Als am 11. November 1918 der Erste Weltkrieg de facto endete, änderte sich für das Deutsche Reich vieles binnen kürzester Zeit. Das stark von Preußen geprägte Kaiserreich war vom Militarismus durchzogen. Kein Mann, der etwas auf sich hielt, hatte keinen militärischen Rang und sei es als Offizier der Reserve. Teil der kaiserlichen Armee zu sein, war Statussymbol Nummer 1. Diese flammende Begeisterung für das Militär erklärt auch die Bereitwilligkeit, mit der die Deutschen 1914 in den Krieg Österreich-Ungarns eingestiegen waren und so den Ersten Weltkrieg entfesselt hatten. Dann kamen die Niederlage und mit ihr nicht nur das Ende des Kaiserreichs und die Proklamation der Weimarer Republik zwei Tage vor dem Waffenstillstand, sondern auch der Friedensvertrag von Versailles, mit dem der Krieg auch rechtlich am 28. Juni 1919 endete. Die Franzosen drehten den Spieß um. Am 18. Januar 1871 hatte Otto von Bismarck (1815 – 1898) zur Demütigung Frankreichs Wilhelm I. (1797 – 1888) im Spiegelsaal von Versailles krönen lassen. Nun wählten die Franzosen eben diesen Ort ihrerseits für die Unterzeichnung eines Friedensvertrags, der keinen anderen Zweck verfolgte, als das Deutsche Reich nachhaltig so zu schwächen, dass es wirtschaftlich und militärisch einem Entwicklungsland gleichkam. Dazu gehörten auch die Entlassung einer Großzahl der Militärs und die Auflösung des militärischen Nachrichtendienstes Abteilung III b. Viele ehemalige Berufssoldaten schlossen sich als Parteimilizen zu politischen Kampfverbänden zusammen.
Doch gänzlich wehr- und schutzlos wollte das Deutsche Heer sein Vaterland nicht zurücklassen. Zunächst organisierten sich ehemalige Offiziere von Abteilung III b in paramilitärischen Verbänden, später bildeten sich auch innerhalb dessen, was vom Militär übrig war, wieder nachrichtendienstliche Strukturen. Als aus den Überresten des Heeres sich die Reichswehr als neue deutsche Armee herausbildete, wurde Major Friedrich Gempp (1873 – 1947) damit betraut, mit ehemaligen Offizieren von Abteilung III b eine „Abwehrtruppe“ für die „vorläufige Reichswehr“ zusammenzustellen. So entstand 1920 die Abwehr – ein euphemistischer Tarnname, der die eigentlich nachrichtendienstlichen Aufgaben verschleiern sollte. Zu diesen Aufgaben zählte an oberster Stelle die Aufklärung über Militärformationen anderer Staaten mit nachrichtendienstlichen Methoden. Geheimhaltung und Schutz der eigenen Truppen waren zweitrangig. Schon zu Beginn arbeitete man mit dem Reichskommissar für öffentliche Ordnung (RKO) und den jeweiligen örtlichen Polizeibehörden zusammen – man muss bedenken, dass Deutschland auch zu Weimarer Zeiten noch ein stark föderalistischer Staat war. Erst die Nazis führten etwa einen einheitlichen deutschen Ausweis ein. Mit seinem Erlass vom 1. April 1928 ordnete Reichswehrminister Wilhelm Groener (1867 – 1939) der Abwehr auch den Nachrichtendienst der Marine unter und unterstellte den zusammengelegten Nachrichtendienst dem Reichswehrminister direkt. So sollten eine Unterordnung unter die politischen Ziele der amtierenden Regierung ebenso begünstigt werden wie die Geheimhaltung selbst.
