Chef der Sicherheitspolizei und des SD sowie Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA)
Die Geheime Staatspolizei (Gestapo), die zusammen mit der Kriminalpolizei (Kripo) die Sicherheitspolizei (Sipo) bildete, und der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS (SD) waren die wichtigsten und wirkungsvollsten Instrumente des Schreckens im NS-Regime. Sie verfolgten politische Gegner, legten geheime Akten an, erfüllten nachrichtendienstliche Aufgaben abseits der halbwegs unabhängigen Abwehr der Wehrmacht. Der SD hatte zudem eine weitere Aufgabe: die Koordination des Holocausts. Der maßgeblich für die Planung der Judenvernichtung verantwortliche Chef der Sicherheitspolizei und des SD SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich (1939 – 1942) starb bald nach der Wannseekonferenz, auf der ranghohe NS-Funktionäre die „Endlösung der Judenfrage“ besprachen und planten, an den Folgen eines Attentats. Nach einer kommissarischen Leitung von SD und Sipo durch den Reichsführer SS Heinrich Himmler (1900 – 1945) selbst wurde 1943 das Amt des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD und auch das des Leiters des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) SS-Obergruppenführer Ernst Kaltenbrunner (1903 – 1946) übertragen.
Ernst Kaltenbrunner wurde am 4. Oktober 1903 als Sohn des Rechtsanwalts Hugo Kaltenbrunner und dessen Frau Therese (geb. Udwardy) in Ried (Oberösterreich) geboren. Schon sein Elternhaus stand in einer Linie mit den Idealen der Nazis: Es war großdeutsch-national und antiklerikal geprägt, wollte also eine Vereinigung Österreichs mit dem – wie Adolf Hitler (1889 – 1945) es in „Mein Kampf“ bezeichnet – „großen deutschen Mutterlande“ und lehnte die Kirche wie der ariosophische Vorreiter der NS-Ideologie Guido von List (1848 – 1919; eigentlich: Guido Karl Anton List) ab. Die Volksschule besuchte Kaltenbrunner in Raab, zog 1918 in eine Pension in Linz, wo er wie einst Adolf Hitler das Realgymnasium besuchte und zudem die Bekanntschaft von Adolf Eichmann (1906 – 1962) machte. Nach der Matura begann Kaltenbrunner zunächst ein Studium der Chemie an der der Technischen Hochschule in Graz und trat der waffentragenden Studentenverbindung „Arminia“ bei, in der er zu einer prominenten Personalie innerhalb der Grazer Studentenschaft wurde – bis zu seinem Tod sollte er Philister der „Arminia“ bleiben. 1924, ein Jahr nach Abbruch des Chemiestudiums und der Aufnahme eines Studiums der Rechtswissenschaften, war Kaltenbrunner nicht nur Sprecher der „Arminia“, sondern aller nationalistischen Studenten der Hochschule und nahm daher auch an antimarxistischen und antiklerikalen Demonstrationen teil. 1926 promovierte Kaltenbrunner dann zum Doktor der Rechtswissenschaften (Dr. iur. = Doctor iuris) und absolvierte bis 1928 seine Referendarszeit in Linz und Salzburg. Danach erhielt er eine Anstellung bei einer Anwaltskanzlei in Linz. Er trat 1928 zudem dem nationalistischen Turnverein und ein Jahr darauf der ebenfalls völkisch geprägten „Heimwehr“ bei.
Weil sie den Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich anstrebte, trat Ernst Kaltenbrunner am 18. Oktober 1930 in die österreichische Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) ein. Zudem wurde er am 8. August 1931 Mitglied der Schutzstaffel (SS), die der deutschen SS und nicht der österreichischen NSDAP unterstellt war. Im Folgejahr wechselte Ernst Kaltenbrunner in die Kanzlei seines Vaters und vertrat andere Nationalsozialisten vor Gericht fortan unentgeltlich. Nach dem Verbot der Partei im Juni 1933 arbeitete Kaltenbrunner weiter heimlich für sie.
Am 14. Januar 1934 – die Nazis kontrollierten seit nun mehr fast einem Jahr das Deutsche Reich – heiratete Kaltenbrunner die ebenfalls zur NSDAP gehörende und aus Linz stammende Elisabeth Eder (1908 – 2002), mit der er drei Kinder haben sollte: Hansjörg (1935–2007), Gertrud (* 1937) und Barbara (* 1944). Zudem sollte er mit seiner langjährigen Geliebten Gisela Wolf (1920–1983; geborene Gisela Margarete Wilhelmine Gräfin von Westarp) die Zwillinge Ursula und Wolfgang zeugen, die am 12. März 1945 zur Welt kamen.
