Die Teilnehmer der Wannseekonferenz: Unterstaatssekretär Martin Luther (Auswärtiges Amt)
Am 20. Januar 1942 kamen auf Einladung des SS-Obergruppenführers Reinhard Heydrich (1904 – 1942) fünfzehn ranghohe Vertreter des NS-Regierungsapparates und der SS in einer Villa am Großen Wannsee in Berlin zusammen. Reichsmarschall Hermann Göring (1893 – 1946) hatte Heydrich, die rechte Hand des Reichsführers SS Heinrich Himmler (1900 – 1945), zuvor mit der „Endlösung der Judenfrage“ betraut, womit nichts anderes als die Ermordung aller in Europa lebenden Juden gemeint war. Federführend hierbei war neben Heydrich vor allem SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann (1906 – 1962), den man deshalb auch den „Architekten des Holocausts“ nennt. Als Vertreter des Staatssekretärs und SS-Oberführers Ernst Freiherr von Weizsäcker (1882 – 1951) und deren gemeinsamen Vorgesetzten, NS-Außenminister Joachim von Ribbentrop (1893 – 1946), sowie als Leiter der Abteilung D (Deutschland) des Auswärtigen Amts (AA) nahm auch Unterstaatssekretär Martin Luther (1895 – 1945) an der Wannseekonferenz teil. Als Leiter der Abteilung D war Luther der Verantwortliche für die Zusammenarbeit mit dem Reichsführer SS, dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und dem Ressort D III („Judenfrage, Rassenpolitik, Information der Auslandsvertretungen über wichtige innenpolitische Vorgänge“).
Martin Luther wurde am 16. Dezember 1895 in Berlin geboren und besuchte als Jugendlicher das humanistische Gymnasium, machte jedoch nie Abitur. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, meldete Luther sich bald darauf freiwillig bei der Preußischen Armee und diente dort bis Kriegsende in der Eisenbahneinheit. Bis zur Kapitulation des Deutschen Reichs im Jahre 1918 war Luther bis zum Rang des Leutnants aufgestiegen. Wie die meisten deutschen Soldaten wurde er wegen des Friedensvertrags von Versailles, der eine Entmilitarisierung des Deutschen Reichs vorsah, nicht in die Reichswehr übernommen und leitete in den Folgejahren zunächst für kurze Zeit eine Umzugsfirma, die auch Raumausstattungen durchführte, und dann eine Spedition und Entrümpelungsfirma, mit der er zu einigem Wohlstand gelangte.
Etwas über einen Monat nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten trat Luther am 1. März 1933 in die NSDAP ein und betätigte sich fortan auch in der Sturmabteilung (SA) von Berlin-Dahlem, obgleich die SA zu diesem Zeitpunkt schon begonnen hatte, in Bedeutungslosigkeit zu verschwinden und zunehmend der Schutzstaffel (SS) zu weichen. Innerhalb des NS-Regimes wurde Luther zunächst Leiter der Wirtschaftsberatungsstelle in Berlin, ehe er 1936 in die Dienststelle Ribbentrop versetzt wurde. Wie so oft war Adolf Hitler (1889 – 1945) sehr daran gelegen, verschiedene Organisationen, Ämter und Parteiorgane mit vergleichbaren Aufgabenbereichen und Kompetenzen miteinander konkurrieren zu lassen, um selbst die Kontrolle zu behalten: Divide et impera. So hatte die Dienststelle Ribbentrop ähnliche Aufgaben wie das Auswärtige Amt und war wie dieses lediglich ein paradiplomatisches Feigenblatt, denn an ernsthaften diplomatischen Beziehungen mit anderen Staaten waren die Nazis nicht interessiert, gaben dies aber vor. So wurde Ribbentrop 1936 dann zum deutschen Botschafter in London ernannt. Luther wurde von Ribbentrop wegen seiner vorherigen beruflichen Laufbahn mit der Durchführung des Umzugs einschließlich der Gestaltung und Ausstattung der Botschaftsinnenräume betraut.
