Der Aufstieg von Massenparteien und Antisemitismus im ausgehenden 19. Jahrhundert
In der als Fin de Siècle bezeichneten Periode des ausgehenden 19. Jahrhunderts erlebte Österreich den Aufstieg zweier zeitgenössisch als modern wahrgenommener Phänomene: politische Massenparteien und Antisemitismus als politisches Stilmittel. Das Aufkommen politischer Massenparteien wurde dadurch begünstigt, dass Cisleithanien, der so von Bürokraten und Juristen betitelte österreichische Teil der k. u. k. Doppelmonarchie des Habsburgerreiches, im letzten Drittel des Jahrhunderts einen Prozess der Konstitutionalisierung und Demokratisierung durchlief. Initiiert durch liberale Vertreter des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums erhielt es im Jahre 1867 eine vergleichsweise moderne Verfassung als Schritt hin zur konstitutionellen Monarchie und modernisierte graduell das traditionelle Kurienwahlrecht. Dieser Transformationsprozess mündete 1907 im allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht für Männer. Dabei führte die Ausweitung des Wahlrechts zur Überwindung des herkömmlichen Systems zweier Honoratiorenparteien von Konservativen und Liberalen. Diese ablösend entstanden drei moderne Massenbewegungen: die Christlichsozialen, die Deutschnationalen, sowie die Sozialdemokraten. Gleichzeitig wurde Österreich mit einer neuen Form des Antisemitismus konfrontiert. Die ursprüngliche klerikale Form, die in den Traditionen des Antijudaismus verwurzelt war, wandelte sich in eine neue, moderne und gefährliche wirtschaftliche Form. Dieser politische Antisemitismus stigmatisierte „die Juden“ als Feinde der Gesellschaft und als Symbole des Kapitalismus, wobei er klerikale, rassische und wirtschaftliche Elemente als Begründung für Judenfeindlichkeit und Diskriminierung miteinander verband.
Der durch die Demokratisierung des politischen Systems ermöglichte simultane Aufstieg der Massenparteien und des politischen Antisemitismus scheinen dabei kausal zusammenhängende Phänomene zu sein. Man könnte das Aufkommen vom politischem Antisemitismus daher als bloßes „Mittel zum Zweck“ der neuen politischen Bewegungen interpretierten, um Stimmen der erweiterten Wählerschaft zu gewinnen. Grundlegend für dieses Verständnis der österreichischen Politik des Fin de Siècle ist die Drei-Lager-Theorie von Adam Wndruszek, die als simplifizierendes methodisches Mittel von einer politischen Eingruppierung in die drei Lager der Christlichsozialen, der Deutschnationalen, und der Sozialdemokraten ausgeht.[1] Die Drei-Lager-Theorie verallgemeinert verschiedene Gruppierungen und basiert auf einer Retroperspektive, die weitere Entwicklungen der österreichischen Republiken im 20. Jahrhundert mit einbezieht. Der folgende Text soll der Frage nachgehen, in welchem Maße Antisemitismus ein Mittel zum Zweck der Generierung neuer Wählerschaften für die neuen Massenparteien Österreichs in der Zeit zwischen den 1870er Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 darstellte. Als Vorgeschichte zu den nationalsozialistischen Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges, die in der Ermordung von Million europäischer Juden im Holocaust kulminierten, ist diese Frage bis heute von Relevanz, schließlich prägten antisemitische Politiker wie Karl Lueger oder Georg von Schönerer in Wien ein judenfeindliches Klima, das Adolf Hitler in jungen Jahren zutiefst beeinflussen sollte.[2]
