Vom religiösen Antijudaismus bis zur Endlösung
Zur Geschichte des Antisemitismus
Antisemitismus bzw. Antijudaismus ist ein spezifisches rassistisches Phänomen, das die Menschheit seit mehr als zweitausend Jahren begleitet. Der Begriff des Antisemitismus entstand im 19. Jahrhundert (1879 von Wilhelm Marr geprägt) und bezeichnet den Hass (Feindschaft?) einzelner Menschen oder ganzer Völker gegen die Juden. Das Phänomen ist existent seitdem die Juden außerhalb Palästinas, d.h. in der Diaspora leben. Nach Aufständen der Juden im Jahr 70 n. Chr. gegen die römischen Besatzungstruppen wurde Jerusalem zerstört, die jüdische Bevölkerung getötet oder vertrieben und der jüdische Staat zerschlagen. Die geflohenen Juden assimilierten sich in den folgenden Jahrhunderten in ihren Zufluchtsländern. Allerdings hielten die meisten an der Religion ihrer Vorfahren und ihrem Volkstum fest. Auf diese Weise entstand in vielen Staaten der Welt eine religiöse und ethnische Minderheit bis in die heutige Zeit. Der analytische Blick auf die Geschichte zeigt: Der Antisemitismus begann nicht erst mit dem Nationalsozialismus. Verfolgungen von Juden gab es in großem Ausmaß bereits im Mittelalter. Im Jahr 1096 z.B. wurden in ganz Europa Tausende von Juden getötet und vielerorts ganze jüdische Gemeinden ausgerottet. Diese Pogrome entstanden z.T. aus der christlich-religiösen Überzeugung, die Juden seien die Feinde der Christen. Die Opfer wurden so zu Sündenböcken gestempelt und für damals rational nicht erklärbare Naturkatastrophen, Hungersnöte und Seuchen verantwortlich gemacht. Infolge weiterer Stereotypisierungen wurden Juden als Mörder kleiner Kinder, als Hostienschänder und Brunnenvergifter verleumdet und verfolgt. Als 1348 eine Pest Europa verheerte, stellte man dies als Strafe Gottes dafür dar, dass die Christenheit die Juden noch nicht aus ihrer Mitte entfernt habe. Fortan kasernierte man Juden in gesonderten Stadtteilen, den Ghettos und zwang sie, sich durch besondere Kleidung als Juden zu erkennen zu geben. Das fanatisierte Klima der Kreuzzüge (11.-13. Jahrhundert) trug wesentlich zu dem von der katholischen Kirche bis in die 1960er Jahre offiziell aufrechterhaltenen Vorwurf gegenüber den Juden als „Christusmörder“ bei. Oft hatte der Antisemitismus wirtschaftliche Ursachen. Beispielsweise warf man Juden vor, sich auf Kosten von Nichtjuden zu bereichern. Da es Christen im Mittelalter aus religiösen Gründen versagt war Zinsen zu nehmen, blieben die Geldgeschäfte oft den Juden vorbehalten. Dies führte dazu, dass viele Christen bei Juden verschuldet waren. Die meisten anderen Berufe waren ihnen verschlossen. Aus der Landwirtschaft wurden sie verdrängt, und ein Handwerk konnten sie nicht ausüben, weil sie als Nichtchristen kein Mitglied einer Zunft werden durften. So blieben ihnen nur das Geldgeschäft und der Kleinhandel. In den ersten Reformationsjahren begegnete man in den protestantischen Gebieten den Juden zunächst mit Toleranz. Auch Martin Luther äußerte sich positiv über sie und zeigte ein besonderes Interesse an der hebräischen Sprache. Er hegte die missionarische Hoffnung, die Juden für den christlichen Glauben gewinnen zu können – ein Trugschluss, der einen radikalen Meinungswandel bewirkte. Die Juden erschienen Luther nun als ein Volk, das willentlich Gottes Liebe verschmähte. Noch wenige Jahre vor seinem Tod verfasste er eine