Viel ist im Gedenkjahr 2008 über die Ereignisse im November 1938 gesprochen und geschrieben worden. In diesem Artikel sollen deshalb vor allem Ereignisse und Entwicklungen dieses Jahres jenseits des Novemberpogroms beleuchtet werden.
„Die Entziehung der bürgerlichen Gleichberechtigung für eine jüdische Minderheit, die seit hundert Jahren emanzipiert war, verbunden mit einer schrankenlosen antisemitischen Propaganda – darauf konnte man nicht nur nicht gefaßt sein, man hätte eine solche Art von unaufhörlichen Angriffen, auch noch vor zwei Jahren, für unmöglich halten müssen.“ (Nahum Sokolow, Zionistenkongress 1935) |
„Ist Ihnen bekannt, dass jeden Freitag abends im zweiten und zwanzigsten Bezirk am Donaukanal und in den Parkanlagen immer Juden blutig geschlagen werden von den Braunhemden?“ (Brief an Gauleiter Bürckel, Frühjahr 1938) |
Die Märzpogrome
Bereits vor dem Einzug von Gestapo, SS, Wehrmacht und Parteifunktionären aus Deutschland kam es in Wien im März 1938 zu antisemitischen Ausschreitungen. Den Startschuss gab Schuschniggs Rücktrittsrede am 11. März. Über Nacht wurden Hunderttausende Juden in Wien zu Freiwild, mit dem man ohne Rücksicht auf Recht und Gewissen verfahren durfte. Parteimitglieder, österreichische SA, Hitlerjugend, Polizei und Zivilisten begannen in ganz Wien Juden in ihren Wohnungen und Geschäften zu überfallen, zu misshandeln, zu demütigen und zu verschleppen. Die Gewalt setzte sich zur Belustigung des Mobs auf offener Straße oder in (zum Teil provisorischen) Gefängnissen und Polizeirevieren fort. Jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden zu Tausenden schamlos geplündert oder gleich durch selbsternannte Kommissare aus den Reihen von NSDAP, SA und anderen Parteiformationen in Besitz genommen. Die Enteignungen fanden ohne Befehl von höheren Instanzen bzw. ohne formelle Verfahren statt. Jeder, der sich eine Hakenkreuzbinde überstreifte, sah sich zum Handeln ermächtigt. Als die sog. wilden Arisierungen bzw. Enteignungen nichtjüdischer Volksfeinde in Österreich am 13. April nachträglich durch ein Gesetz legalisiert wurden, waren bereits 25.000 (!) Nazis als Kommissare eifrig dabei, sich am Raubgut zu bereichern. Der englische Journalist G.E.R. Gedye:
„Unter all den Schrecken, denen österreichische Juden, österreichische Patrioten und Demokraten – kurz, alle Nicht-Nazis – nach dem 11. März 1938 ausgesetzt waren, waren diese Diebstähle und Plünderungen noch die geringfügigsten. Schon nach wenigen Tagen hörte ich kaum mehr einen einzigen Juden darüber Klage führen […]. In jenen ersten Tagen konnte man sich unmöglich die krankhafte und entartete Geisteshaltung vorstellen, die die Grundlage des pathologischen Antisemitismus der Nazis bildete. Daher war es uns unmöglich zu begreifen, was es bedeutete, wenn plötzlich ein Sechstel der Wiener Bevölkerung zu Ausgestoßenen wurde, die man aller Rechte beraubte. […] Täglich und stündlich sahen sie sich, ohne Hoffnung auf eine Besserung ihrer Lage, den gemeinsten Beleidigungen und Erniedrigungen ausgesetzt, die sich perverse Gehirne ausdenken konnten. Ständig befanden sie sich in der Gefahr ohne stichhaltigen Grund ins Gefängnis geworfen zu werden, wo sie ohne Urteil verbleiben würden. […]. Von meinem Büro am Petersplatz konnte ich auch Wochen hindurch den Lieblingssport des Nazimobs beobachten: jüdische Männer und Frauen wurden gezwungen, auf allen vieren kriechend, den Gehsteig mit einer scharfen Lauge zu reiben, die ihnen die Haut verbrannte, so daß sie sich sofort in Spitalsbehandlung begeben mußten. […] Von Zeit zu Zeit johlte die Menge vor Vergnügen auf. Dies bedeutete dann, daß einer der SA-Männer höhnisch gesagt hatte: »Sie brauchen frisches Wasser« und dabei einen Kübel voll Schmutzwasser über sein Opfer gegossen hatte.“
Auch die Drohung Reinhard Heydrichs, damals Chef der Sicherheitspolizei, vom 17. März, „mit den schärfsten Mitteln und mit schonungsloser Strenge“ gegen die „Ausschreitungen in Wien“ vorzugehen, zeigte kaum Wirkung. Am 29. April erließ Gauleiter Bürckel eine weitere Warnung, wobei er drohte, „beim Vorkommen der geringsten [!] Ausschreitungen, Unruhestiftungen, Anpöbelungen von Volksgenossen oder Nichtariern, nicht nur die beteiligten SA-Männer“, sondern auch „zuständige und verantwortliche Führer“ aus SA und Partei auszuschließen. Erst im Mai war der Höhepunkt der Gewalt- und Raubwelle überschritten. Die Repression war nun legalisiert worden und prasselte in Form von diskriminierenden Gesetzen und Verordnungen auf die österreichischen Juden nieder. Dennoch kam es immer wieder zu Gewalt gegen Juden und tatsächliche oder vermeintliche Feinde der Nazis.