Der Aufstieg politischer Massenparteien und des politischen Antisemitismus
Nach der Niederlage der Revolution in den Jahren 1848/49 und einer Periode des Neo-Absolutismus (1848-1860) durchlief die Habsburgermonarchie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine signifikante politische Transformation. Als Reaktion auf die militärischen Niederlagen in Solferino (1859) und Königgrätz (1866) wurde 1867 eine verfassungsrechtliche Vereinbarung als Österreichisch-Ungarischer Ausgleich vollzogen, durch die das Kaisertum Österreich in die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn umgewandelt wurde. Der überwiegend deutschsprachige, österreichische Teil Cisleithanien erhielt im gleichen Jahr eine eigene Konstitution, die Dezemberverfassung. Sie stellte die erste österreichische Verfassung dar, die formell vom Parlament und nicht vom Kaiser erlassen wurde.[3] Von da an gestaltete ein Prozess der Konstitutionalisierung und Demokratisierung die politische Landschaft mit einer allmählichen Ausweitung des Wahlrechts neu. Dieser Prozess führte zur Ablösung des traditionellen Zensus- und Kurienwahlrechts, also eines Wahlsystems, in dem die Wahlberechtigung von der Steuerleistung oder dem Bildungsabschluss abhing (Zensuswahlrecht) und auf vier verschiedenen Kurien zugunsten der Aristokratie, des Klerus und der Wohlhabenden beruhte (Kurienwahlrecht), wodurch nur eine sehr geringe Anzahl von Wählern zugelassen wurde. Dieses Wahlrecht wurde 1882 massiv ausgeweitet, als eine Wahlreform in Cisleithanien alle Männern über vierundzwanzig Jahren zur Wahl berechtigte, die mindestens fünf Gulden an direkten Steuern zahlten. Beispielsweise verdreifachte die Reform die Zahl der Wähler in der Hauptstadt Wien. 1907 wurde das Kurienwahlrecht bezüglich des Reichstags endgültig abgeschafft und durch ein allgemeines, gleiches und geheimes Wahlrecht für alle Männer ersetzt. Abgesehen vom Ausschluss der Frauen, die das Wahlrecht erst 1918 erhielten, war somit die Transformation hinzu einem demokratischen System vollzogen worden, auch wenn auf kommunaler Ebene ein auf Kurien basierendes Wahlrecht fortgesetzt wurde. Anfänglich wurde dieser Demokratisierungsprozess von den Liberalen vorangetrieben, einer lose verbundenen Honoratiorenpartei. Sie setzten sich aus Mitgliedern des österreichischen Bürgertums zusammen, die von 1861 bis 1879 die Mehrheit der Abgeordneten im Reichstag stellten. In den letzten zwanzig Jahren des Jahrhunderts erlebten die Liberalen jedoch ihren Niedergang, ihre Spaltung, da sie durch den Aufstieg der antiliberalen politischen Massenbewegungen in Frage gestellt wurden.[4] Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts führte das politische Programm, das die Liberalen gegen die Oberschicht führten, zur Öffnung der Politik für die breiten Massen, die ihre politischen Energien jedoch gegen die Liberalen selbst einrichteten, anstatt sich dem Kampf gegen die Aristokratie anzuschließen. Der Drei-Lager-Theorie von Adam Wandruszka folgend wurde der österreichische Liberalismus gradweise von den drei politischen Lagern der Christlichsozialen, der Sozialdemokraten und der Deutschnationalen ersetzt. Sie alle hatten ihre Wurzeln im politischen Liberalismus und sollten sowohl die Politik der Ersten Republik (1918-1938) und der Zweiten Republik Österreichs (seit 1945) prägen.
