Anatomie einer antisemitischen Lüge von der jüdischen Weltverschwörung
Die „Protokolle der Weisen von Zion“ gehören zu den einflussreichsten und gefährlichsten antisemitischen Texten der Geschichte. Dieses Dokument, das angeblich die Pläne einer jüdischen Geheimgesellschaft zur Erlangung der Weltherrschaft enthüllt, ist in Wahrheit eine Fälschung. Dennoch hat es seit seiner Veröffentlichung zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine unheilvolle Wirkung entfaltet und diente als Rechtfertigung für Judenhass, Verfolgung und letztlich sogar den Holocaust. In diesem Artikel beleuchten wir die Entstehung, den Inhalt und die Rezeption der „Protokolle“ sowie ihre andauernde Verbreitung bis in die Gegenwart.
Der Inhalt des „Protokolls“
Die „Protokolle der Weisen von Zion“ geben vor, die Mitschrift einer geheimen Versammlung jüdischer Führer zu sein, die Pläne zur Erlangung der Weltherrschaft schmieden. Der Text besteht aus 24 Abschnitten, die angeblich die Reden verschiedener Vertreter der zwölf Stämme Israels wiedergeben.
Inhaltlich propagieren die „Protokolle“ das Bild einer jüdischen Weltverschwörung mit dem Ziel, die bestehende Gesellschaftsordnung zu untergraben und eine jüdische Weltherrschaft zu errichten. Zu den angeblichen Methoden gehören:
- Die Kontrolle der Wirtschaft und des Finanzsystems
- Die Manipulation der Presse und öffentlichen Meinung
- Die Förderung von Konflikten zwischen den Völkern
- Die Untergrabung von Religion und Moral
- Die Herbeiführung wirtschaftlicher Krisen
Der britische Historiker Norman Cohn fasst den Inhalt der „Protokolle“ folgendermaßen zusammen:
„Die ‚Protokolle‘ geben vor, die Mitschrift einer Reihe von Vorträgen zu sein, die von einem der führenden Älteren von Zion vor einer geheimen jüdischen Gesellschaft gehalten wurden. In diesen Vorträgen wird ein Plan zur Errichtung einer jüdischen Weltherrschaft durch die Untergrabung der Moral der Nichtjuden und die Kontrolle der Weltpresse und Weltwirtschaft dargelegt.“
Die Entstehungsgeschichte der antisemitischen Fälschung
Die Ursprünge und genauen Umstände der Entstehung der „Protokolle“ sind bis heute nicht vollständig geklärt. Sicher ist jedoch, dass es sich um eine Fiktion handelt, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Russland entstand.
Plagiierte Quellen
Der Text der „Protokolle“ ist zu großen Teilen ein Plagiat aus verschiedenen älteren Quellen, die nichts mit einer jüdischen Verschwörung zu tun haben. Die wichtigste Vorlage war die 1864 erschienene Satire „Dialog in der Hölle zwischen Machiavelli und Montesquieu“ des französischen Autors Maurice Joly. Dieses Werk war eine Kritik an der Regierung Napoleons III. und enthielt keinerlei antisemitische Inhalte.
Eine weitere wichtige Quelle war der 1868 unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe veröffentlichte antisemitische Roman „Biarritz“ des deutschen Schriftstellers Hermann Goedsche. Darin findet sich eine Szene, in der sich angeblich jüdische Vertreter der zwölf Stämme Israels auf einem Prager Friedhof treffen, um Pläne zur Erlangung der Weltherrschaft zu schmieden.
Der Historiker Michael Hagemeister schreibt dazu:
„Die ‚Protokolle‘ sind ein aus verschiedenen Quellen zusammengesetztes Plagiat. Etwa 40% des Textes stammen aus Maurice Jolys ‚Dialog in der Hölle zwischen Machiavelli und Montesquieu‘, weitere Teile aus Hermann Goedsches antisemitischem Roman ‚Biarritz‘.“
Entstehung in Russland
Die „Protokolle“ entstanden vermutlich um 1903 im Umfeld der zaristischen Geheimpolizei in Russland. Als wahrscheinlicher Urheber gilt Pjotr Ratschkowski, der Leiter der Auslandsabteilung der Ochrana. Ziel war es, den Zaren von der Gefahr einer jüdischen Verschwörung zu überzeugen und so von innenpolitischen Problemen abzulenken.
1903 erschien in der Zeitung „Znamja“ (Das Banner) in St. Petersburg eine erste Version der „Protokolle“. 1905 wurden sie als Anhang zu einem Buch des mystisch-religiösen Schriftstellers Sergej Nilus veröffentlicht. In dieser Form erlangten die „Protokolle“ schließlich weite Verbreitung.
Die Entlarvung als Fälschung
Bereits kurz nach dem Bekanntwerden der „Protokolle“ gab es Zweifel an ihrer Echtheit. 1921 gelang dem britischen Journalisten Philip Graves der endgültige Nachweis, dass es sich um eine Fälschung handelt.
