Eichmann in Jerusalem. Eine Betrachtung in drei Teilen. Teil1 | Teil2 | Teil3
Der Eichmann-Prozess jährt sich 2021 zum 60. Mal. (1). In einigen überregionalen Zeitungen hat es zwar im April 2021 (der ursprüngliche Prozessbeginn war am 11. April 1961) entsprechende Hinweise darauf, teils sogar größere Artikel gegeben, dennoch scheint dieser „Ausnahmeprozess“ im Wesentlichen aus dem Bewusstsein zumindest der deutschen Öffentlichkeit verschwunden zu sein, auf jeden Fall stark an Bedeutung verloren zu haben. Allenfalls hat sich ein Teil des Untertitels von Hannah Arendts „Bericht“ als geflügeltes Wort erhalten: „Banalität des Bösen“. (2)
Diesen Bedeutungsverlust etwas aufzuhalten, soll das Hauptanliegen der auf drei Einzelbeiträge konzipierten Darstellung sein. Hierbei können lediglich im Überblick einige Schwerpunkte beleuchtet werden; etliche andere Aspekte bleiben unerwähnt, sollen aber trotzdem nicht vergessen werden.
Die drei Einzelbeiträge sollen wie folgt konzipiert werden:
- Besondere Aspekte des Eichmann-Prozesses;
- Hannah Arendts Kritik am Prozess und ihr Credo: „Eichmann war von empörender Dummheit“;
- Von Nürnberg nach Jerusalem und zurück nach Deutschland: zur Rezeption eines Strafverfahrens, den enttäuschten Erwartungen und zu aktuellen Ereignissen und Entwicklungen.
A) Besondere Aspekte vor, während und nach dem Prozess des Staates Israel gegen Adolf Eichmann
In diesem ersten Beitrag sollen einige ausgewählte „Merkmale“ (im ureigenen Wortsinne) betrachtet werden, die sonst – mit Ausnahme der spezielleren Fachliteratur – nur am Rande oder gar nicht thematisiert werden.
Analog zu den einzelnen Stadien eines Strafverfahrens, orientiert sich die zeitliche Zuordnung an dem Ablauf, was sich vor, während und nach dem Prozess ereignet hat.
I) Geschehnisse und Ereignisse zu „Eichmann vor Jerusalem“ (3)
1) Um Wiederholungen zu dem früheren Artikel von Christian Hofmann (s. Anmerkung 1) zu vermeiden, soll auf eine ausufernde Darstellung der gesetzlichen Bestimmungen und konkreten Anklagepunkte, die dem Urteil gegen Eichmann zugrunde lagen, verzichtet werden.
Die maßgebliche Rechtsgrundlage, die dem Eichmann-Prozess Legalität und Legitimität verlieh, ist das „Nazis and Nazi Collaborators (Punishment) Law, 5710-1950“, also das Gesetz zur Aburteilung von Nationalsozialisten und ihren Helfern Nr. 5710 vom August 1950.
Der Staat Israel als anerkanntes Völkerrechtssubjekt war gerade erst zwei Jahre zuvor gegründet worden und hatte bereits einen existenzbedrohenden völkerrechtswidrigen Angriffskrieg seiner Nachbarn überstehen müssen. Eine Gefährdungslage, die bekanntlich bis heute anhält. (4)
Trotz dieser schwierigen Ausgangslage waren die gesetzgebenden Körperschaften des jungen Staates Israel in der Lage, strafrechtliche Vorschriften zur Aburteilung von Nationalsozialisten und ihren Helfern zu erlassen. Die israelische Gesetzgebung war unstreitig Ausdruck rechtsstaatlicher Politik, da vom Anspruch auf eigenständige staatliche Souveränität getragen und nach verfassungsmäßigen Grundsätzen befolgt. Mögliche Einwände des Verstoßes gegen das sog. „Rückwirkungsverbot“ konnten daher gleich aus mehreren Gründen nicht verfangen und waren dann im Eichmann-Prozess auch unmaßgeblich (s. weiter unten).
Wichtig zu betonen ist, dass das betreffende Strafgesetz von 1950 kein Ausnahmegesetz oder Einzelfallgesetz (eine sog. „Lex Eichmann“) gewesen ist, sondern auf allgemeine Anwendung ausgerichtet war; denn tatsächlich war zum Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes von 1950 überhaupt nicht klar, ob jemals ein Verfahren gegen Eichmann würde stattfinden können.
Außerdem wurde das Gesetz von 1950 in den elf Jahren vor dem Eichmann-Prozess bereits mehrfach angewendet, also im Regelfall sogar gegen Einwohner Israels: „Eichmann ist also nicht der erste Angeklagte, der in Israel nach dem Gesetz zur Aburteilung von Nazis und ihren Helfern vor Gericht gebracht worden ist.“ (5)
„Das eigentliche Ziel des Gesetzes war, im israelischen Gesetzeswesen ein Instrument zu schaffen, mit dessen Hilfe Personen, die an Verbrechen an den Juden in Europa während der Hitlerzeit beteiligt waren, in Israel vor Gericht gebracht und bestraft werden können.“ (6)
Somit waren die maßgeblichen juristischen Grundlagen längst vorhanden, bevor 1960 und 1961/62 die Vorbereitung, Eröffnung, Durchführung und der Abschluss des Strafprozesses gegen Adolf Eichmann auf der Tagesordnung standen. Hier liegt auch der große Unterschied zu den „Nürnberger Prozessen“ ab Herbst 1945, da hierfür die notwendigen Rechtsgrundlagen (insbesondere das Statut des Internationalen Militärgerichtshofs) erst im Sommer 1945 beschlossen wurden, also nachdem die späteren Angeklagten schon längst von den alliierten Siegermächten gefangen genommen worden waren (allerdings war bereits 1942 die Gründung der United Nations War Crimes Commission beschlossen worden).
Um allerdings den von Israel erhofften Prozess gegen Adolf Eichmann überhaupt durchführen zu können („in absentia“ wäre doch ziemlich unsinnig, zumindest wirkungslos gewesen), musste die anzuklagende Person zunächst einmal der israelischen Gerichtshoheit unterworfen werden.
Von den juristischen Feinheiten abgesehen, dass Eichmann kein israelischer Staatsbürger war, die inkriminierten Taten außerhalb des (späteren) Staatsgebiets und gegenüber Personen, die naturgemäß überhaupt keine israelischen Staatsbürger gewesen sein konnten, begangen worden waren, gab es noch besondere faktische Probleme (die juristischen Feinheiten zumindest ließen sich im Ergebnis auflösen).
Zu diesen faktischen Problemen, die von den israelischen Strafverfolgern und späteren Anklägern nicht ohne Weiteres von selbst gelöst werden konnten, gehörte zunächst ganz besonders, Adolf Eichmann zu finden und ihn anschließend vor Gericht zu bringen.
2) Aufenthaltsort von Eichmann
Wie viele andere Nazi-Größen auch, musste Eichmann, nachdem selbst den fanatischsten Gehirnprothesenträgern unter den Anhängern Hitlers klargeworden war, dass das „Tausendjährige Reich“ schon nach etwas mehr als zwölf Jahren untergehen wird, um jeden Preis versuchen, seine Haut zu retten. Mit dem doch unerwartet schnellen Vorrücken der Roten Armee an der sog. Ostfront mussten nicht nur Wehrmachtsverbände, sondern auch SS-Truppen oft überstürzt den Rückzug antreten; immer mehr Konzentrationslager und die damit zusammenhängenden Verkehrswege (vor allem Eisenbahnstrecken) mussten aufgegeben werden. Die Gaskammern und andere Bauwerke des Todes hatten ausgedient.
Was macht in einer solchen Situation der Hauptverantwortliche für die Judendeportationen?
Adolf Eichmann war in den letzten Monaten vor Kriegsende nicht nur zutiefst deprimiert und dem Alkohol verfallen (weil sein „Infrastrukturprojekt“ jäh gestoppt und aufgegeben werden musste), sondern seine Vorgesetzten im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) hatten Eichmann, den langjährigen Hauptfrachtführer der Todeszüge, selbst aufs Abstellgleis verfrachtet.
Mit Hannah Arendts Worten: „Eichmann verbrachte die letzten Monate des Krieges in Berlin, wo er nichts zu tun hatte – er war kaltgestellt und wurde von den anderen Ressortleitern im RSHA geschnitten, die täglich in sein Dienstgebäude zum Mittagessen kamen, ohne ihn je an ihren Tisch zu bitten. Er machte sich zu tun mit seinen selbstentworfenen Verteidigungsanlagen“. (7)
Die wohl umfangreichste und fundierteste Eichmann-Biografie von David Cesarani beschreibt diesen Zeitabschnitt im Leben Eichmanns wie folgt: „Im Januar 1945 verwandelte Eichmann seine Dienststelle in eine Festung und spielte wieder einmal den militärischen Helden (…). Neben der Organisation des letzten Gefechts kümmerte sich Eichmann um die belastenden Akten des Referats IV B 4 (…). Die Akten wurden entweder sofort verbrannt oder nach Theresienstadt ausgelagert, wo sie einige Wochen später dem Feuer übergeben wurden. Die Spuren der »Endlösung« zu beseitigen, war jetzt eine vordringliche Aufgabe.“ (8)
Dies passte ins allgemeine Bild: „In den letzten Kriegswochen war die SS-Bürokratie hauptsächlich damit beschäftigt, sich mit falschen Ausweispapieren zu versehen und die Aktenberge, die sich in sechs Jahren systematischen Mordens angesammelt hatten, zu zerstören. Eichmanns Abteilung war es gründlicher als anderen gelungen, ihre Unterlagen zu verbrennen“. (9)
Doch trotz dieses fast schon preußischen Arbeitseifers konnten nicht alle belastenden Unterlagen vernichtet werden und vor allem konnten auch Männer vom Schlage Eichmanns den weiteren Verlauf der welthistorischen Ereignisse nicht aufhalten, der erhoffte Endsieg wurde verfehlt:
„Eichmanns Welt ging am 8. Mai 1945 unter. (…) Zuerst kümmerte er sich um seine Familie. (…) Vera Eichmann war in Tränen aufgelöst. Voller Bedauern dachte er später daran zurück, er sich nicht wie andere Mitarbeiter des RSHA die Taschen mit Devisen, Gold und Juwelen vollgestopft hatte, so dass er seiner Familie nichts geben konnte, das ihr über die kommenden unsicheren Zeiten hinweggeholfen hätte“. (10)
Als die amerikanischen Panzer auch die sog. Alpenfestung, wohin sich Eichmann mit den letzten Getreuen zurückgezogen hatte, mühelos eingenommen hatten, war auch ihm die Ausweglosigkeit der gesamten Situation bewusst: „Eichmann entließ die noch unter seinem Befehl stehenden Männer jetzt offiziell und gab jedem aus einer ihm anvertrauten Geldkassette 5000 Reichsmark mit auf den Weg.“ (11)
Eichmann wusste um die Bekanntheit seines Namens und dass er als Kriegsverbrecher gesucht werden würde. Nachdem der allerletzte Auftrag, den Eichmann kurz vor Kriegsende erhalten hatte, eine Art Partisanentruppe zu organisieren, völlig aussichtslos wurde, trennte er sich im Grenzgebiet Bayern/Tirol von seinem Gefolge, zu dem auch noch Faschistenführer aus dem Ausland, die sich ebenfalls auf der Flucht befanden, gestoßen waren und seinen letzten Untergebenen, um sich Richtung Norden durchzuschlagen. (12)
Bei Ulm geriet Adolf Eichmann im Mai 1945 in amerikanische Kriegsgefangenschaft, nachdem er seine SS-Uniform gegen eine Luftwaffenuniform eintauschte und zunächst die Identität eines Obergefreiten annehmen wollte. Schnell wurde ihm bewusst, dass die Verhörmethoden der amerikanischen Spionageabwehr (CIC) seine SS-Zugehörigkeit offenlegen würden, so dass er zunächst als SS-Feldwebel und dann als SS-Offizier namens Otto Eckmann auftrat (Offiziere mussten im Kriegsgefangenenlager bei Weiden/Oberpfalz keine Zwangsarbeit verrichten, so die wohl gängige Interpretation der Haager Landkriegsordnung). Eichmanns Tarnung hielt auch noch, als er ins zweite Gefangenenlager in Franken gebracht wurde: Vom Mai 1945 bis Jahresanfang 1946 schöpfte von den US-Verhörspezialisten niemand Verdacht, wer sich hinter der Fassade des Otto Eckmann tatsächlich verbarg.
Erst als in Nürnberg der Hauptkriegsverbrecherprozess startete und spätestens ab Anfang Januar 1946 in verschiedenen Zeugenaussagen (die Eichmann zwar nicht im Detail kennen konnte, aber ein Hellseher brauchte er nicht zu sein, um die Brisanz der Aussagen abzuschätzen) sein Name und seine Funktion im RSHA in den öffentlichen Verhandlungen genannt und thematisiert wurden, spitzte sich die Lage für Eichmann in der Kriegsgefangenschaft zu.
