nur leichtfertige „statements“ (oder Überschriften für den Boulevard).
Aber auch ohne den Untertitel (A Report on the Banality of Evil), den alle Leser der ursprünglichen Artikelserie im New Yorker noch gar nicht kannten, löste Arendts Reportage bereits Anfang 1963 etliche Wellen der Empörung aus, sogar in Europa. Mit dem Erscheinen der Buchausgabe (und dann auch kurze Zeit später in deutscher Übersetzung) steigerte sich dies noch einmal.
In einem Brief an Karl Jaspers von Ende 1963 erklärt Hannah Arendt, dass sie durch eine Anregung ihres (zweiten) Ehemannes, Heinrich Blücher, auf diesen Untertitel gekommen war. Blücher hatte Eichmanns eigenartigen Auftritt vor dem Strafgericht als weltgeschichtliche Prahlerei eines kleinen Mannes gewertet, und resümiert, „daß das Böse »ein Oberflächenphänomen« sei“. (11)
Blücher wiederum hatte seine Charakterisierung der intensiven Beschäftigung mit Bertolt Brecht zu verdanken, insbesondere mit der Parabel über Arturo Ui. Dadurch schließt sich ein gewisser Kreis zum Thema „politische Verbrechen“ und erklärt auch den Hintergrund für den besagten Untertitel. Somit konnte es für Arendt überhaupt keine Veranlassung geben, diesen einmal für zutreffend erkannten Untertitel in späteren Auflagen abzuändern oder gar wegzulassen (trotz oder gerade wegen der unsachlichen Kritik).
III) Zur harschen Kritik
Insbesondere an drei Themen bzw. Punkten entzündete sich die teils harsche, oft bewusst polemische Kritik, die Arendt besonders in der US-amerikanischen Öffentlichkeit, aber auch aus Israel und Teilen der alten BRD entgegenschlug:
- Arendts Schilderung und Bewertung der Tätigkeit bzw. (willfährigen?) Mitwirkung vieler „Judenräte“.
- Zu dieser Thematik kann auch ihre scharfe Kritik an der politisierten Gestaltung des gesamten Verfahrens gezählt werden (oder man nimmt dies als zusätzlichen, vierten Punkt).
- Arendts kritische Haltung gegenüber einem Teil der „Männer des 20. Juli“ (vor allem ihrer Motive). Dieser Kritikpunkt mag zwar besonders in Deutschland thematisiert worden sein, lässt sich aber durchaus verallgemeinern; zumal neben soziologischen und juristischen Merkmalen auch der „historische“ Aspekt beim Thema „deutscher Widerstand“ zu würdigen ist (was „Kritik“ zwangsläufig einschließt).
- Die vermeintliche Verharmlosung Eichmanns bzw. die angeblich zu empathielose Schilderung des jüdischen Leides und Leidens.
Darüber hinaus gab es (natürlich) noch kleinere Kritikpunkte, die im Prinzip darauf abzielten, sie sei keine ausgewiesene Historikerin bzw. ihr fehle an manchen Stellen Hintergrundwissen und bei einem Teil ihrer Informationen sei der Wahrheitsgehalt zweifelhaft (zu letzterem kann gesagt werden, dass inzwischen die historische Forschung viele von Arendts „Annahmen“ bestätigen konnte, z.B. im Hinblick auf die „Sassen-Interviews“, hierzu siehe im 1. Teil).
Allerdings ist doch sehr bemerkenswert, dass kaum ein Kritiker – und teilweise wurde fast jeder Satz in Arendts Buch analysiert und interpretiert – sich über ihre deutlich vernehmbare Ablehnung der damals in Israel geltenden Ehe- und Familiengesetze aufgeregt hat. (12) Insoweit trifft sie einen wunden Punkt in der weitgehend „westlich orientierten“ Gesellschafts- und Rechtsordnung: Nämlich das Familienrecht als ein »vernachlässigter Hinterhof« der israelischen Gesetzgebung.
Zur Zeit der Staatsgründung (1948) suchten die maßgeblichen Politiker die Rückendeckung der orthodoxen Geistlichen in Israel, so dass in wichtigen Bereichen des künftigen „gesellschaftlichen Zusammenlebens“ (man könnte auch sagen in weiten Teilen der Innenpolitik) das jüdische Recht des Alten Testaments (auch „rabbinisches Recht“ genannt) galt – genauer gesagt: weiterhin Geltung behielt. (13)
Dies trifft insbesondere für den gesellschaftspolitisch maßgeblichen Bereich der Eheschließungs- und Scheidungsfragen im Grunde bis heute zu: Israel kennt keine den europäischen (oder auch amerikanischen) Verhältnissen vergleichbare „Zivilehe“ (auch für „illegitime“ Kinder hatte dies lange Zeit weitreichende Konsequenzen; im Gegensatz z.B. zum Gleichstellungsanspruch im Grundgesetz). Auch wenn bereits ab 1950 durch das sog. Rückkehrgesetz viele gemischtkonfessionelle Eheleute und Familien einwanderten, so dass sich zumindest in der Rechtspraxis ein liberaleres Verständnis durchsetzte, und seit etwa 1953 ein beträchtlicher Teil der Rechtsprechung über familienrechtliche Angelegenheiten auf staatliche Gerichte überging, kann es bis heute Rechtsprobleme geben (vor allem wenn juristische Fragen strittig sind, bei denen sich die fehlende Trennung von Staat und Kirche/Religion bemerkbar macht).
Diesen Punkt zu kritisieren, war für Hannah Arendt aus wenigstens zwei Gründen angezeigt: Glaubwürdigkeit und eigenes Interesse. Das eigene Interesse für den Komplex von „Liebesfragen“ und „Liebesbegriffen“ (denn hierbei geht es im Bereich rechtlicher Regelung von Paarbeziehungen ja auch, nicht bloß um materielle Fragen) bestand bei Arendt spätestens seit ihrer Promotionsschrift über den „Liebesbegriff bei Augustin“ (einem der katholischen Kirchenväter aus der Frühzeit des Christentums, der nicht unbedingt als ein Unterstützer feministischer An-liegen bekannt geworden ist, also eher ein katholischer „Hardliner“).
Wichtiger war ihr jedoch die Glaubwürdigkeit: Wer ganz zu Recht die Nürnberger Gesetze von 1935 als staatliches Unrecht brandmarkt, weil u.a. auch die geschlechtlichen Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden verboten und unter Strafe gestellt wurden, hat aber selbst insoweit ein „Legitimationsproblem“, wenn im eigenen Staat – zumindest in den Anfangsjahren – ebenfalls massive Beschränkungen bei der Gleichstellung gemischt-ethnischer Paarbeziehungen („Mischehen“) und auch der Anerkennung der Ehelichkeit von Kindern aus solchen Beziehungen vorgenommen wurden. Im Übrigen kein einfaches Thema in (zumindest) orthodoxen Kreisen der israelischen Gesellschaft bis heute.
Daher ließ sich Arendt auch nicht die Gelegenheit entgehen, als sie anlässlich des Eichmann-Prozesses in Israel war, hochrangige Persönlichkeiten zu treffen, um auch mit der damaligen Außenministerin Golda Meїr über derartige gesellschaftspolitische und verfassungsrechtliche Fragen zu diskutieren. (14) Wenn man so will, hat Hannah Arendt mit ihrer Kritik an der damaligen „Gesellschaftsordnung“ auch die entsprechende Bigotterie angeprangert. Da sie (auch noch als Frau) die Fakten auf ihrer Seite hatte, wurden ihre hintergründigen Anmerkungen von den (nahezu ausschließlich männlichen) Kritikern einfach übergangen. Heute wäre ein solcher Affront sicher ein Aufreger (z.B. in den Diskussionen zur Geschlechtergerechtigkeit); in den 1960ern jedoch wurde es aber noch als völlig normal angesehen, wenn männliche Kritiker unangenehme Fragen oder Thesen einer Frau zu bestimmten gesellschaftspolitischen Problemen einfach ausblendeten.
Ganz im Gegensatz zu den drei o.g. Hauptkritikpunkten, die an Arendts Darstellung besonders drastisch geäußert wurden. 1) Beim ersten Punkt, der die von Arendt thematisierte Kooperation zwischen jüdischen Organisationen allgemein und den sog. Judenräten im Besonderen mit den Nazis (sowohl zivile Behörden als auch SS-Dienststellen – sogar mit Eichmann persönlich, wie 1944 in Ungarn) betrifft, ist in der Tat zu differenzieren: Genauso wenig, wie eine solche (erzwungene) „Zusammenarbeit“ generell geleugnet werden kann, da hierfür viel zu viele Beispiele – und zwar in den unterschiedlichsten Ländern, die während des Zweiten Weltkrieges von Hitlers Truppen besetzt worden waren – nachweislich existierten, darf aber auch nicht pauschal unterstellt werden, jeder Beteiligte an einem Judenrat sei bloß ein opportunistischer Kollaborateur gewesen.
Sogar im Deutschen Reich selbst hat es (natürlich vor Ausbruch des Krieges) eine überhaupt nicht großartig geheimgehaltene Verbindung zionistischer Organisationen, die für eine selbstbestimmte Auswanderung deutscher bzw. europäischer Juden in das spätere Israel warben, und NS-Dienststellen (Gestapo bzw. SD, aber auch des Außenministeriums) gegeben. Dies führte zu der grotesken Situation, dass einerseits mit pro-jüdischen Stellen im von Großbritannien verwalteten Mandatsgebiet „Palästina“ verhandelt wurde, andererseits der besonders antisemitisch geprägte und öffentlich auftretende „Großmufti“ von Jerusalem in Berlin von höchsten SS-Stellen, nach Kriegsausbruch sogar von Adolf Hitler persönlich, hofiert wurde. (15)
Diese durchaus eigenartigen Kontakte zwischen Zionisten (jeder Funktionär einer der verschiedenen jüdischen Organisationen wusste sehr wohl um die menschenverachtende Einstellung der NS-Amtsträger) und den Nazis entsprangen aber keinesfalls der Devise „quid pro quo“ im Sinne gleichrangiger Partner und waren sicherlich keine Teegesellschaften unter Freunden. Vielmehr waren Vertreter jüdischer Organisationen und Vertreter des NS-Regimes von völlig unterschiedlichen Vorstellungen und Überzeugungen geprägt, jedoch gab es partielle Übereinstimmungen beim angestrebten Ziel: die Voraussetzungen für eine großangelegte Auswanderung europäischer Juden zu schaffen; zumindest bis zum Kriegsausbruch, danach änderten sich für dieses Vorhaben alle Voraussetzungen. Natürlich waren die Motive gänzlich verschieden: Die Nazis wollten Personen, die für sie nicht zur „Volksgemeinschaft“ zählten, relativ zügig und problemlos „loswerden“ – die Vertreter der politischen Forderung nach einem eigenen Judenstaat wollten Mitstreiter bzw. künftige Staatsbürger gewinnen.
Hannah Arendt selbst arbeitete während der Zeit ihres Exils in Paris für eine Organisation, die junge jüdische Flüchtlinge für die spätere Praxis in Palästina ausbildete, und betrachtete sich als Sozialarbeiterin. (16) Man konnte dies als eine vorweggenommene Form späterer Austauschprogramme werten; und obwohl ihr diese Jugendarbeit viel Freude bereitete, machte sie sich (über eine Dekade vor der Gründung des Staates Israel) bereits damals Sorgen über mögliche Entwicklungen, die mit der starken Auswanderung europäischer Juden nach Palästina zusammenhängen würden. Durch ihre kurzfristige Arbeit bei der „Jewish Agency“, der damaligen jüdischen Vertretung für Palästina, hatte sie gewiss auch andere Einblicke.