Evian
Unter dem Eindruck der sich radikalisierenden Verhältnisse gestaltete sich die Emigration der Juden aus dem Machtbereich des Dritten Reiches immer chaotischer. Die Nazis propagierten einerseits die Auswanderung der Juden aus Deutschland und unterstrichen diese Forderung nachhaltig durch ihre Gewaltbereitschaft, andererseits wurden einer Ausreise Hindernisse in den Weg gelegt, die kaum zu bewältigen waren. Das geforderte Verfahren bestand aus einem unüberschaubaren und oft improvisierten Instanzenweg, dazu kamen der makabre Erfindungsreichtum und die Willkür der lokalen Beamten und Helfershelfer. Verfahren und Ablauf waren bewusst darauf angelegt, die Ansuchenden zur Verzweiflung zu treiben. Ein Augenzeuge über das Passamt Wehrgasse in Wien:
„Einreichen, das hieß, sich eine Nacht und einen halben Tag anstellen. Aber wer wusste, ob man drankam? Immer wieder schoben sich die Gruppen der Protektionskinder vor […]. Das kostete erkleckliche Summen, ersparte aber das Anstellen. Ein so Behüteter mußte nicht, mit Stockerl und Proviant bewaffnet, um elf Uhr nachts anturnen und sich die nächsten sieben Stunden lauernd irgendwo in der Umgebung der Wehrgasse herumtreiben – das Anstellen vor sechs Uhr früh war nämlich strengstens verboten, und erbarmungslos wurde davongejagt, wer es versuchte. Er mußte nicht, nachdem er in irgendeinem Gäßchen der Umgebung ein Voranstellen überstanden hatte, wenige Minuten vor sechs atemlos das Rennen nach dem besten Platz in der Wehrgasse selbst antreten, nicht von boshaften Wachmännern traktiert die Wehrgasse zum x-ten Male aufkehren und riskierte nicht, nach stundenlangem Anstellen den furchtbaren Sadistenbefehl »Ganze Reihe, kehrt Euch!« befolgen zu müssen, durch den die Zuerstdagewesenen die letzten und die letzten die ersten wurden.“
In dieser Situation entschieden sich die USA unter Franklin D. Roosevelt ein Zeichen zu setzen. Im März 1938 wurde die Konferenz von Evian angekündigt, welche die Staaten zur Kooperation bewegen sollte, um die Auswanderung von Flüchtlingen aus Deutschland zu erleichtern. Die Konferenz stand vom Anfang an unter einem für die bedrohten Juden ungünstigen Stern. Schon im Einladungsschreiben wurde den teilnehmenden Staaten zugesichert, dass keine verbindlichen Erhöhungen der Einwanderungsquoten oder finanzielle Zuwendungen zur Lösung der Flüchtlingsproblematik gefordert werden würden. Jede Diskussion über den europaweit grassierenden Antisemitismus wurde systematisch unterdrückt. Juden wurden im Einladungsschreiben nicht erwähnt, sondern als politische Flüchtlinge angeführt. Dementsprechend hatten sie in Evian keine offizielle, einheitliche Vertretung bzw. Mitsprache, sondern waren durch verschiedene jüdische Organisationen vertreten, welchen allein das Recht auf Anhörung eingeräumt wurde.
Selbst die vorsichtigsten Hoffnungen auf Hilfe durch die westlichen Staaten wurden schwer enttäuscht. Ein Land nach dem anderen lehnte unter fadenscheinigen Begründungen eine weitere Aufnahme jüdischer Flüchtlinge ab. Die USA kündigten großzügig an, die österreichische und deutsche Quote zusammenzulegen (1.413 + 25.957), womit nun mehr österreichischen Flüchtlingen die Flucht in die USA ermöglicht wurde, dies jedoch nur auf Kosten der deutschen Quote. Großbritannien erklärte, es sei kein Einwanderungsland und leide unter der Arbeitslosigkeit. Palästina wurde vom britischen Vertreter mit keinem Wort erwähnt. Frankreich, das tatsächlich bereits 30.000 Flüchtlinge aufgenommen hatte, spielte den Ball an die USA und Australien zurück. Die Benelux- und die nordischen Staaten erklärten sich bereit als Transitländer zu fungieren, jedoch nur unter der Zusage, dass ein bleibender Aufenthalt der Flüchtlinge in Übersee garantiert sei. Obwohl die europäischen Staaten zu diesem Zeitpunkt im Besitz riesiger Gebiete auf allen Kontinenten und Weltmeeren waren, konnte sich keines der Kolonialmächte dazu durchringen, auch nur einigen Tausend Juden die Einreise in einen Winkel ihres Kolonialreiches zu erlauben. Das ferne Neuseeland, dessen Vertreter mit einem tausend-seitigen Einwanderungsgesetzbuch angereist war, berief sich auf die ökonomische Krise und der australische Vertreter erklärte, sein Land hätte kein Interesse ein „Rassenproblem […] zu importieren“. Auf die Staaten Lateinamerikas waren besondere Hoffnungen gesetzt worden. Diese Länder waren nicht im Völkerbund vertreten gewesen und durch deren Einbindung in die Konferenz schien die Zahl potentieller Fluchtländer beträchtlich gesteigert geworden zu sein. Außerdem sollte die Aufnahme qualifizierter und gebildeter Bürger im Interesse dieser aufstrebenden Staaten sein, doch auch diese Hoffnungen wurden enttäuscht. Die lateinamerikanischen Länder verwiesen ebenso auf die Wirtschaftskrise, allein Bauern und Landarbeitern sollte die Aufnahme gewährt werden. Ein angesichts der Sozialstruktur der deutschen Juden gezielt nutzloses Angebot. Die Dominikanische Republik erklärte sich in einem Anfall von Großzügigkeit bereit, Hunderttausend Flüchtlinge aufzunehmen. Am Ende waren es 500 Menschen, welche nur mit erheblicher Verzögerung einreisen konnten. Südafrika hatte bereits 1937 ein Gesetz beschlossen, welches jede Einwanderung von Juden de facto untersagte. Der Osten Europas war aufgrund des dort grassierenden Antisemitismus keine Alternative. Die Sowjetunion zeigte kein Interesse am Flüchtlingsproblem. Der einzige Fleck auf Erden, auf dem Juden visafrei einreisen konnten, war Shanghai.
Die Vertreter der 39 mehrheitlich jüdischen Hilfsorganisationen durften nur vor einem der zwei Subkomitees vorsprechen. Vor dem Raum, in dem das Komitee tagte, mussten die Vertreter in einer Schlange anstehen, um schließlich an einem einzigen Nachmittag einzeln den elf Mitgliedern des Komitees innerhalb von 3-4 (!) Minuten die Situation der Juden in Europa darzulegen. Die aufwändigen Memoranden der Organisationen wurden ungelesen und unbearbeitet an das Sekretariat der Konferenz weitergeleitet. Die einzige konkrete Konsequenz der Konferenz war die Einrichtung des Intergovernmental Committee on Refugees (IGC), welches die Arbeit der Konferenz weiterführen sollte und dementsprechend in der Bedeutungslosigkeit versank. Die amerikanische Regierung versuchte das Ergebnis als Erfolg darzustellen und dies traf insofern zu, als es dem Westen einmal mehr gelang, guten Willen und humanitäres Engagement mediengerecht, ohne hohe politische Zugeständnisse, zu inszenieren und kritische Stimmen zu beruhigen. Evian war der Beweis für die Machtlosigkeit der verschiedenen jüdischen Interessensgruppen. Knapp ein Jahr vor Beginn des II. Weltkrieges und wenige Monate vor der Reichspogromnacht hatte die internationale Staatengemeinschaft jede Intervention oder auch nur Unterstützung der bedrohten Juden abgelehnt. Die Nazis konnten den Schluss ziehen, „daß die Juden wirklich wehrlos waren und es für ihre Not keinen Ausweg gab.“ (Leni Yahil)
Antisemitismus in Polen und jüdischer Widerstand
Polnischen Juden war durch den Versailler Vertrag volle bürgerliche Gleichberechtigung zuteil geworden. Zudem wurden sie als nationale Minderheit anerkannt, deren Rechte im Rahmen internationaler Abkommen geregelt waren. Dennoch wurden polnische Juden wirtschaftlich und gesellschaftlich diskriminiert. Höhere Positionen in der Beamtenschaft oder der Armee waren seltene Ausnahmen. Allein im Parlament gab es einige jüdische Abgeordnete. Unter der Herrschaft des autoritären Marschall Jósef Piłsudski war der polnische Antisemitismus lange stagniert. Ungeachtet des gesellschaftlichen Antisemitismus wurde an der formalen Gleichberechtigung festgehalten. Es gab zwar immer wieder gewalttätige Übergriffe, doch die polnischen Juden ihrerseits waren ebenso bereit ihre Rechte zu verteidigen. Ihre schiere Masse (1931: 3,1 Millionen, 9,8% der Gesamtbevölkerung, in größeren Städten bis zu 30%) und ihre Solidarität bildeten dabei die Basis ihres Widerstandes. Eine zentrale Rolle spielte dabei der sozialistische Bund. Der Historiker Yfaat Weiss:
„In Polen führte der Bund einen aktiven Kampf unter Waffeneinsatz und Selbstverteidigung, zum Schutz der Händler auf den Märkten und der gesamten bedrohten jüdischen Öffentlichkeit. Der Bund schützte jüdische Geschäftsbesitzer vor dem Druck des Wirtschaftsboykotts, während in Deutschland Juden vor den Schäden des Boykotts resignieren mußten. Der Bund schützte jüdische Frauen und Kinder in den öffentlichen Parkanlagen, während Juden in Deutschland angesichts der »Parkbänke« für Juden und dem Verbot, sich an für Deutsche reservierten Erholungsstätten aufzuhalten, hilflos blieben. Im Laufe der dreißiger Jahre wurden sich polnische Juden der Gefahr bewußt, die ihnen durch die aus Deutschland nach Polen importierte antisemitische Gesetzgebung drohte. In ihrem Kampf gegen diese Einflüsse wußten sie ihre formalen Rechte, wie die Beteiligung an Wahlen und die Vertretung im Parlament, ebenso zu nutzen wie die öffentliche Meinung. Sie führten einen aktiven Kampf und wiesen auch die körperliche Selbstverteidigung und den bewaffneten Kampf nicht zurück.“
Die unübersehbare antisemitische Mobilisierung in Deutschland und Europa führte besonders in Polen zu einer Vielzahl an Aktivitäten der jüdischen Bevölkerung. Die polnisch-jüdische Presse berichtete detailliert über den Boykott jüdischer Geschäfte, gewalttätige Übergriffe, die Flucht von Juden ins Exil und gesetzliche Maßnahmen der Nazis. Im Herbst 1935 tagte der Jüdische Kongress in Warschau, um nach den Erlass der Nürnberger Gesetze über die Verfolgung der Juden in Deutschland zu beraten. Zum Abschluss des Kongresses wurde das Vereinigte Komitee zum Kampf gegen die Verfolgung der Juden in Deutschland ins Leben gerufen. Dieses wiederum war maßgeblich an der polnischen antideutschen Boykottbewegung beteiligt.
Der antideutsche Boykott hatte seine Ursprünge in den USA, wo jüdische Organisationen seit April einen Boykott deutscher Waren propagierten. Während in den westlichen Staaten, Deutschland und dem Jischuw die jüdische Öffentlichkeit geteilter Meinung über Sinn und Ziel des Boykotts war, rannte die Boykottbewegung in Polen offene Türen ein. Der polnische, jüdische Händlerverband begann eine umfassende Informationskampagne und kümmerte sich um alternative Bezugsquellen als Ersatz für deutsche Waren. Polen war Anfang der 1930er Jahre das wichtigste Exportland für Deutschland, ein Fünftel des polnischen Gesamtimports kam aus Deutschland. Die relative Stärke der Juden im polnischen Handelssektor räumte einen Boykott deutscher Waren ernstzunehmende Chancen ein. Die polnischen Juden waren sich dieser Chance bewusst und verstanden sich als Speerspitze im internationalen Kampf gegen das NS-Regime. Tatsächlich sank der deutsche Export nach Polen von 173 Mill. (1932) auf 146 Mill. (1933) und 108 Mill. Złoty (1934), während der Gesamtumfang der polnischen Importe zunahm. Rückgrat der regen Aktivitäten waren 200 Boykott-Komitees, welche mit allen Mitteln die Agitation gegen die Nazis vorantrieben.
Dennoch konnten die Aktivitäten der polnischen Juden die zunehmende Verbreitung des Antisemitismus nicht verhindern. Zug um Zug wurde auch die gesellschaftliche Position der Juden in Polen angegriffen. Dass radikale antisemitische Lager in Polen stand in Opposition zu Piłsudski und war in der Endecja organisiert. Der Tod Piłsudskis 1935 stellte die heterogene und allein auf den Marschall ausgerichtete Regierungspartei Sanacja vor eine Zerreißprobe, welche ihr Ende in einem radikalen Rechtsruck des Regierungslagers fand. 1937 war der Antisemitismus endgültig in die Regierungskreis Polens gelangt. Die Propaganda der Endecja, wonach die jüdische Minderheit die Ursache für die allgemeine soziale Krise in Polen sei, fiel auf fruchtbaren Boden. 1936 verabschiedete die Regierung ein Gesetz, welches das Schächten empfindlich einschränkte. 1932 begann die Endecja die Zulassungsbeschränkung für Juden an den Universitäten zu propagieren. Zwar wurden keine gesetzlichen Maßnahmen umgesetzt, doch antisemitische Hetze und Gewalt an den Universitäten führten zu einem drastischen Rückgang der Zahl jüdischer Studenten. Die Endecja führte, angespornt durch das deutsche Vorbild, auch eine Kampagne zum Boykott jüdischer Geschäfte in Polen durch. Mit Parolen wie »Der Pole kauft nur bei Polen« oder »Juden ins Ghetto« auf Plakaten und Anschlägen wurden die nichtjüdischen Polen auf Antisemitismus und Diskriminierung eingeschworen. Auf dem Höhepunkt der Kampagne 1936 bis 1939 wurden auch Wachposten vor jüdischen Geschäften postiert, Geschäfte überfallen und Listen von Polen veröffentlicht, welche sich nicht an den Boykott hielten. Schließlich unterstütze die Regierung einen Antrag zur Einführung eines Arierparagraphen in verschiedenen Berufsverbänden. Gewalttätige Übergriffe gegen Juden waren Ende der 30er Jahre in Polen trauriger Alltag. Zwischen 1935 und 1937 wurden mind. 14 polnische Juden bei Angriffen getötet und mind. 2.000 verletzt. Ein weiteres Zentrum antisemitischer Agitation war neben dem nationalen Lager die katholische Kirche in Polen. Geistliche Autoren in der nationalen und katholischen Presse und hohe geistliche Würdenträger standen den Hetzern aus der extremen Rechten in Polen in nichts nach. Noch 1939 konnte man einer antisemitischen katholischen Zeitung entnehmen: „Hitler schöpft seine Gesetze aus den päpstlichen Enzykliken […], er nimmt sich ein Beispiel an den berühmten Päpsten.“
Zbąszyń
Seit der Machtergreifung durch die Nazis in Deutschland propagierte die extreme Rechte in Polen die Massenauswanderung als Lösung für die Judenfrage. 1936 kam es im polnische Sejm zu einer Reihe von Debatten über eine jüdische Auswanderung. 1938 wurde die angebliche Notwendigkeit einer jüdischen Massenauswanderung von hochrangigen Vertretern des Regierungslagers aktiv propagiert. Vor diesem Hintergrund beschloss das polnische Parlament im März 1938 ein Gesetz zur Ausbürgerung polnischer Staatsbürger, welche länger als fünf Jahre außerhalb Polens gelebt, gegen den polnischen Staat agitiert oder die Verbindung mit der polnischen Administration und dem »polnischen Volke« gebrochen hätten. Auch wenn das Gesetz mit keinem Wort die polnischen Juden im Ausland erwähnte, war es allseits bekannt, dass es in erster Linie um die Ausbürgerung Zehntausender polnisch-jüdischer Staatsbürger in Deutschland ging. Neben den Befürchtungen einer Ausweisung der polnischen Juden durch die Deutschen waren auch handfeste ökonomische Motive ausschlaggebend gewesen. Die polnischen Raffinerien in Galizien waren überwiegend in der Hand von Juden mit österreichischer Staatsbürgerschaft. Die polnische Regierung befürchtete, Deutschland könnte durch die Enteignung der österreichischen Juden die Kontrolle über polnische Erdölanlagen erlangen. Die angedrohte Ausbürgerung Tausender polnischer Juden diente somit auch als Druckmittel in Verhandlungen mit den Deutschen. Als der polnische Innenminister am 6. Oktober eine Anordnung herausgab, der zufolge eine Kontrolle und Abstempelung aller Pässe bis zum 30. Oktober zu erfolgen hätte und die polnischen Konsulate in Deutschland sich weigerten, die vorgelegten Pässe abzustempeln, war dies für die deutschen Behörden ein willkommener Anlass, vollendete Tatsachen zu schaffen. In einer bis dahin einmaligen Aktion wurden auf Anordnung Heinrich Himmlers vom Abend des 17. bis zum 19. Oktober 17.000 polnische und staatenlose Juden polnischer Herkunft aus dem Reichsgebiet abgeschoben.