Man mag es heute kaum noch glauben, wie leicht es für vormalige NS-Größen und besonders für SS-Angehörige in den damaligen amerikanischen Gefangenenlagern in Bayern gewesen sein musste, sich dort unter falschen Identitäten aufzuhalten bzw. abzutauchen. So auch im Falle Eichmanns: „Er suchte den obersten SS-Offizier im Lager auf und enthüllte ihm seinen Namen sowie Rang und Dienststellung. Manche hatten schon vermutet, wer dieser Eckmann in Wirklichkeit war, und jetzt erklärte er in einer »Offiziersbesprechung«, warum er unter allen Umständen verschwinden musste. Aufgrund des Ehrenkodexes unter SS-Offizieren sagten ihm seine »Kameraden« ihre Hilfe zu. Für den Anfang hatte er nur vage Pläne; er sprach davon, sich in den nahen Osten durchschlagen zu wollen, um sich dem Großmufti im Kampf gegen die Juden in Palästina anzuschließen, doch diese Idee gab er angesichts der praktischen Hindernisse rasch auf. Stattdessen wurde er mit einer neuen falschen Identität, gefälschten Papieren und Zivilkleidung ausgestattet, mit denen er sich so lange in Deutschland würde verstecken können, bis sich ihm eine Gelegenheit bot, das Land zu verlassen. Am 5. Februar 1946 brach er aus dem Lager Ober-Dachstetten aus und machte sich auf den Weg nach Süden. Seine neuen Papiere wiesen ihn als Otto Henninger aus …“. (13)
Die perfekt organisierten Verbindungen und Seilschaften ermöglichten Eichmann die Flucht von Bayern nach Hamburg, um von dort in die Lüneburger Heide zu gelangen.
Die Schilderung, wie leicht es doch letztlich Eichmann gefallen war, aus dem amerikanischen Kriegsgefangenenlager auszubrechen und dann in der britischen Besatzungszone abzutauchen, ist nur ein Vorgeschmack, wie die weiteren Geschehnisse um das Untertauchen und die Flucht Eichmanns abliefen.
Von März 1946 bis ins Frühjahr 1950 blieb Adolf Eichmann in einer ziemlich abgelegenen Gegend Niedersachsens, verhielt sich völlig unauffällig, der brave Biedermann:
„Den Behörden fiel Eichmann die ganze Zeit über nicht auf. Es war ein geschickter Schachzug gewesen, sich ein Versteck in der britischen Zone zu suchen, da der britische militärische Nachrichtendienst und die Militärpolizei relativ wenige Leute aufboten, um nach NS-Verbrechern zu suchen. Großbritannien hielt sich bei der Verfolgung von Kriegsverbrechern weitgehend zurück und gab 1949 bekannt, dass man in Westdeutschland keinen von ihnen mehr anklagen werde.“ (14)
Allerdings gab es auch andere Entwicklungen (außerhalb des 1947 gegründeten „Vereinigten Wirtschaftsgebiets“ aus amerikanischer und britischer Zone, sog. „Bizone“), nämlich die damals intensivierte internationale Suche nach SS-Kriegsverbrechern; bekanntester Name dürfte sicher Simon Wiesenthal sein. Man kann vermuten, je mehr das Interesse in den westlichen Besatzungszonen an einer stringenten Verfolgung und strafrechtlichen Ahndung der NS-Verbrechen ca. 1948/49 spürbar nachließ, wurde der Druck auf internationaler Ebene verstärkt.
Die Gründung des Staates Israel gab daher neben der moralischen Stütze auch weltpolitisches Gewicht. Opportunisten und Feiglinge wie Eichmann waren auf jeden Fall gewarnt und aufgeschreckt:
„Wie viele andere flüchtige Nazis folgte Eichmann einer gut ausgebauten »Rattenlinie«, die von Deutschland über Italien nach Argentinien führte. (…) Eichmann war ein später Nutznießer des katholisch-konservativen Schwenks des argentinischen Nationalismus (…). Dieses Ethos verleitete die militärische Elite dazu, eine profaschistische und pronationalistische Haltung einzunehmen. Der künftige Diktator Juan Perón durchlief als junger Offizier eine militärische Ausbildung im faschistischen Italien. (…) Unter Perón vertiefte sich die Verbindung zwischen Argentinien und dem Dritten Reich. (…) Gleichzeitig pflegte er persönliche Beziehungen zu SD-Agenten in Buenos Aires und zu pronationalsozialistischen Mitgliedern der vermögenden und einflussreichen deutschen Kolonie in der Hauptstadt. Im Jahr 1945 machten sich Perón und die Deutschen in seiner Umgebung daran, so viel wie möglich aus den Trümmern des Dritten Reiches zu retten. (…) Ohne die Komplizenschaft der argentinischen Regierung, insbesondere der Präsidialkanzlei, der Einwanderungsbehörde und des Außenministeriums, hätte Fuldner (ein deutsch-argentinischer SS-Offizier, Anmerkung T.F.) nicht so erfolgreich agieren können. Doch eine Reihe von Entwicklungen schuf 1945/46 die perfekte Kräftekonstellation für sein Vorhaben. (…) … als Belohnung dafür wurde dessen Sohn Rudolf (Rudi) anschließend zu Peróns persönlichem Sekretär und Sicherheitschef ernannt. Rudi Freude richtete im Präsidentenpalast ein Informationsbüro ein, das die Ausreise von Nationalsozialisten aus Europa zu organisieren begann. (…) Zusammen riefen sie die Kommission für Humanpotential ins Leben, die als Fassade für die Anwerbung von NS-Technikern und SS-Männern diente. Für die Erledigung der Formalitäten auf der anderen Seite des Atlantiks wurde in Italien die Delegation für argentinische Einwanderung in Europa mit Sitz in Genua gegründet. Gleichzeitig traten die katholische Kirche und der Vatikan in Aktion.“ (15)
Diese als „Rattenlinie“ bekannt gewordene Fluchthelferorganisation hatte beste Kontakte in den Vatikan und andere katholische Hilfsorganisationen; verständlich, dass offizielle Stellen lange Zeit kein Bedürfnis hatten, mit diesen Machenschaften in Verbindung gebracht zu werden.
Aber wenn selbst ein Atheist wie Eichmann mühelos in Kontakt zu den Verbindungsmännern treten konnte, waren diese Seilschaften nicht wirklich geheim. Fest steht, dass Eichmann spätestens Anfang 1950 einen belastbaren Kontakt zu dieser speziellen Fluchthilfe aufgebaut hatte, er dann im Juni 1950 mit gefälschten Papieren in Genua einschiffte und nach Argentinien aufbrach (zusammen mit anderen SS-Angehörigen); Buenos Aires erreichte er knapp vier Wochen später.
Dort funktionierte das SS-Netzwerk wie am Schnürchen: Eichmann erhielt nicht nur Unterkunft und eine berufliche Perspektive zwecks Tarnung, sondern bereits im Oktober 1950 einen argentinischen Personalausweis. Sein neuer Name: Ricardo Klement. Nirgends wurden unangenehme Fragen gestellt oder gab es irgendwelche Hürden; weder in der Zeit, als Eichmann in der Lüneburger Heide untergetaucht war (immerhin beinahe vier Jahre), noch bei seiner Abreise in Italien oder gar bei der Ankunft in Südamerika. Immerhin blieb er dort fast ein Jahrzehnt relativ unerkannt (zumindest für die normale Öffentlichkeit; die Geheimdienste waren da schon besser informiert), er konnte später sogar seine Frau und die Kinder nachholen. Außerdem gab es in Argentinien eine illustre Schar von Ex-Nazis aus ganz Europa, regelmäßige Treffen zwecks Brauchtumspflege inklusive.
„In den fünf Jahren seit Kriegsende war an die Stelle der anfänglichen tiefen Empörung über die Vernichtung der Juden und die NS-Kriegsverbrechen Gleichgültigkeit getreten. Unmittelbar nach Einstellung der Kampfhandlungen hatten Militärpolizeien und militärische Nachrichtendienste nach überlebenden NS-Führern gesucht, um sie vor Gericht zu stellen. (…) Andere Nationalsozialisten wurden aus weniger noblen Gründen gesucht, nämlich um ihr technisches, wissenschaftliches oder nachrichtendienstliches Wissen für sich nutzbar zu machen.“ (16)
Zur Rolle der „Nachrichtendienste“, hier insbesondere die Person Reinhard Gehlens, der nach ihm benannten Organisation im späteren Bundeskanzleramt Konrad Adenauers als Vorläufer des „Bundesnachrichtendienstes“ (BND), und dessen Verflechtung in den gesamten braunen NS-Nachkriegssumpf siehe weiter unten.
3) Enttarnung Eichmanns
Aus den unterschiedlichsten Gründen blieb Adolf Eichmann als Person und sein jeweiliger Aufenthaltsort ganze 15 Jahre unerkannt oder offiziell unauffindbar (so während seiner Kriegsgefangenschaft, vier Jahre in der Lüneburger Heide und fast zehn Jahre in Argentinien): Geradezu eine Einladung für Verschwörungstheorien. Hier sollen aber Fakten zu Wort kommen, daher zumindest noch kurz der Hinweis auf die Tätigkeit der „privaten“ Nazi-Jäger um Simon Wiesenthal, den damaligen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der unermüdlich den Finger in die offenen Wunden legte und dafür genug Gegenwind aus Bonn bekam, und die Einschaltung von israelischen Behörden.
Neben den oben geschilderten Seilschaften, die es Eichmann ermöglichten, lange Jahre unerkannt zu bleiben, war es aber auch sehr oft pures Glück, das einen früheren Zugriff verhinderte. Zunächst war die Person Eichmanns nur relativ wenigen „Eingeweihten“ bekannt, so dass z.B. Wiesenthal und seine Mitstreiter, die zwar eng mit westlichen Nachrichtendiensten verbunden waren, aber formal Einzelpersonen oder private Organisationen verkörperten, erst im Laufe der Zeit von seiner genauen Funktion und Tätigkeit als „Judenreferent“ erfuhren. Dann gab es weitere Hindernisse, z.B. dass zunächst kein Foto des Gesuchten vorhanden war oder Eichmanns Ehefrau erfolgreich die Ahnungslose spielte. Als über Umwege 1946 private Fotografien von Eichmann beschlagnahmt werden konnten, hatten der amerikanische Geheimdienst und auch Wiesenthal zwar ein Bild vor Augen, doch der Mann war ja seit Frühjahr 1946 in Norddeutschland abgetaucht.
Dann erfuhr Wiesenthal Ende 1947, dass Eichmanns Ehefrau bei dem für ihren Wohnort zuständigen Gericht die „Todeserklärung“ Eichmanns beantragt hatte. Er konnte durch rechtzeitige Intervention verhindern, dass das Gericht dem Antrag auf amtliche Todeserklärung stattgab (dieses Verfahren wurde damals von vielen Kriegswitwen gewählt, die keine Kenntnis über den Verbleib ihrer Männer hatten, meist um sich materielle Ansprüche zu sichern); wäre es Wiesenthal nicht gelungen, die amtliche Todeserklärung Eichmanns zu verhindern, wäre wahrscheinlich seinerzeit die „Akte Eichmann“ geschlossen worden, da nur sehr selten noch Verfahren gegen Verstorbene weitergeführt wurden – bei „normalen“ Strafverfahren erfolgt die Einstellung.
Doch im Hintergrund gab es weitere Aktivitäten der Familie Eichmanns:
“Nicht weniger erstaunlich war, dass Vera Eichmann, wenn auch unter ihrem Mädchennamen, von der argentinischen Botschaft in Wien ein Visum erhalten hatte, ohne dass irgendwo Alarm ausgelöst worden war. Obwohl Eichmanns Name auf der Liste der bekannten und gesuchten Kriegsverbrecher stand, fiel keinem österreichischen Beamten und keinem Passkontrolleur in anderen europäischen Ländern der Umzug der Familie auf, zumindest hat niemand, der es vielleicht bemerkt hatte entsprechend gehandelt. Dieser Mangel an Eifer war symptomatisch für die Stimmung seit Ende der vierziger Jahre. (…) Dass ehemalige Nationalsozialisten in Justiz und Polizei der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland die Strafverfolgung von NS-Verbrechern behinderten, dafür hatte man in Israel damals keinen Sinn, und den Westalliierten hätte es nicht gleichgültiger sein können. Inzwischen ging es den Vereinigten Staaten darum, Westdeutschland wieder zu bewaffnen und als Bollwerk gegen die sowjetische Expansion aufzubauen. Als der Kalte Krieg 1950 in Korea zum heißen Krieg wurde, verlor der Zweite Weltkrieg beträchtlich an Bedeutung.“ (17)
Dieses Wegschauen machte die Arbeit für Wiesenthal fast unmöglich, obwohl er 1953 – erneut durch puren Zufall – erstmals von Argentinien als Zufluchtsort Eichmanns erfahren hatte. Unter den alten Kameraden in Argentinien gab es zumindest eine undichte Stelle, die peinliche Enthüllungen erwarten ließ. (18)
Wiesenthals Hinweise und Meldungen gegenüber offiziellen Stellen (in den USA und in Israel) blieben damals unbeachtet:
„Das schwindende Interesse an NS-Verbrechern ermöglichte es Eichmann und seiner Familie, in Argentinien einige Jahre lang in relativer Ruhe zu leben.“ (19)
Ob unter seiner wahren Identität oder unter dem Pseudonym „Klement“, Eichmann war auch nur bedingt bereit, anonym und völlig unauffällig zu bleiben (dazu war auch sein „Mitteilungsdrang“ zu stark):
„Außerdem pflegte Eichmann weiterhin Kontakte zu ehemaligen SS-Männern. Einer seiner engsten Gefährten war Otto Skorzeny, der im Juli 1948 aus Europa geflohen und im folgenden Jahr in Argentinien eingetroffen war. Skorzeny machte Eichmann mit Willem Sassen bekannt, einem halb holländischen, halb deutschen Nationalsozialisten, der in der Waffen-SS gedient und später im Propagandaamt der NSDAP gearbeitet hatte. Sassen, dem in Belgien in Abwesenheit wegen Kriegsverbrechen der Prozess gemacht worden war, hatte (…) sich problemlos ins Milieu der ehemaligen SS-Angehörigen eingefügt. Er wurde Redakteur der für die Kolonie der NS-Emigranten bestimmten Zeitung Der Weg (…). Sassen kannte jeden in der SS-Bruderschaft. Er machte Eichmann mit Josef Mengele bekannt, der auf dem gleichen Weg wie dieser nach Argentinien gelangt war.“ (20)
Die Bekanntschaft zu Willem Sassen sollte sich für Eichmanns Geltungs- und Mitteilungsbedürfnis noch bezahlt machen. Beide entwickelten – unter Mithilfe und Beratung anderer alter Weggefährten – den Plan, Eichmann die publizistische Plattform zu bieten, seine Sicht der NS-Judenpolitik und die Vorgänge, um die Konzentrationslager und die „Endlösung“ zu schildern und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen (die später sog. Sassen-Papiere). Sassen, der ja selbst gewisse „Insidererfahrungen“ hatte, war auch deshalb dafür geeignet, weil er bereits für andere ehemalige SS-Männer als eine Art Ghostwriter tätig geworden war.