1934 kam es zum Juliputsch der Nationalsozialisten in Wien, an dem Kaltenbrunner sich beteiligte. Der Putsch scheiterte und nach einigen Monaten Haft im Anhaltelager Kaisersteinbruch wurde Kaltenbrunner wegen Hochverrats zu zehn Monaten Haft verurteilt, von denen er sechs absaß (ganz wie der „Führer“) und verlor seine Anwaltslizenz. Er arbeitete im Anschluss als Sekretär für SS-Brigadeführer Anton Reinthaller (1895 – 1958) und wurde Führer des im Geheimen weiterhin bestehenden SS-Abschnitts VIII (Linz). 1937 übernahm Kaltenbrunner dann auf Anweisung des Reichsführers SS Heinrich Himmler (1900 – 1945) das Kommando über die gesamte SS Österreichs. Darüber hinaus gehörte Kaltenbrunner zum inneren Kreis um den NS-Funktionär Arthur Seyß-Inquart (1892 – 1946). Seyß-Inquart verfolgte ein weniger brachiales und frontales Vorgehen als andere hohe NS-Politiker in Österreich. Hitler, der glaubte, ein solches würde dem Ansehen der Partei im Ausland schaden, begrüßte Seyß-Inquarts Politik der stillen Zersetzung des Staates. In seinem Fahrwasser gelang Kaltenbrunner ein rascher Aufstieg innerhalb der Partei. Am 11. März 1938 erfolgte dann die Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich. Für drei Tage war Arthur Seyß-Inquart österreichischer Bundeskanzler und danach Reichsstatthalter der Ostmark. Kaltenbrunner wurde sein Staatssekretär für das Sicherheitswesen im Lande Österreich und zudem Mitglied des deutschen Reichstags und sowie Führer des SS-Oberabschnitts Donau. Zu Kaltenbrunners Rolle beim Putsch in Österreich hieß es später im Urteil des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses 1946:
„Als Führer der SS in Österreich war Kaltenbrunner an der Nazi-Intrige gegen die Schuschnigg-Regierung beteiligt. In der Nacht des 11. März 1938, nachdem Göring den österreichischen Nationalsozialisten befohlen hatte, die Kontrolle der Österreichischen Regierung an sich zu reißen, umstellten 500 österreichische SS-Männer unter Leitung Kaltenbrunners das Bundeskanzleramt, und eine Sondereinheit, die unter dem Befehl seines Adjutanten stand, drang in das Bundeskanzleramt vor, während Seyß-Inquart mit dem Präsidenten Miklas verhandelte.“
Kaltenbrunner organisierte die Geheimen Staatspolizei (Gestapo) und den Aufbau des Konzentrationslagers (KZ) Mauthausen und war damit maßgeblich an der Judenverfolgung beteiligt. Am 11. September 1938 wurde Kaltenbrunner von Heinrich Himmler zum Höheren SS- und Polizeiführer Donau ernannt, womit ihm sowohl SS und SD als auch Polizei einschließlich Gestapo in den eingegliederten österreichischen Gebieten unterstanden. Nach dem Tod des Wiener Polizeipräsidenten SS-Oberführer Otto Steinhäusl (1879 – 1940) am 20. Juni 1940 trat Kaltenbrunner dessen Nachfolge an, delegierte den Großteil der Aufgaben aber an seinen Stellvertreter Leo Gotzmann (1893 – 1945), der das Amt am 6. Januar 1941 auch ganz offiziell von Kaltenbrunner übernehmen sollte. Doch obwohl Kaltenbrunner 1941 zum SS-Gruppenführer und somit in einen Rang mit mehr Befugnissen erhoben wurde, fühlte er sich aufs Abstellgleis gestellt, weil er der Auffassung war, dass er von der übrigen SS-Führungsriege um Heydrich aus Missgunst übergangen wurde.
Doch dann wurde Heydrich Opfer eines Attentats und Kaltenbrunner am 30. Januar 1943 dessen indirekter Nachfolger als Chef der Sicherheitspolizei und des SD und Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA). Ihm unterstanden nun etwa 50.000 Mann bei Sipo und SD. Er ordnete an, die in „Schutzhaft“ befindlichen Gefangenen des Regimes in Konzentrationslager zu überstellen, ist aber auch Hauptverantwortlicher für die Deportation jüdischer Menschen. Adolf Eichmann, der sogenannte „Architekt des Holocausts“, war Kaltenbrunner unterstellt. Die Fäden des engmaschigen nachrichtendienstlichen Informationsnetzes des NS-Regimes liefen bei Kaltenbrunner zusammen. Er koordinierte die Verfolgung und Inhaftierung sämtlicher dem Regime nicht genehmer Personen – Juden und Flüchtlinge genauso wie Oppositionelle. Darüber hinaus wurde er auch Chef von Interpol. Doch auch mit der Ernennung zum SS-Obergruppenführer und General der Polizei am 21. Juni 1943 war Ernst Kaltenbrunner noch nicht am oberen Ende der Karriereleiter angekommen. Sein Aufstieg ging weiter: Als Wilhelm Canaris (1887 – 1945), der das Regime von innen heraus zu bekämpfen versuchte, im Februar 1944 als Chef des Wehrmachtsnachrichtendienstes Abwehr entmachtet wurde, wurde das Amt Abwehr der Wehrmacht ebenfalls dem SD und somit Kaltenbrunner unterstellt, der damit ein Nachrichtendienstmonopol innerhalb des Deutschen Reiches innehatte.
Am 20. Juli 1944 verübte Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907 – 1944) ein Sprengstoffattentat auf Hitler. Die Gruppe um ihn und General der Infanterie Friedrich Olbricht (1888 – 1944) sowie Generalmajor Henning von Tresckow (1901 – 1944) wurde zunächst durch Generaloberst Friedrich Fromm (1888 – 1945) verfolgt, der die Verschwörer, denen er habhaft werden konnte, umgehend standrechtlich hinrichten ließ, was wohl auch den Zweck hatte, die eigene Mitwisserschaft zu vertuschen, denn Fromm hätte bei einem Erfolg von „Walküre“ als neue Führungsperson installiert werden sollen. Kaltenbrunner beendete die Hinrichtungen und begann mit schonungslosen Verhören. Seine „Aufklärungsarbeit“ kostete auch Fromm das Leben.
Als sich im Frühjahr 1945 abzeichnete, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war, versuchte Kaltenbrunner zunächst einen Sonderfrieden mit den Westalliierten auszuhandeln und verschanzte sich, als dies fehlschlug, mit einem Kreis noch verbliebener Vertrauter und Getreuen in der sogenannten Alpenfestung bei Altaussee, wo viele ranghohe NS-Funktionäre ihre geraubten Schätze hatten verbringen lassen, weshalb sie bis zur letzten Patrone verteidigt werden sollte. Am 7. Mai flohen Kaltenbrunner und sein Adjutant SS-Obersturmbannführer Arthur Scheidler (Lebensdaten nicht überliefert) von zwei Jägern aus Altaussee eskortiert weiter auf die Wildenseehütte, doch einer der beiden Jäger verriet Kaltenbrunner und gab den vorrückenden US-Amerikanischen Truppen preis, wo jener sich versteckt hielt. So wurden Ernst Kaltenbrunner und Scheidler hier am 12. Mai 1945 trotz gefälschter Papiere, die sie als Ärzte ausgaben, verhaftet. Im November 1945 wurde Kaltenbrunner in Nürnberg als einer der Hauptkriegsverbrecher angeklagt und trotz vehementer Dementi, bei denen er sogar eigene Unterschriften leugnete, am 1. Oktober 1946 wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode durch den Strang verurteilt. Das Urteil wurde zwei Wochen später vollstreckt.
Literatur
Wolfgang Graf: Österreichische SS-Generäle. Himmlers verlässliche Vasallen. Hermagoras-Verlag, Klagenfurt / Ljubljana / Wien 2012.
Peter Black: Ernst Kaltenbrunner – Vasall Himmlers. Eine SS-Karriere. Schöningh, Paderborn 1991.
Peter Black: Ernst Kaltenbrunner – Der Nachfolger Heydrichs. In: Ronald Smelser, Enrico Syring (Hrsg.): Die SS: Elite unter dem Totenkopf.30 Lebensläufe. Schöningh, Paderborn 2000, S. 289ff. (2. Auflage 2003, Schöningh, Paderborn).
SS-Obergruppenfuehrer Ernst Kaltenbrunner Chef des Reichs-Sicherheits-Hauptamtes RSHA in Berlin 1943–1945: eine dokumentarische Sammlung von SS-Dokumenten. Zusammengestellt von Tuviah Friedman. Institute of Documentation in Israel, Haifa: Inst. of Documentation in Israel, 1995.
Heinz Boberach: Kaltenbrunner, Ernst. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 11, Duncker & Humblot, Berlin 1977.
Robert E. Matteson: The Capture and the Last Days of SS General Ernst Kaltenbrunner. St. Paul, Minnesota 1993.
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