Mangels vorgefertigter Regelungen wurde Gestaltung und Vollzug maßgeblich von den unteren Instanzen der verschiedenen NS-Behörden bestimmt. Deren Improvisation und Eigeninitiative war zur Verwirklichung der Maßnahme unumgänglich. Dementsprechend chaotisch vollzog sich auch die Verschleppung der polnischen Juden, die einen Tag vorher den Behörden bekannt gegeben worden war. Die genauen Bestimmungen waren von Ort zu Ort verschieden. Teilweise wurden ganze Familien abgeschoben, in anderen Orten hauptsächlich nur Männer. Manche Polizeibeamte versorgten die Abgeschobenen mit Wasser, manche dazu beorderten Sanitäter (!) wiederum verweigerten genau dies. Meistens war die Mitnahme von hohen Geldsummen und viel Gepäck untersagt, manchmal war auch die Mitnahme persönlicher Gegenstände erlaubt. Zum Teil wurden die Habseligkeiten dann wieder von SA oder Polizisten geraubt. Beteiligt waren u.a. Schutzpolizei, Kriminalpolizei, Gestapo, SA und SS. In jedem Fall wurden die Betroffenen (40% der ausländischen Juden waren in Deutschland geboren) brutal aus ihrem Alltag gerissen. Oft wurden sie über Nacht verschleppt und anschließend mit Zügen an die Grenze gebracht. Nahe der Grenze wurden die Verhafteten schließlich unter Drohungen und Schlägen zu Fuß nach Polen getrieben. Nachdem die Gefangenen der ersten Transporte noch an polnischen Grenzübergängen durchgelassen wurden, wurde den folgenden Personen die Einreise verweigert. Zum Teil wurden die polnischen Juden von SS in den Grenzfluss getrieben und von polnischen Grenzwächtern zurückgehetzt. Nachdem Tausende tagelang im Niemandsland und lokalen Bahnhöfen ausharren mussten, wurden die Menschen nun in polnischen Grenzorten interniert. Der Augenzeuge Otto Buchholz:
„Drei Tage lang waren wir auf dem Bahnsteig und Bahnhofshallen, 8000 Menschen. Frauen und Kinder ohnmächtig, wahnsinnig, Sterbefälle, die Gesichter gelb wie Wachs. Der reinste Leichenfriedhof. Unter den Ohnmächtigen war ich auch. Nichts als das trockene Gefängnisbrot ohne etwas zu trinken. […] Dann wurden wir in Baracken (militärische Viehställe) gebracht, welche mit Stroh bedeckt wurden, auf welches wir uns hinlegen konnten. Endlich ein warmer Schluck Tee, diese Freude.“
1938
Auch im Altreich war 1938 bereits vor dem Novemberpogrom die Gewalt eskaliert. Abgesehen von der Deportation der polnischen Juden aus Deutschland kam es auch in Folge des Anschlusses im Frühjahr zu antisemitischen Ausschreitungen. In ganz Berlin wurden damals jüdische Geschäfte, Praxen und Kanzleien beschmiert, drei Synagogen geplündert und demoliert. Zu weiteren Gewaltakten kam es in Magdeburg und Frankfurt am Main. Im Mai und Juni wurden bei Großrazzien mind. 1.800 Juden verhaftet. Im Sommer sollte dann aus außenpolitischer Rücksicht die Gewalt wieder kanalisiert werden. Der Historiker Richard J. Evans:
„In einer Änderung ihrer Taktik gab der Berliner Polizeipräsident den ihm unterstellten Dienststellen »Richtlinien für die Behandlung von Juden und Judenangelegenheiten«, die aus einem 76 Punkte [!] umfassenden Katalog bestanden, aus denen hervorging, wie man die Juden auf kleinlichste Weise schikanieren konnte, ohne dabei gegen das Gesetz zu verstoßen […]. Trotzdem ging die Gewalt weiter, teils willkürlich, zum Teil unter gesetzlichen Vorwänden. Nachdem die Kommunalbehörden in Nürnberg und München den Abriß der dortigen Synagogen ultimativ angeordnet hatten, demolierten Nationalsozialisten in mindestens einem Dutzend weiterer Städte Synagogeneinrichtungen. In Teilen Württembergs gab es erneute Angriffe auf jüdische Räumlichkeiten; Juden wurden aus ihren Wohnungen gezerrt, geschlagen und bespuckt und aus ihren Heimatstädten vertrieben.“
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 fanden in Nazideutschland die schwersten Pogrome im deutschsprachigen Raum seit dem Mittelalter statt. Vorwand für diese Orgie der Gewalt war das Attentat des 17-jährigen deutsch-polnischen Juden Herschel Grynszpan auf den deutschen Legationssekretär Ernst von Rath in Paris am 7. November 1938. Grynszpans Tat war ein Akt der Rache, seine Eltern waren unter den polnischen Juden, welche von den deutschen Behörden zur polnischen Grenze getrieben worden waren. Auf Weisung der NS-Führung, ausgeführt von der SA, NS-Funktionären und Zivilisten, kam es im gesamten Dritten Reich zu Angriffen gegen Juden. Synagogen, Wohnungen und Geschäfte wurden demoliert und in Brand gesetzt. Nach aktuellen Forschungen kamen allein in der Reichspogromnacht mind. 400 Menschen ums Leben. Insgesamt forderte das Pogrom 1.300 – 1.500 Opfer.