Jedoch waren diese Art Kontakte und Programme solcher Organisationen im Prinzip völlig anders strukturiert und motiviert als die erzwungene Zusammenarbeit der späteren Judenräte mit SS-Dienststellen in den während des Weltkrieges besetzten Gebieten. (17)
Dass dann nach Gründung des Staates Israel niemand von diesen Aktivisten auf die speziellen Verbindungen zu den Nazis (besonders in den 1930er Jahren) angesprochen werden wollte, war eigentlich auch klar. Daher kamen die Thesen Hannah Arendts zur „Mitarbeit der Judenräte“ besonders in den sog. Ghettos einigen Funktionären recht, da ihr schnell eine unzulässige Verallgemeinerung von Einzelfällen vorgehalten wurde:
„Ganz und gar unverantwortbar ist die Schlussfolgerung, die die Verfasserin aus unfundierten Feststellungen zieht: nach der, wenn die Juden führerlos (also ohne „Judenräte“, Anmerkung T.F.) gewesen wären, die Gesamtzahl der jüdischen Opfer kaum fünf bis sechs Millionen erreicht hätte.“ (18)
Diese Stellungnahme stammt vom „Council of Jews from Germany“ bereits wenige Tage nach Veröffentlichung des letzten Teils der ursprünglichen Reportage Arendts im New Yorker (März 1963).
Zum einen ging es Arendt gar nicht um Mathematik (denn sie war ja auch keine studierte Mathematikerin), sondern um die Darstellung politischer Zusammenhänge, aber vor allem auch um problematische Fragen von Moral und Gewissensentscheidungen; zum anderen sind „Zahlenspielereien“ immer mit besonderer Vorsicht zu genießen: in der „Politik“ gibt es feine Unterschiede zwischen Algebra und Arithmetik; nicht jede Zahl hat immer die gleiche Bedeutung.
Doch hatte das Thema der Judenräte bzw. andere Verhandlungen zwischen jüdischen Organisationen und SS-Dienststellen (oder gar mit Eichmann persönlich) für den Prozess an sich gar nicht die zentrale Bedeutung; zumindest soweit es um die dem Angeklagten individuell vorwerfbaren Tatbeiträge ging. Denn selbst wenn in größerem Umfang eine Mitwirkung von Judenräten an den strafbaren Handlungen Eichmanns nachweisbar gewesen sein sollte (Konjunktiv!), was hätte das für strafrechtliche Auswirkungen? Entweder müsste davon auszugehen sein, dass alle Kontakte zwischen Judenräten und SS-Stellen letztlich erzwungen worden waren, also unter Ausschluss freier Willensentscheidungen erfolgten, oder sogar unter direkter Bedrohung für Leib und Leben, also ähnlich wie mit vorgehaltener Schusswaffe. Ob mentale oder physische Gewaltandrohung bzw. -anwendung: Die beteiligten Judenräte wären (nach deutschem Strafrecht auf jeden Fall) als sog. schuldlose Werkzeuge (ähnlich wie Kinder oder geistig Behinderte, deren Schuldunfähigkeit von den Hintermännern ausgenutzt wird, sog. „mittelbare Täterschaft“) anzusehen.
Daher wäre im Regelfall sicher keiner der Judenräte – außer jemand hätte aus verwerflichen Motiven (Habgier, Rache oder sonstige niedere Motive) gehandelt – dem Verdacht ausgesetzt worden, die deutschen oder auch einheimischen Stellen (wie in der Slowakei, in Rumänien, Ungarn oder im sog. Vichy-Frankreich) aktiv und freiwillig beim Massenmord an den eigenen Leuten unterstützt zu haben (als sog. „Gehilfen“). In keinem Fall ändert sich etwas an der eigentlichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit deutscher Dienststellen und insbesondere Eichmanns.
Die Reaktion der jüdischen Funktionäre auf Arendts „Berichterstattung“ war ähnlich doppeldeutig (wenn nicht gar widersprüchlich) wie die von offizieller israelischer Seite, soweit es um das eigentliche Ziel des Strafverfahrens gegen Eichmann ging: Sollte die individuelle Strafbarkeit eines speziellen Angeklagten festgestellt und abgeurteilt werden oder sollte das Schicksal des verfolgten Judentums im Allgemeinen thematisiert, wenn nicht gar der Weltöffentlichkeit zur Schau gestellt werden?
Hannah Arendt hat sich hier deutlich positioniert, ohne Partei für den Angeklagten ergriffen zu haben und ohne das konkrete Leid der Opfer verharmlost oder relativiert zu haben. (19)
2) Noch mehr gilt dies im Hinblick auf bestimmte kritische Anmerkungen zum deutschen Widerstand. Diesen speziellen Unterabschnitt hat Arendt im Kapitel „Die Endlösung“ auf einigen Seiten behandelt, als sie die „Frage des Gewissens“ und von „Mitwisserschaft“ thematisierte:
„Wie also stand es um das Gewissen in Deutschland zu jener Zeit, als Eichmann frei von allen Gewissensbissen seine Verbrechen beging? Es hat einzelne gegeben, die von vornherein und ohne je zu schwanken in einer nun wirklich ganz und gar lautlosen Opposition standen. Niemand kann wissen, wie viele es waren – vielleicht hunderttausend, vielleicht viel mehr, vielleicht viel weniger. Es gab sie überall, in allen Schichten des Volkes (…). Zu ihnen gehörten sehr wenige, die einen Namen hatten“. (20)
Als Arendt in diesem Zusammenhang dann zwangsläufig auch auf die Verschwörer vom 20. Juli 1944 zu sprechen kam, die ja fast alle (zumindest rein zahlenmäßig) dem militärischen Teil des Widerstands gegen Hitler angehörten, hat sie lediglich die aus ihrer Sicht bei diesen Männern vorhandenen „Strömungen“ und Motive beleuchtet. Dass die wenigsten Akteure am gescheiterten Hitler-Attentat als „lupenreine Demokraten“ bezeichnet werden konnten, war doch schon seinerzeit bekannt. Wenn daher der „Kreisauer Kreis“ bzw. Goerdeler und andere „nationalkonservative“ Gruppen, die oft erst ab der Jahreswende 1942/43 (der Auslöser war das Desaster bei Stalingrad) ihre Abneigung gegen den „böhmischen Gefreiten“ entdeckt hatten, die Frage nach ihrem Verhältnis zur „Endlösung“ gestellt bekommen hätten, wären viele in Erklärungsnot geraten: Wer von den alteingesessenen Adelsfamilien oder vom preußischen Offizierskorps hat denn tatsächlich auch nur den kleinen Finger für die deutschen Juden gerührt (von den außerhalb Deutschlands lebenden Juden einmal ganz abgesehen)? Sicher waren die Männer um Graf Stauffenberg von der gesamten Entwicklung angewidert, doch ging es hierbei eher um Fragen der (konkreten) Kriegsführung, um das Ansehen Deutschlands im Allgemeinen, als um die „Judenfrage“ bzw. Unterdrückung der Gesellschaft an sich oder die Einführung eines echten demokratischen Systems.
Es ist nun einmal eine Tatsache, dass von den eher „linken“ Politikern (oder von Gewerkschaftsseite) kaum noch jemand im Land war oder nach außen sichtbar und hörbar gegen die Judenverfolgung protestieren konnte. Außerdem war auch nicht jeder „Sozialist“ automatisch contra Judenverfolgung gewesen, denn auch im „Arbeitermilieu“ war Antisemitismus nicht gänzlich unbekannt (ein Punkt, der auch heute in der Anti-Kapitalismusbewegung noch in einigen Teilen eine gewisse Rolle spielt). Der militärische bzw. auch monarchistisch geprägte Hauptteil des Widerstandes hat auf das Thema der „Endlösung der Judenfrage“ eigentlich nur am Rande Wert gelegt. Die massenhafte Tötung von Juden oder anderer Minderheiten war vielen im „Widerstand“ entweder nur vom Hörensagen bekannt oder halt nicht sonderlich „präsent“; dies festzustellen, heißt noch lange nicht, die Umsturzpläne der Männer vom 20. Juli 1944 generell abzulehnen oder ihre Motive als verwerflich abzutun.
Natürlich hat es auch in den Kreisen des militärischen Widerstands gegen Hitler z.B. christlich orientierte bzw. wertkonservativ eingestellte Menschen gegeben, die die NS-Politik grundsätzlich ablehnten, aber diese waren doch bekanntlich in der Minderheit. Selbst Graf Stauffenberg musste erst schwer verwundet werden (im April 1943), damit ein Umdenkungsprozess einsetzen konnte (ab Herbst 1943). Eine echte politische Neuausrichtung, weg von autoritären Führungsstrukturen, war vielen im Widerstand überhaupt nicht erwünscht; Hauptsache Hitler und seine engste Clique wären beseitigt worden (dann hätte man mit den Westmächten schon irgendwie einen Separatfrieden geschlossen, um gemeinsam gegen die Sowjets zu kämpfen: so naiv waren etliche der „Nationalkonservativen“).
Sogar die noch wenigen verbliebenen Sozialdemokraten (wie Leber oder Leuschner) hätten die Kröte Goerdelers geschluckt und zur Not auch eine monarchistische Restauration mitgemacht. Nicht ohne Grund tauchte bei den Gedankenspielen über die Besetzung einer neuen Regierung sogar der Name Gustav Noskes wieder auf, so im „Schattenkabinett von Beck/Goerdeler“ – als sog. Politischer Beauftragter im Wehrkreis Kassel. (21) Da wundert es kaum, dass sogar ein Hohenzollern-Prinz (Louis Ferdinand v. Preußen) als künftiger Kaiser einer zu restaurierenden Monarchie gehandelt wurde (der sich deshalb auch zum „Widerstand“ gegen Hitler zugehörig fühlte; eine „Erzählung“ der Hohenzollern, die bis in die Gegenwart wirkt: siehe den immer noch aktuellen Streit der Erbengemeinschaft auf Rückgabe bzw. Ausgleich für Enteignungen).
Ein insgesamt stark rückwärtsgewandter Politikentwurf von Beck und Goerdeler, der wahrscheinlich auch viele unangenehme Frage zur Vorgeschichte von Hitlers Aufstieg und der willfährigen Unterstützung vieler Militärs und Monarchisten einfach unterdrückt hätte, wäre dieser Umsturz geglückt.
Man könnte daher sagen, in punkto „schlechtem Gewissen“ oder auch „Wer-wusste-was“, gab es Parallelen zwischen konservativen jüdischen Funktionären und konservativen Kreisen des deutschen Widerstandes.
Daher erstaunt es gar nicht besonders, dass aus beiden Richtungen, obwohl doch auf den ersten Blick sehr verschieden, Kritik an Arendts Eichmann-Buch geäußert wurde: Gegenstand (Zielscheibe) war zwar Hannah Arendt, aber eigentliches Motiv waren ganz andere Befindlichkeiten. Weder die maßgeblichen Politiker des jungen Staates Israel noch ehemalige Mitglieder oder Unterstützer des militärischen Widerstandes gegen Hitler wollten Kritik an ihrem Verhalten bzw. ihren Planungen dulden. Gemeinsames Motto: bloß keine unangenehmen Fragen aufkommen lassen bzw. in ein vermeintlich schlechtes Licht gerückt werden. Wer dies versuchte bzw. bei wem ein solcher Verdacht vorlag, wurde publizistisch angegriffen oder in eine bestimmte Ecke gedrängt (die eigentliche Wahrheit konnte da sogar stören).
Es verwundert daher auch nicht, dass z.B. ein Golo Mann sich zum Fürsprecher der Männer des 20. Juli 1944 machte und auch allen sonstigen Unterstützern im Widerstand gegen Hitler seine Hilfe zukommen lassen wollte, um sie gegen Arendts vermeintlichen Hohn und Spott zu bewahren:
„Jedenfalls muß man Frau Arendt diese Not bereiten. Ihre Charakteristik des deutschen Widerstandes enthält die empörendsten Verleumdungen, die je über diese Bewegung verbreitet wurden.“ (22)
Einerseits ist schon die objektive Aussage dieser Behauptung Manns offensichtlich falsch; bekanntlich gab es unter anderem bereits 1952 den sog. Remer-Prozess vor dem Landgericht Braunschweig, der seinerzeit von Fritz Bauer maßgeblich vorangetrieben wurde. Der Angeklagte Otto Ernst Remer hatte in seiner Eigenschaft als führendes Mitglied einer damals relativ bekannten „Rechtspartei“ (der SRP, die 1952 vom Bundesverfassungsgericht verboten wurde) öffentlich behauptet, die Widerstandskämpfer bzw. „Verschwörer“ des 20. Juli 1944 seien ja eigentlich nur „Landesverräter“ gewesen, die vom Ausland bezahlt worden seien. (23)
Vom konkreten Verlauf dieses Strafverfahrens abgesehen, muss doch mit aller Entschiedenheit festgehalten werden, dass die offen parteipolitisch motivierten Verleumdungen der Männer des 20. Juli 1944 durch einen ausgewiesenen Faschisten wie Remer niemals ernsthaft in einem Atemzug mit den auf moralischen Grund-fragen abhebenden Diskussionen Hannah Arendts, die sie exemplarisch als Probleme des Gewissens, aber gerade nicht unter dem Aspekt politischer Herrschaft erörterte, genannt werden können. Arendts Betrachtungen zu den moralischen Hintergründen der Männer des 20. Juli sind das genaue Gegenteil von den Verleumdungen Remers, Stauffenberg und andere Widerständler seien lediglich bezahlte Landesverräter gewesen. Da man davon ausgehen kann, dass Golo Mann, der Mitte der 1950er Jahre nach Deutschland zurückkehrte und als Historiker und „politischer Publizist“ schon von Berufs wegen die Entwicklung in Westdeutschland verfolgte, die gerichtliche Auseinandersetzung und die öffentlichen Ausfälle, wie die von Remer gegen die Widerstandskämpfer, kannte, sind seine Bewertungen von Arendts Darstellung und Charakterisierung „der Männer des 20. Juli“ schon mehr als auffällig und bemerkenswert. Ging es insoweit tatsächlich um inhaltliche Fragen historisch relevanter Tatsachen (also nach dem „Was“) oder aber (verklausuliert) um Fragen der Darstellung und des Stils, also der Methodik und des „Wie“? (24)
Andererseits gibt es in der deutschen „Geschichtsschreibung“ des 20. Jahrhunderts mehrfach Versuche, objektive Tatsachen entweder herabzusetzen oder diese bzw. diejenigen Autoren, die auch unbequeme Fragen stellten oder abweichende Meinungen äußerten, einfach „totzuschweigen“ oder pauschal als unglaubwürdig darzustellen, wenn diese dem eigenen „Weltbild“ widersprachen. (25)
Jedoch hat der in Westdeutschland im Laufe der 1960er und 1970er Jahre durch neue Forschungsansätze einsetzende differenziertere Umgang mit Fragen zu „dem Widerstand im 3. Reich“ und den bekannten Akteuren zu einem sicher weniger glorifizierenden Beurteilungsmaßstab, der sonst von konservativen Kreisen der alten BRD oft und gerne angelegt wurde, geführt. (26) Daher war Arendts kritischer Ansatz hierzu zumindest nicht völlig aus der Luft gegriffen.
Wenn also mit Arendt gefragt wird, ob die wahren Motive „der Männer des 20. Juli“ nicht vielmehr in Befürchtungen um den guten Ruf Deutschlands und seiner regulären Armee als in den wirklich moralischen Grundfragen, wie der Judenverfolgung, zu suchen waren, ist dies also durchaus zulässig und oft auch zutreffend. Lediglich pauschale und negative Kritik, wie sie damals an Arendts Darstellung geübt wurde, kann dann schon wie eine inszenierte Kampagne gegen ihre Person wirken.
3) Auf die besonders scharfe Kritik an ihrer Charakterisierung Eichmanns mit dem geflügelten Wort von der „Banalität des Bösen“, die ihr von vielen Seiten (besonders von jüdischen Vertretern) entgegenschlug, hat Hannah Arendt in ihrer eigenen Weise reagiert, in (West-)Deutschland u.a. mit Hilfe zweier Interviews mit Günter Gaus und Joachim Fest; von diesem Radio-Interview ist das Manuskript erhalten geblieben. (27)
Dort versuchte sie natürlich auch, diese Formulierung zu erklären; weniger, um sich zu verteidigen, mehr zum Zwecke des Verständnisses des interessierten Publikums. Zunächst geht Arendt auf die Frage ein, ob durch die Strafverfahren, die nach 1945 gegen NS-Täter durchgeführt wurden (so natürlich auch besonders im Eichmann-Prozess), ein neuer „Verbrechertypus“ nachgewiesen und sichtbar gemacht wurde. Hierbei erläuterte sie ihre Ansicht, dass die wahren Absichten und Motive von Männern wie Eichmann eigentlich gar nicht darauf abzielten, bewusst „verbrecherisch“ zu handeln; natürlich gab es auch die echten Sadisten, die bloß um des Schmerzes willen, den sie ihren Opfern mit einer wahren Freude zufügten, wodurch sie ein Gefühl der Macht auskosten konnten, bei den Nazis mitmachten. Doch ihr ging es um die spezifischen Tätergruppen, die eigentlich nur in der besonderen Situation von totalitären Systemen vorkommen.
Arendt wollte vor allem nachweisen, dass Eichmann und Konsorten eine eigenartige Lust am „reinen Funktionieren“ hatten; es waren weniger Machtgelüste, sondern eine offensichtliche Lust am Funktionieren: „der typische Funktionär“. „Und ein Funktionär, wenn er wirklich nichts anderes ist als ein Funktionär, ist wirklich ein sehr gefährlicher Herr. Die Ideologie, glaube ich, hat keine sehr große Rolle dabei gespielt“, so ihre These. Der „reine Funktionär“ ist zwar ohne Frage gefährlich, aber eben kein klassisches Monster; ohne das System (hier konkret: der NS-Staat mit seinen totalitären Strukturen), in welches er eingebettet gewesen ist, wäre ein Eichmann allenfalls höchst mittelmäßig geblieben. Wenn man so will, der typische oder auch ewige „Funktionär“, der den Gehorsam gegenüber den ihm erteilten Anweisungen, Befehlen und Gesetzen über alles andere stellte (gleich ob 1942 im „Reichssicherheits-hauptamt“ zu Berlin oder aktuell z.B. in einem Münchner „Kreisverwaltungsreferat“). Ein bestimmter Typus „Amtsträger“, dem es auch gar nicht in den Sinn kommt, über die Zulässigkeit oder Rechtmäßigkeit der Anordnungen, die er ausführen soll, nachzudenken.
An einem solchen Menschen gab es daher auch nichts zu „Verteufeln“ oder zu „Dämonisieren“; außer diejenigen Zeitgenossen, die Eichmann und erst recht die wirklichen Nazi-Größen nach Kriegsende „dämonisierten“, taten dies für ihr eigenes Alibi bzw. zur Beruhigung des eigenen Gewissens. Zumindest vielen Nachkriegsdeutschen machte Hannah Arendt dies zum Vorwurf, da es ja so schön einfach war, alles auf die bösen Nazis (vorneweg Hitler) zu schieben: „Nun, wenn es irgendjemand gegeben hat, der sich selber entdämonisiert hat, dann war es Herr Eichmann.“ (28)
Daraufhin wurde sie vom Interviewer folgendes gefragt: „Sie haben schon angedeutet vorhin, dass unsere Vorstellung vom Bösen (…), wie sie in unserem Kulturbereich religiös, philosophisch, literarisch formuliert worden ist, den Typus Eichmann gar nicht enthält. Eine der Thesen Ihres Buches – sie taucht bereits im Untertitel auf – ist die von der »Banalität des Bösen«. Daran haben sich zahlreiche Missverständnisse geknüpft.“
Hannah Arendts Antwort: „Ja, sehen sie, diese Missverständnisse sind eigentlich in der ganzen Polemik (…), was echt ist. Das heißt, ich bin der Meinung, dass diese Missverständnisse entstanden wären, ganz gleich, was sonst. Das hat irgendwie ungeheuer schockiert, und das verstehe ich sehr gut; denn ich selber war davon sehr schockiert. Für mich selber war das etwas, worauf ich eigentlich nicht vorbereitet war. Nun, ein Missverständnis ist das Folgende: Man hat geglaubt, was banal ist, ist auch alltäglich. (…) Ich habe es so nicht gemeint. Ich habe keineswegs gemeint: Der Eichmann sitzt in uns, jeder von uns hat den Eichmann und weiß der Deibel was. Nichts dergleichen! (…) Nun, die Banalität war ein Phänomen, das sich gar nicht übersehen ließ. Das Phänomen äußerte sich in diesen geradezu fantastischen Klischees und Redensarten, die uns da dauernd entgegentönten. (…) Das war die Dummheit, die so empörend war. Und das habe ich eigentlich gemeint mit der Banalität. Da ist keine Tiefe – das ist nicht dämonisch! Das ist einfach der Unwille, sich je vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist, nicht wahr?“ (29)
In der nächsten Frage des Interviewers wurde die Episode im Prozess angesprochen, als sich Eichmann auf Kant berufen hatte („Er habe gesagt, er sei sein Leben lang den Moralvorschriften Kants gefolgt und habe vor allem den Kantischen Pflichtbegriff zu seiner Richtschnur gemacht“).
Arendts Antwort lässt nichts an Eindeutigkeit zu wünschen übrig: „Ja, natürlich eine Unverschämtheit, nicht wahr? Von Herrn Eichmann. Kants ganze Moral läuft doch darauf hinaus, dass jeder Mensch bei jeder Handlung sich selbst überlegen muss, ob die Maxime seines Handelns zum allgemeinen Gesetz werden kann. (…) Es ist ja gerade sozusagen das extrem Umgekehrte des Gehorsams! Jeder ist Gesetzgeber. Kein Mensch hat bei Kant das Recht zu gehorchen. Das Einzige, was Eichmann von Kant übernommen hat, ist diese fatale Geschichte mit der Neigung. Und die ist ja auch dann leider in Deutschland sehr verbreitet. Dieser kuriose Pflichtbegriff in Deutschland.“ (30) Letzteres wird dann noch näher beim Thema mit der Berufung auf den „Eid“ erläutert.
Warum Hannah Arendt gerade in Bezug auf Kant und seine philosophischen Grundsätze, auf die sich Eichmann in Verkennung der wahren Bedeutung zu berufen versuchte, so vehement reagierte, wird weiter unten noch etwas genauer betrachtet; zeigte aber im Interview mit Fest, was ihr wirklich wichtig war. Denn auch unter totalitären Bedingungen, selbst wenn der einzelne vom Phänomen der Ohnmacht befallen wird, muss der Mensch zumindest bestrebt bleiben, mit sich selbst einig zu sein. Voraussetzung hierfür ist aber die Fähigkeit, auch selbst zu denken. An diesem Punkt wird die Rolle der Bürokratie interessant, denn der Verwaltungsmassenmord im Holocaust war in einem bürokratischen Apparat eingebettet. Das machte es den Akteuren wie Eichmann besonders einfach, bloß „mitzumachen“. Ein eigenes Verantwortungsbewusstsein war dabei überhaupt nicht gefragt. Hauptsache nur funktionieren, um der bloßen „Funktion“ willen. Das Credo des typischen „Funktionärs“.
