Ernst Piper: „Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe“; Blessing Verlag, München 2005
Schreibtischtäter
Die Macht im Staat zu erringen, war ihm nicht genug. Sein eigentlicher Kampf war jener um die Seelen der Menschen. Wer die ideologische Formierung des NS-Staates verstehen will, kommt an Alfred Rosenberg nicht vorbei. Nach bescheidenen Anfängen als völkischer Publizist und Agitator wurde er zum Weltanschauungsbeauftragten eines totalitären Regimes. Ernst Piper, Jahrgang 1952 und ausgewiesener Experte für das Dritte Reich, hat Archive auf der ganzen Welt aufgesucht und den Lebensweg dieser von der Forschung bislang vernachlässigten Nazi-Figur umfassend rekonstruiert. Mit dem in Berlin lebenden Historiker sprach Uwe Ullrich.
Warum beschäftigten Sie sich gerade mit Alfred Rosenberg wissenschaftlich?
Am Anfang stand ein etwas anderes Projekt: Ein Buch über die „Hauptstadt der Bewegung“, München in den Jahren vor 1933. Bei der Beschäftigung mit dem Thema wurde mir zunehmend klarer, dass es zu breit angelegt war. Ich dampfte den Kreis immer mehr ein und zum Schluss blieb Alfred Rosenberg übrig.
Wir beschäftigen uns mit dem Nationalsozialismus immer auch vor dem Hintergrund: Wie kann verhindert werden, das sich ähnliches in der deutschen Geschichte noch einmal ereignet? Und da ist gerade die frühe Zeit der NSDAP besonders wichtig. Wer die „Erfolgsgeschichte“ dieser Bewegung studieren will, muss sich mit ihren Anfangsjahren auseinandersetzen. In diesem Zeitraum war der aus dem Baltikum stammende Rosenberg eine zentrale Figur. Der Antisemitismus stand programmatisch im Zentrum und spielte in den Agitationsversammlungen der frühen NSDAP eine große Rolle. Durch seine publizistischen Aktivitäten, zum Beispiel im „Völkischen Beobachter“, und seine unzähligen Publikationen entwickelte sich Rosenberg zum seinerzeit wichtigsten Propagandisten des antisemitischen Programms.
Warum setzte sich bisher niemand mit Hitlers „Chefideologen“ intensiv auseinander?
Das gilt auch für andere führende Nationalsozialisten. Es gibt zahllose Hitler-Biografien, einiges über Goebbels und Speer. Dann hört es schnell auf. Über andere wichtige Figuren, denken Sie etwa an Heinrich Himmler, Rudolf Heß, Martin Bormann oder Hermann Göring, fehlen bedeutende biografische Arbeiten. Da ist noch eine Menge zu tun! Alfred Rosenberg ist auffällig an den historischen Rand geraten. „Der vergessene Gefolgsmann“ überschrieb Joachim Fest sein Portrait über ihn in seinem Buch „Das Gesicht des Dritten Reiches“. Die Dissertation von Reinhard Bollmus „Das Amt Rosenberg und seine Gegner“ ist ein bedeutender Beitrag zur Institutionengeschichte, analysiert aber nicht den antisemitischen Ideologen. Beide Abhandlungen prägten nachhaltig das Menschenbild über Hitlers frühen Gefolgsmann in der alten Bundesrepublik.
Nach der Katastrophe des Nationalsozialismus war die BRD antiideologisch eingestellt. Die Forschung war sehr positivistisch geprägt und konzentrierte sich vielfach auf die Darstellung der Institutionen. Der Ideologe passte nicht in die Art und Weise der Auseinandersetzung mit den Nazis hinein. In letzter Zeit erschienen einige gute Untersuchungen zu Einzelaspekten. Unter anderem über den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg oder das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, auf die ich dankbar zurückgriff. Rosenberg beschäftigte sich ja mit sehr vielen verschiedenen Dingen, von der Kulturpolitik, Stichwort Modernismusstreit, und der nordischen Idee über den Kirchenkampf bis zur Außenpolitik.
Im angelsächsischen Sprachraum existiert übrigens eine Reihe von interessanten Arbeiten über Alfred Rosenberg, die hierzulande kaum beachtet wurden.
Setzte Rosenberg nicht unter den veränderten Bedingungen der Weimarer Republik und der faschistischen Diktatur die frühere weltanschauliche Beeinflussung durch völkische und nationalistische Verbände fort?
Vor dem Ersten Weltkrieg agierte eine Vielzahl von solchen Organisationen in Deutschland. Bedeutung besaß insbesondere der Alldeutsche Verband unter Führung von Heinrich Claß, aber auch der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund. Nach dem Rathenau-Attentat 1922 wurde er verboten und seine Aktivisten strömten in Scharen zur NSDAP. Je länger diese Vereine existierten, desto mehr radikalisierten sie sich im allgemeinen nach rechts.