Das Novemberpogrom war letztlich nur ein weiterer, wenn auch markanter, Baustein einer umfassenden antisemitischen Mobilisierung, die zu jener Zeit halb Europa und auch Palästina erfasst hatte. Besonders im Osten Europas war der Vormarsch des Antisemitismus nicht mehr zu übersehen, der nun auch die legale Stellung der Juden untergrub. Polen war nicht das einzige Land, in dem eine deutliche Verschlechterung der Situation der Juden zu verzeichnen war. In Ungarn begannen spätestens 1937 auch Regierungskreise über eine antijüdische Gesetzgebung nachzudenken. Im Mai 1938 wurde ein erstes antijüdisches Gesetz beschlossen, mit dem der Anteil von Juden in den freien Berufen und der Wirtschaft auf 20% gesenkt werden sollte. Wenige Monate später wurde ein zweites Gesetz beschlossen, wonach Juden der Betrieb von Lichtspielhäusern, Theatern und Zeitungsverlagen, die Ausübung des Lehrerberufs, der Erwerb von Grundbesitz und der Zugang zum Offizierskorps und Staatsdienst untersagt war. In Rumänien war die radikale und antisemitische Eiserne Garde trotz staatlicher Repression zu einem bedeutenden gesellschaftlichen Faktor geworden. Letztendlich übernahmen die autoritären Regierungen, welche gegen die Garde kämpften, deren Arbeit, als sie antisemitische Gesetze erließen. So wurde im Januar 1938 durch ein Gesetz schlagartig ca. 250.000 (!) rumänischen Juden die Staatsbürgerschaft entzogen. Weitere Gesetze, welche unter der Diktatur des Königs Carol II. verabschiedet wurden, zielten auf die Vertreibung aller Personen, welche keine Staatsbürgerschaft hatten. Gemeint waren natürlich die Juden. In Bulgarien kam es im September 1938 in Sofia zu antisemitischen Ausschreitungen. Auch in den Staaten, in denen der Antisemitismus ins gesellschaftliche Abseits gedrängt worden war bzw. Juden relativ sicher und in die Mehrheitsgesellschaft integriert waren (Tschechoslowakei, Jugoslawien) war der Antisemitismus weiterhin existent und konnte Ende der 30er Jahre teilweise wieder reaktiviert werden.
Selbst im Jischuw in Palästina war der Einfluss des Antisemitismus und der europäischen Appeasementpolitik zu verzeichnen. Während die mächtigsten Nationen der Welt unter fadenscheinigen Vorwänden ihre Grenzen umso dichter schlossen, je bedrohlicher die Situation der Juden wurde, nahm die jüdische Gemeinschaft in Palästina alle Anstrengungen auf sich, um möglichst vielen Flüchtlingen eine Möglichkeit zur Auswanderung zu bieten. Ungeachtet der prekären sozialen und politischen Umstände in Palästina, der Abwesenheit eines ausgebildeten Staatswesens und der geringen finanziellen Mittel der Jewish Agency konnten 1933-1939 33.390 deutsche Juden nach Palästina flüchten. Nur die USA (102.000) und England (52.000) nahmen mehr Flüchtlinge auf. 1936 jedoch begann die britische Mandatsmacht die Einwanderung nach Palästina empfindlich zu beschränken. Auslöser dafür war eine Welle der Gewalt seitens der arabischen Nationalbewegung. Vorwand für diesen sog. arabischen Aufstand waren gewalttätige und tödliche Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern im April 1936 gewesen. Der Grund der Gewalt war jedoch die finale Transformation des arabischen Nationalismus zu einer pro-deutschen, antisemitischen und reaktionären Bewegung. Hatte bereits in den 20er Jahren eine Zentralfigur des palästinensischen Nationalismus, der Mufti von Jerusalem Amin el-Husseini, den palästinensischen Nationalismus im Sinne eines Befreiungskampfes gegen eine antiislamische, jüdische Weltverschwörung propagiert, so schien diese Saat nun aufzugehen. Zusätzlich unterstützt wurde diese verhängnisvolle Entwicklung durch die Tätigkeit von deutschen und faschistischen Auslandsorganisationen in der Region und durch die politischen Ereignisse in Europa und Afrika. Mussolinis Einfall in Abessinien 1935 und die Besetzung des Rheinlandes durch deutsche Wehrmachtstruppen 1936 hatten die schwindende Macht des britischen Empire plastisch vor Augen geführt. Gleichzeitig schienen die Feinde der Araber, die Juden, der Macht der deutschen Antisemiten hilflos ausgeliefert zu sein. Markante Äußerung dieser Entwicklung war die Gründung von islamfaschistischen und nationalsozialistischen Organisationen im arabisch-islamischen Raum. Die ägyptische Muslimbruderschaft begann in den 30er Jahren eine intensive Kampagne zur Befreiung Palästinas. Dabei wurden die ideologischen Fundamente für den modernen antisemitischen Vernichtungskrieg – Dschihad – gelegt. Tod und Krieg wurden glorifiziert, das Selbstopfer als Pflicht im Dschihad propagiert. Wie sehr die Muslimbruderschaft damit den Zeitgeist getroffen hatte, wird nicht zuletzt daran ersichtlich, dass deren Mitgliederzahl von 800 (1936) auf sensationelle 200.000 (1938) gestiegen war. Abordnungen der faschistischen Bewegung Junges Ägypten oder der nach dem Vorbild der Hitlerjugend organisierten irakischen Futtuwah nahmen 1936 bzw. 1938 sogar an den Reichsparteitagen der NSDAP teil. Die Syrische Nationalsozialistische Partei und die Phalanges Libanaises waren mit hakenkreuzartigen Fahnen und Faschistengruß auch äußerlich an der NSDAP angelehnt. Die Jugendorganisation der Partei des Mufti trat auch unter den Namen Nazi-Scouts auf und schmückte ihre Flugblätter mit Hakenkreuzen und NS-Parolen. Hitlerbilder und Lobreden auf seine Person waren in der gesamten Region verbreitet.
Die Politik der Briten bestand dementsprechend darin, die Araber auf Kosten des Jischuw zu besänftigen. Die jungen arabischen Nationalstaaten waren nicht mehr nach Belieben zu manipulieren, gleichzeitig erhöhte sich ihr strategischer Wert. Der Nahe Osten und Nordafrika waren das Verbindungstor zum britischen Kolonialreich und den Dominions in Afrika und Asien. Eine Verbindung, die im Falle eines europäischen Krieges für Großbritannien lebensnotwendig war. Der Ausbruch der Gewalt führte 1937 zur Bildung einer Untersuchungskommission unter Lord Peel, welche einen Teilungsplan ausarbeitete. Während die zionistische Führung unter Vorbehalten einer Teilung zustimmte, lehnte die arabische Führung eine Teilung kategorisch ab. Der obstruktiven Haltung der arabischen Nationalbewegung begegnete die britische Regierung einerseits mit Gewalt, andererseits mit Zugeständnissen. Während ein erneutes Aufflammen der Kämpfe in Palästina 1937 mit Gewalt beantwortet wurde, begann man in der Frage der Einwanderung auf die arabischen Forderungen einzugehen. Waren zwischen 1933-1935 im Schnitt jährlich 45.000 Juden nach Palästina eingewandert, so sank diese Zahl auf 29.000 (1936), 10.500 (1937) und 12.800 (1938). Was sich 1938 abzeichnete, wurde mit der Veröffentlichung des MacDonald-Weißbuchs im Mai 1939 Gewissheit: Die Briten waren entschlossen, das Projekt eines jüdischen Staates endgültig fallen zu lassen. Die Zuwanderung sollte für die nächsten fünf Jahre auf jährlich 15.000 beschränkt werden. Die Juden sollten als Minderheit in einem mehrheitlich arabischen Staat leben. Unnötig hinzuzufügen, dass auch dieser Vorschlag von der arabischen Führung, welche bereits davon träumte, auf der Seite Deutschlands in den Krieg einzutreten, abgelehnt wurde.
Ohne Verbündeten und ohne Macht
Der katastrophale Ausgang der Konferenz von Evian und die verschärften Einwanderungsregelungen in Palästina kamen für viele Juden einem Todesurteil gleich. Ein Land nach dem anderen begann seine Tore vor den Hilfesuchenden endgültig zu schließen. Versuche von Juden über neue Länder aus Deutschland zu fliehen, bzw. neue antijüdische Gesetze in Staaten wie Polen und Italien hatten zur Folge, dass solche Restriktionen bald auf die Juden halb Europas ausgedehnt wurden. In Jugoslawien, das in dieser Zeit ein wichtiges Transitland für die Flucht gewesen war, wurden nach den ersten großen Flüchtlingswellen im Frühjahr 1938 beinahe monatlich neue Maßnahmen getroffen und Kontrollen verschärft, um die Ein- und Durchreise deutscher jüdischer Flüchtlinge zu verhindern. Eine Verordnung aus Jugoslawien erlaubte die bedenkenlose Vergabe für Einreise- und Transitvisa nur für Juden aus Herkunftsländern ohne (!) antisemitische Verfolgung. Gegen die Juden gerichtete Verschärfungen der Einwanderungsgesetze fanden u.a. in der Schweiz, Dänemark und Schweden statt. In den USA bestand ein breiter Konsens, ungeachtet der dramatischen Situation keine vermehrte Zuwanderung zuzulassen. Anträge einzelner Abgeordneter, Ausnahmeregelungen für politisch bzw. religiös Verfolgte einzurichten oder bestehende Quoten effektiv auszuschöpfen, konnten mit keinerlei Unterstützung rechnen. Erst nach der Reichspogromnacht konnte Roosevelt sich dazu entschließen, eine Anordnung zu verfügen, zumindest die vorhandenen Bestimmungen weniger restriktiv auszulegen. Hunderte Juden, welche versuchten, diesem Alptraum zu entfliehen, wurden zum Teil unter Zwang nach Deutschland zurück gebracht.
Weder die Appelle und Garantien des Völkerbundes, noch in der Verfassung verbriefte Rechte, noch die internationalen Anstrengungen der jüdischen Gemeinden in Europa und den USA und schon gar nicht die linken politischen Kräfte waren in der Lage, dieser Dynamik etwas entgegenzusetzen. Hatten zu Beginn der 30er Jahre die Westmächte noch einen Beitrag zur Rettung geleistet und Zehntausende Flüchtlinge aufgenommen, so wandelte sich deren Politik gegenüber dem wachsenden Antisemitismus zu einer Aneinanderreihung hohler Phrasen und gebrochener Versprechen. Versprechen, dies gilt es sich zu vergegenwärtigen, welche Tausende Menschen darin bestärkten, buchstäblich tödlichen Illusionen nachzuhängen. Gerade die Tatsache, dass die Westmächte und der Völkerbund die Bedrohung der Juden sehr wohl thematisierten und vermeintlich konkrete Schritte setzten, verstärkte den Schein, von dieser Seite sei Hilfe zu erwarten. Die Tragik war, dass die Hilfsorganisationen sich der Probleme der westlichen Staaten durchaus bewusst waren. Ökonomische Krise, Arbeitslosigkeit, Rücksicht auf antisemitische Ressentiments und Vorurteile gegen Einwanderung, Finanzierung des Lebensunterhalts der Flüchtlinge etc. waren nicht einfach vom Tisch zu wischen. Die Ideen und Vorschläge der Hilfsorganisationen und der Fürsprecher der Juden hatten auf diese Probleme immer Rücksicht genommen. Niemand forderte eine vorbehaltlose Öffnung der Grenzen bzw. Aufnahme der Flüchtlinge. Im Gegenteil wurden Bedenken und Einwände akribisch analysiert. In unzähligen detaillierten Memoranden, welche an Staaten und internationale Organisationen gerichtet waren, wurden Wege aufgezeigt, die Flüchtlingsproblematik mit einem Minimum an finanziellem Aufwand und politischem Risiko zu lösen. Doch wurden diese Anregungen niemals ernsthaft verfolgt oder gleich gar nicht zur Kenntnis genommen.
Als hätten sich alle Beteiligten verschworen, fanden die Juden in dieser kritischen und lebensbedrohlichen Situation keinen einzigen ernstzunehmenden und einflussreichen Verbündeten. Die wenigen Aufrechten rannten gegen eine Wand von Ignoranz und Gleichgültigkeit an. James G. McDonald, der 1933 im Rahmen des Völkerbundes als Hoher Kommissar für Flüchtlinge (jüdische und andere) aus Deutschland eingesetzt wurde, trat Ende 1935 frustriert von seinem Posten zurück. Die Institution des Kommissars stieß bei den staatlichen Vertretern und Mitarbeitern auf ein jede konstruktive Arbeit sabotierendes und aus heutiger Sicht nur schamlos zu nennendes Desinteresse. McDonalds letzter Protest war ein 34-seitiger „Letter of Resignation“, in dem er auf die „katastrophale“ Situation der Juden in Deutschland einging und die internationale Staatengemeinschaft zum Handeln aufforderte. Sein Nachfolger Sir Neill Malcolm zeigte keinerlei Initiative. Auch das IGC wäre prinzipiell geeignet gewesen, einen Beitrag zur Linderung der Not zu leisten. Doch auch hier schienen alle maßgeblich Beteiligten jeden Fortschritt zu sabotieren. Die finanziellen Zuwendungen an das IGC und dessen Kompetenzen waren so dürftig, dass die ganze Arbeit zu erliegen drohte. Manche Repräsentanten des IGC erschienen nicht einmal zu den vereinbarten Besprechungen, und Anfragen des IGC an die Regierungen wurden erst nach Wochen oder Monaten beantwortet.
Die Lage der Juden 1938 war in jeder Hinsicht katastrophal. Der Ausbruch der Gewalt war insofern vorprogrammiert, als gewalttätige antisemitische Bewegungen und Regierungen die Vertreibung der Juden forderten, während ihrer Auswanderung gleichzeitig unüberwindbare Hürden entgegengesetzt wurden. Dennoch hatten selbst die pessimistischsten Warner keine Vorstellung von dem kommenden Horror. Die zionistische Führung und jüdische Organisationen in Europa und den USA unternahmen große Anstrengungen, um den Opfern des Terrors zu helfen. Doch fehlte es ihnen in jeder Hinsicht an Macht, um den Widerstand gegen das III. Reich auf eine solide Grundlage zu stellen. Boykott, Konferenzen, Fluchthilfe und Diplomatie waren zweifellos notwendig, doch schon 1933 wies der polnische Zionist Moshe Kleinbaum auf die Grenzen von derlei Aktivitäten hin. Seiner Meinung nach gab es nur eine Hoffnung: Die westlichen Staaten dazu zu bringen, Deutschland den Krieg zu erklären. Ohne Macht waren die Juden auf Gedeih und Verderb dem guten Willen der westlichen Demokratien ausgeliefert. Die Einen waren nicht in der Position dem Nationalsozialismus den Krieg zu erklären, die Anderen wollten diesen notwendigen Krieg nicht riskieren, dafür ernteten sie einen Weltkrieg. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war vielen Juden weltweit, jenseits aller religiösen und nationalistischen Erwägungen, die objektive Bedeutung des Zionismus klar geworden. In einer Welt antisemitischer Staaten lag die einzige Möglichkeit, die eigene Haut zu retten darin, selbst die Geschicke eines Staates zu lenken. Ein jüdischer Staat, in dem Juden nicht länger der „Spielball [waren], den die Völker sich gegenseitig zuwarfen“, wie es Leo Pinsker in Autoemanzipation formulierte. Einen im emanzipatorischen Sinne notwendigen Staat, weil nur dieser unter den gegebenen Bedingungen, die materiellen, ökonomischen und militärischen Voraussetzungen schaffen konnte, um jüdische Autonomie auch praktisch gegen den Wahn zu verteidigen und den Überlebenden der Shoa eine „Zufluchtsstätte“ (Jean Amery) zu bieten.
Autor: Luis Liendo Espinoza
Literatur
Laqueur, Walter: Der Weg zum Staat Israel. Geschichte des Zionismus. Wien: Europaverlag 1975.
Cüppers, Martin/ Mallmann Klaus-Michael: Halbmond und Hakenkreuz. Das „Dritte Reich“, die Araber und Palästina. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006
Hans Safrian/ Hans Witek (Hg.): Und keiner war dabei: Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938. Wien: Picus 2008.
Weingarten, Ralph: Die Hilfeleistung der westlichen Welt bei der Endlösung der deutschen Judenfrage. Das „Intergovernmental Committee on Political Refugees“ (IGC) 1938-1939. Bern: Peter Lang 1981.
Weiss, Yfaat: Deutsche und polnische Juden vor dem Holocaust. Jüdische Identität zwischen Staatsbürgerschaft und Ethnizität 1933-1940. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2000.
Dittmar Dahlmann/ Anke Brenner (Hg.): Zwischen großen Erwartungen und bösem Erwachen: Juden, Politik und Antisemitismus in Ost- und Südosteuropa 1918-1945. Juden, Politik und Antisemitismus in Ost- und Südosteuropa 1918-1945. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2007.