Im August desselben Jahres begann Luther mit dem Aufbau einer unabhängigen Parteiverbindungsstelle innerhalb der Dienststelle Ribbentrop. Nach etwa einem Jahr führte ein kritischer Bericht eines Mitarbeiters der Verbindungsstelle an den Sicherheitsdienst zur Entlassung Luthers, der jedoch weiter Ribbentrops Wohlwollen genoss und von diesem daher im Frühjahr 1938 bei dessen Ernennung zum Reichsminister des Auswärtigen zum Leiter des Sonderreferates NSDAP im Auswärtigen Amt ernannt wurde. Am 7. Mai 1940 erfolgte Luthers Ernennung zum Leiter der Abteilung D (Deutschland), womit er fortan für Propaganda, aber auch die Kontaktpflege des Auswärtigen Amtes zu Parteiorganisationen, darunter vor allem SS und Sicherheitsdienst des Reichsführers SS (SD) zuständig war. 1941 wurde Luther zum Ministerialdirektor befördert, was mit der Amtsbezeichnung „Unterstaatssekretär“ einherging. Er war nun auch dafür zuständig, in vom Deutschen Reich abhängigen ausländischen Gebieten die dortigen Marionettenregierungen dazu zu nötigen, die in ihren Ländern befindlichen Juden an das NS-Regime auszuliefern. Luther war also schon im Vorfeld zur Wannseekonferenz für die Organisation der Verfolgung, Deportation und nun anlaufenden systematischen Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas maßgeblich mitverantwortlich. Dabei sah er den Krieg als eine Chance, den Massenmord leichter durchführen zu können: „Die Gelegenheit des Krieges muß benutzt werden, in Europa die Judenfrage endgültig zu beseitigen“, schrieb Luther in einer Vortragsnotiz vom 4. Dezember 1941.
Als Vertreter des Auswärtigen Amtes und des Staatssekretärs und SS-Oberführers Ernst Freiherr von Weizsäcker, fuhr Luther zur Wannseekonferenz, an der jener am 20. Januar 1942 teilnahm und zu der er ein Memorandum mitbrachte: „Wünsche und Ideen des Auswärtigen Amtes zur vorgeschlagenen Gesamtlösung der Judenfrage in Europa“. Welchen Kenntnisstand Ribbentrop bezüglich dieser Vorgänge hatte, ist ungewiss. Dies signalisierte die Zustimmung des Auswärtigen Amtes zu der geplanten Vernichtungspolitik. Luther war der einzige Teilnehmer der Wannseekonferenz, dessen Exemplar der Protokolle den Krieg überlebte. Zu seiner Rolle bei der Wannseekonferenz und in deren Nachwirken belog Luther später sogar das Regime selbst. Luther und seinetwegen auch das Auswärtige Amt waren hauptverantwortlich für die Deportation der Juden aus befreundeten und besetzten Ländern und Gebieten, die vorbereitet und abgesichert werden mussten. Auf Luthers Empfehlung hin konzentrierte sich diese Praxis zunächst vor allem auf Südosteuropa und Westeuropa, denn die nordischen Länder könne man zunächst in Anbetracht geringer „Judenzahlen“ hintanstellen, zumal hier auch eher mit anderen Unwägbarkeiten zu rechnen sei.