Die Programmatik der Nationalsozialisten war in vielem eine Sammlung alter Forderungen, die meist aus dem völkischen, nationalistischen Bereich, aber auch aus der Arbeiterbewegung stammten. Ein eigenständiges wissenschaftliches Denkgebäude – wie zum Beispiel Karl Marx – schuf der Nationalsozialismus nicht. Hitler selbst war weniger Denker als Sammler von Ideen. Auch Alfred Rosenberg war kein originärer Denker. Zu den Autoren, die ihn beeinflussten, zählten z.B. Paul de Lagarde und Housten Stewart Chamberlain. Rosenbergs besondere Bedeutung lag in der ideologischen Einstimmung und Ausrichtung der nationalsozialistischen Bewegung und der gesamten Bevölkerung auf den Erlösungsantisemtismus, der millionenfachen Mord implizierte.
Hans Frank, ehemals Generalgouverneur in Polen, schrieb in seiner Nürnberger Zelle: „In Deutschland war bis 1918 von einem allgemeinen Antisemitismus nicht nur nichts zu spüren, die deutschen Juden spielten vielmehr eine ausgezeichnete Rolle. Anders war die Lage der Juden in Österreich, und von dort brachte Hitler seinen Antisemitismus mit.“
Das schrieb Frank, als er im Angesicht des Galgens plötzlich seine Liebe zum Katholizismus entdeckte. Richtig ist, dass in Österreich der Antisemitismus besonders virulent war. Dort bestand eine andere Situation. In Wien, der Stadt, die Hitler prägte, lebten mehrere hunderttausend Juden. Im Deutschen Kaiserreich gab es nirgendwo eine derart große jüdische Gemeinde. Dass es hierzulande keinen Antisemitismus gab, ist aber eine unhaltbare Aussage. Die antisemitischen Parteien waren nicht besonders erfolgreich. Aber das sagt nicht viel aus, denn die wilhelminische Gesellschaft war keine parlamentarische Demokratie. Die aktiven Antisemiten oder gesellschaftlich engagierte Bürger schlossen sich Verbänden an, aber nur selten Parteien. Mein Paradebeispiel ist der Münchener Verleger Julius Friedrich Lehmann. Er war überall dabei, wo man Mitglied sein konnte: Kolonialgesellschaft, Flottenverein, Alldeutscher Verband, Deutschvölkischer Schutz- und Trutzbund, Kampfbund für deutsche Kultur, in jeder rechtsgerichteten Organisation – aber in eine Partei wäre er nie in seinem Leben eingetreten. Auch nicht in die NSDAP, obwohl er sie finanziell unterstützte.
Die Deutschen haben eine große Tradition in der Verachtung von Parteipolitik und in der Konsequenz auch von politischem Engagement. „Parteilich“ ist ein negativ besetzter Begriff bei uns. Auch die NSDAP führte einen antiparlamentarischen Wahlkampf. Das Parlament war für sie eine „Schwatzbude“, die Demokratie etwas Schlechtes, die das deutsche Volk in verschiedene Gruppen spaltet und gegeneinander aufhetzt.
Richtig an Franks Äußerung ist, dass die Juden gerade im deutschen Kaiserreich in ihrer Emanzipation und Assimilation weit fortgeschritten waren. Es gab aber klare Grenzen, vor allem im Gesellschaftlichen, aber auch im Beruflichen und im Politischen. Bis 1918 gab es z.B. keine jüdischen Offiziere und außerhalb der SPD nur wenige jüdische Politiker. Ein Mann wie Rathenau konnte erst nach 1918 in die Politik gehen. Der gesellschaftliche Antisemitismus war latent immer vorhanden, aber gewalttätig wurde er erst nach 1918. Er saß bei den deutsch-jüdischen Familien ständig als „steinerner Gast“ mit am Tisch.
War der Krieg im Osten von Anfang an „nur“ ein ideologischer Vernichtungskrieg, zu dessen Legitimation ein Rosenberg gebraucht wurde?
Von Andreas Hillgruber stammt die Formulierung vom „rasseideologisch motivierten Vernichtungskrieg“. Mehrere Faktoren spielen dabei eine Rolle. Zum einen das alte Bild vom Lebensraum im Osten mit ausgreifenden Ansprüchen. Wissenschaftler sollten den Anspruch auf diesen alten deutschen Kulturraum begründen. Die Nazis wollten die traditionelle von Osten nach Westen gehende Wanderungsbewegung umkehren.