Und hieran knüpfte Hannah Arendt auch ihre Kritik an den bis dato bestehenden „Gesetzbüchern“, nämlich dass diese auf das Phänomen des Verwaltungsmassenmords und der maßgeblichen Akteure, besonders die bürokratischen Funktionäre, überhaupt nicht eingestellt waren. Wenn aber die staatlichen Strafgesetze auf die Besonderheiten der Verbrechen im Rahmen des Holocaust und von Tätern wie Eichmann eigentlich unvorbereitet waren, wie konnte dann ein „reguläres“ Gericht ein akzeptables Urteil fällen? „Die Gerechtigkeit läuft auf zwei Dinge hinaus: Sie soll erstens die gestörte Ordnung wiederherstellen. Das ist ein Heilungsprozess, der nur dadurch kommen kann, dass die Störer, also diese Menschen, verurteilt werden. Und das zweite scheint mir, was uns Juden anlangt … Es gibt bei Grotius einen von den Richtern zitierten Ausspruch, den sie aber leider kaum beachtet haben: Dass es zur Ehre und Würde des Geschädigten oder Verletzten gehört, dass der Täter bestraft wird. Das hat nichts zu tun mit den ausgestandenen Leiden, es hat nichts zu tun mit Wiedergutmachung. Es ist wirklich eine Frage der Ehre und Würde. Sehen Sie, für uns Juden ist das eine entscheidende Frage, wenn wir in Deutschland sind. Wenn das deutsche Volk der Meinung ist, es kann ganz ungestört mit den Mördern in seiner Mitte zusammenleben, dann geht das gegen die Ehre und Würde des Juden.“ (31)
An dieser Stelle spricht Arendt gleich zwei Punkte an, die damals (Anfang bzw. Mitte der 1960er Jahre) gerade in der alten BRD an Bedeutung gewannen: Zum einen, dass keine zwanzig Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft, zumindest in einzelnen Parlamenten auf kommunaler oder auch auf Landesebene, offen rechtsextreme politische Strömungen, allen voran die 1964 als Sammelbecken gegründete NPD, an Zulauf gewannen. Auch das war – zumindest für einen kleinen Teil der Westdeutschen – eine Form der Verarbeitung des moralischen Zusammenbruchs während der Hitler-Diktatur. Zum anderen drohte ab Mitte der 1960er Jahre die Verjährung der meisten Unrechtstaten, die vor dem 8. Mai 1945 begangen worden waren. Dies wurde zwar vom Gesetzgeber durch Verlängerung der einschlägigen Fristen verhindert (von der Justizposse um Eduard Dreher 1968 bezüglich der Beihilfeverjährung abgesehen), hat aber ein bezeichnendes Licht auf die Strafverfolgungspraxis der Nachkriegszeit geworfen: Es gab sie nämlich tatsächlich in rauen Mengen, die „Mörder in der Mitte der Gesellschaft“ der alten BRD.
Beides, die Gefahr eines erstarkenden Nazismus und die drohende Verjährung, haben die von Arendt thematisierte „Ehre und Würde der Geschädigten“ ein weiteres Mal empfindlich getroffen.
Aus diesem Grund ist es Hannah Arendt auch so wichtig gewesen, es – wann immer möglich – zu betonen, dass ihre Auffassung von „Banalität“ rein gar nichts mit „Alltäglichkeit“ zu tun hatte, denn im Alltag der Menschen, die Krieg und Verfolgung auf beiden Seiten überlebt hatten, war eigentlich gar nichts „banal“; doch bezogen auf den Angeklagten und den Typus von Verbrecher, den Eichmann verkörperte, hatte der Begriff von der Banalität mehr die Charakterisierung von „naiv“ und von geistiger Unreife. Adolf Eichmann glich in seiner Haltung im Prozess prototypisch der Rolle eines Hanswurstes, der – ob nur gespielt oder in echt – unfähig zu jeder Art von Selbstreflexion gewesen ist. Das wollte Arendt auf jeden Fall herausarbeiten; stärker und nachdrücklicher als der Chefankläger, aber auch als es das Gericht in Jerusalem tat bzw. tun konnte.
IV) Hintergründe für die spezielle Bewertung des Angeklagten durch die Beobachterin
Hannah Arendt hat es mehrfach betont, dass sie fast schon peinlich berührt war, als sie feststellen musste, welch ein höchst mittelmäßiger Charakter, fast schon dummer Mensch dieser Angeklagte gewesen ist. Wie alle anderen Beobachter und Teilnehmer dieses denkwürdigen Strafverfahrens, glaubte auch sie anfänglich, ein wahres Monster von Verbrecher auf der Anklagebank, diesem merkwürdigen Glaskasten, erblicken zu müssen; und dann kam dieser Jammerlappen. Ein Kontrast, prägnanter als in jeder griechischen Tragödie.
1) Zur Rolle der Urteilskraft
Oben wurde bereits kurz angedeutet, dass für Arendt ein wichtiges Anliegen darin bestand, die Hintergründe für den monströsen „Verwaltungsmassenmord“ zu erfassen und zu analysieren.
Die maßgeblichen Umstände für das bedingungslose Gehorchen eines Eichmann wollte sie mit Hilfe der von Kant entwickelten Maxime der „erweiterten Denkungsart“ begreiflich machen (eine besondere Kategorie des „logischen Denkens“, die in Arendts Werk insgesamt eine wichtige Rolle spielte). In ihrem Totalitarismusbuch hat sie hierzu folgende Merkmale definiert:
„Begreifen bedeutet freilich nicht, das Ungeheuerliche zu leugnen, das Beispiellose mit Beispielen zu vergleichen oder Erscheinungen mit Hilfe von Analogien und Verallgemeinerungen zu erklären, die das Erschütternde der Wirklichkeit und das Schockhafte der Erfahrung nicht mehr spüren lassen. Es bedeutet vielmehr, die Last, die uns durch die Ereignisse auferlegt wurde, zu untersuchen und bewußt zu tragen und dabei weder ihre Existenz zu leugnen noch demütig sich ihrem Gewicht zu beugen, als habe alles, was einmal geschehen ist, nur so und nicht anders geschehen können. Kurz: Begreifen bedeutet, sich aufmerksam und unvoreingenommen der Wirklichkeit, was immer sie ist oder war, zu stellen und entgegenzustellen.“ (32)
Hier nimmt Arendt praktisch Bezug auf Kants Beschreibung der drei „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“ in seinem Werk „Kritik der Urteilskraft“. Die „erweiterte Denkungsart“ bedeutet (kurz gesagt), an der Stelle jedes anderen Menschen denken, also sich vorzustellen, was „eigentlich mit dem anderen ist“. „Denken, in Kants Verständnis von Aufklärung, meint Selbstdenken (…), für sich selbst zu denken, (…) und Aufklärung bedeutet, vor allem anderen, Befreiung von Vorurteil.“ (33)
Diese Feststellungen waren geradezu typisch für Arendts Wesen und prägten ihr Werk, insbesondere beeinflussten sie die entscheidende Fragestellung: Warum konnte Adolf Eichmann – im Bewusstsein, Grenzen zu überschreiten – dennoch die offensichtlich verbrecherischen Befehle und Anweisungen seiner Vorgesetzten nicht verweigern bzw. warum hat er sie ohne echte Gewissensbisse befolgt und umgesetzt?
„Statt Eichmanns Verhalten mit Geltungsbedürfnis, Triebhaftigkeit, Gruppendynamik oder anderen (sozial-)psychologischen Theoremen zu erklären oder wegzuerklären, lenkt Arendt das Augenmerk auf ein grundsätzliches und politisches Problem: das Funktionieren der menschlichen Urteilskraft. Eichmann habe sich gegen die Wirklichkeit abgedichtet, indem er für jede Erfahrung ein Klischee oder eine Sprachschablone bereithielt: »Amtssprache ist meine einzige Sprache.« In dieser Unfähigkeit sich auszudrücken, erkennt Arendt eine Unfähigkeit zu denken und zu urteilen (…). In jener abgrundtiefen Oberflächlichkeit Adolf Eichmanns – er sei kein »Ungeheuer«, sondern eher ein »Hanswurst« – manifestierte sich für Arendt etwas, das sie in die Formulierung »Banalität des Bösen« brachte.“ (34)
2) Beispielhafte Merkmale für Eichmanns Verdrängungsmuster
Als sie die ersten Prozesstage erlebt hatte, wurde Hannah Arendt sehr schnell bewusst, dass Eichmann über weite Strecken seiner schriftlichen Aussagen, vor allem aber während der mündlichen Verhandlung vor dem Bezirksgericht in Jerusalem lediglich Klischees benutzte und er sich oft des Mittels der Selbstinszenierung bediente. (35)
Es gab daher mehrere Gründe für Arendt, Eichmanns Auftritt im Strafverfahren kritisch zu werten; bzw. Charakteristika in seinem Wesen, die bei Arendt auf besondere Abneigung stießen: „Hannah Arendt hat mit ihrem an klassischer deutscher Literatur geschulten Sprach- und Begriffsgefühl beschrieben, dass Eichmanns Sprache einem Wechselbad aus gedankenlosem Grauen, zynischer Gedankengewalt, weinerlichem Selbstmitleid, unfreiwilliger Komik und teilweise unfassbarer menschlicher Erbärmlichkeit gleicht.“ (36)
Es gehörte zu den Eigenheiten Eichmanns, dass er sich eines sehr gewöhnungsbedürftigen sprachlichen Duktus bediente: diese grausame Mischung aus „amtsdeutsch“ und verschiedenen Dialekten (aus dem „Österreichischen“ und teils dem „Berlinerischen“, was alles sehr gestelzt wirkte); für die Autorin somit Anlass, dies als charakterliche Eigenschaft des Angeklagten zu werten. Neben der bereits oben konstatierten „empörenden Dummheit“, seinem unangemessenen bzw. unpassenden Sprachgebrauch, kamen dann auch noch, gleichsam als i-Tüpfelchen, die von ihm verwendeten Argumente.
So hat sich Eichmann nicht entblödet, vor Gericht Immanuel Kant zu zitieren bzw. sich auf ihn zu berufen. Mehrfach und nachdrücklich versuchte er zu beteuern, „sein Leben lang den Moralvorschriften Kants gefolgt zu sein, und vor allem im Sinne des kantischen Pflichtbegriffs gehandelt zu haben“. Damit hatte er sogar ein gewisses Interesse beim Gericht geweckt (alle drei Richter waren ja in Deutschland zur Schule gegangen, zwei hatten sogar auf deutschen Universitäten Rechtswissenschaften studiert und zumindest rechtsphilosophische Grundlagen erhalten):
„[D]och Richter Raveh, ob nun aus Neugier oder aus Entrüstung über Eichmanns Versuch, im Zusammenhang mit seinen Untaten sich auf Kant zu berufen, entschloß sich, den Angeklagten hierüber zu befragen. Und zu jedermanns Überraschung konnte Eichmann eine ziemlich genaue Definition des kategorischen Imperativs vortragen (…). Auf weitere Befragung fügte er hinzu, daß er Kants Kritik der praktischen Vernunft gelesen habe. Weiter erklärte er, daß er in dem Augenblick, als er mit den Maßnahmen zur »Endlösung« beauftragt wurde, aufgehört habe, nach kantischen Prinzipien zu leben, er habe das gewußt und habe sich mit den Gedanken getröstet, nicht länger »Herr über mich selbst« gewesen zu sein – »ändern konnte ich nichts«.“ (37)
Wie für die allermeisten Zuschauer und Beobachter des Eichmann-Prozesses, gab es auch für Arendt immer wieder besondere Situationen und Momente während der Beweisaufnahme, die für zusätzliches Erstaunen und innere Aufruhr sorgten. Die Aussage in der mündlichen Verhandlung, als sich dieser „Gehirnprothesenträger“, der sich sonst fast immer bloß mit Floskeln und sprachlichen „Schablonen“ ausdrücken konnte, plötzlich auf Immanuel Kant berief und gar dessen kategorischen Imperativ relativ genau zitierte bzw. rekapitulierte, gehörte zu den Momenten, in denen Hannah Arendt besonders peinlich berührt worden war. Da Eichmanns Strafverteidiger, der ja eigentlich alle entlastenden Merkmale des Angeklagten in seine Beweisführung aufnehmen sollte, dessen Versuch, sich auf Kant zu berufen, einfach ignorierte, wäre der Schluss naheliegend, dass es sich lediglich um eine Art Ablenkung Eichmanns gehandelt haben könnte. Oder aber, und dies würde Arendts Analyse unterstreichen, Eichmann glaubte wirklich, was er vor Gericht zu Kant erzählte, war jedoch derart „verblendet“ oder einfach nur unfähig, die Lächerlichkeit seines Unterfangens zu erkennen. Dann würde sich ihre Grundannahme zu dem von ihr beschriebenen Phänomen zur „Banalität“ auf jeden Fall bestätigen.
3) Einordnung
Obwohl Hannah Arendt in ihrem Eichmann-Buch selbst, aber auch in späteren Stellungnahmen stets bestrebt war, die Motive für ihre spezielle Darstellung des Eichmann-Prozesses und besonders zur Begründung für den Untertitel zu erläutern und dem Publikum nahezubringen, konnte ihr diese Art der Rechtfertigung nur zum Teil gelingen – trotz ihrer zweifellos vorhandenen Redlichkeit und Geradlinigkeit. Daher war sie von der Heftigkeit der ihr entgegengebrachten Antipathien, die gerade die Charakterisierung des Angeklagten auslösten, sehr überrascht und teils sogar peinlich berührt, da unter den heftigsten Kritikern auch befreundete Kollegen und enge Bekannte waren – mit Kurt Blumenfeld ja sogar ein alter Freund der Familie aus den Königsberger Zeiten, der bereits mit Hannah Arendts Großvater heftig diskutiert hatte. Will man diese unterschiedlichen, teils unerwarteten Reaktionen des Publikums einordnen, sollte zwischen dem Fachpublikum nebst dem persönlichen Umfeld Arendts einerseits und der „normalen“ Öffentlichkeit andererseits unterschieden werden. Arendts langjährige Freundin und spätere Nachlassverwalterin Mary McCarthy hat schon früh darauf hingewiesen, dass das Verständnis und die Reaktionen sehr unterschiedlich ausfielen, je nachdem, ob es sich bei den Lesern des Eichmann-Buches um Nicht-Juden oder um Juden handelte. (38)
Und diese Feststellung bezog sich auf das „Bildungsbürgertum“ der US-amerikanischen Ostküste; in den intellektuellen Kreisen und „Zirkeln“ Westeuropas war die Rezeption ähnlich.
Des Weiteren war es auch eine Art Generationenkonflikt: junge Israelis bzw. junge Juden generell, die den Schrecken des Holocaust nicht als „Zeitzeugen“ erlebt und erfahren haben, wurden durch den Eichmann-Prozess und Arendts Buch oft zum ersten Mal mit all den schrecklichen Ereignissen konfrontiert, die in vielen jüdischen Familien bis dato verschwiegen wurden (aus Scham oder weil einfach zu traumatisch). Wenn dann noch so unangenehme Fragen, wie die Rolle der Judenräte, für die meisten völlig unvermittelt aufgeworfen wurden, blieb bei diesem speziellen Publikum sehr oft Ratlosigkeit zurück.
Doch ein Hauptgrund für die meisten Missverständnisse oder auch Fehlinterpretationen von Arendts Eichmann-Buch dürfte darin liegen, dass der größte Teil der damaligen Leser, angefangen bei denen der ursprünglichen Artikelserie im New Yorker, aber auch bei denen der Buchausgabe bzw. der deutschsprachigen Übersetzung, einfach die Grundlagen des Arendtschen Denkens nicht kannten oder falsch auffassten. Auch hier ist zwischen dem „Fachpublikum“ und den einfachen Lesern zu unterscheiden. Viele der einschlägigen Akademiker (Politikwissenschaftler, Philosophen oder auch sonstige Kulturwissenschaftler) in den USA aber auch in Europa kannten zwar Arendts Totalitarismus-Buch oder auch ihr Werk „Über die Revolution“. Dem „normalen“ Publikum aber war dies natürlich gänzlich unbekannt. Hiervon abgesehen, scheiterten die allermeisten Leser vor allem an Arendts Politikverständnis und besonders an ihrer ganz eigenen Interpretation der wichtigsten Kant-Werke.
Dies wurde seinerzeit auch dadurch erschwert, dass Hannah Arendt kein eigenständiges Werk über ihre „Kant-Kritik“ erstellt hatte; ihre Aufzeichnungen „Über Kants Politische Philosophie“ erschien im Herbst 1970 (in Buchform sogar erst 1982), ihr letztes Werk „Vom Leben des Geistes“ war zum Zeitpunkt ihres Todes unvollendet (die beiden Teile „Denken“ und „Wollen“ erschienen posthum). Wie hätte sich da der einfache Leser zurechtfinden sollen?
Aus Hannah Arendts Konzept zu ihrer Vorlesung „Über Kants Politische Philosophie“ ließe sich z.B. ihre Darstellung zu Kants Gedanken über die „Einschätzung des Lebens“ anführen. Arendt stellte besonders auf Kants Vorstellung von der moralischen Würde des Menschen als eines Individuums ab:
„Wir haben nun drei sehr verschiedene Konzepte oder Perspektiven, unter denen wir die menschlichen Angelegenheiten betrachten können: Wir haben die Menschengattung und ihren Fortschritt; wir haben den Menschen als moralisches Wesen und Zweck an sich selbst; und wir haben die Menschen in der Mehrzahl, die eigentlich im Zentrum unserer Betrachtung stehen und deren wahrer »Zweck«, wie ich bereits erwähnte, die Geselligkeit ist. Die Unterscheidung dieser drei Perspektiven ist eine notwendige Voraussetzung für das Verständnis von Kant. Wann immer er vom Menschen spricht, muß man wissen, ob er von der Menschengattung oder von dem moralischen Wesen, dem vernünftigen Lebewesen, das auch in anderen Regionen des Universums existieren mag, oder von den Menschen als den wirklichen Bewohnern dieser Erde spricht.“ (39)
Jede dieser drei „Perspektiven“ ordnet Arendt dann einer entsprechenden Stelle in Kants Werk (Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der reinen Vernunft und der bereits erwähnten Kritik der Urteilskraft) zu.
Und natürlich hat Arendt ihre eigene Theorie der Urteilskraft zu entwickeln versucht, die aus der Erfahrung ihrer Anwesenheit bei der Gerichtsverhandlung gegen Eichmann entstanden ist bzw. ihre Grundlage erfahren hat. Grundlegende Gedanken zum „Status der Wahrheit“ und im Hinblick auf die kritische Funktion des Denkens sind dadurch entwickelt bzw. weiterentwickelt worden und haben Eingang in ihr Werk gefunden.
Die Funktion bzw. die Bedeutung der „Urteilskraft“ hat demnach unmittelbare Auswirkung auf das „Urteilen“ selbst: „Der Fall Eichmann ist für das Thema »Urteilen« von zweifacher Bedeutung. Erstens ist da Eichmanns eigene Unfähigkeit zu denken und zu urteilen, Recht von Unrecht, Schönes von Häßlichem zu unterscheiden – in der kritischen politischen Situation, in die er gestellt war. Zweitens ist da das Problem des nachträglichen Verstehens, d.h. wie die Bedeutung Eichmanns von einem Punkt aus zu beurteilen wäre, der von den infragestehenden Ereignissen zeitlich und räumlich günstig entfernt ist. Arendt befaßt sich mit beiden Dimensionen: der ersten, in welcher Eichmann das urteilende Subjekt ist; der zweiten, in der Arendt selbst und ihre amerikanisch-jüdischen Zeitgenossen zum Urteilen aufgefordert werden. Die Lehre aus der ersten ist, daß die Unfähigkeit zu denken fatale Folgen für die Urteilskraft hat. Die Lehre aus der zweiten ist, daß man sich nicht um die Verpflichtung, Urteile abzugeben, drücken kann, selbst dann nicht, wenn Pflichten und Bindungen familiärer oder nationaler Art sich störend dazwischenzuschieben scheinen. Die Tätigkeit des Urteilens darf nicht durch vermeintlich vorrangige Beziehungen von Liebe und Treue behindert werden. Das Urteil muß frei sein, und die Bedingung für seine Autonomie ist die Fähigkeit zu denken.“ (40)
Vieles zu Arendts Kant-Verständnis und ihrer Theorie der Urteilskraft erschließt sich aktuell aus der umfangreichen Sekundärliteratur (ein Vorzug, den das zeitgenössische Publikum in den 1960er Jahren natürlich noch nicht haben konnte). Insoweit können neuere Ergebnisse einfließen:
„Im Eichmann-Bericht fallen vor allem zwei markante Widersprüche in Arendts vehementer Kritik am Jerusalemer Prozess ins Auge. Erstens stellt sich unwillkürlich die Frage, ob es sich nur um diesen einen fehlgeschlagenen Prozess handelt oder ob nach Arendt das juristische Urteil insgesamt an sein Ende gekommen ist. Zweitens changiert Arendt in der Bewertung der Person Eichmanns zwischen sarkastischen und lächerlich machenden Formulierungen, sodass die Frage nahe liegt: Wird Eichmann im Urteil Arendts mit der Bestimmung der „Gedankenlosigkeit“ und der Beschreibung der „Banalität des Bösen“ erst „entdämonisiert“ oder war er nach Arendt schon ein „Hanswurst“ und es hatte nur niemand das Nicht-Dämonische, Nicht-Radikale an diesem Phänomen des Bösen benannt? Die Frage nach Arendts Konzeption des juristischen Urteils kommt deshalb um die Untersuchung ihrer Urteilstheorie und ihrer Methode nicht herum. (…) prüft Arendt in Eichmann in Jerusalem nicht nur das Ergebnis der richterlichen Urteilsfindung, dem sie zustimmt, und die zahlreichen Verfahrensprobleme des Prozesses, sondern neben der Argumentation von Richtern und Anklage auch die Verstehensmaßstäbe des Gerichts, die sie für ausschlaggebend für grundsätzliche Fehleinschätzungen hält. Nach ihrer Kritik stellt sich heraus: Erstens hat im Fall des Eichmann das juristische Verstehen in der Beurteilung von totalitärer Herrschaft als Teil des objektiven und subjektiven Tatbestandes einen neuen Gegenstand zu konfrontieren. (…) Zweitens muss deshalb das juristische Urteilen als Modus um dieses freie Urteilen erweitert werden. (…) Drittens ergibt sich aus Arendts Bild vom Verbrecher Eichmann zunächst, dass die Beurteilung des subjektiven Tatbestandes, also Vorsatz, zwar bejaht werden kann, aber die Fragen zurechenbarer Verantwortung in totalitären Verhältnissen (strafrechtlich als Fragen von „Täterschaft und Teilnahme“ behandelt) letztlich ein Prüfstein sind, an dem sich grundlegende Vorstellungen von Willens- und Handlungsfreiheit und von Handlungsverantwortung in moralischem und politischem Verhalten als irreführend erweisen (…). Deshalb müssen Arendts Analysen des Politischen herangezogen werden, um ihre Rechtskritik und das juristische Urteilen interpretierend zu entfalten (…). Denn dort ergibt sich zunächst für die Bewertung Eichmanns, dass die neuzeitliche Dominanz der Willenstheorie den Blick auf das Handeln verstellt, sei es politisches, sei es verbrecherisches. Aus Arendts Sicht ist Eichmanns subjektives Verbrechensmoment gar nicht als Willensmangel und moralisch nicht als Mangel an „gutem“ Willen, sprich „Schlechtigkeit“ zu qualifizieren – die Beurteilung der Willensfreiheit im Handeln und der moralischen Willensausrichtung sind für diesen Fall moralisch und juristisch einfach unerheblich. Freies Handeln und Handeln unter Befehl müssen laut Arendt ganz anders betrachtet werden als unter der Frage nach dem Willen als „Ursache“ für die Handlung (…). Nicht der Wille und die Vernunft begründen das gelungene Urteil oder das gute Gewissen, sondern das Urteilsvermögen begründet das Gewissen, das Arendt dem Vermögen des Denkens zuweist, und das wiederum begründet das Wollen bzw. dessen „Schlechtigkeit“. Der Urteilsmangel ist demnach laut Arendt entscheidend und spezifisch für das Verbrechen und den subjektiven Tatbestand, und er erzeugt erst den Gewissens- und den Willensmangel, nicht umgekehrt. Diese Einschätzung geht über den Umfang der juristischen Beurteilung Eichmanns und dessen Tatbestandsverwirklichung weit hinaus, ist aber für das juristische Urteilen relevant, weil sie für dessen Verständnis, und das zeigt sich an der Interpretation des richterlichen Urteils im Eichmann-Text, als implizite Kriterien der Moral in die Willenstheorie einfließt. (…) Das ist in der Rechtsanwendung so lange noch relativ unproblematisch, als das Gesetz zumindest in der gängigen Rechtspraxis meist scheinbar die Entscheidung vorgibt. Doch in allen Rechtslücken und Abwägungsfragen wird bereits fraglich, worauf zurückgegriffen werden soll, und erst recht bei der Frage nach der Bewertung von Recht im Unrechtsstaat wird dies unausweichlich. In allen diesen Fällen muss sich, und damit wäre Arendts Blick auf Kant auf das richterliche Feld gewendet, das richterliche Urteilen auf nichts anderes als die Urteilskraft als genuines Vermögen stützen.“ (41)
Eine sehr interessante Interpretation von Arendts Eichmann-Buch gibt somit Rosenmüller, die Arendts spezifische Beschreibung und Beurteilung Eichmanns als Form einer „reductio ad absurdum“ auffasst, um damit mittels des „Beweises durch Aufzeigen von Widersprüchen“ Eichmanns eigentliche Schuld nachzuweisen.
Der Obersturmbannführer konnte nicht ernsthaft Kants Moralvorstellungen als oberste Richtschnur behaupten und gleichzeitig den „Führerbefehlen“ die entscheidende Priorität und Legitimation einräumen.
Denn selbst juristischen Laien musste klar sein, dass die Ausrottung „fremder“ Rassen (oder von politischen Gegnern) ein Akt staatlichen Unrechts gewesen ist. (42)
Diese staatlichen Unrechtsmaßnahmen konnten auch nicht durch formale Aufwertung in Form von „Gesetzen“ oder Verordnungen etc. gerechtfertigt werden. Anderenfalls hätte es des brutalen Unterdrückungsapparates seitens der SS und anderer Dienststellen überhaupt nicht bedurft. Durch das Aufzeigen dieses logischen Widerspruchs hätte es – aus Sicht von Arendts Theorie der Rechtsfindung – für die Richter in Jerusalem einfachere Möglichkeiten einer Verurteilung Eichmanns gegeben. (43)
Zumindest von ihrem theoretischen Standpunkt aus betrachtet, stellte dies gleichsam den neuralgischen Punkt dar, an dem Arendt ansetzen musste: Ein Angeklagter, dem offensichtlich die Voraussetzungen für eine objektive „Urteilskraft“ fehlte, der aber vor Gericht versuchte, eine gewissenhafte Persönlichkeit zu repräsentieren, musste doch als triviale und banale „Figur“ bloßgestellt werden. Dass gerade dieser Mensch auf die Morallehre Kants abzustellen versuchte, glich für eine gebildete Person wie Arendt einem Affront, gleichsam einem (intellektuellen) „Schlag ins Kontor“. An diesem Punkt lässt sich die Empörung Hannah Arendts, die sie für den Angeklagten empfand, geradezu mit Händen greifen: Ausgerechnet den kategorischen Imperativ Kants und eine der drei berühmten Kritiken dieses Philosophen der Humanität wollte derjenige, der eines „Menschheitsverbrechens“ angeklagt worden war, zu seiner Rechtfertigung vor Gericht anführen.
Im Ergebnis hat es bekanntlich Eichmann nichts genutzt, aber die Anklagebehörde (allen voran Chefankläger Hausner, der später sogar „publicity“ in den USA suchte) hatte durch ihre eigenwillige Prozessführung erst dazu beigetragen, dass sich der Angeklagte dermaßen produzieren konnte. Nur der Souveränität des Bezirksgerichts war es letztlich zu verdanken, dass das Verfahren zu einem glaubwürdigen Abschluss gebracht werden konnte.
V) Schlussbetrachtungen
Dass sich der „Sturm der Entrüstung“, den das Eichmann-Buch ausgelöst hatte, und die gezielten Attacken gegen die Person Hannah Arendts, die von unterschiedlichen Seiten inszeniert worden waren, in der Folgezeit zumindest größtenteils wieder gelegt hatten, war mehreren Faktoren zu verdanken. Zunächst hatte sich die Sorge vieler jüdischer Organisationen, gerade in Deutschland würden Arendts Aussagen, vor allem in Richtung der „Judenräte“, instrumentalisiert, um den Opfern gleichsam eine Mitschuld an ihrer eigenen Ausrottung zuzuweisen, nicht bestätigt. Stattdessen gab es ja sogar mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess den Versuch zumindest einer juristischen Aufarbeitung eines Teils der Verbrechen im Rahmen des Holocaust (auch wenn die dort Angeklagten dem breiten Publikum völlig unbekannt waren und in ihrer „Mittelmäßigkeit“ Adolf Eichmann in nichts nachstanden). Die von vielen befürchtete Welle an Antisemitismus in der alten BRD war also ausgefallen (vielleicht schon ein Vorbote, der kurze Zeit später einsetzenden Studentenproteste). Besonders prägnant war aber, dass aus Arendts eigenem Umfeld endlich wieder Persönlichkeiten anfingen, sie zu unterstützen und den persönlichen Kontakt zu suchen, so die Ehefrau von Leo Baeck (einem der gescholtenen „jüdischen Führer“); dadurch konnten zumindest teilweise Spannungen beigelegt werden.
Auch durch ihre Interviews in Deutschland und die sich daran anschließenden Diskussionen gelang es ihr, auf die tatsächlichen Schwerpunkte und Motive ihrer Arbeit hinzuweisen: Eichmanns amoralische Subalternität, die – auf eine allgemeinere Ebene gehoben – einer Perversion der „Beamtenmoral“ entsprach. Darin war der Obersturmbannführer ausdrücklich „ordinär“, aber nicht ungewöhnlich oder gar „monströs“; denn als Typus war Eichmann alles andere als „einzigartig“. Und gerade in der Gefahr bzw. Möglichkeit einer Wiederholung solcher Verbrechen, wie im Holocaust, sah Arendt die eigentliche Bedeutung eines Strafverfahrens, wie das gegen Eichmann (und daher auch die Vehemenz, mit der sie auf die – aus ihrer Sicht – ungenügende Behandlung bestimmter „Streitfragen“ hingewiesen hat): Wegen „der sehr beunruhigenden und doch kaum wegzuleugnenden Möglichkeit (…), daß in der Zukunft ähnliche Verbrechen begangen werden können. (…) wenn ein spezifisches Verbrechen erst einmal begangen ist, ist seine Wiederholung wahrscheinlicher, als sein erstes Auftreten je war. Und die konkreten Gründe, die für die Möglichkeit einer Wiederholung der von den Nazis begangenen Verbrechen sprechen, sind sogar noch einleuchtender. Die erschreckende Koinzidenz der modernen Bevölkerungsexplosion mit den technischen Erfindungen der Automation einerseits, die große Teile der Bevölkerung als Arbeitskräfte »überflüssig« zu machen droht, und mit der Entdeckung der Atomenergie andererseits hat eine Situation geschaffen, in der man »Probleme« mit einem Vernichtungspotential lösen könnte, dem gegenüber Hitlers Gasanlagen sich wie die stümperhaften Versuche eines bösartigen Kindes ausnehmen. Es besteht aller Grund, sich zu fürchten, und aller Grund, »die Vergangenheit zu bewältigen«.“ (44)
Fragt man nach dem Zusammenhang zwischen dem Eichmann-Prozess als einem juristischen Verfahren, das neben den rechtsstaatlichen Ansprüchen auch ganz spezielle politische Erwartungen zu erfüllen hatte, und der ganz eigenen Berichterstattung durch Hannah Arendt, lässt sich 60 Jahre später zumindest ein unbestreitbares Merkmal festhalten: Ohne das Eichmann-Buch Arendts wären etliche Fragen und Themen weniger deutlich angesprochen und debattiert worden und vor allem wäre der Prozess wahrscheinlich bei weitem nicht so in der Öffentlichkeit präsent geblieben. Denn eines sollte auch beachtet werden: Als der Prozess gegen Eichmann in der ersten Instanz Anfang April 1961 eröffnet wurde, hat es kaum eine Woche gedauert, bis er schon wieder von anderen medialen Großereignissen von den Titelseiten verdrängt wurde; zuerst die Landung von rechtsgerichteten Truppen auf Kuba (sog. Schweinebucht), dann im August 1961 der Bau der Berliner Mauer. Die Hauptverhandlung vor dem Jerusalemer Bezirksgericht konnte da schnell uninteressant werden.
Hinzu kommt, dass – im Gegensatz zum juristischen Fachpublikum – Hannah Arendt einen speziellen Zugang zu diesem besonderen Prozess gesucht hat, vor allem im Hinblick auf das Wesen des Angeklagten. Der völlige Zusammenbruch des bis dahin (zumindest stillschweigend) anerkannten Wertegerüsts und aller Moralvorstellungen in Europa konnte mit den üblichen juristischen Kategorien von „Täterschaft“, „Kausalität“ und „Schuld“ nur unvollständig nachvollzogen oder gar erklärt werden.
Diese Kluft zwischen der historischen Wahrheit bzw. Vollständigkeit einerseits und den prozessrechtlichen Vorgaben, die für juristische Laien einem Korsett gleichkamen, andererseits, wollte Hannah Arendt ausfüllen bzw. überbrücken. Als Maßstab diente ihr ein von der Kantischen Philosophie beeinflusster Rigorismus, den sie auf alle Beteiligten anzuwenden gedachte: auf den Angeklagten und seine Mittäter und Hintermänner, auf die Ankläger (die Strafverfolger und somit den Staat Israel), zumindest teilweise auch das Gericht, aber ganz besonders den Teil des Tätervolkes, der sich zu spät gegen Hitler stellte und durch Zögern das NS-Unrecht geschehen ließ und verlängerte; und schließlich auch auf den Teil des Opfervolkes, der, wie die Judenräte, vielleicht zu oft gegenüber den Anweisungen der SS gehorchte und dadurch den Eindruck erweckte, am eigenen Tod beteiligt gewesen zu sein. Alle mussten sich die gleichen Grundfragen stellen lassen: Wäre die Barbarei der Nazis in den konkreten Dimensionen vermeidbar, der Zusammenbruch des moralischen Grundgerüsts aufzuhalten gewesen?
Man wird Hannah Arendt jedoch einen Fehler ankreiden können oder müssen: Aus ihrer zwangsläufigen Rolle als „Zuschauerin“ (da sie ja das Glück hatte, nie in einem Konzentrationslager „entmenschlicht“ worden zu sein, denn die einwöchige „Ingewahrsamnahme“ 1933 zum Verhör ist ja nicht einmal als Haft zu bezeichnen, und auch die Internierung im Mai 1940 in Südfrankreich war glücklicherweise nur von sehr kurzer Dauer, fehlte ihr die eigentliche Erfahrung als „Akteurin“) schilderte sie ihre Eindrücke und Erfahrungen mit einer nüchternen Distanz, die natürlich bei den Überlebenden bzw. den Hinterbliebenen der Opfer des Holocaust zu Irritationen bzw. Missverständnissen führen konnte – und wohl auch leider zu oft geführt hat. Dies trifft besonders bei der Schilderung der Tätigkeit der „Judenräte“ zu, da diese (zumindest im Detail) für viele der überlebenden Zuschauer des Eichmann-Prozesses und auch den interessierten Beobachtern außerhalb Israels bis dato unbekannt waren. Als dies nun einmal einem breiteren Publikum (und dann auch noch mit einem offen kritischen Unterton) bekannt wurde, musste dies zu heftigen Reaktionen führen: Man hörte zwar die Botschaft, konnte und wollte sie aber oft nicht glauben. Zumal die allermeisten der Judenräte persönlich keine Schuld auf sich geladen hatten; außer der einen (die aber zur maßgeblichen Zeit 1942/44 noch gar nicht benannt worden war), nämlich, dass es kein richtiges Leben im falschen geben konnte.
Dieses durchaus zutiefst moralische Dilemma war Arendt natürlich bewusst und gerade bei den Personen, denen sie intellektuell und emotional nahestand, hat sie versucht, nach Erklärungen und Entlastungen zu suchen. Zumindest bei einem Teil des (kritischen) Publikums gelang ihr dies nach dem Erscheinen der Artikelserie bzw. der ersten Buchauflage überhaupt nicht. Sie sprach daher von Kampagnen, die gegen sie organisiert worden seien. (45) Ob sie besser beraten gewesen wäre, rechtzeitig den Kontakt mit – ihr bekannten – Judenräten zu suchen, um zumindest die gröbsten Missverständnisse zu vermeiden?
Allerdings kann auch ihren Kritikern (gleich aus welchem Lager) vorgehalten werden, sie hätten nicht bloß den Wortlaut der jeweils inkriminierten Äußerungen beachten sollen, „sondern noch mehr die Auslegung und die Tendenz, die diesen Worten innegewohnt“ hat. Dies unterlassen zu haben, fällt dann auf die Kritiker zurück. (46)
Hinzu kommt natürlich -und ganz besonders bei einer Intellektuellen wie Hannah Arendt-, dass sie zum einen als Mensch nicht ganz einfach zu nehmen war (sie kam oft provokativ rüber, was auch als arrogant erscheinen konnte) und zum anderen waren natürlich ihre Werke speziell, man könnte auch schwierig sagen, und ihre Einstellung als Wissenschaftlerin höchst individuell. Ihre Lust am und zum Widerspruch konnte daher auch schnell zu eigenen Widersprüchen (bzw. oft zu Missverständnissen) führen, was von ihren Gegnern dann sofort ausgenutzt wurde. Im Nachhinein lassen sich immer vermeintlich klügere Vorgehensweisen raten; doch wird man genauso gut die Annahme vertreten können, dass damals immer jemand versucht haben würde, in Arendts Darstellung der Tätigkeit der Judenräte irgendein „Haar in der Suppe“ zu finden. Dazu war dieses Thema einfach zu komplex und zu emotional aufgeladen. Also dann besser gleich ganz weglassen und ausblenden?
Doch käme das nicht posthum einem Verrat oder gar einer Beleidigung der gesamten Arbeit Hannah Arendts gleich? Wie hätte sich dies mit ihrem Verständnis von den wesentlichen Aspekten der Kantischen Philosophie vertragen? Wie hätte sie danach noch glaubwürdig die Grundzüge und Elemente der „erweiterten Denkungsart“ vertreten und in Vorlesungen vor ihren Studenten noch Kants Kritik der Urteilskraft behandeln können? Ihr gesamtes späteres Werk zur politischen Philosophie Kants und Vom Leben des Geistes wäre gar nicht mehr denkbar bzw. unglaubwürdig.
Was bleibt daher „am Ende des Tages“, soll nun abschließend gefragt werden: Zu Hannah Arendts wesentlichen Motivationen und Zielen gehörte es aufzuzeigen, dass eine Wiederholung der besonderen Art von Verbrechen, wie die Eichmanns, durchaus möglich war. Die Komplexität der modernen Welt war geradezu ein Einfallstor für „Menschheitsverbrechen“ – ganz besonders, wenn diese durch arbeitsteilige Methoden geplant und ausgeführt werden. Daher kann Arendts Bestreben (oder auch Wunsch), für diese speziellen Verbrechensarten eine besondere Urteilsform bzw. eine eigene „Verfahrensordnung“ zu entwickeln, als eine Art Ausblick auf künftige Prozesse und Entwicklungen gedeutet werden. Hierauf soll im abschließenden Teil zu diesem Beitrag eingegangen werden; neben den juristischen „Neuerungen“ der letzten Jahrzehnte (vor allem auf dem Gebiet des Völkerrechts) soll auch ein Bezug zu aktuellen Ereignissen versucht und der Frage des Verhältnisses von Historikern zu Richtern nachgegangen werden.
Autor: Thomas Fuchs, Assessor iur., Rechtshistoriker
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Anmerkungen
1) Henke, S. 75.
2) Arendt, Eichmann, S. 57.
3) Vgl. a.a.O., S. 56.
4) Dito, S. 296.
5) Arendt/Fest, S. 43f. (aus dem Manuskript der Rundfunksendung).
6) Holthusen, S. 179.
7) Siehe den ersten Teil des Beitrages.
8) Vgl. im Überblick bei Hans Mommsen, in Arendt, Eichmann, S. 25.
9) Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (im Folgenden: Totalitarismus).
10) Siehe bei Young-Bruehl, S. 452.
11) Dito, S. 454f. Mit Jaspers unterhielt Arendt eine lebenslange Verbindung, der Briefwechsel ist legendär.
Ihr zweiter Mann H. Blücher war auch der eigentliche Grund für Hannah Arendt, nicht mehr nach (West-) Deutschland zurückzukehren (unabhängig von ganz anderen Fragen).
12) Arendt, Eichmann, S. 74f.
13) Die Trennung des Familienrechts vom übrigen Zivilrecht, für das im Regelfall auch nur die staatlichen Gerichte zuständig sind, folgt einer langen Tradition. Bereits während des Osmanischen Reiches fiel dieser Teilbereich unter die Jurisdiktion der Rabbiner (durchaus mit dem islamischen Recht vergleichbar); „dogmatische“ Begründung: Das Jüdische Recht ist nicht das Recht eines Staates, sondern eines Volkes, welches als historische „Schicksalsgemeinschaft“ einem Wertekanon folgt. Hierzu zählen (zumindest nach orthodoxer Lesart) auch die alttestamentarischen Ehevorschriften. Eheschließungen zwischen Juden und Nicht-Juden waren (von wenigen Ausnahmen abgesehen) grundsätzlich nicht zulässig. Während der kurzen Zeit der britischen Mandatsherrschaft wurde an dieser Rechtsauffassung nicht gerüttelt.
Kurze Überblicke geben:
Shira Nuhamovich, Familienrecht, Der »vernachlässigte Hinterhof« der israelischen Gesetzgebung, Friedrich-Ebert-Stiftung: http://library.fes.de/pdf-files/iez/14959.pdf
Nicole Herbert, Aktuelle Probleme im Ehe- und Scheidungsrecht Israels, Konrad-Adenauer-Stiftung:
Allgemein zum Jüdischen Recht: Walter Homolka: https://www.rewi.hu- berlin.de/de/lf/oe/hfr/deutsch/2009-17.pdf
14) Vgl. Heuer, Arendt, S. 62f.
15) Der ursprünglich von den Engländern, in ihrer Funktion als Mandatsmacht des Völkerbundes, eingesetzte
Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini (es existieren verschiedene Schreibweisen), kann als Prototyp des judenhassenden „Führers der arabischen Welt“ gelten (aber auch für heutige Politiker in „Gaza“ bzw. den Palästinensergebieten oder z.B. in Teheran).
Ein Mix aus extremistischem Nationalismus, „Islamismus“ und bewusst kalkulierter Judenfeindschaft (zu Propagandazwecken) kennzeichneten seinen „Politikstil“. Dieser brachte ihm besonders in Berlin zwischen 1937 und bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein hohe Wertschätzung ein. Adolf Eichmann versuchte immer den Eindruck einer besonders innigen Freundschaft zum Mufti zu erwecken. Dabei haben sie sich wohl nur ein einziges Mal persönlich getroffen. Dennoch wurde nach 1945 hartnäckig (auch von Geheimdiensten) das Gerücht gestreut, Eichmann befände sich aufgrund seiner Kontakte zu Al-Husseini in einer der arabischen Hauptstädte (Kairo, Damaskus oder Bagdad), obwohl er tatsächlich als gescheiterter Kaninchenzüchter und Hilfsarbeiter bei Mercedes-Benz in Argentinien weilte. Auch nach der Staatsgründung Israels, wodurch Al-Husseinis Position vor Ort geschwächt wurde, blieb seine Stellung und besonders sein Einfluss in der arabischen Welt, vor allem bei den Palästinensern, erhalten; der PLO-Führer Arafat rühmte sich der Verwandtschaft zum Mufti und betrachtete ihn auch als eine Art Mentor.
16) Vgl. Heuer, Arendt, S. 30 – 32.
17) Siehe z.B. den Beitrag von Wolf Murmelstein:
Die Bewertung der Arbeit der „Judenräte“ hängt natürlich auch vom persönlichen Standpunkt des jeweiligen Betrachters ab; wer von den Verfolgungsmaßnahmen nicht persönlich betroffen war, kann es sich einfach machen und den moralischen Zeigefinger erheben. Unmittelbar betroffene Judenräte oder andere Mitglieder von jüdischen Gemeinden, die in den besetzten Gebieten von den Dienststellen der SS (teils auch der Wehrmacht) einfach gezwungen wurden, die erforderlichen Transportlisten zu erstellen, fühlten sich einfach nur ausgenutzt und hofften zumindest teilweise, wenigstens etwas Positives bewirken zu können. Denn auf der anderen Seite war auch klar: Dort, wo es für die SS keiner Mitwirkung der einheimischen Juden bei der Zusammenstellung der Transporte in die Lager bedurfte, sorgten die „Einsatzgruppen“ für kurzen Prozess, indem nämlich gleich an Ort und Stelle die Opfer massenhaft erschossen wurden. Daher wird ein wirklich objektives und ausgeglichenes Urteil nur selten gelingen; auch wenn Ironie beim Thema „Holocaust“ nur selten angebracht sein dürfte, vielleicht lassen sich die Judenräte doch als „Eichmanns Musterungsbehörde“ bezeichnen (so Mary McCarthy), da durch die Verfremdung des amtsdeutschen Begriffs der „Musterung“ ein besonderer Kontrast zur eigentlichen Realität erzeugt wird: Die reguläre Tätigkeit der Musterungsbehörden beim Militär folgt normalerweise objektiven Kriterien; die erzwungene „Mitarbeit“ der Judenräte bei der Erstellung der Transportlisten etc. war das genaue Gegenteil und stellte bereits an sich eine bewusste Demütigung dar (was natürlich von den Nazis absolut bezweckt worden ist: unmittelbare Zwangsherrschaft).
18) Council of Jews from Germany: Die Reaktion der Juden auf die Verfolgungen der Nazizeit, Zitat abgedruckt bei Arendt/Fest, S. 110.
19) Soweit in den kritischen Urteilen ihrer Gegner der Eindruck entstanden ist, Arendt habe zu emotionslos über „ihr Volk“ oder gar pietätlos gegenüber den Opfern geschrieben, ist dies sicher übertrieben, aber verkennt vor allem die eigentlichen Gründe und Motive für Arendts Buch: die tatsächlichen Bedingungen oder gar Vorbedingungen für Eichmanns Verbrechen zu ergründen bzw. zu rekonstruieren, vgl. Baumgart, S. 151.
„Pietät“ oder gar eine bloß für das Publikum zur Schau getragene „Gefühlsduselei“ wären für eine solche inhaltliche Ausrichtung die falsche Methode gewesen.
20) Arendt, Eichmann, S. 192.
21) Mit Noskes Namen wird für immer die äußerst blutige Bekämpfung des sog. Spartakusaufstandes in Berlin im Januar 1919 verbunden bleiben; ein Resultat war die Ermordung Rosa Luxemburgs und K. Liebknechts, wodurch rechte Militärs und besonders die aufkommenden Freikorps gestärkt hervorgingen. Aus diesem speziellen Milieu bildete sich nicht nur die Basis des künftigen militärischen Widerstands gegen die Weimarer Republik (so im Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920), sondern auch das personelle Rückgrat der 1921 neu formierten Sturmabteilung (SA) als Unterorganisation von Hitlers NSDAP.
Jetzt wird man Gustav Noske nicht kausal für alle rechtsgerichteten republikfeindlichen Aktionen seit der Frühzeit der Weimarer Republik ansehen und bewerten dürfen. Doch mindestens zwei Punkte sind auch über die Ereignisse vom Frühjahr 1919 hinaus bemerkenswert: Noske galt vielen der republikfeindlichen Militärs, wie General Lüttwitz oder auch Kapitän Erhardt, als ein Politiker, den sie akzeptieren konnten und der (ehemalige) „Volksbeauftragte“ war ja ein SPD-Mann (nach Selbstaussage der „Bluthund“) und sprach daher zumindest für den seinerzeit „rechten“ Flügel der Partei. Hätte daher der Umsturz vom 20. Juli 1944 tatsächlich den notwendigen Erfolg gehabt und es wäre zu einer echten Anti-Hitler-Regierung gekommen, wie hätte sich die traditionelle linke Arbeiterschaft durch einen rechten SPD-Mann wie Noske repräsentiert fühlen können?
Diese Fragen brauchte sich Arendt bei ihrer Analyse der Hintergründe für die Pläne der Männer des Widerstandes und des Attentats vom 20. Juli 1944 nicht stellen, da es ihr um moralische Fragen und um Glaubwürdigkeit ging (zumindest aber die Integrität bzw. Regierungstauglichkeit einiger der im Schattenkabinett von Beck und Goerdeler genannten Männer konnte angezweifelt werden, so auch der spätere „Chef des Hauses Preußen“).
22) Golo Mann, S. 118 – 121 (das Zitat auf S. 120).
23) Zum gesamten „Remer“-Verfahren: Boris Burghardt, Vor 60 Jahren: Fritz Bauer und der Braunschweiger Remer-Prozess – Ein Strafverfahren als Vehikel der Geschichtspolitik, in: Journal der Juristischen Zeitgeschichte 2012, S. 47-59.
24) „Was bei Arendt auffällt, ist ihr Standort der teilnehmenden Denkerin, der sich deutlich von der Position einer distanzierten Wissenschaftlerin unterscheidet. Kritiken, sie habe nicht „objektiv“ geschrieben, wies sie zurück (…) Dem Vorwurf Golo Manns, sie übertreibe in ihrem Totalitarismus-Buch, begegnete sie nicht mit
einer akribischen Verteidigung, sondern erwiderte: (…) Denken übertreibt überhaupt immer. Außerdem hat es die Wirklichkeit in unserem Jahrhundert nun wahrlich so weit getrieben, dass man getrost sagen kann, dass die Realität übertrieben ist. (…) Dabei bedeutet Teilnahme nicht, dass Arendt in ihrem Interesse an der Welt zur Moralisierung geneigt hätte. Im Gegenteil, es ging ihr um das Verstehen der Ereignisse und damit in Montesquieu’scher Tradition um das Verstehen der Erfahrungen aller Beteiligten sowie um die Bestimmung der Handlungsmöglichkeiten.“, s. Heuer, APuZ 39/2006, S. 10.
Dies zeigt, dass zwischen Hannah Arendt und z.B. Golo Mann u.a. auch ein Dissens bei methodischen Fragen vorgelegen hat; außerdem hatte Mann 1963, als er seine ablehnende Kritik über Arendts Eichmann-Buch äußerte, einen beruflichen Rückschlag zu „verkraften“, da ihm aus teils eigenartigen Gründen eine Professur an der Frankfurter Goethe-Uni verweigert worden war. Die treibenden Kräfte, die gegen seine Berufung waren, vermutete er wohl bei bestimmten Professoren, die er Arendts Richtung zurechnete.
25) Ein prägnantes Beispiel ist die Kontroverse um die Ursachen des Ersten Weltkriegs, hier besonders die Thesen Fritz Fischers. Auch insoweit hatte sich Golo Mann als Sachwalter der überkommenen Ansichten der -bis dato herrschenden- Meinung im akademischen Betrieb hervorgetan. Kein Wunder, dass – ähnlich wie bei Arendts Eichmann-Buch – eine äußerst lebhafte Diskussion, die nicht nur die Fachkreise beschäftigte, ausgelöst wurde. Im Prinzip gab es in der alten BRD drei „große“ Kontroversen: um Fritz Fischers Thesen zur Hauptschuld des Kaiserreichs am Ersten Weltkrieg (Ende der 1950er bis etwa Mitte der 60er Jahre), dann um Arendts Eichmann-Buch (1963 – 65) und den sog. Historikerstreit Mitte der 1980er Jahre. Alle drei „Debatten“ waren z.T. echte Aufreger mit großer medialer Resonanz, was natürlich auch daran lag, dass das bis dahin geltende „Weltbild“ vieler konservativer oder gar nationalfixierter Historiker und Politiker ins Wanken gebracht wurde; außerdem gibt es natürlich auch einen „inneren“ Zusammenhang bei diesen „Kontroversen“.
26) Vgl. bei Mommsen, S. 32.
27) Die Rundfunksendung von Arendt und Fest v. 9.11.1964 ist abgedruckt bei Arendt/Fest, s. Verzeichnis.
28) Bei Arendt/Fest, S. 41.
29) Dito, S. 42 – 44.
30) Dito, S. 44.
31) Dito, S. 56f.
32) Arendt, Totalitarismus, S. 25.
33) Auf Kants gesamte „Kritik der Urteilskraft“ kann hier nicht eingegangen werden; die drei Maximen, besonders die erweiterte Denkungsart, werden vor allem in § 40 dieser Kritik behandelt. Im Interview mit Fest beschreibt sie Eichmanns „Unwillen“ u.a. auf S. 44; schließlich soll auch auf Arendts Vorlesungen „Über Kants Politische Philosophie“ hingewiesen werden, vgl. Arendt, Urteilen, S. 61.
34) Arendt/Fest, S. 12f.
35) Vgl. Stangneth, S. 77.
36) Stangneth, S. 259.
Diese besondere Verbundenheit Arendts zur „deutschen Sprachkultur“ stellte ein spezielles Merkmal nicht nur in ihrer Persönlichkeit dar, sondern war ein Charakteristikum vieler deutscher Juden seit Ende der Aufklärung (besonders in den großstädtischen Milieus im 19. Jahrhundert, wie auch in Königsberg, dem Mittelpunkt von Arendts Familiengeschichte); diese „kulturgeschichtliche“ Verknüpfung der deutschen Juden mit der deutschen „Bildungssprache“ zu kennen, ist notwendig, um deren Wertschätzung des gesamten kulturellen Lebens in Deutschland bis in die 1930er Jahre verstehen zu können; vielen Juden der älteren Generation machte dies sogar eine Flucht aus Deutschland nach 1933 unmöglich.
37) Arendt, Eichmann, S. 232.
38) Bei Arendt/Fest, S. 127f.
39) Arendt, Urteilen, S. 40f.
40) Ronald Beiner, in Arendt, Urteilen, S. 129.
41) Diese längere Passage findet sich bei Rosenmüller, Ort des Rechts, S. 19 – 22.
42) Es gehört ja zu den „Paradoxien“ der „Zivilgesellschaft“ des Dritten Reichs, dass doch relativ große Teile der deutschen Bevölkerung gegen die Euthanasie-Programme (also die massenhafte Tötung insbesondere geistig Behinderter), z.B. die Aktion „Gnadentod“, vernehmlich protestierten, was auch nicht geheim gehalten werden konnte, so dass diese im Sommer 1941 als „Fehlschlag“ abgebrochen werden mussten (vgl. Arendt, Eichmann, S. 198f.). Aber als nahezu zeitgleich die ersten Maßnahmen zur massenhaften Tötung von Juden im Osten (zunächst durch Erschießungskommandos, dann erste mobile Gaswagen und zuletzt die stationären Gaskammern in den Kzs) stattfanden, regte sich keinerlei Protest: Das Töten der Behinderten erfolgte vor der eigenen Haustür, die Judenvergasung mehrere tausend Kilometer weit weg – ein erfolgreicher Verdrängungsmechanismus; aber das (zumindest stillschweigende) Wissen um das „Verbotene“ war trotzdem bei der Mehrheit der Deutschen vorhanden.
43 Im Zusammenhang bei Rosenmüller, S. 111 – 115 (die reductio ad absurdum auf S. 112).
44) Arendt, Eichmann, S. 396.
45) Vgl. Heuer, Arendt, S. 63.
46) Eine vergleichbare Situation wie bei der Verurteilung Rosa Luxemburgs im Februar 1914 vor dem Frankfurter Landgericht; natürlich konnten auch Luxemburgs Kritiker/Gegner aus der inkriminierten Rede, wegen der man ihr (endlich) den Prozess machen konnte, alles mögliche herauslesen, auch das, was schließlich zur Verurteilung ausreichte; aber jeder unqualifizierte Angriff auf Luxemburg fiel auf seinen Urheber zurück: zur Verteidigungsrede Rosa Luxemburgs vgl. Nettl, S. 467 – 472. Ein fundierter Vergleich dieser beiden großen Frauen kann hier leider nicht geleistet werden; jedoch gibt es – neben den vielen unterschiedlichen Aspekten, die ihre Hauptgründe in den abweichenden politischen Theorien haben – auch wichtige Gemeinsamkeiten zwischen Hannah Arendt und Rosa Luxemburg.
Literatur
Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. Hrsg. v. Ronald Beiner, übers. v. Ursula Ludz, München 1985.
Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, erweiterte Taschenbuchausgabe, 17. Aufl., München 2021 (Erstaufl. 1964).
Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, Taschenbuchausgabe 20. Aufl., München 2017.
Arendt, Hannah/ Fest, Joachim: Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe. Hrsg. v. Ursula Ludz u. Thomas Wild, München 2011.
Baumgart, Reinhard: Mit Mördern leben? Ein Nachwort zu Hannah Arendts Eichmann-Buch, in: Arendt/Fest, Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe. Hrsg. v. Ursula Ludz u. Thomas Wild, München 2011, S. 146 – 154.
Beiner, Ronald: Hannah Arendt über das Urteilen, in: Hannah Arendt. Das Urteilen, München 1985, S. 115 – 197.
Henke, Klaus-Dietmar: Die „Banalität“ des Bösen. Hannah Arendt und Eichmann in Jerusalem, in: K.-D. Henke (Hrsg.), Auschwitz. Sechs Essays zu Geschehen und Vergegenwärtigung, Dresden 2001, S. 75 – 80.
Heuer, Wolfgang: Hannah Arendt mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1987.
Heuer, Wolfgang: Politik und Verantwortung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Heft 39/2006, S. 8 – 15.
Holthusen, Hans: Hannah Arendt, Eichmann und die Kritiker, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (VfZ), Jahrgang 13 (1965), S. 178 – 190.
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Berlin u. Libau 1790, 3. Aufl., Berlin 1799 (zahlreiche Nachdrucke).
Mann, Golo: Der verdrehte Eichmann, in: Arendt/Fest, Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe. Hrsg. v. Ursula Ludz u. Thomas Wild, München 2011, S. 113 – 126.
McCarthy, Mary: Ein Dokument ethischer Verantwortung: Zu Hannah Arendts Bericht »Eichmann in Jerusalem«, in: Arendt/Fest, Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe. Hrsg. v. Ursula Ludz u. Thomas Wild, München 2011, S. 127 – 145.
Mommsen, Hans: Hannah Arendt und der Prozeß gegen Adolf Eichmann, in: H. Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, erweiterte Taschenbuchausgabe, 17. Aufl., München 2021, S. 9 – 48.
Nettl, Peter: Rosa Luxemburg, (deutsche Ausgabe) Frankfurt/M. etc. 1968.
Rosenmüller, Stefanie: Der Ort des Rechts. Gemeinsinn und richterliches Urteilen nach Hannah Arendt, Baden-Baden 2013.
Stangneth, Bettina: Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, 2. Aufl., Zürich, Hamburg 2011.
Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, (deutsche Ausgabe) Frankfurt/M. 1986.
Weitere Empfehlungen:
Mertens, Thomas: The Eichmann Trial: Hannah Arendt’s View on the Jerusalem Court’s Competence.
Rosenmüller, Stefanie: Treffen sich Akteur und Zuschauer? Zur Rolle des Richters in Hannah Arendts Urteilstheorie. https://www.hannaharendt.net/index.php/han/article/view/83/132