Parallel zum Aufstieg der politischen Massenparteien und befeuert durch die internationale Finanzkrise von 1873 wurde der politische Antisemitismus zu einem wesentlichen Bestandteil der neuen österreichischen Politik.[5] Antisemitismus, definiert durch Vorurteile, Feindseligkeiten und Diskriminierungen von Juden aufgrund ihrer Religion und gesellschaftlichen Position, war kein neues Phänomen. In der Habsburgermonarchie, wie auch im übrigen Europa, lassen sich die Wurzeln des Antisemitismus in ihrer klerikalen Version als Antijudaismus bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Im österreichischen Fin de Siècle erreichte der Antisemitismus als politisches Instrument jedoch eine neue Dimension. Er entwickelte sich in den 1870er Jahren und intensivierte sich in den 1880er Jahren, wurde jedoch durch das liberale politische Umfeld, das auf Bürgerrechte, Religionsfreiheit und Gleichheit beharrte, beeinträchtigt. Seinen Durchbruch hatte der politische Antisemitismus in Österreich schlussendlich in den 1890er Jahren. Von den drei Lagern nutzten sowohl die katholischen Christsozialen als auch die Deutschnationalen den politischen Antisemitismus als parteipolitisches Mittel zur Ausdifferenzierung ihrer Politik gegenüber ihren Konkurrenten. Nur die Sozialdemokraten weigerten sich, sich an den Feindseligkeiten gegenüber Juden in Cisleithanien zu beteiligen und versuchten, das Thema Antisemitismus weitestgehend zu ignorieren.[6]
Gründe für den österreichischen Antisemitismus
Historiker*innen haben unterschiedliche Gründe für das Auftreten und die Beständigkeit von Antisemitismus in Österreich herausgearbeitet. John W. Boyer betonte die Bedeutung Wiener Handwerker für die Entstehung des politischen und wirtschaftlichen Antisemitismus, da diese Berufe ausübten, die sich vom angeblich jüdischen Kapitalismus abgehängt fühlten.[7] Anton Pelinka argumentierte, dass der österreichische Antisemitismus auf dem Fehlen jeglicher Art von Nationalismus in Verbindung mit dem Konzept des Habsburgerreiches basierte. „Um diesen Mangel an einer vereinheitlichenden nationalen politischen Kultur auszugleichen, entwickelte Österreich – und insbesondere der deutschsprachige Teil des habsburgischen Österreichs – politische Identitäten und Loyalitäten auf der Grundlage von Klasse, Religion und ethnischer Zugehörigkeit.“ [8] Laut Pelinka wurde der Antisemitismus zu einem entscheidenden Teil dieser alternativen politischen Identitäten. Andere wie Robert S. Wistrich, konzentrierten sich auf die Bedeutung einzelner Personen wie Georg von Schönerer und Karl Lueger für die Entwicklung der spezifischen österreichischen Version des Antisemitismus.[9] Eine Alternative zu all diesen plausiblen Argumenten besteht darin, den Anstieg des politischen Antisemitismus mit dem Aufkommen der Massenparteien in Verbindung zu setzen. Der Antisemitismus wird somit eine politische Strategie. Es stellt ein Mittel zu dem Zweck dar, von einer ständig wachsenden Zahl potenzieller Wähler gewählt zu werden. Dies war besonders im ausgehenden 19. Jahrhundert eine erfolgversprechende neue politische Strategie, da das Wahlrecht auf untere Schichten ausgeweitet wurde, die für stereotypenhafte, volkstümliche und teils rassistische Vorstellungen besonders empfänglich zu sein schienen. In anderen Worten wurde politischer Antisemitismus „ein willkommenes und wirksames demagogische Mittel der Massenbeeinflussung.“[10]
Die Deutschnationalen und der Antisemitismus
Die Deutschnationalen hatten ihre Ursprünge in der liberalen Honoratiorenpartei, radikalisierten sich jedoch, als sich das Scheitern des Liberalismus in der Zeit der konservativen Regierung Taaffe (1879-1893) abzeichnete. Der Ministerpräsident Eduard Taaffe und sein Kabinett galt vielen als zu slawenfreundlich. Dies rief nationalistische Gefühle bei denjenigen Liberalen hervor, die sich in erster Linie als dem deutschen Volke angehörig verstanden. Diese Deutschliberalen forderten eine deutsche Vormachtstellung im Vielvölkerstaat Cisleithanien ein und verfolgten gleichzeitig eine antiklerikale Politik. Die sich daraus entwickelnden Deutschnationalen bildeten keine eine einheitliche Partei, sondern fragmentierte Gruppen und Parteien wie die Deutsche Nationalpartei, die Deutsche Volkspartei und die Alldeutsche Bewegung bzw. Alldeutsche Vereinigung. Manche dieser Gruppen wie etwa die von Georg von Schönerer geführte Alldeutsche Bewegung setzten sich für eine großdeutsche Lösung, also die Vereinigung von „Deutschösterreich“ mit dem Deutschen Reich ein, während andere wie die von Otto Steinwender geführte Deutsche Volkspartei loyal gegenüber der Habsburgermonarchie blieb.