Im Gegensatz zu Ernst Nolte bin ich der nachhaltigen Überzeugung, dass der antisemitische Impuls der primäre Antrieb der Nationalsozialisten war und der antikommunistische der sekundäre. Rosenberg prägte den Doppelbegriff „jüdisch-bolschewistisch“ und verankerte ihn in der nationalsozialistischen Weltanschauung. Er war zutiefst davon überzeugt, dass die bolschewistische Revolution ein jüdisches Machwerk und die Sowjetunion von Juden beherrscht sei. Den Antibolschewismus der Nazis kann man nicht von ihrem Antisemitismus trennen. Beides gehen Hand in Hand. Der „Generalplan Ost“ sah den Tod von mehr als 30 Millionen Slawen und die „Freimachung“ riesiger Gebieten vor. Gleichzeitig sollte die „jüdische Frage“ gelöst werden – also, kein einziger Jude mehr in Europa leben. Anfangs war eine Aussiedlung nach Madagaskar geplant, später standen die sowjetischen Eismeerlager zur Diskussion. Am Ende stand die industrielle Massenvernichtung.
Weshalb war der Ideologe Alfred Rosenberg kein Thema in der Bundesrepublik?
Hier ist zu differenzieren. Die 60 Jahre, die seit dem Kriegsende vergangen sind, sind kein monolithischer Block. Es gab verschiedene Phasen. Nach der ersten Schrecksekunde versuchten sich die Menschen in den veränderten Verhältnissen zurechtzufinden. Viele reformierten ihre Lebensläufe, um nicht in Schwierigkeiten zu kommen. Niemand hatte damals wirklich Interesse, den Dingen auf den Grund zu gehen. Damals ist vieles versäumt worden.
Der erste Ansatz der „Entnazifizierung“ durch die Alliierten, alle Parteimitglieder zu verurteilen, wäre nicht durchführbar gewesen. Sie können nicht aus einem Volk von 60 Millionen Menschen zehn oder zwölf Millionen vor Gericht stellen. Auf der andern Seite hätte man selbstverständlich gegen bestimmte Leute anders vorgehen müssen. Erhard Wetzel zum Beispiel, der Hauptautor des „Generalplans Ost“ machte in der niedersächsischen Landesregierung Karriere und kam wie eine Reihe anderer großer Verbrecher um ein Strafverfahren herum. Ein eklatantes Versäumnis!
Unsere Bild vom Dritten Reich hat sich inzwischen nachhaltig verändert. In den frühen Hitler-Biographien kommt die Judenvernichtung überhaupt nicht vor. Keiner hielt sie für ein wesentliches Faktum dieses historischen Abschnitts. Inzwischen sind wir der Überzeugung, dass Auschwitz, die Judenvernichtung, das zentrale Ereignis war. Diese Überzeugung bildete sich in Jahrzehnten heraus. Ein entscheidender Anstoß war der Auschwitzprozess Mitte der 60er Jahre in Frankfurt am Main. Der symbolische Höhepunkt für den antifaschistischen Grundkonsens in der alten Bundesrepublik war die Weizsäcker-Rede vom 8. Mai 1985.
Nach der ideologisch dominierten NS-Zeit war alles Ideologische nachhaltig diskreditiert. Eine Person wie Alfred Rosenberg passte nicht in die zunächst positivistisch dominierte Aufarbeitung hinein. Jetzt ist die Zeit reif, sich mit ihm auseinander zu setzen.
Sie arbeiteten in Ihrem Buch die Lebensstationen Alfred Rosenbergs als ein gutes Skelett heraus.
Ich habe mich bemüht! Die weit verbreitete Ansicht, es gäbe zu wenig Quellenmaterial über ihn, erwies sich als unzutreffend. Natürlich kommt mir zugute, dass nach dem Ende der Ost-West Konfrontation die Archive in Tallinn, Riga und Moskau leichter zugänglich sind. Ich fand sozusagen vom Taufschein bis zum Testament alles. Zum Teil waren es Zufallsfunde. Das Testament z.B. liegt hier im Amtsgericht Charlottenburg. Da war wohl noch niemand darauf gekommen, dort nachzusehen. Zeitungsartikel führen oft auf neue Spuren. Ich habe auch Rosenbergs Stammbaum für die letzten drei Generationen rekonstruiert. Die früheren Gerüchte über jüdische Vorfahren können nun als endgültig widerlegt gelten.
Warum wählten Sie den Karl Blessing Verlag für die Veröffentlichung der Rosenberg-Biografie?
Für einen muss man sich entscheiden. Karl Blessing kannte ich gut und schätze ihn. Er hatte immer ein lebhaftes Interesse an der Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus. Das hing auch mit dem Lebensweg seines Vaters zusammen, der als junger Mann bei Hjalmar Schacht tätig gewesen war. Als wenig belastet konnte er Karriere fortsetzen und wurde später Bundesbankpräsident. Der Verleger begleitete engagiert den Fortgang meines Buches. Die Gespräche mit ihm waren mir eine wichtige Ermutigung. Leider hat er die Annahme der Habilitationsschrift und das Erscheinen des Buches nicht mehr erlebt.
Autor: Uwe Ullrich. Erstveröffentlichung in: Märkische Allgemeine Zeitung. Wochenendbeilage vom 3./4. Dezember 2005, Seite 2.
Ernst Piper: „Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe“; Blessing Verlag, München 2005.