Eichmann wollte dieses besondere Renommee nutzen, um die seiner Meinung nach falschen Darstellungen zu seiner Person, wie sie im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess oder auch an anderer Stelle veröffentlicht wurden, zu korrigieren; er fühlte sich „übergangen“, in ein falsches Licht gesetzt. Dies verletzte seine Eitelkeit.
Zum Glück für die Nachwelt wurde Eichmann von dieser geschwätzigen Eitelkeit angetrieben; ohne diesen schon übertrieben ausgeprägten Mitteilungsdrang wäre vielleicht eines der prägnantesten Merkmale von Eichmanns Beteiligung am Völkermord weniger präsent: Die Aussagen Eichmanns in den mit Sassen geführten Interviews belegen deutlich, dass er ein typischer Überzeugungstäter gewesen ist. Nicht das kleine Rädchen im großen Getriebe der NS-Unrechtspolitik gegenüber den Juden (oder auch anderen Völkern, die während des Zweiten Weltkriegs unterjocht wurden), nicht der unbedeutende Befehlsempfänger und von den Nazis getäuschter „Staatsdiener“, sondern ein voll verantwortlicher aktiver Täter, der bezeichnenderweise auch noch besonders stolz auf seine Handlungen gewesen ist. Das Einzige, was ihn tatsächlich am gesamten Holocaust gestört hat, war die – aus seiner Sicht – unvollständig ausgeführte Vernichtung der (europäischen) Juden. Dies ärgerte ihn wirklich und diesem Frust ließ er in den Interviews mit Sassen freien Lauf (allerdings immer stark alkoholisiert).
Zur Frage der Verwendung dieser „Sassen-Papiere“ im Prozess gegen Eichmann siehe unten.
Wie bereits angedeutet, kam es Ende der 1940er Jahre zu einem Abflauen des Interesses an einer wirklich umfassenden Verfolgung und Aufarbeitung des NS-Unrechtsstaates und der daran Beteiligten. Auf alle hierfür maßgeblichen Gründe eingehen zu wollen, würde diesen Beitrag zu sehr aufblähen; zumindest ein Grund für die um sich greifende Mentalität, den berühmten Schlussstrich ziehen zu wollen, waren natürlich die „innerdeutschen“ Verhältnisse und der sich ausbreitende Ost-West-Konflikt. Nach Gründung des „Vereinigten Wirtschaftsgebietes“ (wenn man so will, Vorläufer der späteren BRD) war abzusehen, dass neben der rein ökonomischen Gestaltung der Verhältnisse in den Westzonen auch der „politische Neustart“ konzipiert werden sollte und zwar ganz im Interesse der Westmächte (zunächst völlig unabhängig von „staatsrechtlichen Theorien“ wie der vom Fortbestand des Deutschen Reiches; diese eher akademischen Diskussionen hatten vor allem für die Amerikaner keine wirkliche Substanz). Den drei westlichen Siegermächten kam es im Ergebnis nur darauf an, was ihren geopolitischen Interessen und Vorstellungen am meisten nützte – und das waren stramme Antikommunisten an den Schalthebeln des künftigen Weststaates, also besonders in Bonn. Zuviel moralische „Gefühlsduselei“ war ab einem bestimmten Zeitpunkt wenig nützlich oder gar unerwünscht. Dies war dann die Stunde der „nachträglichen Kriegsgewinnler“ vom Schlage eines Hans Globke, Reinhard Gehlen oder auch der künftigen Spitzen der westdeutschen Industrie und Bankenmacht.
Wer diese Allianzen störte oder gar aktiv dagegen vorging, musste sich auf gehörig Gegenwind einstellen. Hierzu gehörte in der alten BRD vor allem Fritz Bauer; ähnlich wie die privaten Personen und Vereinigungen um Wiesenthal und andere in und außerhalb Israels, war der damalige hessische Generalstaatsanwalt nicht nur besorgt, dass viele Strafverfahren gegen NS- Kriegsverbrecher u.ä. wegen drohender Verjährung erst gar nicht eröffnet werden konnten, sondern dass der große Mantel des Schweigens über den gesamten Zeitraum von 1933 bis 1945 ausgelegt würde (bestimmte Wahlergebnisse bei westdeutschen Landtagswahlen gerade in den 1960er Jahren gaben Bauer offensichtlich Recht). Daher setzte Bauer, der einmal sogar behauptete, dass er, wenn er sein eigenes Arbeitszimmer im Gebäude der Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft verlasse, um den Flur zu benutzen, Feindesland betreten würde (so aggressiv war die Stimmung selbst unter den Staatsanwälten, deren Vorgesetzter Bauer gewesen ist), alles daran, Eichmanns Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen, um ihn wegen seiner Verbrechen anzuklagen.
Bauer wusste natürlich ab einem bestimmten Zeitpunkt, dass ein Verfahren gegen Eichmann in West-Deutschland unmöglich stattfinden könnte, da die Widerstände bei Adenauer im Bonner Kanzleramt viel zu groß waren und eher zu befürchten stand, dass die gesamte Ermittlung bewusst hintertrieben wurde, um im Ergebnis zumindest Eichmann zu schützen (auch wenn in Wahrheit ganz andere Interessen in Bonn und anderswo eine Rolle spielten und Eichmann lediglich Nutznießer dieser Interessenpolitik gewesen ist). Daher war Bauer (immerhin Hessens höchster Staatsanwalt) gezwungen, hart am Rande der Legalität, mit offiziellen Stellen in Israel (eventuell sogar in Ost-Berlin) in Kontakt zu treten: der Vorwurf des Landesverrats stand schnell im Raum! Der damalige hessische Ministerpräsident hielt (im Ergebnis erfolgreich) seine schützende Hand über Bauers extra-curriculare Aktivitäten (beide kannten sich noch aus er Zeit vor 1933, gehörten der gleichen Partei an, als diese noch moralische Werte vertrat).
Aber auch Bauer benötigte wie Wiesenthal Glück und Zufälle, um im Falle Eichmanns weiterzukommen. Einer solchen glücklichen Fügung war es zu verdanken, dass in Buenos Aires ein Sohn Eichmanns mit der Tochter eines deutschen Flüchtlings, der lange vor Eichmann und seinen Spießgesellen und aus ganz anderen Gründen die Heimat verlassen musste, anbandelte. Dabei kamen der Vater und der Verehrer seiner Tochter ins Gespräch und hierbei keimte der Verdacht, wer dessen Vater sein könnte und wo er sich aufhielt. Diesen Verdacht bzw. diese Vermutung schrieb der deutsche Exilant an Bauer im fernen Frankfurt am Main, der sofort die Brisanz dieser Information erkannte. Endlich ein brauchbarer Hinweis bei der Suche nach Eichmann; die offiziellen Geheimdienstauskünfte faselten vom Nahem Osten (die Schnittstelle zwischen dem BND und dem Kanzleramt war ausgerechnet Hans Globke und der Chef des bundesdeutschen Geheimdienstes, Reinhard Gehlen, hatte nicht nur ehemalige SS-Männer in seinen Reihen, sondern sogar einem der engsten Mitarbeiter Eichmanns, einem gewissen Brunner, zur Flucht nach Syrien verholfen; dies alles war den politischen Spitzen in Bonn bekannt und wurde toleriert).
„Bauer fürchtete, dass Exnazis Eichmann warnen könnten, wenn er selbst den Fall weiterverfolgte (…). Deshalb übermittelte er dem israelischen Außenministerium die wichtigsten Fakten. Tatsächlich war (…), der Generaldirektor des Außenministeriums, von der Möglichkeit elektrisiert, dass Eichmann am Leben war und sich in Argentinien aufhielt. [Aber der] Chef des israelischen Geheimdienstes (…) war skeptisch und (…) sagte zu, einen Repräsentanten des Geheimdienstes zu Bauer zu schicken, aber mehr wollte er im Augenblick nicht tun. Bei der Begegnung, die am 6. November 1957 stattfand, gab Bauer seinem Gast die Adresse und erklärte ausdrücklich, dass die Israelis als Einzige willens und in der Lage wären, in Argentinien etwas gegen Eichmann zu unternehmen. Doch die Israelis waren nicht sonderlich an einer Jagd auf Eichmann interessiert, am wenigsten Isser Harel (…). Harel kontrollierte beide Dienste. Und diesem mächtigen Mann war Eichmann, über den er kaum etwas wusste, relativ gleichgültig. In seinen Erinnerungen an den Fall gesteht er selbst ein, dass er sich »nie eingehend darüber informiert« habe, »welche Stelle er in der Nazihierarchie eingenommen und welch entscheidende Rolle er bei der >Endlösung der Judenfrage<, wie die Nationalsozialisten es nannten, gespielt hatte«. Der Mossad besaß weder eine Abteilung, die sich mit der Fahndung nach NS-Verbrechern beschäftigte, noch verfügte er über umfangreiche Informationen über sie, es sei denn, sie waren zufälligerweise in einem arabischen Land aufgetaucht, um dessen Kriegsanstrengungen gegen Israel zu unterstützen. Gerüchten zufolge hatte sich Eichmann in verschiedenen arabischen Ländern aufgehalten. Darüber gab es sogar eine Akte. Da Harel keinerlei Hintergrundwissen besaß, musste er von Null anfangen und legte eine Nachtschicht ein, um das Dossier durchzulesen.“ (21)
Daraufhin wurden zwar 1958 verschiedene „Ermittler“ in Buenos Aires für den Mossad tätig, ihre Ergebnisse waren jedoch äußerst dürftig – der Fall Eichmann wäre erneut beinahe zu den Akten gelegt worden. Wiederum Fritz Bauer hat dann Ende 1959 frischen Wind in die Angelegenheit gebracht, woraufhin sowohl der israelische Geheimdienstchef als auch Ministerpräsident Ben Gurion mit deutlich mehr Engagement ans Werk gingen. Im Frühjahr 1960 wurden endlich Profis eingesetzt, die im März und April genug Beweismittel sammeln konnten, um die Identität Eichmanns und seinen aktuellen Aufenthaltsort in Buenos Aires zweifelsfrei festzustellen.
„Harel selbst traf Anfang Mai ein, um die Gesamtleitung der Operation zu übernehmen. Das war ein ungewöhnlicher Schritt, aber die Konsequenzen der »Operation Eichmann« waren derart weitreichend, dass er es für richtig hielt, vor Ort zu sein, um, wenn nötig, rasche Entscheidungen treffen zu können. (…) Das Team befand sich auf feindlichem Territorium. Auch wenn die Beziehungen zwischen Argentinien und Israel gut waren, war Buenos Aires doch voller Nazis und Nazisympathisanten, und zwar sowohl in der 80 000 Köpfe zählenden deutschen Kolonie als auch, was schlimmer war, in den Reihen der peronistischen Bewegung. Obwohl Perón ein halbes Jahrzehnt zuvor aus dem Amt gejagt worden war, stellten seine Anhänger immer noch eine Macht dar, und viele hingen weiterhin jenem peronistischen Ideologiemix aus Nationalismus, Populismus, Katholizismus und Faschismus an. Selbst wenn die Mission erfolgreich verlief, musste Israel mit einer Gegenreaktion rechnen. (…) Ben Gurion stimmte zu.“ (22)
Nach jahrelangen Bemühungen von im Prinzip „Außenstehenden“ (um ein Wort von Hannah Arendt abzuwandeln: von Menschen zwischen den Disziplinen, wie Simon Wiesenthal und Fritz Bauer) und mehreren vergeblichen Anläufen seitens des israelischen Auslandsgeheimdienstes gelang es am 11. Mai 1960, den über 15 Jahre lang flüchtigen „Judenreferenten“ Adolf Eichmann zu ergreifen.