Schrift mit dem Titel „Von den Juden und ihren Lügen“. Darin verstieg er sich zu der Forderung, die Synagogen abzubrennen, die Wohnungen der Juden zu zerstören, den Rabbinern das Lehren zu verbieten und den Juden auf jede erdenkliche Weise das Leben schwer zu machen: eine verhängnisvolle antijudaistische Agitationsschrift, denn seitdem haben sich protestantische Judenfeinde immer wieder auf Luther berufen. Nachdem es im 18. Jahrhundert vorübergehend eine Zeit der Toleranz gegenüber Juden gegeben hatte und sie auf allen gesellschaftlichen Gebieten eine gewisse Gleichberechtigung erfuhren, entstand im 19. Jahrhundert vor allem in Deutschland eine neue Welle der Judenfeindschaft. Sie war weniger religiös als vielmehr nationalistisch-rassistisch geprägt. Juden wurden nun als „national unzuverlässig“, als „heimatlose Gesellen“, als „völkisch minderwertig“ bezeichnet. Man forderte die „Reinigung“ des deutschen Volkes von allem Jüdischen. In einer Nation dürfe nur eine Seele sein. Auch die Kirchen waren nicht frei von dieser Judenfeindschaft. Es wurde behauptet, Juden seien im Gegensatz zu den wahren Deutschen ohne jegliche tiefere Religiosität und liefen nur den „Götzen des Goldes“ nach. Auf diesem nationalistisch geprägten Antisemitismus konnten die Nazis später aufbauen, als sie die Vernichtung der Juden planten und durchführten.
Antisemitismus im Dritten Reich
Der Höhepunkt antisemitisch bedingter Verfolgungen wurde in den Jahren 1933-1945 unter der Herrschaft der Nationalsozialisten erreicht. Hitler und die NSDAP propagierten den rassistischen Antisemitismus. Das nationalsozialistische Weltbild ist geprägt durch die Vorstellung des angeblich ständigen Kampfes zwischen der „hochwertigen“ Rasse, den Ariern, und der „minderwertigen“ Rasse, den Juden. Durch Vermischung mit den Juden werde die germanische Rasse verdorben und sei auf lange Sicht zum Untergang verurteilt. „Die Juden sind unser Unglück“ lautete eine von den Nazis verbreitete Parole. Ziel der nationalsozialistischen Politik war es deshalb, die „Reinheit des deutschen Blutes“ zu bewahren bzw. wiederherzustellen. Bei der deutschen Bevölkerung, in der viele Menschen antisemitisch und nationalistisch dachten und fühlten, fanden die Nazis damit breite Zustimmung. Die Feindschaft gegen das Judentum gehörte von Anfang an zum Parteiprogramm der Nationalsozialisten. Nach der Machtergreifung im Jahre 1933 wurden sofort antijüdische Maßnahmen durch die Nazis eingeleitet, ständig verschärft und ausgeweitet. 1933: Boykott aller jüdischen Geschäfte in Deutschland durch die SA. Die Aktionen richteten sich auch gegen jüdische Rechtsanwälte und Ärzte sowie gegen den Besuch von Schulen und Universitäten durch Juden. Jüdische Beamte wurden aus den Ämtern entfernt, Künstler und Schriftsteller und Schriftleiter bei den Zeitungen erhielten praktisch Berufsverbot. 1935: Die „Nürnberger Gesetze“ werden beschlossen und in Kraft gesetzt. Darin heißt es:
- §1: Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes sind verboten. Trotzdem geschlossene Ehen sind nichtig, auch wenn sie zur Umgehung dieses Gesetzes im Ausland geschlossen sind.
- §2: Außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen und artverwandten Blutes ist verboten.
- §3: Juden dürfen weibliche Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes unter 45 Jahren in ihrem Haushalt nicht beschäftigen.
