Hält der Kampf mit „Mein Kampf“ zu unrecht an?
Hitlers Werk „Mein Kampf“, das in nationalsozialistischer Zeit millionenfach aufgelegt wurde, hat heute eine Bedeutung als historische Quelle. Wegen des menschenverachtenden Inhalts bleibt der angemessene Umgang mit dieser Schrift für den liberalen Rechtsstaat eine Herausforderung.
Am 8. November 1923 inszenierte Hitler zusammen mit dem Weltkriegsgeneral Ludendorff in Bayern einen Putsch, um anschließend – in Analogie zu Mussolinis Marsch auf Rom – nach Berlin vorzudringen und die Regierung Stresemann zu stürzen. Doch bereits am darauffolgenden Tag endete der Aufstand bei der Feldherrnhalle im Kugelhagel der Polizeikräfte. Hitler konnte zunächst fliehen, wurde aber bald gefasst und musste sich Anfang des Jahres 1924 vor dem Volksgericht in München verantworten. Er trat dort mit großer Dreistigkeit auf und nutzte den Prozess, um das politische System anzuklagen und seine politischen Überzeugungen zu verbreiten. Dabei konnte er von einer kaum zu überbietenden Voreingenommenheit des zuständigen Richters profitieren. Obwohl beim Putschversuch auch Ordnungskräfte ums Leben gekommen waren, wurde der einstige Gefreite lediglich zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, wobei ihm noch im Gerichtssaal eine frühzeitige Entlassung in Aussicht gestellt wurde. Die Weimarer-Justiz ließ gegenüber radikalen Kräften des rechten Parteienspektrums fast immer viel Nachsicht walten.
Hitler kam auf die bayrische Festung Landsberg, wo ihm ein privilegiertes Leben zugestanden wurde: Er bekam ein Schlafzimmer und einen Wohnraum für sich alleine, konnte Besuche empfangen, spazieren gehen, vor Mithäftlingen Vorträge halten und den zwangsverordneten Aufenthalt nutzen, um seine Weltanschauung auszubauen und seine strategisch-taktischen Überlegungen zu systematisieren. Spöttisch bezeichnete er denn auch seine Zeit auf der Festung Landsberg als „Hochschule auf Staatskosten“.
Millionenauflage
Während der Haftzeit diktierte und schrieb Hitler den ersten Teil seines mittlerweile berühmt-berüchtigten Buches „Mein Kampf“, der zweite Teil entstand nach der im Dezember 1924 erfolgten vorzeitigen Entlassung in einer Villa auf dem Obersalzberg. Im Juli 1925 wurde der erste Band veröffentlicht, im Dezember 1926 der zweite. Bis 1930 erschien „Mein Kampf“ in zwei relativ großformatigen Bänden zum Preise von je 12 Mark, vom ersten Band sollen 23’000, vom zweiten Band 13’000 Exemplare verkauft worden sein. 1930 wurden die beiden Bände zu einer einbändigen Volksausgabe zusammengefasst im Format 12 auf 18,9 cm – offensichtlich eine Angleichung an das übliche Bibelformat. Von dieser Volksausgabe wurden bis zu Hitlers Machtantritt im Januar 1933 287’000 Exemplare zum Preis von 8 Mark verkauft. Nach Hitlers Machtantritt schnellten die Auflagezahlen gewaltig in die Höhe. Allein vom Februar 1933 bis zum 31. Dezember 1933 wurden rund 1’500’000 Stück vertrieben. Bis 1939 stieg die Gesamtauflagezahl auf 5’450’000, bis 1943 auf 9’840‘000.