Als die Nazis 1933 die Macht übernahmen, war Kapitän zur See Conrad Patzig (1888 – 1975) Leiter der Abwehr. Der hatte einige Offiziere, die im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten, mit ihren neugewonnen Erfahrungen aus dem unfreiwilligen Ruhestand zurückgeholt. Zunächst war man in der Reichswehr bzw. ab 1935 der Wehrmacht dem Regimewechsel gegenüber positiv eingestellt. Das galt auch für die Abwehr. Allerdings konkurrierte diese nun auch mit den Organisationen der NSDAP, allen voran dem Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, kurz SD im Innern und dem Auswärtigen Amt im Äußern. Diese beiden stellten sich auch quer, als Patzig versuchte, die deutschen Geheimdienste, wozu neben den drei genannten auch das Forschungsamt der Luftwaffe, der Volksdeutsche Rat, das Außenpolitische Amt der NSDAP, der Verein für das Deutschtum im Ausland und die Auslandsorganisation der NSDAP zählten, zu einem Nachrichtendienst zu vereinen. Der SD beanspruchte überhaupt viele innenpolitische Kompetenzen der Abwehr für sich und ließ dem Nachrichtendienst der Reichswehr im Grunde nur die militärische Spionage und Spionageabwehr. Die Spannungen zwischen Abwehr und NS-Nachrichtendiensten führte letztlich zu Patzigs Ablösung durch Kapitän zur See Wilhelm Canaris (1887 – 1945) am 1. Januar 1935. Zunächst leitete Canaris die Abwehr noch kommissarisch, ab dem 26. April 1935 aber ganz regulär, was mit seiner Beförderung zum Konteradmiral am 1. Mai desselben Jahres noch einmal untermauert wurde. Später folgten Beförderungen zum Vizeadmiral und Admiral. Canaris gelang es zudem mit SS-Standartenführer Werner Best (1903 – 1989), dem Leiter der Abwehrpolizei der Gestapo, mit den „Zehn Geboten“ eine Übereinkunft über die künftige Aufgabenverteilung der beiden Geheimdienste zu treffen. Auch stockte Canaris bis 1939 die Mitarbeiteranzahl der Abwehr von einstmals 150 auf fast 2.000 auf.
Bei so einer Bilderbuchkarriere könnte man glauben, Adolf Hitler (1989 – 1945) habe in Canaris nun endlich den Verbündeten an der Spitze der Abwehr gefunden, den er gesucht hatte. Mitnichten. Hitler hatte Oberbefehlshaber Generaloberst Werner von Fritsch (1880 – 1939) und Reichswehrminister Generalfeldmarschall Werner von Blomberg (1878 – 1946) entlassen und war dann in die Tschechoslowakei einmarschiert. Das löste erste Widerstände in der Wehrmacht aus und ein Staatsstreich wurde geplant. Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben (1881 – 1944), General Franz Halder (1884 – 1972), Oberstleutnant Hans Oster (1887 – 1945), Reichsgerichtsrat Hans von Dohnanyi (1902 – 1945) und Canaris zählten zu den Hauptverschwörern gegen Hitler. Der Putsch wurde wegen des Münchener Abkommens zwischen Hitler und Neville Chamberlain (1869 – 1940) abgeblasen. Auch ein zweiter Putsch seitens Halders, den die Abwehr mittrug, wurde nie verwirklicht. Canaris wiederum unterwanderte Hitlers Regime, wo er nur konnte. Wenn Oppositionsmitglieder zum Kriegsdienst eingezogen wurden, holte Canaris sie in die Abwehr, wodurch sie vor der Gestapo geschützt waren. Juden machte er zu Agenten und V-Leuten und schützte sie so vor der Deportation. Einzelaktionen seiner Untergebenen, die das Regime von innen heraus sabotieren sollten, und derer gab es viele, deckte Canaris. Das blieb natürlich nicht ohne Folgen. Oster, von Dohnanyi und Canaris selbst fanden ihren Tod in Konzentrationslagern. Einzig Halder konnte dem Regime entgehen.
Literatur
Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Abwehrangehöriger (AGEA): Die Nachhut. Informationsorgan für Angehörige der ehemaligen militärischen Abwehr. 32 Hefte, 1967–1975, ZDB-ID 513817-6.
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Karl Glaubauf, Stefanie Lahousen: Generalmajor Erwin Lahousen, Edler von Vivremont. Ein Linzer Abwehroffizier im militärischen Widerstand (= Schriftenreihe des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes zu Widerstand, NS-Verfolgung und Nachkriegsaspekten. 2). LIT, Münster 2005, ISBN 3-8258-7259-9.
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Winfried Meyer: Unternehmen Sieben. Eine Rettungsaktion für vom Holocaust Bedrohte aus dem Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht. Hain, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-445-08571-4 (Zugleich: Berlin, Freie Universität, Dissertation, 1992).
Gerd R. Ueberschär: Auf dem Weg zum 20. Juli. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Heft 27, 2004, S. 15–22, (Digitalisat).
Gerd R. Ueberschär: Das Dilemma der deutschen Militäropposition (= Beiträge zum Widerstand 1933–1945. 32, ZDB-ID 1036459-6). Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 2001, (Digitalisat).
Hermann Wentker: Umsturzversuche 1938–1943. In: Peter Steinbach, Johannes Tuchel: Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur. 1933–1945 (= Bundeszentrale für Politische Bildung. Schriftenreihe. 438). Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2004, ISBN 3-89331-539-X, S. 469–488.