Entscheidend für die deutschnationale Bewegung wurde die Gründung des Deutschnationalen Vereins und die Formulierung des Linzer Programms im Jahre 1882. Anfänglich bestand das Programm aus liberalen und demokratischen Forderungen, wobei Antisemitismus lediglich eine untergeordnete Rolle spielte. Zwei jüdische Österreicher, Victor Adler (der spätere Gründer der Sozialdemokraten) und Heinrich Friedjung, waren bei der Formulierung des Programms beteiligt. Großen Einfluss nahm aber vor allem Georg Ritter von Schönerer, der zur „großen Persönlichkeit“ der deutschen Nationalisten wurde.[11] Bald darauf entwickelte Schönerer starke antisemitische Tendenzen. 1885 wurde daher ein neuer Punkt in das Linzer Programm aufgenommen, als Schönerer „die Beseitigung des jüdischen Einfluss[es] aus allen Gebieten des öffentlichen Lebens“ forderte.[12]
Warum dieser plötzliche Wechsel? In der Tat liegt der Schluss nahe, dass der plötzliche Anstieg des politischen Antisemitismus nach 1882 eine Folge der teilweisen Demokratisierung der österreichischen Politik war, wobei Schönerer in diesem Prozess eine zunehmend dominante Rolle spielte. Von nun an verfolgten Schönerer und seine Anhänger eine rassistische Version des Antisemitismus, die von Schöneres berühmtem Satz geprägt wurde: „Ob Jud ob Christ ist einerlei, in der Rasse liegt die Schweinerei.“[13] Die Bewegung fand Anhänger unter antisemitischen Studierenden und Akademikern wie auch unter Handwerkern. Ihre Version des rassischen Antisemitismus, die Juden als Rasse, und nicht als religiöse Gruppe definierte, wurde von Vordenkern aus dem Deutschen Reich wie Wilhelm Marr beeinflusst. Schönerer und seine „Alldeutschen“ stellten dabei die rassistischste antisemitische Gruppe unter den deutschnationalen Splitterparteien dar. Die Alldeutschen erreichten ihren Höhepunkt der Popularität in den 1880er Jahren, schlossen sich aber nie zu einer Massenbewegung zusammen. Dies lag einerseits an der allgegenwärtigen antihabsburgischen Haltung, und andererseits an der antikatholischen „Los von Rom“-Bewegung, die viele potenzielle katholische Wähler verstörte. Dennoch wurde der Antisemitismus, der von Schönerer und seinen Alldeutschen befürwortet wurde, zu einem wesentlichen Bestandteil der deutschnationalen Ideologie und beeinflusste moderatere Gruppen wie Otto Steinwenders Deutsche Volkspartei. Sie blieb bis zum Ende des Habsburgerreiches politisch aktiv, als der antisemitische Deutsche Nationalverband, der erste größere Zusammenschluss deutschnationaler Parteien, 31 Prozent bei den Reichsratswahlen 1911 in Cisleithanien gewann.[14]
Die rassistische Version des Antisemitismus, die von den Alldeutschen um Schönerer entwickelt wurde, war für diese weit mehr als ein Mittel zum Zweck. Er fußte auf völkisch-rassistischen Vorstellungn der Juden als Feindbild des Deutschtums. Dies galt jedoch als zu radikal, um vom Großteil der österreichischen Gesellschaft akzeptiert zu werden. Letztlich sorgte der rassistische Antisemitismus zusammen mit anderen radikalen (antiklerikalen, anti-habsburgischen) Positionen gar dafür, dass sich die Alldeutschen politisch nicht durchsetzen konnten. Dennoch beeinflusste er gemäßigtere Teile der Deutschnationalen, wie etwa die Deutsche Volkspartei und den Deutschen Nationalverband, für die der politische Antisemitismus ein nützliches Mittel zum Akquirieren von Wählerstimmen blieb.