1937: Beginn der „Arisierung“ der Wirtschaft. Die jüdischen Besitzer von Unternehmen und Geschäften werden gezwungen, ihren Besitz meist weit unter Wert an Deutsche zu verkaufen. Viele deutsche Geschäftsleute bereichern sich an jüdischem Eigentum. 1938: Einweisung aller so genannten vorbestraften Juden in Konzentrationslager. Die jüdischen Ärzte verlieren ihre Approbation. Sie dürfen nur noch als „Krankenbehandler“ für Juden tätig sein. Juden müssen ihrem offiziellen Namen die Vornamen „Israel“ oder „Sara“ hinzufügen. „Reichskristallnacht“ am 9./10. 11.: Zerstörung von Synagogen, Geschäften und Wohnhäusern der Juden. Verhaftung von über 26.000 männlichen Juden und Einweisung in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen. Mindestens 91 Juden werden getötet. Juden dürfen keine Kinos, Theater und Konzerte mehr besuchen. 1939: Hitler kündigt vor dem Reichstag im Falle eines Krieges die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Europa an. Deutscher Angriff auf Polen am 1.9., Beginn des Zweiten Weltkriegs. Beginn der Judenverfolgungen und -vernichtungen in allen von deutschen Truppen eroberten Gebieten: in Polen, Rumänien, in Estland, Lettland und Litauen und in der Sowjetunion. 1941: Einführung des Judensterns. Juden über sechs Jahren ist es verboten, sich in der Öffentlichkeit ohne den gelben Judenstern zu zeigen. Juden dürfen ihren Wohnbezirk ohne Genehmigung der Polizei nicht verlassen. 1942: Verbot der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel durch Juden. Weitere Einschränkungen im Laufe des Krieges: Es war Juden verboten, Fernsprecher zu benutzen, Zeitungen zu beziehen, sich auf Bahnhöfen und in Gaststätten aufzuhalten. Radios, andere elektrische und optische Geräte mussten abgeliefert werden. Juden erhielten keine Fleischkarten, keine Kleiderkarten, keine Milchkarten, keine Raucherkarten, kein Weißbrot, kein Obst, keine Obstkonserven, keine Süßwaren. 10/43: Auswanderungsverbot.
Antisemitismus und Holocaust/Shoah
Nach der Machtergreifung im Jahr 1933 begannen die Nationalsozialisten, die jüdische deutsche Bevölkerung durch gesetzliche Verordnungen und Willkürmaßnahmen zu verfolgen und zu terrorisieren. Auf der so genannten „Wannseekonferenz“ am 20.1.1942 beschlossen die Nazis die Deportation und Ausrottung des gesamten europäischen Judentums. Hitler machte damit wahr, was er schon lange als seine Absicht angekündigt hatte und was eigentlich jeder in Deutschland voraussehen konnte, sofern er es sehen wollte. Adolf Eichmann wurde mit der Organisation der „Endlösung“ beauftragt. 1942-45: Beginn der Massenvernichtungen in Auschwitz-Birkenau und anderen großen Vernichtungslagern wie Maidanek, Sobibor, Treblinka, Belzec. In diese (von den Konzentrationslagern zu unterscheidenden) Lager wurden die Menschen jüdischer Herkunft aus dem ganzen Machtbereich des „Dritten Reiches“ nach und nach deportiert, sofern sie nicht schon den Erschießungskommandos der SS-Einsatzgruppen in den eroberten russischen Gebieten zum Opfer gefallen waren. Die absolut genaue Zahl der Opfer lässt sich nicht mehr feststellen. Doch wurden insgesamt wohl in den Jahren 1942 bis 1945 ca. sechs Millionen Juden aus ganz Europa getötet, wie in den NS-Prozessen der Nachkriegszeit festgestellt wurde. Dazu die Aussage des KZ-Kommandanten Rudolf Höß: „… Ich befehligte Auschwitz bis zum 1. 12.1943 und schätze, daß mindestens 2,5 Millionen Opfer durch Vergasung und Verbrennen hingerichtet und ausgerottet wurden; mindestens eine weitere halbe Million starben durch Hunger und Krankheit, was eine Gesamtzahl von ungefähr 3 Millionen Toten ausmacht. Unter den hingerichteten und verbrannten Personen befanden sich ungefähr 20.000 russische Kriegsgefangene. Der Rest umfaßte ungefähr 100.000 deutsche Juden und eine große Anzahl von Einwohnern aus Holland, Frankreich, Belgien, Ungarn, Griechenland und anderen Ländern.“ Zwei Drittel der in Europa lebenden Juden fielen dem Holocaust zum Opfer. An den Folgen dieser Vernichtungsaktion leiden nicht nur die Überlebenden der Vernichtungslager, die die eintätowierte Lager-Nummer zeitlebens mit sich herumtragen. Sehr viele der heute lebenden Juden, deren Familien aus Europa stammen, haben nahe Angehörige unter den Opfern.
Schuldfrage/ Erklärungsansätze
Der Holocaust war in Deutschland auch deshalb möglich, weil die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung Hitlers „strengem Vorgehen“ gegen die Juden zunächst positiv gegenüber stand und es billigte. Die Kirchen blieben stumm, ja sie übernahmen z.T. die Nazi-Rassegesetze und belegten Pfarrer jüdischer Herkunft mit Berufsverbot. Diese Sympathie gegenüber dem judenfeindlichen Gedankengut der Nazis bedeutet nicht, dass die Deutschen in ihrer Mehrheit auch die entsetzliche Vernichtungsaktion gebilligt hätten. Als man das Ausmaß und die Umstände des Holocaust nach und nach erkannte, war es für Protestaktionen längst zu spät. Sich für das Schicksal der Juden zu interessieren oder ihnen gar zu helfen, war lebensgefährlich. Nur einzelne wie z.B. Oskar Schindler oder Raoul Wallenberg fanden dazu den Mut und die Möglichkeit, unter Einsatz ihres Lebens. Als nach Kriegsende die Wahrheit über den Holocaust immer deutlicher wurde, berief man sich weitgehend auf angebliche Unwissenheit, um die Mitverantwortung von sich wegzuschieben. Bis heute finden in der deutschen Bevölkerung auch diejenigen noch Gehör, die behaupten, so schlimm könne alles doch nicht gewesen sein und dass es eine Lüge sei zu behaupten, dass 6 Millionen Juden umgekommen seien (so genannte Auschwitz-Lüge). Die Evangelische Kirche hat am 30. 10.1945 die „Stuttgarter Schulderklärung“ veröffentlicht, in der sie sich zu ihrer Mitverantwortung an den Vorgängen im „Dritten Reich“ bekennt. In diesem Schuldbekenntnis heißt es: „… Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. … Wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ An diesem Bekenntnis wird jedoch kritisiert, dass es nicht konkret die Mitschuld an den Nazi-Verbrechen nennt und mit keinem Wort auf den Holocaust eingeht. Von vielen Christen in der Evangelischen Kirche wurde auch dieses vage formulierte Schuldbekenntnis als zu weit gehend abgelehnt.
Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg
In den westlichen Demokratien hat das abschreckende Beispiel der nationalsozialistischen Politik der Judenvernichtung dazu geführt, dass der Antisemitismus in der Nachkriegszeit abnahm. Dennoch zeigten Umfragen in den achtziger und neunziger Jahren in Deutschland und Österreich, dass 10 bis 15 Prozent der jeweiligen Bevölkerung als überzeugte Antisemiten einzustufen sind, ein weiteres Drittel antijüdischen Ressentiments anhängt. In den neunziger Jahren sind in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und anderen europäischen Ländern und den USA erneut reaktionäre und rassistische Parteien und Gruppen entstanden, die antisemitische Ideologien vertreten und häufig in enger Verbindung zu neofaschistischen Gruppierungen stehen. Nach dem Fall der Mauer nahm die Zahl antisemitischer Übergriffe in Deutschland erneut zu.
Literatur
Arendt, Hannah: Israel, Palästina und der Antisemitismus. Aufsätze. Berlin 1991.
Benz, Wolfgang: Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus, München 2001.
Benz, Wolfgang / Hermann Graml /Hermann Weiß: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997.
Benz, Wigbert / Bernd Bredemeyer / Klaus Fieberg: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. Beiträge, Materialien Dokumente. CD-Rom, Braunschweig 2004.
Blaschke, Olaf: Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich. Göttingen 1997.
Poliakov, Leon: Geschichte des Antisemitismus VII. Zwischen Assimilation und ‚jüdischer Weltverschwörung‘. Frankfurt/M 1979.
Sammons, Jeffrey L.: Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen Antisemitismus – eine Fälschung. Göttingen 1998.
Simmel, Ernst: Antisemitismus. ( Fischer Wissenschaft). Frankfurt/M 2001.
Stern, Frank: Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg. Gerlingen 1991.
Von Braun, Christina / Ludger Heid (Hrsg.): Der ewige Judenhaß, Berlin/Wien 2000.