Allerdings müssen die hohen Auflagezahlen relativiert werden: Nach Hitlers Machtantritt wurde das Buch nicht mehr allein durch Privatverkauf verbreitet. Es war angeordnet worden, „Mein Kampf“ Beamten als Anerkennung für verdienstvolle Leistungen auszuhändigen und Brautleuten auf dem Standesamt zu überreichen. Am 10. Jahrestag des erstmaligen Erscheinens wurde das Buch durch Rundfunk und Presse als „die ideellen Grundlagen des neuen Staates und das Lehrbuch der Parteigenossen und des ganzen Deutschen Volkes“ bezeichnet. In den Instruktionsstunden der SA und den Arbeitsdiensten wurde es als obligatorischer Stoff durchgenommen und 1934 aufgrund eines Erlasses des Reichsministers für Erziehung und Unterricht in den Schulen als Grundlage für den Geschichtsunterricht und für die Bildung der Weltanschauung der deutschen Jugend verordnet. Es gab also nach Hitlers Machtantritt eine staatlich geförderte Verbreitung des Werkes, was die hohen Auflagezahlen relativiert. Zudem waren die Buchhändler vom Präsidenten der Reichsschrifttumskammer angewiesen worden, nur neue „Mein Kampf“-Bände zu verkaufen, da es „für jeden nationalsozialistisch denkenden Deutschen schmerzlich ist, das Werk unseres Führers in unserer Zeit als ‚antiquarisch‘ ausgeschrieben zu sehen.“
Ein Vergleich der zahlreichen Auflagen in deutscher Sprache hat ergeben, dass von 1925 bis 1939 zwar 2591 Änderungen vorgenommen worden sind, allerdings allesamt ohne große Bedeutung: Grammatikalische Fehler wurden getilgt, falsch verwendete Fremdwörter ersetzt, missverständliche Stellen verbessert, einige ausfällige Schimpfwörter gemildert (z.B. „Pesthure“ durch „Pestilenz“). An den meisten derben Ausdrücken hielt Hitler aber fest. Auch die wenigen inhaltlichen Veränderungen waren geringfügiger Natur.
Zwischen 1933 und 1938 erschienen Übersetzungen in englischer, dänischer, schwedischer, spanischer, ungarischer und französischer Sprache, zahlreiche weitere folgten.
Eine politische Abrechnung
Ursprünglich wollte Hitler seine Schrift unter dem Titel „Viereinhalb Jahre gegen Lüge, Dummheit und Feigheit“ veröffentlichen. Was als politische Abrechnung begann, entwickelte sich bald zu einer Mischung aus Biographie, Weltanschauung, politischem Bekenntnis und Agitationslehre. Hitler verrät in seinem Werk nicht, aus welchen Büchern er Ideen für sein Gedankengebäude zusammentrug. Belegt ist, dass er ein Vielleser war und historische Literatur nationaler Gesinnung bevorzugte. Hitler befasste sich aber auch mit den Klassikern der Literatur- und Philosophiegeschichte, mit Buddha, Moses, Jesus und Konfuzius, und kannte unzweifelhaft die damals kursierende antisemitische Literatur.
Eine inhaltliche Zusammenfassung seines Gedankenkonglomerates zu geben, fällt schwer. Den Kern seiner Weltauffassung bilden Rassenvorstellungen – eine in der damaligen Zeit weit verbreitete Denkart – denen er alles unterordnet. Ohne die Grundlagen seiner Rassenanschauung wirklich zu erklären, entwickelt er ein Welterklärungsmodell, das – wenngleich oft mittels abstruser Gedankengänge hergeleitet – doch eine relative Geschlossenheit aufweist. Dabei führt ihn sein krankhafter Antisemitismus dazu, den Juden die Schuld für praktisch alle Übel der Welt zuzuweisen und sie der Zerstörung jeglicher „natürlicher“ Ordnung anzuklagen. Wenngleich Hitler in „Mein Kampf“ nicht ausdrücklich die physische Vernichtung des Judentums fordert, wird sie doch mental vorbereitet: Aus der Optik seiner monströsen Gesinnung heraus wird später die Ausrottung der „jüdischen Rasse“ zu einem Menschheitsreinigungswerk.
Aufschlussreich sind Hitlers Erörterungen zur Funktion der Propaganda. Im angestrebten Führerstaat soll sie die Menschen zu Untertanen machen, die keine relativierende und differenzierende Urteilsfähigkeit kennen. Jede Propaganda hat daher „volkstümlich zu sein und ihr geistiges Niveau einzustellen nach der Aufnahmefähigkeit des Beschränktesten unter denen, an die sie sich zu richten gedenkt. (…) Die Aufnahmefähigkeit der grossen Masse ist nur sehr beschränkt, das Verständnis klein, dafür jedoch die Vergesslichkeit gross. Aus diesen Tatsachen heraus hat sich jede wirkungsvolle Propaganda auf nur sehr wenige Punkte zu beschränken und diese schlagwortartig solange zu verwerten, bis auch bestimmt der Letzte unter einem solchen Worte das Gewollte sich vorzustellen vermag.“ Hitlers Offenheit an dieser Stelle erstaunt – geschadet hat ihm die Beschreibung der großen Masse des Volkes als dumm und einfältig jedenfalls nicht.