Die Christlichsozialen und der Antisemitismus
Das zweite politische Lager, das Ende des 19. Jahrhunderts in Österreich entstand, war die konservativ-katholische Bewegung der Christlichsozialen. Zu Beginn war dies eine klerikale Bewegung, die den Modernismus, der durch den Liberalismus und den Kapitalismus repräsentiert wurde, kritisierte. Dabei wurde der wirtschaftliche Antisemitismus, der die Juden als moderne Kapitalisten, und nicht als religiöse Gruppe attackierte, zu einem zentralen Element. Führende Ideologen der Christlichsozialen wie Sebastian Brunner, Albert Wiesinger und vor allem Karl von Vogelsang, der Herausgeber der einflussreichen Zeitung Vaterland, identifizierten Juden mit allen Übeln der modernen Gesellschaft, insbesondere mit dem Liberalismus, Materialismus und Atheismus. Diese Ideologen waren nicht unbedingt rassistische Antisemiten, die die jüdische Religion verteufelten. Stattdessen richtete sich ihre Kritik gegen säkularisierte Juden als Vertreter des Kapitalismus und Materialismus. Der Wiener Karl Lueger wurde zum führenden Politiker der Christlichsozialen. 1893 gründete er die Christlichsoziale Partei in der Tradition vorheriger Gruppierungen wie den Vereinigten Christen und dem Christlichsozialen Verein. Auch wenn Kaiser Franz Joseph versuchte, dies zu verhindern, hatte Lueger von 1897 bis 1910 das Amt des Bürgermeisters von Wien inne und wurde zu einem der einflussreichsten Politiker des Habsburgerreiches.[15]
Auf Karl Luegers Weg ins Amt wurde Antisemitismus zu einem nützlichen Instrument, um die Unterstützung von Teilen des Wiener Bürgertums wie etwa von Handwerkern, Studenten und Geistlichen zu gewinnen. Für Lueger und seine Partei blieb der Antisemitismus als politische Strategie unverzichtbar, solange er dazu beitrug, dass er zusätzliche Wählerstimmen generierte. Im Amt angekommen ließ die vorher in zahlreichen Hasstiraden präsente Judenfeindlichkeit bei Lueger nach. Er selbst war sich seines bemerkenswerten Opportunismus bewusst, so soll er in einem Interview geäußert haben: „Ja, wissen S’, der Antisemitismus is’ a sehr gutes Agitationsmittel, um in der Politik hinaufzukommen; wenn man aber amal oben ist, kann man ihn nimmer brauchen; denn dös i[s’] a Pöbelsport!“[16] Im Nachhinein wurde in Frage gestellt, ob Lueger persönlich etwas gegen Juden gehabt habe, als politisches Feindbild stellten sie für ihn jedoch ein demagogisches Mittel par excellence dar. Ein sozialdemokratischer Gegner Luegers attestierte ihm daher im Jahre 1900, er habe „die Demagogie zur Zunft“ erhoben.[17] Diese Demagogie beeinflusste auch folgende Generationen und sollte nachhaltigen Schaden anrichten. So schrieb Adolf Hitler in Mein Kampf über Karl Lueger: „Heute sehe ich in dem Manne mehr noch als früher den gewaltigsten deutschen Bürgermeister aller Zeiten.“
Nicht nur der Parteivorsitzende Lueger, sondern auch weitere Vertreter der Christlichsozialen nutzten den Antisemitismus als Mittel zum Zweck, wie eine Aussage der Parteizeitung Reichspost 1886 illustrierte: „Nachdem jedoch der Antisemitismus zur Entwicklung und Machterweiterung der christlichsozialen Partei wesentlich beigetragen hat, wird bei politischen Aktionen auch fernerhin an diesem rückschrittlichen Prinzip festzuhalten sein, bis dasselbe aufhört eine Quelle der Kraft für die Partei zu bilden. Denn welches Prinzip in einem gegebenen Momente als Kraft empfunden wird, das hängt von der politischen Sachlage ab…“[18] Ein Indikator für den opportunistischen Charakter des christlichsozialen Antisemitismus war der Rückgang der antisemitischen Propaganda nach der Machtübernahme in Wien. Zu Beginn des 20. Jahrhundert verschmolzen die Christlichsozialen als ursprüngliche Mittelstandspartei mit konservativen und klassisch bürgerlichen Schichten, wobei sie ihre antikapitalistischen und antisemitischen Tendenzen einschränkten.