1942 stieg Luther zum SA-Brigadeführer auf und auch im Auswärtigen Amt wuchs seine Macht, bis sein Einfluss die üblichen Befugnisse eines Staatssekretärs übertraf, was Luther unvorsichtig und anmaßend werden ließ. Ribbentrop selbst gewann den Eindruck, dass Luther seine Kompetenzen zu überschreiten begann und zudem mehr dem Wohlwollen Himmlers als dem Auswärtigen Amt verpflichtet schien, was noch einmal belegt, dass es Teil der Strategie Hitlers war, die verschiedenen Organisationen der Partei und Regierungsstellen in Konkurrenz zueinanderzuhalten, obwohl sie dasselbe Ziel verfolgten. Stein des Anstoßes war Rumänien. Ribbentrop fand, Luther habe die Interessen des Auswärtigen Amtes gegenüber der SS nicht ausreichend geschützt. In einem Schreiben vom 21. August 1942 rechtfertigte Luther sich, log dabei jedoch über seinen Austausch mit Weizsäcker, den er angeblich über den Verlauf der Wannseekonferenz detailliert ins Bild gesetzt habe. Hinsichtlich seines eigenmächtigen Vorgehens in Serbien log er zwar nicht, hüllte sich aber in Schweigen:
„In der Sitzung am 20.1.1942 habe ich gefordert, daß alle das Ausland betreffende Fragen vorher mit dem Auswärtigen Amt abgestimmt werden müßten, was Gruppenführer Heydrich zusagte und auch loyal gehalten hat, wie überhaupt die für Judensachen zuständige Dienststelle des Reichssicherheitshauptamtes von Anfang an alle Maßnahmen in reibungsloser Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt durchgeführt hat.“
Luther zeigte sich als eifriger Verfechter der Judenverfolgung und war eine treibende Kraft der Vernichtungsmaschinerie. Am 4. Dezember 1942 etwa schrieb er in einem Brief an den Diplomaten Werner von Bargen (1889 – 1975), in dem er diesen zu einem „energischen Zugreifen“ aufforderte, dass „eine durchgreifende Säuberung Belgiens von Juden früher oder später auf alle Fälle erfolgen“ müsse, und zwar ohne dafür außenpolitische Argumente anzuführen.
Luther konspirierte aber nicht nur gegen Weizsäcker, sondern auch gegen Ribbentrop selbst. Er vertraute dabei auf die Unterstützung von SS-Brigadeführer Walter Schellenberg (1910 – 1952), dem Chef des Auslandsnachrichtendienstes der SS. Schellenberg war wie Luther ein Gegner von Ribbentrops Außenpolitik und warf dem Reichsminister vor, nicht ausreichend darum bemüht zu sein, „Deutschland aus der Sackgasse des Zweifrontenkrieges herauszubringen“, in den letztlich niemand anderer als Hitler selbst das Land hineinmanövriert hatte. Luther verfasste daher ein Schreiben voller Anschuldigungen gegen Ribbentrop an Himmler selbst mit der klaren Zielsetzung, den Reichsminister als arbeitsunfähig oder gar geisteskrank darzustellen. Der Brief fiel Himmlers Adjutanten, SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Karl Wolff (1900 – 1984) in die Hände, der mit dem Schreiben direkt zu Ribbentrop lief, was zu Luthers Verhaftung am 10. Februar 1943 führte. Das Verhör leitete der Gestapo-Chef, SS-Gruppenführer Heinrich Müller (1900 -1945) selbst. Luther wurde im KZ Sachsenhausen inhaftiert, erfuhr aufgrund seiner vorigen Stellung aber eine bevorzugte Behandlung. Später wurde ihm auf persönliche Anordnung Hitlers, der damit auf einen Brief von Luthers Ehefrau reagierte, gestattet, mit seiner Frau ein Haus am Rande des KZs zu bewohnen. Martin Luther starb am 13. Mai 1945 an den Folgen einer Herzattacke in Berlin.
Literatur
Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, Karl Blessing Verlag, München 2010.
Hans-Jürgen Döscher: Martin Luther – Aufstieg und Fall eines Unterstaatssekretärs. In: Die braune Elite II. Hrsg. v. Ronald Smelser, Enrico Syring und Rainer Zitelmann. WBG, Darmstadt 1993, S. 179–192.
Christopher Browning: Martin Luther : Auswärtiges Amt. Ein hemdsärmeliger Aufsteiger. In: Hans-Christian Jasch, Christoph Kreutzmüller (Hrsg.): Die Teilnehmer. Die Männer der Wannsee-Konferenz. Berlin : Metropol, 2017, S. 227–246