Auch freimütige außenpolitische Aussagen hatten für ihn keine unmittelbaren Folgen. Brisant waren vor allem seine Bemerkungen zu Russland, das im Buch ausdrücklich als Ziel der deutschen Lebensraumpolitik bezeichnet wird. Vor einem Vertrag mit diesem Staat, dessen Politiker als Vertreter „der Lüge, des Betrugs, des Diebstahls, der Plünderung“ bezeichnet werden, warnt Hitler: „Wenn der Mensch glaubt, mit Parasiten vertragliche Bindungen eingehen zu können, so ähnelt dies dem Versuch eines Baumes, zu eigenem Vorteil mit einer Mistel ein Abkommen zu schliessen.“
Bekanntlich haben die Nationalsozialisten im August 1939 doch einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion abgeschlossen. In Deutschland lief denn auch nach Bekanntgabe des Vertrages der Flüsterwitz um, Hitler habe Molotow, dem Unterzeichner des Paktes, ein Exemplar von „Mein Kampf“ mit eigenhändigen Radierungen überreichen lassen. Stalin selber kannte Hitlers Buch sehr genau und hat sich keine Illusionen über des Führers eigentliche außenpolitische Ziele gemacht. Wenn er 1941 die deutsche Kriegspolitik falsch einschätzte, waren andere Gründe maßgebend, nicht der Mangel an Kenntnissen über des Führers eigentliche außenpolitische Ziele.
Wie oft wurde „Mein Kampf“ gelesen?
Ende der dreißiger Jahre war „Mein Kampf“ in Millionen von deutschen Haushalten vorhanden, wie oft das Buch aber auch wirklich gelesen worden ist, kann kaum festgestellt werden – allein schon deshalb, weil bei nachträglichen Befragungen von Zeitzeugen aus Gründen der Entlastung eine Tendenz bestand, die Lektüre, oft sogar den Besitz, zu bestreiten. Gut möglich ist, dass das immerhin fast achthundert Seiten starke Werk mehrheitlich auszugsweise gelesen wurde. Da die Volksausgabe ein alphabetisch geordnetes Personen- und Sachverzeichnis mit 373 Hauptstichwörtern und zahlreichen Verweisen enthielt, bekam das Buch den Charakter eines Nachschlagewerks. An der gelegentlich kolportieren Meinung, Hitlers Parteigänger hätten das Werk kaum gelesen, dürfte einiges wahr sein, galt doch Lesen in nationalsozialistischen Kreisen nicht gerade als Tugend.
Schwer einzuschätzen ist die Wirkung des Buches auf diejenigen, die es tatsächlich gelesen hatten. Hitler selber stufte in „Mein Kampf“ den Einfluss von Büchern gering ein: „Denn das mögen sich alle die schriftstellernden Ritter und Gecken von heute besonders gesagt sein lassen: die grössten Umwälzungen auf dieser Welt sind nie durch einen Gänsekiel geleitet worden! (…) Die Macht aber, die die grossen historischen Lawinen religiöser und politischer Art ins Rollen brachte, war seit urewig nur die Zauberkraft des gesprochenen Wortes.“
In der Tat verdankte Hitler seine Popularität vor allem seinen Reden, von denen eine suggestive Wirkung ausging. Die Bedeutung seines Buches darf aber nicht geringgeschätzt werden, zumal der Führer ja nur begrenzt direkt zum Volk sprechen konnte. „Mein Kampf“ wurde gerade in der Kombination mit den Reden zu einer wichtigen geistigen Waffe, zu einer Art ideologischem Kompass, der diejenigen, die mit der nationalsozialistischen Weltanschauung infiziert waren, in ihrem Kurs bestärkte.
Hitler war kein Schriftsteller – das wusste er selber wohl auch, wenngleich sich in „Mein Kampf“ Stellen finden, bei denen ein literarischer Anspruch des Schreibenden spürbar wird. Die Lektüre ist aber insgesamt über weite Strecken bemühend. Hitler wiederholt sich laufend, seine Sprache ist schwülstig, dazu verwendet er immerzu dieselben Adjektive. Ist das Buch in stilistischer Hinsicht zwar eine Zumutung, so gehört es aufgrund seines menschenverachtenden Inhalts doch zur – toxikologisch gesprochen – stärksten Giftklasse.