Der gemäßigte antiliberale und wirtschaftliche Antisemitismus der Christlichsozialen passte sich schlussendlich besser an die Massen an als Schönerers rassistischer Antisemitismus. Der Antisemitismus blieb dabei jedoch ein opportunistisches Mittel. Die Taktik der Christlichsozialen war erfolgreich: Bei den letzten Reichstagswahlen vor dem Ersten Weltkrieg gewannen die Partei in Cisleithanien 37 Prozent der Stimmen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden sie zur dominierenden Partei der Ersten Republik Österreichs und führten diese von 1933 bis 1938 in eine austrofaschistische Diktatur unter Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg, die zwar keine antijüdischen Gesetze erließ, aber antisemitische Übergriffe der Bevölkerung duldete.[19]
Die Sozialdemokraten und der Antisemitismus
Die Sozialdemokraten bildeten das dritte politische Lager im Österreich der Doppelmonarchie. Als einheitliche Partei entstand sie, als sich 1888/89 mehrere Organisationen der Arbeiterbewegung in Hainfeld zusammenschlossen. Dort versammelte der ehemalige liberale Politiker Victor Adler, einer der Unterzeichner des Linzer Programms, radikale, anarchistische und gemäßigte Gruppen und gründete die Sozialdemokratische Partei Österreichs. Die Partei kennzeichnete sich sowohl durch radikale Rhetorik als auch durch gemäßigte, nichtrevolutionäre politische Forderungen. Diese Kombination ging als Austromarxismus in die Geschichte ein.
Im Gegensatz zu den beiden anderen Lagern waren die Sozialdemokraten die einzige neue politische Bewegung, die sich weigerte, den Antisemitismus als offizielles politisches Programm einzusetzen. Als Proletarier lehnten sie zwar den Liberalismus ab, betrachteten sich aber als eine moderne und fortschrittliche Partei, die reaktionäre Vorstellungen von Rasse und Nationalismus ablehnte. Die Sozialdemokraten kritisierten der marxistischen Lehre folgend zwar den Kapitalismus als wirtschaftliches Phänomen, weigerten sich aber, offiziell zwischen christlichem und jüdischem Kapitalismus zu unterscheiden (im Unterschied zu den Christlichsozialen). Ihre Parole lautete „Kampf gegen Ausbeutung und Corruption, aber ohne Unterschied des Glaubens und der Abstammung.“ Fast gleichzeitig gegründet, wurden die Sozialdemokraten und die Christlichsozialen unmittelbar zu politischen Gegnern. Der Konflikt beruhte jedoch nicht in erster Linie auf der „jüdischen Frage“, sondern auf den gegensätzlichen Klasseninteressen der Arbeiterpartei der Sozialdemokraten und der Christlichsozialen Partei, die die „kleinbürgerlichen“ Rechte von Handwerkern unterstützte und somit eine Gruppe, die der marxistischen Logik der Sozialisten folgend dem Fortschritt zum Opfer fallen würde.
Aufgrund ihrer Opposition gegenüber den beiden antisemitischen Bewegungen der Deutschnationalen und Christlichsozialen und der Aufnahme Parteimitglieder mit jüdischer Herkunft (wie beispielsweise Parteigründer Victor Adler) stuften viele Zeitgenoss*innen und Historiker*innen die Sozialdemokraten als eine judenfreundliche Partei ein. Der Historiker Robert S. Wistrich bewertete das Thema jedoch neu und argumentierte, dass die sozialistische Bewegung tatsächlich eine starke antisemitische Unterströmung hatte.[20] Führende Persönlichkeiten wie Adler oder Engelbert Pernerstorfer waren in ihrer Jugend von den nationalistischen Vorstellungen von Schönerer beeinflusst worden. Die Partei versuchte zwar in der „Judenfrage“ eine neutrale Position einzunehmen, unterdrückte dabei jedoch die Forderungen einiger Parteimitglieder, eine positivere Haltung gegenüber Juden zu formulieren. Da der Antisemitismus unter den österreichischen Massen als überaus populär galt, war mit der Verteidigung des Judentums politisch nichts zu gewinnen. Im Gegenteil, eine solche Verteidigung konnte den antisemitischen Mythos verstärken, dass die Sozialdemokratie nichts anderes als eine „Judenschutztruppe“ sei. Anstatt Juden zu verteidigen oder in der Partei offiziell willkommen zu heißen, verstärkte die sozialistische Parteipresse jüdischen Stereotype und kritisierte Lueger und seine Partei wiederholt dafür, dass sie nicht wirklich antisemitisch seien, sondern den jüdischen Kapitalismus unterstützen würden. Ziel war es, zu zeigen, dass die sozialdemokratische Politik die jüdische kapitalistische Ausbeutung wirksamer bekämpfte als die Politik der antisemitischen Parteien. Pro-jüdisch zu sein galt als liberaler Philosemitismus (ein Begriff, der vom Marxisten Franz Mehring um die Jahrhundertwende abwertend für Judenfreundlichkeit verwendet wurde). Die österreichischen Sozialdemokraten vermieden daher die unangenehme Verpflichtung der Verteidigung der Juden gegenüber den hartnäckigen volkstümlichen Vorurteilen, die als Instrument der Massenpolitik mobilisiert worden waren.[21]
Letztlich sollte man antisemitische Tendenzen innerhalb des sozialistischen Lagers nicht überschätzen. Antisemitismus wurde nie eine gezielte politische Strategie, um bei den österreichischen Wählern um Stimmen zu werben. Dennoch wurde antisemitische Agitation in Cisleithanien am Fin de Siècle so allgegenwärtig, dass sich die Sozialdemokraten positionieren mussten. Die Antwort war Neutralität und Gleichgültigkeit gegenüber der Judenfrage, denn die Unterstützung der Juden, so die Einschätzung führender Sozialdemokraten, hätte der Popularität der Bewegung geschadet. So wurden Juden, die sich in Österreich politisch betätigen wollten, dazu gezwungen, ihre jüdische Identität hinter sich zu lassen. Eine Alternative hierzu wurde der Zionismus. Es ist daher kein Zufall, dass der politische Begründer des modernen Zionismus, Theodor Herzl, „der das Leitbild ein kultivierten Liberalen“ [22] darstellte, österreichischer Staatsbürger war.
Der bereitete antisemitische Boden für dunklere Zeiten
Um die dauerhafte Präsenz der neuen Formen des Antisemitismus als politische Strategie im österreichischen Teil der Habsburger Doppelmonarchie in Abgrenzung zu tradierten klerikalen Formen des Antisemitismus zu verstehen, ist es notwendig, diesen im Zusammenhang mit dem Aufkommen der österreichischen Massenparteien einschließlich der Ausweitung des Wahlrechts zu betrachten.. Mit antisemitischer Agitation, sei es nun aus bloßem Kalkül als politische Strategie im Stile eines Karl Lueger, oder aus ideologischer nationalistischer Überzeugung wie in der Alldeutschen Vereinigung, erwarteten die neuen Massenparteien und Bewegungen gerade in den unteren Bevölkerungsschichten Stimmen zu gewinnen. Die rassistische Judenfeindlichkeit der Deutschnationalen war zwar deutlich stärker ausgeprägt als der politische Antisemitismus der Christlichsozialen Partei. Beide Bewegungen schufen jedoch ein gefährliches, erhitztes politisches Umfeld, in dem das dritte Lager der Sozialdemokraten sich „gezwungen“ sah, auf die Verteidigung der Juden als gesellschaftliche Gruppe zu verzichten, um potenzielle Wählerschaften nicht zu verprellen. So wurde der politische Antisemitismus im österreichischen Fin de Siècle ein außergewöhnlich wirksames Mittel in einer Zeit, in der die Wählerschaft signifikant erweitert wurde. Diese andauernde politische Agitation, das Schaffen eines zentralen Feindbildes und das gezielte Verbreiten antisemitischer Stereotype durch politische Massenbewegungen, zum Zwecke des Buhlens um Wählerstimmen, sollte nicht ohne Konsequenzen für dunklere Zeiten bleiben. So wurde der antisemitische Boden bereitet, auf dem Männer wie Adolf Hitler ihre rassistisch-völkischen Vorstellungen und ihren Judenhass kultivieren konnten um Jahrzehnte später Antisemitismus erneut auf ihre politische Agenda zu setzen, nun jedoch mit verheerenden, tödlichen Folgen.