Bedenkt man, dass es bereits Jahre vorher belastbare Hinweise auf Eichmanns Aufenthalt in Argentinien gegeben hat und dass zumindest Teile der sog. Sassen-Papiere bzw. Auszüge aus den Interviews bestimmten Medien zur Veröffentlichung angeboten worden waren, um schnelles Geld zu machen, kann man die Ergreifung Eichmanns im Mai 1960 nicht als echtes „Husarenstück“ werten – auch wenn (verständlicherweise) in Israel viele überlebende Opfer und Hinterbliebene diese Nachricht feierten und die beteiligten Dienststellen für ihren Einsatz lobten.
In Hannah Arendts Worten: „Nun, in Wirklichkeit scheint es gerade umgekehrt gewesen zu sein: die Geheimagenten hatten ihn nicht »gefunden«, sondern nur aufgegriffen, nachdem sie sich durch Stichproben vergewissert hatten, daß die Information, die sie erhalten hatten, richtig war. Und selbst das wurde nicht sehr fachmännisch gehandhabt, denn Eichmann hatte sehr wohl gemerkt, daß er beschattet wurde“. (23)
Bis zuletzt hätte Eichmann vor dem „finalen“ Zugriff gewarnt werden können, um noch einmal unterzutauchen bzw. sich sonst einer Verhaftung o.ä. zu entziehen. Sowohl in den argentinischen Sicherheitsbehörden als auch bei verschiedensten Geheimdiensten gab es in Bezug auf Eichmanns Person widerstreitende Interessen, die sich zu seinen Gunsten hätten auswirken können, so dass er weiterhin auf freiem Fuß geblieben wäre – wobei allerdings auch eine Liquidierung in Betracht gekommen wäre, wodurch jedoch ein Strafprozess natürlich vereitelt worden wäre.
Exkurs: Zur Rolle des BND
In der Nachkriegszeit, vor allem als der Ost-West-Konflikt (der „kalte“ Krieg) an Fahrt gewann, waren überall die „Nachrichtendienste“ besonders gefragt; die Geheimdienste auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs suchten teils verzweifelt nach Informationen und noch mehr nach Informanten und Spitzeln. Jeder, der sich halbwegs gut verkaufen konnte, fand sein berufliches Auskommen und damit auch ausreichend Schutz vor möglicher Strafverfolgung, falls er doch selbst „Dreck am Stecken“ hatte, wenn er denn etwas für die Geheimdienste anzubieten hatte.
Manchmal genügte schon das Mitwissen um andere Personen, die nach 1945/49 politisch wieder aktiv und erfolgreich wurden. Das war auch die Stunde für Reinhard Gehlen und noch viele andere aus der alten Garde der NS-Spionage (die sog. Abwehr). Auch wenn Admiral Canaris, der langjährige Chef der Auslandsaufklärung, selbst wegen angeblicher Beteiligung am Attentat auf Hitler vom 20.07.1944 von den Nazis hingerichtet worden war, ein echter Widerstandskämpfer oder gar Demokrat war dieser Wilhelm Canaris mit Sicherheit nicht.
Er war fast 25 Jahre in dieses dreckige Geschäft involviert; bereits direkt nach dem Ersten Weltkrieg war Canaris an Aktionen beteiligt, die unter nachrichtendienstliche Geheimhaltung fielen, wie die Umstände der Vertuschung von der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts im Frühjahr 1919 oder der Vorbereitungen zum Kapp-Lüttwitz-Putsch im März 1920.
Wer sich in diesem besonderen Milieu bewegte, musste äußerst skrupellos sein und immer den richtigen Zeitpunkt abschätzen können, wann nämlich ein „Verrat“ nicht als solcher betrachtet, sondern vielmehr noch belohnt wurde (siehe schon Talleyrand, wonach Verrat nur eine Frage des Zeitpunktes sei).
Auch Reinhard Gehlen besaß diese Gabe, zum richtigen Zeitpunkt Wissen zu offenbaren; und zwar so geschickt, dass es dem früheren „Abwehr-Chef“ Canaris alle Ehre gemacht hätte. Gehlen, der sich erst knapp zwei Wochen nach der bedingungslosen Kapitulation vom 8. Mai 1945 den Amerikanern ergeben hatte (solange machte er noch einen auf Werwolf hinter den feindlichen Linien), verstand es außerordentlich gut, sich bei den westlichen Geheimdiensten nützlich zu machen, so dass auch Konrad Adenauer schnell auf ihn aufmerksam wurde und seine speziellen Dienste bzw. „Kompetenzen“ in Anspruch nahm. Noch vor der Gründung der Bundesrepublik war Gehlen schon wieder dicke im Geschäft der Nachrichtendienste. (24)
Im Laufe der Zeit wurde zunächst aus einem Verbindungsbüro dann erst die „Organisation Gehlen“ und schließlich der offizielle Auslandsgeheimdienst „BND“ mit Gehlen als unumschränktem Chef. Dieser westdeutsche Geheimdienst war schnell zum Anziehungspunkt für viele ehemalige NS-Agenten geworden, die ihr oft nur erfundenes bzw. aufgebauschtes „Wissen“ einzusetzen verstanden, um in einer späteren Bundesbehörde Unterschlupf zu finden.
Erst weit nach der Jahrtausendwende hat eine halbwegs unabhängige Studie untersucht, wie stark die Organisation Gehlen und damit automatisch der Bundesnachrichtendienst in den braunen Nachkriegssumpf verstrickt gewesen ist: personell aber auch ideologisch.
Selbst 2008 hat sich der noch BND geweigert, seine Akten zum „Fall Eichmann“ herauszugeben bzw. danach, als ein Gerichtsbeschluss vorlag, wurden fast alle brisanten Informationen „geschwärzt“. Warum man in Pullach (und auch im Bundeskanzleramt unter Frau Merkel, die ja eigentlich keine Freundin ehemaliger Nazis ist) derart auf „Geheimhaltung“ angewiesen zu sein glaubte, ist schon erstaunlich; denn immerhin gab es seit 1952 die Vermutung, dass (nicht nur die amerikanischen Dienste) auch westdeutsche Geheimdienstler genau über Eichmann und seine wahren Aufenthaltsorte Bescheid wussten.
Bettina Stangneth beschreibt in ihrer Darstellung über die Vorgeschichte des Eichmann-Prozesses, dass das Treffen von Simon Wiesenthal mit einem „Briefmarkensammler-Freund“ 1953 nicht so ganz zufällig gewesen sein könnte: Der besagte Baron stand auf der Gehaltsliste mehrerer „Dienste“ (auch bei Gehlen) und es wäre schon ein äußerst merkwürdiger Zufall, dass er zwar dem international bekannten Wiesenthal ein „philatelistisches“ Schmankerl zeigen wollte, aber vom Inhalt des Schreibens (der sich auf Eichmann in Argentinien bezog) überhaupt nichts gewusst hat.
Wiesenthal zumindest hat das Naheliegende gemacht und den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses in New York informiert, damit dieser die Amerikaner anspitzt. (25)
Aber erst im Jahr 2006 haben erstmals zugängliche CIA-Akten Hinweise darauf geliefert, dass Eichmanns Aufenthaltsort der CIA sowie dem BND und damit automatisch auch dem damaligen „Geheimdienstkoordinator“ bei der Bundesregierung, Hans Globke, bereits in den 1950er Jahren bekannt waren; letzterer hat natürlich im eigenen Interesse eine gewisse Untätigkeit walten lassen.
Zur Personalie Hans Globke sei nur auf Hannah Arendt verwiesen. (26)
Adenauer befürchtete, dass seine (weit abstehende) rechte Hand im Kanzleramt durch die möglichen Enthüllungen im Eichmann-Prozess noch stärker bloßgestellt werden könnte (immerhin wurde Hans Globke später in der ehemaligen DDR verurteilt); Gerüchte und teilweise Enthüllungen zu Globkes NS-Vergangenheit kursierten ja bereits in der alten BRD. Einer ziemlich direkten „Einmischung“ von politischer Seite gelang es, Globke aus dem Jerusalemer Verfahren herauszuhalten; der einzige, den Globke interessierte und der ihn gern als Zeuge vernommen hätte, war ausgerechnet Eichmanns Verteidiger Servatius (s.u.).
II) Vorbereitung und Durchführung des Eichmann-Prozesses
Bevor Eichmann aus Argentinien nach Israel herausgeflogen worden konnte, brachten ihn die Mossad-Agenten über eine Woche in Buenos Aires in einer Art „Safe House“ unter und begannen mit ersten Verhören:
„Aharoni ging nach einer Woche zuvor aufgestellten Liste vor. Wegen der enormen juristischen Konsequenzen des Falles hatte der israelische Generalstaatsanwalt die Fragen zuvor persönlich formuliert. Aber zuerst musste Aharoni seiner Gefühle Herr werden. Was ihn in diesem Augenblick am meisten an Eichmann überraschte, war dessen schäbige Unterwäsche. Er begriff plötzlich, dass Eichmann keineswegs ein mit geraubtem Gold finanziertes glamouröses Leben geführt und mit anderen ehemaligen Nazigrößen in der Botschaftsstraße in Buenos Aires verkehrt hatte. Vielmehr war er ein armer, elender, gebrochener Kerl.
»Ich erinnere mich noch genau«, schrieb Aharoni später (…). Ich konnte mir nicht helfen und fragte mich spontan: Ist das wirklich der große Eichmann, der Mann, der über das Schicksal von Millionen meines Volkes entschieden hat?«“ (27)
Im Laufe der folgenden Tage konnten in den Verhören alle wichtigen Vorfragen mit Eichmann geklärt werden, da dieser schnell kooperativ wurde und sogar eine Art Einverständniserklärung abgab, wonach er bei der anstehenden Gerichtsverhandlung in Israel freiwillig teilnehmen und an der Wahrheitsfindung mitwirken werde. Natürlich hatte Eichmann eine andere Auffassung von „Wahrheit“ als die übrigen Prozessbeteiligten und seine wahren Motive wichen von denen der israelischen Justiz stark ab.
Aber – und das gehört zur ganzen Geschichte – im Gegensatz zu den meisten Angeklagten im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess hat Eichmann tatsächlich viele Informationen preisgegeben, die dann als schriftliche Beweismittel in den Prozess eingeführt werden konnten bzw. im Wege des Kreuzverhörs zu Protokoll gegeben wurden; in vielen Punkten hat er natürlich seine eigene Version verbreitet und, gleichsam als roten Faden seiner Verteidigungsstrategie, sich nur als kleinen Befehlsempfänger darzustellen versucht, der lediglich Befehle befolgt habe, auf die er keinerlei Einfluss hatte.
1) Polizeiliche Vernehmungen
Nachdem Eichmann von seinen Entführern nach Israel gebracht worden war, wurden die Verhöre fortgesetzt und vor allem intensiviert. Die Durchführung des weiteren Ermittlungsverfahrens erfolgte von einer eigenen Polizeieinheit, diesem Team gehörten 30 deutschsprachige Polizisten an.
Am umfangreichsten hat ein Polizeioffizier Avner Less (1916 in Berlin geboren) den Beschuldigten vernommen: 35 Tage lang, wobei über 3500 Schreibmaschinenseiten fürs Protokoll entstanden. Diese Fülle an Aus-sagen und Einlassungen von Adolf Eichmann war erstaunlich:
„Die Polizei hatte befürchtet, dass Eichmann alle Anklagepunkte abstreiten oder behaupten könnte, sich an nichts zu erinnern. Doch stattdessen begann er seine Lebensgeschichte zu erzählen (…). Womit lässt sich diese Redseligkeit erklären? Zunächst einmal scheint Eichmann geglaubt zu haben, dass man ihn nur so lange am Leben lassen würde, wie er redete. Nach Less’ Beobachtung war er anfangs trotz der Versicherung, dass man keine Gewalt anwenden und sich an die Rechtsvorschriften halten werde, ein »Nervenbündel«. (…) Less gab sich unberührt, empfand aber eine Mischung aus Mitleid und Verachtung. »Ich spürte seine Angst«, schrieb er später. Zweifelsohne wollte Eichmann reden.“ (28)
Ähnlich wie sein Kollege Zvi Aharoni, der noch in Buenos Aires als erster Eichmann gegenübersaß, hatte auch der Polizeibeamte Less die merkwürdige Erfahrung zu verarbeiten, dass der reale Adolf Eichmann allen Vorstellungen, die man sich von ihm besonders in Israel gemacht hatte, stark widersprach. Besonders auffällig war, dass Eichmann den ihn vernehmenden Polizisten sehr viele Details und auch persönliche Ansichten mitteilte; Hauptmann Less äußerte später, er habe das Gefühl gehabt, eine Art Beichtvater für Eichmann gewesen zu sein. (29) Daher wurde es für alle Vernehmungsbeamten oft eine Gratwanderung, menschliche Gefühle zu bewahren und trotzdem jederzeit professionell zu reagieren. Dies war auch notwendig, um zu verhindern, dass Eichmann mit geschickten Versuchen, die Verantwortung anderen SS-Größen, wie dem Auschwitz-Kommandanten Höß, zuzuschieben (als es z.B. um das Thema der ersten Verwendung von Giftgas ging), seine Taktik verfolgen konnte. Es war sicher nicht immer leicht, Eichmanns „Vernebelungsstrategie“ zu durchschauen.
Vor allem weil er (ob bewusst oder weil er einfach nicht anders konnte) ein „grausiges Deutsch“ sprach: ein Mix aus „oberösterreichisch-berlinerisches Nazibeamtendeutsch“. Das erschwerte sicher auch die Arbeit der Vernehmungsbeamten und auch später der weiteren Prozessbeteiligten, die ja alle – teils sehr gut – deutsch sprachen.
2) Übrige Prozessbeteiligen
Wie in allen zivilisierten Rechtsstaaten sind Anklagevertretung und das erkennende Gericht (meist gibt es mindestens zwei Instanzen, so auch im Verfahren gegen Eichmann) voneinander geschieden und haben auch andere Zuständigkeiten bzw. Kompetenzen. Daher sollen kurz die Vertreter der Staatsanwaltschaft und die beteiligten Richter betrachtet werden. Anschließend der Strafverteidiger von Eichmann und ein aus West-Deutschland als Prozessbeobachter abgestellter Staatsanwalt.
a) Generalstaatsanwalt Gideon Hausner
Die tausenden Seiten an polizeilichen Verhörprotokollen und sonstigen Unterlagen zu sichten und in eine rechtskonforme Anklageschrift zu übertragen, stellte eine große Herausforderung für die Staatsanwälte dar, was im Übrigen schon immer galt (unabhängig ob englisches Fallrecht oder mitteleuropäisch-römisches Gesetzesrecht zu Anwendung kommt). Wenn es sich dann aber auch noch um einen politisch hochbrisanten Fall handelt, können auch für Anklagevertreter ganz besondere Fallstricke erwachsen. Dem leitenden Staatsanwalt in der Strafsache gegen Eichmann musste die weltpolitische Brisanz des Verfahrens von der ersten Sekunde an bewusst sein. Die „rein juristischen“ Komplikationen mussten allerdings ebenfalls mit größter Sorgfalt behandelt werden.
Im Falle Eichmanns kam noch als spezielle Besonderheit hinzu, dass von verschiedenen Seiten die Forderung erhoben wurde, Eichmann vor ein internationales Tribunal zu stellen.
Der federführende Staatsanwalt, Gideon Hausner, 1915 im damals zu Österreich gehörenden Lemberg, also einer deutschsprachigen Region, geboren, war nach der israelischen Staatsgründung zunächst bei der Militärstaatsanwaltschaft tätig, zu einer Zeit, wo Zimperlichkeiten nicht gefragt waren. Hausner wurde erst nach der Ergreifung Eichmanns und dem förmlichen Beginn der Untersuchungen zum Generalstaatsanwalt ernannt, als das Ermittlungsverfahren gegen Eichmann also bereits im Gange war. Das zu erwähnen, kann deshalb von Interesse sein, um zu verdeutlichen, dass im Hintergrund des gesamten Prozesses gegen Eichmann auch immer ein politisches Kalkül mitspielte: Der leitende Chefankläger, quasi der höchste weisungsgebundene Staatsbeamte (im Gegensatz zu formal unabhängigen Richtern), musste die Gewähr bieten, die politische Brisanz des Falles immer im Auge zu behalten. (30)
Außerdem sagte man Hausner auch gewisse Ambitionen für eine politische Laufbahn nach (was dann auch einige Jahre später erfolgte). Einen gewissen Hang, sich in Szene zu setzen, wird man Staatsanwalt Hausner nicht absprechen können, auch wenn man objektiv seine Leistungen in diesem sicher nicht einfachen Verfahren würdigen muss (vor allem, weil sein direkter „Gegenspieler“ weniger der Strafverteidiger, sondern mit Eichmann ein Angeklagter gewesen ist, der sich als äußerst schwierig erweisen sollte). Den Hang zur Theatralik, der beim Chefankläger des Öfteren anzutreffen war, einzudämmen, den Redeschwall des Angeklagten rechtzeitig zu unterbrechen und den Prozess insgesamt nicht ausufern zu lassen, war die Hauptaufgabe des Gerichts.
b) Die Besetzung der Richterbank
Das zuständige Bezirksgericht in Jerusalem bestand aus drei Richtern, die alle noch im Kaiserreich an völlig unterschiedlichen Orten geboren worden waren: in Danzig, Ostfriesland und dem heutigen Sachsen-Anhalt. Zwei von ihnen hatten sogar während der Weimarer Republik Rechtswissenschaften u.a. in Berlin studiert und anschließend promoviert: „deutscher“ ging es ja fast nicht mehr. Lediglich der in Danzig (das ja ab 1919 nicht mehr zum Staatsgebiet des Deutschen Reiches gehörte) geborene Moshe Landau, der Vorsitzende Richter im Eichmann-Prozess, hatte in England studiert, bevor er, wie die anderen beteiligten Richter und der Staatsanwalt, nach Palästina auswanderte und nach der Gründung Israels seine juristischen Qualifikationen in den Dienst des jungen Staates stellen wollte.
Wie die anderen Organe und Dienststellen, die mit dem Eichmann-Prozess befasst waren, hatte auch das Bezirksgericht gleich mehrere Aufgaben bzw. Hindernisse zu meistern. Die „rein juristischen“ Besonderheiten, wie die Frage nach der Zuständigkeit oder des sog. Rückwirkungsverbots (alles Rechtsprobleme, die bereits 1945/46 in Nürnberg eine Rolle spielten), mussten „kunstgerecht“ behandelt werden.
Hilfreich für diese Auslegungsfragen war sicherlich, dass zumindest ein Teil der involvierten Richter ihre Ausbildung auch im kontinental-europäischen Rechtsdenken erhalten hatten. Rechtsphilosophische und -theoretische Grundfragen lassen sich auch tausende Kilometer oder Meilen von den Wirkstätten der europäischen Aufklärung mit rationalen Mitteln lösen.
Die damaligen Richter bzw. Juristen, die in der Rechtspflege des Staates Israel tätig waren, konnten diese Aufgaben erfüllen; leider oft im Gegensatz zu ihren (west-)deutschen Kollegen in den 1950er und 60er Jahren, die noch den „Geist des NS-Rechtssystems“ verströmten.
Aber neben diesen juristischen Grundsatzfragen musste das Gericht, besonders der Vorsitzende Richter, sehr oft eingreifen, um die beiden Protagonisten bzw. Hauptakteure, Staatsanwalt und den Angeklagten, zurückzupfeifen, also für eine sachgerechte Verfahrensleitung zu sorgen. Es sollte von keiner Seite aus zu einem Schauprozess kommen.
c) Eichmanns Strafverteidiger
Die Rolle des lachenden Dritten hätte in diesem wirklich besonderen Verfahren auch durchaus dem Strafverteidiger Eichmanns, Robert Servatius, aus Deutschland zufallen können. Servatius war von den Prozessbeteiligten derjenige mit der meisten Erfahrung in Strafsachen gegen NS-Verbrecher, da er bereits in Nürnberg gleich in verschiedenen Verfahren als Verteidiger bzw. Rechtsbeistand aufgetreten war. Daher kann man ihm sicher eine gewisse Nähe zu Ex-Nazis und ihren Organisationen nachsagen, auch wenn er wohl selbst kein Parteigenosse gewesen ist. Da aus nachvollziehbaren Gründen kein israelischer Rechtsanwalt die notwendige Verteidigung Eichmanns übernehmen wollte, musste also ein auswärtiger Verteidiger bestellt werden, auch wenn dieser keine Zulassung in Israel hatte (was mittels Dispens umgangen werden konnte).
Doch ein derartiger „Mammut-Prozess“ kostet viel Geld – auch für die Vorbereitung und Durchführung der Verteidigung. Eichmann war aber (im wahrsten Sinne des Wortes) nur ein kleines und armes Würstchen. Auch wenn Robert Servatius später versuchte, sein Insider-Wissen als Vertrauter des Angeklagten zu vermarkten (beim Geld findet auch die anwaltliche Schweigepflicht ihre natürlichen Grenzen), das viele Geld für Reise- und Übernachtungskosten, z.B. auch für Zeugenbefragungen aus Eichmanns Umfeld, musste ja irgendwoher kommen. Die möglichen Entlastungszeugen weigerten sich im Regelfall zum Prozess in Israel zu erscheinen; viele wurden ja selbst gesucht. Und die sonst so spendable Bundesrepublik, die laut konsularischen Übereinkommen für den Rechtsbeistand ihrer Staatsbürger im Ausland zu sorgen gehabt hätte, wollte mit Eichmann nichts zu tun haben und weigerte sich (zumindest offiziell).
Um diese Farce zu vermeiden, erklärte sich der Staat Israel bereit, die Kosten des deutschen Strafverteidigers samt Team zu übernehmen; es sollen 20.000 US-Dollar an Servatius gezahlt worden sein. Allerdings gab es wohl noch andere „Geldgeber“, die offiziell nicht genannt werden wollten und den alten Kameraden Adolf Eichmann zumindest finanziell unterstützten. (31)
Auch wenn der schillernde Servatius vor allem bei den Staatsanwälten keine große Gegenliebe fand, gab es zumindest von seiner Seite keine übertrieben schauspielerische Leistungen, um das Gericht zu beeindrucken. Ob er in Wirklichkeit von anderer Seite instruiert worden war, so dass man ihm gegebenenfalls „Parteiverrat“ hätte vorwerfen können, braucht nach über 60 Jahren auch nicht mehr juristisch betrachtet zu werden; allenfalls von Interesse wäre auch heute noch, ob westdeutsche „Dienste“ bzw. amtliche Stellen bei Servatius auf der Matte standen oder sonst wie Einfluss auf seine Anwaltstätigkeit genommen haben.
d) Staatsanwalt Dietrich Zeug aus Deutschland (32)
Quasi als besonderer Prozessbeobachter kam ein hessischer Staatsanwalt, der kurz vorher zur neu gegründeten »Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen« in Ludwigsburg abgeordnet worden war, die sich mit den alten NS-Fällen beschäftigen sollte, nach Jerusalem: Staatsanwalt Dietrich Zeug.
Er hatte zwar überhaupt keinerlei Befugnisse und sollte auch keine Anweisungen ausführen bzw. überbringen, sondern eigentlich die Ohren spitzen, um aus erster Hand Informationen zu sammeln, die den westdeutschen Strafverfolgungsbehörden in ihrem Kampf gegen NS-Verbrecher nützlich sein konnten. Ein Kampf, der bekanntlich über viele Jahre entweder gar nicht oder nur mit angezogener Handbremse geführt worden war. Dementsprechend aufmerksam verfolgte Herr Zeug auch die Aussagen Eichmanns, ob sich etwas Brauchbares für in Deutschland geplante Verfahren ergeben könnte.
„Zeug war mit hohen Erwartungen nach Jerusalem gekommen und wurde von den Kollegen der israelischen Generalstaatsanwaltschaft gut aufgenommen. Den neunundzwanzig Berichten, die er an seine Vorgesetzten in Deutschland schrieb, ist seine wachsende Desillusionierung anzusehen. Bereits aus ersten Unterhaltungen mit den israelischen Staatsanwälten entnahm er, dass wohl einzelnes neues Material, aber »keine grundlegend neuen Belastungen gegen einen noch nicht erfassten Personenkreis« zu erwarten waren. Als guter Kenner der Materie konnte Zeug auf der Basis der in Gideon Hausners Eröffnungsrede aufgeführten Sachkomplexe den Vergleich zu deutschen Ermittlungsverfahren ziehen. Er wies dabei auch kritisch auf Defizite hin, auf Verfahren, die noch nicht eingeleitet oder nicht mit der nötigen Intensität bearbeitet worden waren.“ (33) Im Ergebnis war der deutsche Staatsanwalt unzufrieden und im Hinblick auf mögliche Strafverfolgungsansätze in West-Deutschland sogar desillusioniert.
„Zeug hat in seinen Berichten auf das Hauptproblem des Eichmann-Prozesses hingewiesen: »(…) daß der Prozess zwei nicht miteinander vereinbare Zwecke verfolgt, nämlich einmal die Aburteilung des Angeklagten Eichmann – der nur in einen Teil der Geschehnisse eingeschaltet war – und zum andern eine historische Darstellung aller Geschehnisse«. Die im Gerichtssaal beschriebenen Verbrechen gingen weit über das hinaus, was Eichmann zu verantworten hatte – an einigen Punkten selbst über den Verantwortungsbereich von Heinrich Himmler.
Der Eichmann-Prozess gab, wie gezeigt wurde, nicht nur nicht den Anstoß zu neuen Anstrengungen zur Strafverfolgung von Nazi-Tätern in Deutschland, er eignet sich auch nicht als historische Darstellung, weil er ein verzerrtes Bild der Abläufe entwirft.“ (34)
3) Die wichtigsten Beweismittel
Es wäre illusorisch und für viele Nicht-Juristen sogar abstoßend, hier in diesem Beitrag die Beweisaufnahme nachbilden und erläutern zu wollen. Nicht nur der schiere Umfang, sondern auch die völlig unterschiedlichen Qualitäten einzelner Beweismittel würden einen vertretbaren Rahmen sprengen. Bereits damalige Prozessbeobachter hatten mit entsprechenden Schwierigkeiten zu kämpfen; der eben genannte deutsche Staatsanwalt hatte berufsbedingt eine andere Sicht der Dinge als z.B. eine renommierte philosophische Politikwissenschaftlerin (oder aber politikwissenschaftliche Philosophin) wie Hannah Arendt.
Wie bei jedem Sensationsprozess überschlagen sich zu Beginn die Überschriften in der Presse etc., was nach wenigen Wochen dann regelmäßig nachlässt, insbesondere wenn die Fülle an Details den normalen Mediennutzer geradezu erschlägt. Außerdem war es Segen und Fluch zugleich, dass weite Teile des Verfahrens auf Deutsch ausgetragen wurden, da ja alle Beteiligten, auch wenn nur in der Kindheit, die deutsche Sprache flüssig beherrschten (sogar die normalen Polizeibeamten, die die Verhöre durchführten). Der Nachteil dabei war, dass Eichmann – zumindest im Laufe der Zeit – durch seine scheinbar wirre Argumentation eine gewisse Wirkungsmacht auszuüben schien. Für die Zeugen der Staatsanwaltschaft und die normalen Zuschauer war der „phrasenhafte Auftritt“ des Angeklagten schwer zu ertragen, viele hielten es für »leeres Gerede«. Hannah Arendt hat eine andere Deutung versucht (was ihr viel Kritik einbrachte):
„Dagegen spricht schon die verblüffende Konsequenz, mit der Eichmann trotz seines eher schlechten Gedächtnisses Wort für Wort die gleichen Phrasen und selbsterfundenen Klischees wiederholte (wenn es ihm einmal gelang, einen wirklichen Satz zu konstruieren, wiederholte er ihn so lange, bis ein Klischee daraus wurde), wann immer die Rede auf Dinge oder Ereignisse kam, die ihm wichtig waren. Ob er nun in Argentinien oder in Jerusalem seine Memoiren schrieb, ob er zu dem verhörenden Polizeibeamten sprach oder vor Gericht – was er sagte, war stets das gleiche, und er sagte es stets mit den gleichen Worten. Je länger man ihm zuhörte, desto klarer wurde einem, daß diese Unfähigkeit, sich auszudrücken, aufs engste mit einer Unfähigkeit zu denken verknüpft war. Das heißt hier, er war nicht imstande, vom Gesichtspunkt eines anderen Menschen aus sich irgend etwas vorzustellen. Verständigung mit Eichmann war unmöglich, nicht weil er log, sondern weil ihn der denkbar zuverlässigste Schutzwall gegen die Worte und gegen die Gegenwart anderer, und daher gegen die Wirklichkeit selbst umgab: absoluter Mangel an Vorstellungskraft.“ (35)
Diese akademisch-nüchterne Beschreibung Arendts wurde damals in weiten Teilen der Öffentlichkeit nicht geteilt bzw. man beurteilte Eichmanns Auftreten unter anderen Gesichtspunkten, besonders weil der Eindruck entstand, dass er es darauf ankommen lassen würde, sich zu inszenieren:
„Auch wenn Eichmann immer wieder behauptete, sich nicht für das »Rampenlicht« zu interessieren, so zeigt sein Verhalten eindeutig, wie sehr ihn Öffentlichkeit faszinierte. (…) Seine Vorliebe für inszenierte Auftritte und sein Wunsch, der Nachwelt etwas zu hinterlassen und nicht nur im Morden Geschichte zu schreiben, waren nicht erst eine Reaktion auf das Exil. In Argentinien jedoch kamen drei Umstände hinzu, die ihn noch mehr motivierten: Erstens erschienen ab 1955 die ersten Publikationen zur Judenvernichtung, die er als »gegnerische Literatur« und wie die vielen Zeitungsartikel als Provokation auffasste, zweitens hatte der Weltanschauungskrieger nach dem Untergang des »Dritten Reiches« nur noch eine Waffe, und das war das Schreiben, die Öffentlichkeit, und drittens fand er das erste Mal Menschen, die genau diesen Kampf mit dem Stift in der Hand fortsetzten, über einen Verlag verfügten und – vor allem – an seinem Wissen interessiert schienen: Willem Sassen und Eberhard Fritsch.
Dass der Dürer-Verlag genau besehen ein sehr kleiner improvisierter Haufen war, (…) war einem Neuling auf dem Buchmarkt wie Adolf Eichmann offensichtlich nicht bewusst. (…) Aus seiner Perspektive muss es jedenfalls ungeheuer beeindruckend gewesen sein, wie sehr der Weg in die rechte Publikationsszene eingebunden war: Sassen kannte nicht nur Perón (…). Hans-Ulrich Rudel schrieb nicht nur Memoiren und kleine Texte, sondern kandidierte für eine deutsche Partei, (…) und sogar der Mufti ließ grüßen. (…) Für Eichmann muss der Gedanke, Teil dieser gefürchteten Gruppe zu werden, unwiderstehlich gewesen sein.“ (36)
Dies erklärt Eichmanns Begeisterung, an den Interviews mit Sassen teilzunehmen bzw. das Buchprojekt umzusetzen. Er wollte sich nicht nur „reinwaschen“, sondern auch noch eine Botschaft (möglicherweise auch eine Art Vermächtnis) hinterlassen. Wenn man diese „Vorgeschichte“ zur Redseligkeit oder gar Geschwätzigkeit von Eichmann kennt, wird auch sein Auftreten in Jerusalem zumindest etwas verständlich: Obwohl sonst ein Gehirnprothesenträger wie aus dem Bilderbuch, reifte bei Eichmann die Vorstellung, den Prozess gegen sich als (letzte Möglichkeit für) eine Bühne zur Selbstdarstellung und -vermarktung zu machen. Daher auch sein teils ziemlich arrogantes, zumindest scheinbar vor Selbstbewusstsein sprühendes Auftreten im Prozess, besonders während der Kreuzverhöre (als dramaturgisches Schauspiel mit dem Staatsanwalt).
Somit war nicht nur viel Geduld beim Zuhören von Eichmanns Phrasen und „Textbausteinen“ während der Verhandlungen gefragt, sondern auch ein waches Ohr für „Dichtung und Wahrheit“. Hier setzte die besondere Fähigkeit der Richter ein, die in der ziemlich langen Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnisse juristisch zu bewerten; sprich den Sachverhalt, wie er im Prozess zur Sprache gekommen war, unter die maßgeblichen „Tatbestandsmerkmale“ der einschlägigen Rechtsvorschriften zu subsumieren.
Die schier unendlichen Verhörprotokolle, aber auch Eichmanns eigene Aufzeichnungen (eine Art Memoiren, die er während der Haftzeit verfasste) und besonders die Sassen-Interviews (oder auch als „Argentinien-Papiere“ bezeichnet) mussten aufmerksam durchgegangen werden. Dabei kam es schon beinahe zwangsläufig zu langwierigen Diskussionen zwischen Eichmann und dem Gericht über Inhalt und Verwertbarkeit der Sassen-Interviews. Sobald aus den Aufzeichnungen, die dem Gericht allerdings auch nur unvollständig vorlagen, Eichmanns Aussagen wörtlich zitiert werden sollten, und diese ein äußerst schlechtes Bild auf ihn warfen, stellte der ehemalige Obersturmbannführer aber so richtig auf stur: Ein besonders prägnantes Beispiel bot die Verhandlung am 13.07.1961.
An diesem Verhandlungstag wurde aus den Interviews mit Sassen eine Passage verlesen, wo Eichmann sein Bedauern zum Ausdruck brachte, dass nicht alle (zumindest laut einer Statistik) bekannten 10,3 Millionen Juden getötet worden waren; denn – so der überlieferte Wortlaut – „»dann wäre ich befriedigt und würde sagen, gut, wir haben einen Feind vernichtet.«“ (37)
Es hat sich bei dem Zitat um eine Abschrift, nicht um das Originaltonband gehandelt, das in Jerusalem nicht verfügbar war (und außerdem in miserabler Tonqualität), die nachträglich von Sassen erstellt wurde – im Regelfall von Eichmann aber redigiert bzw. freigegeben. Doch einen hundertprozentigen Echtheitsnachweis konnte die Anklage nicht erbringen, daher Eichmanns heftiges Abstreiten. Er wusste, dass zu diesem Zeitpunkt kein anderer Teilnehmer an besagten Interviews die Authentizität bestätigen konnte.
„Gideon Hausner allerdings konnte das 1961 nicht beweisen. Er musste hilflos hinnehmen, dass Eichmann alles abstritt: »Nein, das habe ich nicht gesagt«, behauptete er mit fester Stimme nicht ohne Empörung über die vermeintliche Unterstellung. (…) Eichmann … erklärte seine erschreckendste Nachkriegsaussage dreist zu einem Stück »Dichtung«. Es sollte siebenunddreißig Jahre dauern, bis man eindeutig beweisen konnte, dass Eichmann gelogen hatte, weil erst 1998 jeder selber hören konnte, welcher Ton in Argentinien tatsächlich geherrscht hatte.“ (38)
Bedenkt man, dass diese Verlesung aus der Abschrift der Argentinien-Papiere in einem öffentlichen Kreuzverhör vor vollem Saal im Bezirksgericht von Jerusalem stattfand, somit alle Verfahrensbeteiligten und eine Vielzahl an Zuschauern dieses „Schauspiel“ miterlebten (auch viele der privaten Zuschauer konnten ja deutsch), kann man sich vielleicht ansatzweise die Empörung, die seinerzeit herrschte, vorstellen. Dennoch war dieser Auszug aus den Sassen-Interviews als Beweismittel nur bedingt tauglich, eine Verurteilung allein hierauf daher ausgeschlossen.
Eichmanns „Masterplan“ vor Gericht, sich als bloßen Befehlsempfänger zu präsentieren, der von der tatsächlichen Mordmaschinerie der Nazis gar nichts wusste (bzw. auch nicht wissen konnte, was mit den Transporten, die er brav organisierte, im Einzelnen geschah), ging zwar nicht auf, war aber nur in kleinteiligen Schritten zu widerlegen; das erklärte die Länge des erstinstanzlichen Verfahrens.
4) Urteil und Vollstreckung
Vom 11. bis 15. Dezember 1961 wurde das Urteil gegen Eichmann in erster Instanz gesprochen bzw. verlesen; der Angeklagte selbst hatte bis zuletzt auf „nicht schuldig im Sinne der Anklage“ bestanden. (39) Er wurde in allen Anklagepunkten für schuldig befunden, daher war das Strafmaß vorgegeben: Todesurteil.
Die von der Verteidigung eingelegte Berufung wurde dann am 29. Mai 1962 vom Obersten Gerichtshof sowohl in Bezug auf den Schuldspruch als auch gegen das Strafmaß verworfen, das Urteil gegen Eichmann war damit endgültig rechtskräftig und konnte dann auch zeitnah vollstreckt werden, nachdem Gnadengesuche vom damaligen Präsidenten Israels abgelehnt worden waren. Neben Angehörigen u.ä. hatten auch bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens um Verschonung des Lebens von Adolf Eichmann ersucht; letztere nicht aus persönlicher Gefälligkeit zum Verurteilten, sondern aus grundsätzlicher Ablehnung der Todesstrafe an sich. Auch an diesem Punkt wird deutlich, wie sehr dieser „Ausnahmeprozess“ Grundfragen moralischer wie (straf-)rechtlicher Natur aufgeworfen hatte.
Die Diskussion dieser elementaren Grundsätze war natürlich mit dem formalen Ende des Strafverfahrens gegen Eichmann bei weitem noch nicht erledigt; einige Aspekte dauern bis heute an.
III) „Eichmann nach dem Prozess“
Welche Reaktionen hatte das Verfahren in Jerusalem ausgelöst? Und, wie wäre ein möglicher Prozess gegen Eichmann in (West-)Deutschland verlaufen? Diese beiden Fragen sollen zum Abschluss des ersten Beitrags behandelt werden.
1) Wie schon angedeutet, hat es bereits im Vorfeld des Jerusalemer Prozesses die Forderung gegeben, Eichmann vor ein internationales Tribunal zu stellen. Dies wurde aus verschiedenen Gründen unterlassen: Wer hätte diesen speziellen Gerichtshof einrichten sollen? Das Statut des Internationalen Militärtribunals, das für die Nürnberger Prozesse eingerichtet wurde, war faktisch ausgelaufen, vor allem war durch den Kalten Krieg die ursprüngliche Besetzung nicht mehr opportun. Wer hätte sich das absehbare Gezänk zwischen Sowjets und US-Hardlinern antun wollen? Ein Vorläufer des „Internationalen Strafgerichtshofs“ (sog. Römisches Statut v. 1998) war 1960/61 nirgends in Sicht, der UN-Vertrag hatte keine selbständige Strafgewalt vorgesehen und die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates hätten sich niemals geeinigt. (40)
Letzten Endes war man auf internationaler Bühne froh, dass die Israelis die „Drecksarbeit“ freiwillig übernommen hatten (daher fiel auch der offizielle Protest Argentiniens wegen der Verletzung der Souveränitätsrechte aufgrund der völkerrechtswidrigen „Entführung“ Eichmanns durch fremde Agenten sehr moderat aus).