Graves entdeckte die frappierenden Ähnlichkeiten zwischen den „Protokollen“ und Maurice Jolys „Dialog in der Hölle“. In einer Artikelserie in der Londoner „Times“ legte er dar, wie ganze Passagen nahezu wörtlich übernommen worden waren. Damit war das Machwerk zweifelsfrei entlarvt.
Der Historiker Norman Cohn erklärt:
„Philip Graves‘ Enthüllungen in der ‚Times‘ im August 1921 bewiesen unwiderlegbar, dass die ‚Protokolle‘ eine Fälschung waren. Er zeigte, dass große Teile des Textes direkt aus Maurice Jolys Buch ‚Dialog in der Hölle zwischen Machiavelli und Montesquieu‘ abgeschrieben worden waren.“
Trotz dieser eindeutigen Widerlegung hielten Antisemiten und Rechtsextreme weiterhin an der Echtheit der „Protokolle“ fest. Bis heute werden sie in entsprechenden Kreisen als authentisches Dokument präsentiert.
Die Wirkungsmacht der „Protokolle“
Obwohl entlarvt, entfalteten die „Protokolle der Weisen von Zion“ eine ungeheure und bis heute andauernde Wirkung. Sie trugen maßgeblich zur Verbreitung Verschwörungstheorien bei und dienten als Rechtfertigung für die Verfolgung von Juden.
Verbreitung nach dem Ersten Weltkrieg
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erlebten die „Protokolle“ eine weite Verbreitung, zunächst in Russland und dann in vielen anderen Ländern. In Deutschland wurden sie 1920 von Ludwig Müller von Hausen unter dem Titel „Die Geheimnisse der Weisen von Zion“ veröffentlicht.
In dieser Zeit der politischen und wirtschaftlichen Instabilität fielen die darin enthaltenen Verschwörungstheorien auf fruchtbaren Boden. Die „Protokolle“ boten eine simple Erklärung für komplexe Probleme, indem sie die Juden als Sündenböcke präsentierten.
Der Forscher Jeffrey L. Sammons schreibt in diesem Zusammenhang:
„Die ‚Protokolle‘ erreichten in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg eine enorme Verbreitung. In einer Zeit der Verunsicherung und des Umbruchs boten sie vielen Menschen eine einfache Erklärung für die komplexen Probleme der Nachkriegszeit.“
Rezeption durch die Nationalsozialisten
Eine besonders verhängnisvolle Rolle spielten die „Protokolle“ im Weltbild der Nationalsozialisten. Adolf Hitler erwähnte sie bereits 1923 in „Mein Kampf“ und bezeichnete sie als echt, obwohl ihre Fälschung zu diesem Zeitpunkt längst nachgewiesen war.
Der NS-Chefideologe Alfred Rosenberg verfasste einen Kommentar zu den „Protokollen“ und trug so zu ihrer Verbreitung bei. Die darin enthaltenen Verschwörungstheorien dienten den Nazis als Rechtfertigung für ihre gegen Juden gerichtete Politik bis hin zum Holocaust.
Hannah Arendt analysierte die Bedeutung der „Protokolle“ für den Nationalsozialismus:
„Die Nazis nahmen die Fiktion einer jüdischen Weltverschwörung, wie sie in den ‚Protokollen‘ dargestellt wird, für bare Münze und benutzten sie als Modell für ihre eigene Organisation.“
Verbreitung in der arabischen Welt
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Gründung des Staates Israel 1948 fanden die „Protokolle“ neue Verbreitung in der arabischen Welt. Im Kontext des Nahostkonflikts wurden sie zu einem Instrument antiisraelischer und anti zionistischer Propaganda.
In vielen arabischen Ländern werden die „Protokolle“ bis heute als authentisch dargestellt und in den Medien zitiert. Auch in Schulbüchern finden sich Verweise darauf. Der Geschichtswissenschaftler Norman Cohn schriebe dazu:
„In der arabischen Welt haben die ‚Protokolle‘ seit den 1950er Jahren weite Verbreitung gefunden. Sie werden oft als Beweis für eine jüdisch-zionistische Verschwörung zur Beherrschung der Region angeführt.“
Andauernde Rezeption in rechtsextremen Kreisen
Trotz der eindeutigen Widerlegung ihrer Echtheit werden die „Protokolle“ bis heute in rechtsextremen und antisemitischen Kreisen als authentisches Dokument präsentiert. Sie dienen dort weiterhin zur Verbreitung von Verschwörungstheorien über eine angebliche jüdische Weltverschwörung.
Auch manche religiöse Extremisten beziehen sich auf die „Protokolle“. So verbreitet etwa die „Nation of Islam“ in den USA antisemitische Ideen unter Berufung auf diesen Text.
Die Historiker Lynn Ciminski und Martin Schmitt konstatieren:
„Die ‚Protokolle‘ haben bis heute nichts von ihrer Anziehungskraft auf Antisemiten und Verschwörungstheoretiker verloren. In rechtsextremen Kreisen werden sie nach wie vor als Beweis für eine jüdische Weltverschwörung angeführt.“
Analyse und Einordnung
Die andauernde Wirkung der „Protokolle der Weisen von Zion“ trotz ihrer Entlarvung wirft die Frage auf, worauf ihre Attraktivität für Antisemiten und Verschwörungstheoretiker beruht.
Funktion als antisemitisches Propagandainstrument
Die „Protokolle“ dienen seit ihrer Entstehung als Instrument zur Verbreitung und Rechtfertigung antijüdischer Ideen. Sie präsentieren das Judentum als monolithischen Block mit finsteren Absichten und nähren so antijüdische Ressentiments.
Der Historiker Norman Cohn analysiert:
„Die ‚Protokolle‘ sind ein klassisches Beispiel dafür, wie Antisemitismus funktioniert. Sie projizieren alle Ängste und Unsicherheiten einer Gesellschaft auf die Juden als Sündenböcke.“
Attraktivität von Verschwörungstheorien
Die in den „Protokollen“ präsentierte Verschwörungstheorie bietet eine simple Erklärung für komplexe gesellschaftliche und politische Probleme. Dies macht sie attraktiv für Menschen, die nach einfachen Antworten suchen.
Hannah Arendt schreibt dazu:
„Die ideologische Fiktion einer Weltverschwörung, wie sie in den ‚Protokollen‘ dargestellt wird, entspricht dem Wunsch nach einer einfachen Erklärung für die Komplexität der modernen Welt.“
Flexibilität der Interpretation
Ein Grund für die anhaltende Wirkung der „Protokolle“ ist ihre Flexibilität. Der vage und allgemeine Inhalt lässt sich leicht auf unterschiedliche Situationen und Kontexte anwenden.
Der Forscher Michael Hagemeister erklärt:
„Die ‚Protokolle‘ sind so allgemein und vage formuliert, dass sie sich auf nahezu jede historische Situation anwenden lassen. Dies erklärt ihre andauernde Attraktivität für Verschwörungstheoretiker.“
Fazit
Die „Protokolle der Weisen von Zion“ sind ein eindrückliches Beispiel dafür, welche verheerende Wirkung antijüdischePropaganda entfalten kann. Sie haben bis heute nichts von ihrer Anziehungskraft auf Antisemiten und Verschwörungstheoretiker verloren.
Der französische Historiker Pierre-André Taguieff fasst dies treffend zusammen:
„Die ‚Protokolle‘ sind der Prototyp einer modernen politischen Fälschung. Ihr Fortbestehen zeigt, wie hartnäckig sich antisemitische Vorurteile und Verschwörungstheorien halten können, selbst wenn ihre Grundlagen längst widerlegt sind.“
Die andauernde Verbreitung und Rezeption der „Protokolle“ macht deutlich, wie wichtig historische Aufklärung und die Bekämpfung von Antisemitismus und Verschwörungstheorien nach wie vor sind. Nur so lässt sich verhindern, dass diese gefährliche Fälschung auch in Zukunft zur Rechtfertigung von Judenhass und Verfolgung missbraucht wird.
Literatur
Umberto Eco: Fiktive Protokolle. In: Umberto Eco: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. Harvard-Vorlesungen (Norton lectures 1992–1993). Hanser, München u. a. 1994, S. 155–184.
Cesare G. De Michelis: The Non-Existent Manuscript. A Study of the Protocols of the Sages of Zion. Edition revised and expanded. University of Nebraska Press, Lincoln NE u. a. 2004.
Wolfgang Benz: Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Legende von der jüdischen Weltverschwörung. Beck, München 2007.
Malte Gebert, Carmen Matussek: „… selbst wenn sie unser Land verlassen würden“. Die Adaption der Protokolle der Weisen von Zion in der arabischen Welt. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung. Bd. 18, 2009, S. 67–88.
Sibylle Hofer: Richter zwischen den Fronten. Die Urteile des Berner Prozesses um die «Protokolle der Weisen von Zion» 1933–1937, Helbing Lichtenhahn, Basel 2011.
Esther Webman (Hrsg.): The Global Impact of the Protocols of the Elders of Zion: A Century-Old Myth. Routledge 2011.
Carmen Matussek: Der Glaube an eine „jüdische Weltverschwörung“. Die Rezeption der „Protokolle der Weisen von Zion“ in der arabischen Welt. Lit, Berlin 2012.
Eva Horn, Michael Hagemeister (Hrsg.): Die Fiktion von der jüdischen Weltverschwörung. Zu Text und Kontext der „Protokolle der Weisen von Zion“. Wallstein, Göttingen 2012.
Siehe dazu auch das Special der bpb.