Autor: Martin Kristoffer Hamre
Literatur
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Internetquellen
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Anmerkungen
[1] Wandruszka, Adam, „Österreichs politische Struktur. Die Entwicklung der Parteien und politischen Bewegungen“, in: Benedikt, Heinrich (Hg.), Geschichte der Republik Österreich, (Wien, 1954), S. 289–485.
[2] Siehe hierzu das Standartwerk: Hamann, Birgit, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, (München und Zürich, 1996).
[3] Vgl.: Vocelka, Karl, Geschichte Österreichs. Kultur – Gesellschaft – Politik, 7. Ausgabe, (München, 2013), S. 216.
[4] Vgl.: Bunzl, John, „Zur Geschichte des Antisemitismus in Österreich,“ in: Bunzl, John/Marin Bernd, Antisemitismus in Österreich. Sozialhistorische und soziologische Studien, (Innsbruck, 1983), S. 9-88, S. 16.
[5] Vgl.: Pulzer, Peter, The Rise of Political Anti-Semitism in Germany & Austria, (Cambridge, 1988), S. 138-141.
[6] Pelinka, Anton, „Anti-Semitism and Ethno-Nationalism as Determining Factors for Austria‘s Political Culture at the Fin de Siècle,“ in: Tewes, Henning/Wight, Jonathan (Hrsg.), Liberalism, Anti-Semitism, and Democracy. Essays in Honour of Peter Pulzer, (New York, 2001), S. 63-75, S. 71.
[7] Vgl.: Boyer, John W., „The Viennese Artisans and the Origins of Political Antisemtism, 1880-1890,“ in: Strauss, Herbert (Hg.), Hostages of Modernization. Studies on Modern Antisemitism 1870-1933/39, (Berlin, 1993), S. 720-775.
[8] Pelinka, „Anti-Semitism“, S. 66.
[9] Wistrich, Robert S., „Georg von Schoenerer and the Genesis of Modern Austrian Antisemitism,“ in: Strauss, Herbert (Hg.), Hostages of Modernization. Studies on Modern Antisemitism 1870-1933/39, (Berlin, 1993), S. 675-688.
[10] Bunzl, „Zur Geschichte“, S. 28.
[11] Vocelka, „Geschichte Österreichs“, S. 245.
[12] Scharf, Michaela, „Deutsch und treu, so ganz und echt“, in: https://ww1.habsburger.net/de/kapitel/deutsch-und-treu-so-ganz-und-echt.
[13] Zitiert nach: Vocelka, „Geschichte Österreichs“, S. 245.
[14] Zum Deutschen Nationalverband siehe: Höbelt, Lothar, Kornblume und Kaiseradler. Die deutschfreiheitlichen Parteien Altösterreichs 1882-1918, (Wien, 1993), S. 256f.
[15] Vgl.: Geehr, Richard, Karl Lueger: Mayor of Fin-de-Siècle Vienna, (Detroit, 1990).
[16] Spitzmüller, Alexander, Und hat auch Ursach, es zu leben. (Frick, 1955), S. 74.
[17] Austerlitz, Friedrich, „Karl Lueger“, in: http://library.fes.de/cgi-bin/neuzeit.pl?id=07.04017&dok=1900-01b&f=190001b_0036&l=190001b_0045&c=190001b_0036.
[18] Reichspost, 13. Oktober 1896. Zitiert nach: Bunzl, „Zur Geschichte“, S. 30.
[19] Zum Antisemitismus bei den Christlichsozialen in den Jahren von 1918 bis 1938 siehe: Königseder, Angelika, ‘Antisemitismus 1933-1938’, in: Tálos, Emmerich/Neugebauer, Wolfgang (Hrsg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur. 1933 – 1938, 7. Ausgabe, (Wien, 2014), S. 54-66.
[20] Siehe: Wistrich, Robert S., „Socialism and Antisemitism in Austria before 1914,“ Jewish Social Studies, Vol. 37, No. 3/4 (1975), S. 323-332.
[21] Ebd., S. 332.
[22] Schorske, Carl E., „Politics in a New Key: An Austrian Triptych“, The Journal of Modern History, Vol. 39, No. 4 (1967), S. 343-386, S. 365.