Aus ähnlichen Gründen war auch die Adenauer-Regierung froh, dass dieser pikante Prozess im weit entfernten Jerusalem und nicht in der BRD, z.B. in Frankfurt am Main, der Wirkungsstätte Fritz Bauers, stattgefunden hat. Es wurde von westdeutscher Seite nicht einmal versucht, ein Auslieferungsverfahren bei der israelischen Regierung einzuleiten. Aufgrund der sehr oft anzutreffenden Milde bundesdeutscher Strafgerichte (zumindest bis Anfang der 1960er Jahre) in Verfahren gegen NS-Verbrecher konnte sich sogar der Gedanke ergeben, es sei vielleicht aus Gründen der sog. Staatsräson nicht einmal das „Verkehrteste“, den Eichmann-Prozess nicht in (West-)Deutschland stattfinden zu lassen.
2) Bereits im Februar 1963 hat der deutsche Strafrechtsprofessor Jürgen Baumann in einem Beitrag für die Juristenzeitung festgestellt, dass der im Vorjahr in der (west-)deutschen Öffentlichkeit noch vorhandene Eichmann-Schock schon wieder vorübergegangen sei und selbst noch vereinzelt damals in der BRD laufende NS-Verfahren keine besondere Aufmerksamkeit erregten; was er sogar für die juristische Fachliteratur monierte – mit Ausnahme der ausländischen Kollegen. (41)
Schon im August 1961 hatte ein Redakteur im „Rheinischen Merkur“ orakelt, dass in der Bundesrepublik mit Eichmanns Freispruch gerechnet werden könnte, wenn ihm die Richter mangelndes Bewusstsein der Gesetzeswidrigkeit seiner Handlungen zubilligen würden. (42)
Lange Zeit hat es in der deutschen Strafrechtswissenschaft keinerlei Bemühen gegeben, die von Hannah Arendt entwickelten Denkmuster und Beschreibungen von Eichmanns Prozessverhalten zu analysieren. Erst 2009 hat der Strafrechtsprofessor Udo Ebert vor der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig einen Vortrag unter dem Titel „Die »Banalität des Bösen« – Herausforderung für das Strafrecht“ gehalten. Dieser Bericht wurde dann 2010 schriftlich herausgebracht und ist dadurch zumindest etwas bekannter geworden (s. Literaturverzeichnis).
Hatte sich Baumann, noch unter dem Eindruck des jüngst gefällten Urteils, eingangs mit vielen Detailfragen des Jerusalemer Verfahrens, wie der Zuständigkeit oder solchen der Verjährung, auch relativ kritisch beschäftigt, um dann in kurzen Worten die politische Entwicklung nach 1933 zu skizzieren, legte er einen Schwerpunkt auf Eichmanns Hauptentlastungsargument, er habe ja nur Befehle befolgt, auf die er keinen Einfluss hatte (das untergeordnete „kleine Rädchen“). Das Jerusalemer Gericht hatte Eichmanns Berufung auf seinen Beamteneid als keine ausreichende Rechtfertigung für die Greueltaten qualifiziert. Diese Gesichtspunkte des Urteils wurden von Baumann besonders gewürdigt und hervorgehoben, er hat auf die Schwierigkeiten deutlich hingewiesen:
„Außer den prozessualen hat das Urteil des Gerichts eine Fülle von materiell rechtlichen Problemen bewältigen müssen. Es ist bemerkt worden, daß wohl kaum ein Gericht sich einer derartigen Fülle von schwierigsten Rechtsfragen gegenübergesehen hat.“ (43) Dabei kam er aus seiner Sicht bzw. Gesetzesauslegung zum sog. Rückwirkungsverbot zu folgendem Resultat:
„Nach unserer Rechtsauffassung (zu Art. 103 II GG und § 2 StGB) hätte in der Tat ein derartiges Urteil nicht ergehen können. Fraglich erscheint mir jedoch, ob unsere Rechtsauffassung zum Rückwirkungsverbot nicht nur maßgebend, sondern überhaupt gerecht ist.“ (44)
Als verantwortungsbewusster Hochschullehrer hat Baumann diese stur „systematische“, nach reiner Rechtslehre gewonnene Deduktion aus den Grundsätzen des deutschen Strafrechts kritisch hinterfragt und natürlich mit den herrschenden Auffassungen angelsächsischen Rechtsdenkens verglichen. Hier kann Baumann den entscheidenden Ansatz ausmachen, dass das Urteil gegen Eichmann doch rechtmäßig erfolgte und kein Verstoß gegen den Grundsatz „nulla poena sine lege“ vorlag. Auch die weiteren Urteils- gründe, so zur „Täterschaft“, kann Baumann nachvollziehen: „Eichmann war mit Eifer bei der Sache und wir würden uns von der Animustheorie her (die bei derartigen Taten allein taugliches Abgrenzungskriterium zu sein scheint) schon zur Täterschaft bezüglich der begangenen Morde entschließen müssen. In seinem Bereich und als Leiter des Judenreferates im RSHA hatte er auch die Tatherrschaft und den Willen dazu.“ (45)
Zum besonderen Merkmal der Schuld bzw. des Schuldbewusstseins argumentiert Baumann allerdings steif und lehrbuchhaft, wahrscheinlich weil Eichmann hierzu besonders krude Argumente zu seiner Verteidigung vorbrachte, um sein angeblich reines Gewissen zu untermauern.
Zum Schluss seiner Urteilsbesprechung stellt Baumann dann doch fest: „Aus allem ergibt sich, daß Eichmann schuldig war, schuldig vor Gott, aber auch schuldig vor den Menschen und ihren Gesetzen. Er war schuldig eines der schwersten Verbrechen der Menschheitsgeschichte und er ist für dieses Verbrechen zu Recht bestraft worden. Mögen auch die Umstände dieses Prozesses ungewöhnlich gewesen sein und mag auch die Argumentation des Urteils des Bezirksgerichts Jerusalem dem kontinentaleuropäischen Juristen manche Zweifel bereiten, sicher ist, daß „Recht“ gesprochen wurde.“ (46)
Soweit der Kommentar eines deutschen Strafrechtsprofessors Anfang 1963 kurz nach Abschluss des Eichmann-Prozesses; aber vom Ergebnis abgesehen, lässt sich doch bereits damals deutliche Kritik am (west-) deutschen Strafrecht in Bezug auf die Verfolgung von NS-Verbrechen herauslesen.
Auch 2009, als erneut ein Strafrechtsprofessor (eine höchst seltene Ausnahme) die Aufgabe übernimmt, den Eichmann-Prozess zum Gegenstand eines fachlichen Vortrages zu machen, wird das Unbehagen deutlich, dass möglicherweise in der (alten) BRD ein Prozess gegen Eichmann mit einem Freispruch hätte enden können. (47)
Der entsprechende Sitzungsbericht wird von Prof. Ebert unter ausdrücklichem Bezug auf Hannah Arendt eröffnet (Baumann dagegen konnte die fertige Arbeit Arendts damals noch nicht kennen).
Gerade dieses seltene Zeugnis, dass ein deutscher Nachkriegsjurist die Arbeit Arendts unter strafrechtlichen Aspekten betrachtet und bewertet, hat es verdient, im Nachgang zum Eichmann-Prozess thematisiert zu wer-den. Prof. Ebert nimmt – wie schon 46 Jahre zuvor Baumann – eine explizit nüchterne Rolle ein; als Hochschullehrer will er emotionale Bezüge (soweit beim Thema „Eichmann“ überhaupt möglich) vermeiden. Sein Anliegen erstreckt sich auf die Herausforderungen eines derart „monströsen“ Gegenstandes für das deutsche Strafrecht. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist der juristisch-dogmatische Umgang mit dem „Weltanschauungskrieger“ und Massenmörder Adolf Eichmann nicht wirklich einfach!
Wie schon sein Kollege Baumann, beschäftigt sich Ebert mit den grundsätzlichen Merkmalen der strafrechtlichen Zurechnung. In den Mittelpunkt stellt er folgendes Problem:
„Doch wie ist Verantwortlichkeit zu verstehen und Strafbarkeit zu begründen, wenn das subjektive Element fehlt? Um das Problem zu verdeutlichen, müssen wir die moralische Rede von Gut und Böse in die entsprechenden strafrechtlichen Begriffe übersetzen. Eichmann bewirkte objektiv Böses. Das heißt strafrechtlich: Er tat Unrecht. Eichmann handelte dabei mit gutem Gewissen. In der Begrifflichkeit des Strafrechts bedeutet das: Er war sich des Unrechts seiner Taten nicht bewusst, ihm fehlte das Unrechtsbewußtsein. Unrechtsbewußtsein ist notwendiger Bestandteil der Schuld. Ohne Schuld aber keine Strafbarkeit. Nulla poena sine culpa. Dieser Grundsatz, das Schuldprinzip, ist in unserer Verfassung verankert. Ausgerechnet das schwerste Unrecht geht, so scheint es, mit zweifelhafter Schuld einher.“ (48)
Das wird für Laien alles sehr abgehoben und unverständlich klingen, jedoch werden tatsächlich Grundfragen der deutschen Strafrechtsdogmatik aufgeworfen:
„Hannah Arendt war sich dieses Problems bewusst und hat es in ihrem Eichmann-Buch thematisiert. Sie meinte, es dahin lösen zu sollen, dass Eichmanns gutes Gewissen und fehlendes Unrechtsbewusstsein, sein Mangel an bösem Willen und an verbrecherischen Absichten, gleichwohl seine strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht hinderten. (…) Auf der anderen Seite verkannte sie nicht, dass nach modernen Rechtsvorstellungen »ein Unrechtsbewusstsein zum Wesen strafrechtlicher Delikte gehört« und dass es »der Stolz zivilisierter Rechtsprechung [ist], den subjektiven Faktor immer mit in Rechnung zu stellen«. (…) Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters unabhängig von der subjektiven Seite allein an das von ihm bewirkte objektiv Böse anzuknüpfen, wie Hannah Arendt es im Fall Eichmann befürwortete, kann daher nach heutigen, nicht hintergehbaren Maßstäben nicht in Betracht kommen.“ (49)
An dieser Stelle ist jedoch schon besonders darauf hinzuweisen, wie schnell rein theoretische Erörterungen von der Realität überholt werden können; zumindest dann, wenn im Rahmen der Beweisaufnahme im Strafprozess genügend Anhaltspunkte für den „subjektiven“ Tatbestand ermittelt werden (können).
Denn die „Behauptung“, Eichmann habe „reinen Gewissens“ gehandelt, er habe überhaupt nichts Böses gegen die Juden im Schilde geführt, entbehrt schon eines gewissen Realitätssinnes: Selbst wenn 1961 die Authentizität des Sassen-Interviews noch nicht einwandfrei bestätigt war (besonders bei dem Punkt, wo sich Eichmann aufrichtig darüber ärgert, nicht alle Juden erledigt zu haben), hat es doch genügend Nachweise gegeben, dass der Obersturmbannführer nicht nur mit Modeleisenbahnen den Güterzugverkehr nachstellte, sondern aktiv an der Verfolgung von Juden zwecks „Endlösung“ mitwirkte, so während der Zeit in Ungarn.
Daher muss man auch nach sechzig Jahren noch genau hinsehen bzw. hinhören, was Eichmann im Detail gemacht, gesagt oder gedacht hat. Dann wird hinreichend klar, dass vieles nur Blendwerk und Vernebelungstaktik gewesen ist, was Eichmann zu seiner Verteidigung zu Protokoll gegeben hatte.
Dann werden auch etliche Diskussionen zur Frage des Schuldbewusstseins oder zu unterschiedlichen Irrtumslehren (Tatbestands- o. Verbotsirrtum etc.), die theoretisch bei Eichmann vorgelegen haben könnten, schnell hinfällig. Die Richter in Jerusalem haben sich zumindest im Ergebnis von Eichmann nicht auf den Holzweg führen lassen. Doch ändert dies nichts am grundsätzlichen Unbehagen, die die Vorstellung auslöst, dass ein in Deutschland gegen Eichmann geführter Prozess in eine ganz andere Richtung hätte gehen können.
Diese nicht bloß akademischen Gedankenspiele sollten schon ernst genommen werden: Hätte ein in der alten Bundesrepublik etwa um 1960 gegen Eichmann durchgeführter Strafprozess tatsächlich mit einem Freispruch (zumindest wegen Mordes im Sinne des § 211 Strafgesetzbuch) enden können?
Natürlich wäre es ganz besonders entscheidend auf die Begründung angekommen, ob das Gericht z.B. wegen fehlenden Unrechtsbewusstseins oder eines „Tatbestandsirrtums“ im Zweifel für den Angeklagten entschieden hätte.
Aus der Sicht des Jahres 2021 ist diese Frage müßig zu stellen bzw. unter Verweis auf die 2016 insgesamt geänderte Zurechnung von sog. arbeitsteiligen Abläufen in der Struktur und der Verwaltung in den Konzentrationslagern, wie sie der Bundesgerichtshof seitdem vertritt, scheinbar schnell zu beantworten. Doch Ende der 1950er Jahre und noch zu Beginn der 1960er Jahre hätte niemand auf eine todsichere Verurteilung Eichmanns durch ein westdeutsches Strafgericht wetten sollen.
Gerade in der Urteilsbesprechung von Prof. Baumann Anfang 1963 wurden bereits Fragen – gerade zum Komplex von „Täterschaft und Teilnahme“ – aufgeworfen, die damals aber auch heute noch (bzw. immer noch) Probleme machen und auf die der Gesetzgeber nicht (ausreichend) reagiert hat:
„Wie steht es mit den unzähligen anderen Personen, die an der »Endlösung« durch Tun oder Unterlassen mitgewirkt haben? Ist auch der Wachtposten im KZ, die Sekretärin einer Polizeidienststelle, die mit der Erfassung der Juden befaßt war, der Lokomotivführer, Weichensteller usw., der mit dem Transportzug zu tun hatte, der Denunziant Täter vieler Morde? Wie ist es mit den Behörden, die der rechtswidrigen Ergreifung der Juden tatenlos zugesehen haben? Wie ist es mit den Banken, auf deren Konten die Zwangsauswanderer ihr Vermögen einzahlen mußten“. (50)
Das rechtsdogmatische, somit auch rechtspolitische Hauptproblem bei mechanisierten, arbeitsteilig durchgeführten Massenverbrechen, wie der fabrikmäßigen millionenfachen Tötung von Menschen, ist, dass die herkömmlichen Strafrechtslehren in Deutschland versagen.
Diese Erkenntnis ist nun wahrlich nicht neu; höchst bedauerlich ist jedoch, dass weder in der alten BRD noch im wiedervereinigten Deutschland ein politischer Wille vorhanden gewesen ist, für die besonderen Tat- und Tätergruppen im Zusammenhang mit schweren NS-Verbrechen eine strafrechtliche Sonderregelung zu schaffen. Dabei hätten spezifische Delikts- und Begehungsformen, die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme in verschiedenen Facetten und auch eigene Verjährungsregeln getroffen werden können bzw. müssen.
Das Dilemma, dass auch 2020 und 2021 alte Greise und sogar Greisinnen vor Gericht gestellt werden (und zwar vor Jugendstrafgerichten, weil die jeweiligen Angeklagten zum Tatzeitpunkt ab 1943 noch minderjährig waren), wäre zumindest teilweise vermeidbar gewesen, hätte der deutsche Gesetzgeber früher und sachgerechter reagiert.
So ist die jetzige Situation eigentlich für alle Beteiligten, auch für die noch lebenden Opfer bzw. deren Nachkommen, nur noch höchst beschämend und für Öffentlichkeit verwirrend. (51) Denn die Wahrscheinlichkeit, dass über 76 Jahre nach Beendigung möglicher Taten überhaupt noch objektive Beweismittel verwertbar, also auch tauglich sind, ist bedauerlicherweise gering.
Die zu erwartenden Erkenntnisse sind angesichts des Zeitablaufs eher dürftig; von der Frage der jeweiligen persönlichen Fähigkeit von beinahe Hundertjährigen, eventuelles Unrecht auch einzusehen oder gar anzuerkennen, ganz abgesehen; vieles was aus heutiger Sicht ganz klar erscheint, war für Teenager, die in einer Diktatur „sozialisiert“ worden sind, alles andere als offensichtlich oder abwegig. Hier besteht schnell die Gefahr, dass bloß mit Mutmaßungen und Unterstellungen, also rein pauschal, argumentiert wird: Wo ist dann der Unterschied zur Verfahrenspraxis in totalitären Systemen?
Wenn über 76 Jahre nach Ende der NS-Diktatur und der Befreiung von einem Unrechtssystem immer noch Hinterlassenschaften dieses „Systems“ nicht beseitigt sind, muss nach 1945 doch einiges schiefgelaufen sein; rein politisch, aber auch in juristischer Hinsicht. Die besondere Sicht Hannah Arendts auf diese Probleme wird u.a. im noch folgenden Beitrag vertieft. Hier geht es zum zweiten Teil des Beitrages.
Autor: Thomas Fuchs, Assessor iur., Rechtshistoriker
Dieser Artikel besteht aus: Teil 1 | Teil 2 | Teil 3
Anmerkungen
1) Christian Hofmann hat 2004 folgenden Beitrag zum Eichmann-Prozess veröffentlicht: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/der-eichmann-prozess-in-jerusalem-1961/
2) Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen.
3) So der Titel des Buches von Bettina Stangneth, siehe Literaturverzeichnis.
4) Gerade weil es sich bei Israel um einen demokratischen Rechtsstaat handelt, darf eine sachliche Kritik an gewissen Aspekten der dortigen Innenpolitik auch nicht missverstanden werden.
5) Cohen, S. 6.
6) Dito, S. 6f.
7) Arendt, S. 348
8) Cesarani, S. 277 u. 278.
9) Arendt, S. 331.
10) Cesarani, S. 284.
11) Dito, S. 285. Die Höhe des Bargelds wundert nicht, hatten doch verschiedenste NS-Dienststellen gerade noch 1944 in Ungarn u.a. Devisen/Valuta und Wertsachen beschafft. Das Geschäft mit Ausreisepapieren und sog. Zertifikaten florierte in Budapest; auch Eichmann und die Männer vom Sicherheitsdienst kassierten ab.
12) Der wohl letzte unmittelbare Befehl Himmlers an Eichmann erfolgte kurz vor der Einkesselung Berlins durch die Rote Armee und zielte darauf ab, dass Eichmann 100 – 200 prominente Juden aus dem KZ Theresienstadt „evakuieren“ sollte, um sie der in der „Alpenfestung“ residierenden SS-Führung als Faustpfand zu überlassen, falls Himmler mit den Westalliierten in separate Verhandlungen getreten wäre. Die Aufstellung einer „Partisanentruppe“ basierte auf den Phantastereien eines dauerbetrunkenen Kaltenbrunners, der Eichmann in Tirol entsprechende Anweisungen erteilte, die dieser freudig umsetzen wollte, vgl. Cesarani, S. 281f.
Wie Kaltenbrunner und viele andere Nazigrößen, hatte auch Eichmann jahrelang ein echtes Alkoholproblem.
13) Cesarani, S. 288. Eine andere Schreibweise des falschen Nachnamens war „Heninger“.
14) Ders., S. 289.
15) Ders., S. 290 – 292.
16) Ders., S. 297f.
17) Ders., S. 301/302.
18) Vgl. zu den Enthüllungen und wer dahinterstecken konnte, bei Stangneth, Eichmann vor Jerusalem, S. 179f. Eichmann selbst hatte einen Mitreisenden von der Überfahrt nach Argentinien 1950 in Verdacht.
19) Cesarani, S. 303.
20) Ders., S. 307. Josef Mengele, der sadistische SS-Arzt, dürfte dem Namen nach bekannt sein; Otto Skorzeny war einer der zweifelhaften SS-Helden, die vom Regime „gepimpt“ wurden (er war an der „Befreiung“ des italienischen Diktators Mussolini beteiligt, sog. Unternehmen „Eiche“) und wurde noch lange nach 1945 von den alten Kameraden verehrt.
21) Cesarani, S. 314f.
22) Ders., S. 322f.
23) Arendt, S. 353f.
24) Vgl. z.B. Stangneth, Eichmann vor Jerusalem, S. 121.
25) Vgl. hierzu Stangneth, a.a.O., S. 172f.
26) Z.B. im Zusammenhang mit Vertretern der westdeutschen Öffentlichkeit, bei Arendt, S. 89 – 91. Zur Belohnung, dass Globke im Prozess herausgehalten wurde, gab es dann Anfang 1962 Wirtschaftshilfe.
27) Cesarani, S. 325 und besonders S. 326.
28) Cesarani, S. 342f. Die anfängliche Beschreibung Eichmanns als „Nervenbündel“ beruhte auch darauf, dass dem starken Raucher Eichmann einfach der Nikotin fehlte. Nachdem er genug Zigaretten erhalten hatte, legte sich seine Nervosität spürbar und er gewann im Laufe der Zeit immer mehr an Selbstbewusstsein. Bei Hermann Göring war es ähnlich; als starker Morphinist litt er die erste Zeit seiner Gefangenschaft unter kaltem Entzug, als diese körperlichen Erscheinungen vorüber waren, erholte sich Göring insgesamt und wurde im Laufe des Sommer/Herbst 1945 bei den Verhören immer aufmüpfiger.
29) Vgl. Arendt, S. 102.
30) Im Hintergrund gab es unstreitig zumindest informelle Absprachen zwischen Bonn und Jerusalem, die weit über das grundsätzlich freundschaftliche Verhältnis zwischen Ben Gurion und Konrad Adenauer hinausgingen: neben „Wirtschaftshilfe“ ging es auch um Unterstützung gegen Israels „äußere Feinde“ in der arabischen Welt. Bei derart komplexen Beziehungen und Interessenlagen nimmt man es zur Not auch in Kauf, dass die Wahrheitsfindung in einer ohnehin politisch brisanten Strafsache zurückstehen muss. Ähnliche Konstellationen gab es auch in bundesdeutschen Strafsachen mit politischen Dimensionen, sei es in den RAF-Prozessen oder auch im NSU-Komplex (wo bestimmte V-Mann-Aktivitäten oder Verbindungen zu staatlichen Stellen bis hin zu Polizeibehörden vertuscht werden sollten). Angeschmiert sind in derartigen Situationen immer die Opfer u. ihre Hinterbliebenen, denen aus taktischen Gründen die Wahrheit vorenthalten wird.
31) Der Spiegel hatte bereits im Oktober 1960 (als noch das Ermittlungsverfahren lief) in einem Artikel die Frage nach den „Sponsoren“ aufgeworfen. Die seinerzeit kolportierten Namen und Firmen hatten auf jeden Fall alle etwas zu verbergen gehabt und ähnlich wie „Hans Globke“ gab es interessierte Stellen, die auf Diskretion bedacht waren. Einen spannenden Überblick gibt Winkler, siehe Literaturverzeichnis, der auch explizit die Geheimdienste nicht ausspart.
32) Zu diesem besonderen „Gast“ siehe den Artikel von Ruth Bettina Birn im Literaturverzeichnis.
33) Birn, S. 26f.
34) Birn, S. 32. Auf das Problem unterschiedlicher Schwerpunkte und Zielsetzungen von Justiz (konkret: die Arbeit von Strafgerichten), Politik und Geschichtswissenschaft wird an späterer Stelle näher eingegangen.
35) Arendt, S. 125f.
36) Stangneth, Eichmann vor Jerusalem, S. 256f.
37) Zitiert nach Stangneth, »Nein, das habe ich nicht gesagt.«, S. 18.
38) Dito, S. 18f.
39) Vgl. Darstellung bei Hofmann; teilweise deutsche Übersetzung bei Cohen, S. 86ff.
40) Zur inzwischen eingesetzten Entwicklung bei den Fragen der völkerrechtlichen Behandlung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bzw. Völkermord siehe den geplanten dritten Beitrag.
41) Siehe Baumanns Aufsatz lt. Literaturverzeichnis.
42) Vgl. bei Arendt, S. 88.
43) Baumann, S. 118 linke Spalte.
44) Dito, S. 118 rechte Spalte.
45) Ders., S. 119 rechte Spalte.
46) Ders., S. 121 oben.
47) Ebert, Sitzungsbericht (Vortrag) vor der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig am 13.03. 2009, druckfertig am 26.04.2010; zu den konkreten Zweifeln siehe dort S. 25.
48) Ebert, S. 9.
49) Ebert, S. 9, das Arendt-Zitat dort auf S. 10.
50) Baumann, S. 119 rechte Spalte.
51) Zum Prozess gegen den Wachmann im KZ Stutthof s. meinen Beitrag: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/kz-wachmann-prozess-hamburg/
Zum ganz aktuellen Verfahren gegen eine ehemalige 96-jährige Zivilangestellte: https://de.wikipedia.org/wiki/Irmgard_F. Oder: https://www.spiegel.de/panorama/justiz/prozessbeginn-gegen-kz-sekretaerin-irmgard-furchner-die-angeklagte-schweigt-a-b64c3e87-30f0-49e9-ba32-d344d2dc76e4
Literatur
Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, erweiterte Taschenbuchausgabe, 17. Aufl., München 2021 (Erstaufl. 1964).
Baumann, Jürgen: Gedanken zum Eichmann-Urteil, in: Juristenzeitung 1963, S. 110 – 121.
Birn, Ruth Bettina: Staatsanwalt Zeug in Jerusalem. Zum Kenntnisstand der Anklagebehörde im Eichmann-Prozess und der Strafverfolgungsbehörden der Bundesrepublik, in: Einsicht 05, Bulletin des Fritz Bauer Instituts, Frankfurt 2011, S. 26 – 32.
Cesarani, David: Adolf Eichmann. Bürokrat und Massenmörder. Biografie, dt. Ausgabe Berlin 2004.
Cohen, Nathan: Rechtliche Gesichtspunkte zum Eichmann-Prozess, Frankfurt/M. 1963.
Ebert, Udo: Die „Banalität des Bösen“ – Herausforderung für das Strafrecht, Sitzungsbericht der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Band 140 Heft 6, Leipzig 2010.
Hofmann, Christian: Der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961, Link: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/der-eichmann-prozess-in-jerusalem-1961/
Stangneth, Bettina: Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, 2. Aufl., Zürich, Hamburg 2011.
Stangneth, Bettina: »Nein, das habe ich nicht gesagt.« Eine kurze Geschichte der Argentinien-Papiere, in: Einsicht 05, Bulletin des Fritz Bauer Instituts, Frankfurt 2011, S. 18 – 25.
Winkler, Willi: Adolf Eichmann und seine Verteidiger. Ein kleiner Nachtrag zur Rechtsgeschichte, in: Einsicht 05, Bulletin des Fritz Bauer Instituts, Frankfurt 2011, S. 33 – 41.