Urheberrechte
Die Urheberrechte des Buches liegen heute beim Freistaat Bayern, der sie nach dem zweiten Weltkrieg im Zuge der Entnazifizierungsmaßnahmen von den Siegermächten übertragen bekam. Gegen unveränderte Nachdrucke wird mit allen zur Verfügung stehenden rechtlichen Mitteln vorgegangen, allerdings ist dies nur in Staaten möglich, die auf dem Gebiete des Urheberrechtes entsprechende multilaterale Verpflichtungen eingegangen sind. Der Freistaat Bayern will damit verhindern, dass nationalsozialistisches Gedankengut im In- und Ausland verbreitet wird und gleichzeitig das Ansehen Deutschlands Schaden leidet. Darüber hinaus geht es aber auch um den Respekt vor den Opfern des Nationalsozialismus und deren Angehörigen. „Mein Kampf“ ist das Buch eines Massenmörders, der darin seine Taten mental vorbereitet und diejenigen, die er später umbringen ließ, verhöhnt und erniedrigt. Angesichts der Dimensionen des Holocausts ist es schwer erträglich, das Buch in rechtlicher Hinsicht wie eine gewöhnliche Publikation behandelt zu sehen.
Allen behördlichen Bestrebungen eines kontrollierten Umgangs mit Hitlers Machwerk steht die Tatsache gegenüber, dass es im Zeitalter des globalen Internets praktisch unmöglich ist, die Verbreitung des Werkes effektiv zu verhindern. Nationale Instanzen stehen hierbei vor denselben Problemen, wie sie etwa hinsichtlich der Kinderpornographie bekannt sind. Es stellt sich daher die Frage, ob eine rein defensive Bekämpfung des Werkes noch angemessen sei, zumal dies in rechtsradikalen Kreisen auch zu einer Mystifizierung des Buches beiträgt nach der Logik: „Wenn der Staat das Buch unterdrückt, müssen in ihm wichtige und gefährliche Gedanken zu finden sein“. Zu einer wissenschaftlich kommentierten Ausgabe des Werkes ist es bis heute nicht gekommen.
Hitlers Schrift stellt heute eine wichtige historische Quelle dar, die hilft, Aspekte der nationalsozialistischen Herrschaft besser zu begreifen. Vor allem aber wird auch die Frage wachgehalten: Wieso wurde Hitler, über dessen Einstellung und Pläne man sehr viel wissen konnte, nicht rechtzeitig gestoppt?
Ein echtes Verführungspotential besitzt das Buch heute kaum mehr. Dazu ist der Inhalt entweder zu schal oder abwegig, viele Gedanken dazu oft stark zeitgebunden. Zweifellos findet auch heute noch rassistisches Denken eine gewisse Resonanz, doch kaum mehr in so krass vulgärer Form, wie es in „Mein Kampf“ daherkommt. Umgekehrt hat das Buch ein Aufklärungspotential: Jedem an den Menschenrechten orientiertem Leser wird deutlich vor Augen geführt, wie verbrecherisch Hitlers Gesinnung war.
Autor: Dr. Roland Aegerter
Literatur
Halhuber, Max-Joseph, Obenfeldner, Ferdinand; Pelinka, Anton: „Mein Kampf“ – heute wieder gelesen. Innsbruck 1993.
Hitlers zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahr 1928. Eingeleitet und kommentiert von Gerhard L. Weinberg. Mit einem Geleitwort von Hans Rothfels. Stuttgart 1961.
Lange, Karl: Hitlers unbeachtete Maximen. „Mein Kampf“ und die Oeffentlichkeit. Stuttgart 1968.
Maser, Werner: Hitlers Mein Kampf. Entstehung, Aufbau, Stil, Aenderungen, Quellen, Quellenwert, kommentierte Auszüge. München 1966.
Rosenbaum, Ron: Die Hitler-Debatte: auf der Suche nach dem Ursprung des Bösen. München 1999.
Syring, Enrico: Hitler: seine politische Utopie. Berlin 1994.
IfZ: Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition.