Als die T4 Tötungsanstalt Brandenburg im Oktober 1940 den Betrieb einstellte, nahm das Morden keineswegs sein Ende. Es wurde nur an anderem Ort und andrer Stelle fortgeführt: in Bernburg. Die Tötungsanstalt hier war damit die fünfte von insgesamt sechs Anlagen zur Ermordung Kranker und Behinderter, die im Deutschen Reich unter der Herrschaft der Nationalsozialisten seine grausame Tätigkeit aufnahm.
Das heutige Bernburg an der Saale ist eine Stadt im Herzen von Sachsen-Anhalt mit etwas über 32.000 Einwohnern und liegt 35 Kilometer nördlich von Halle an der Saale und 40 Kilometer südlich von Magdeburg. Auf dem Gelände der einstigen Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg, heute Salus gGmbH Fachklinikum Bernburg, wurden in einem abgetrennten Bereich zwischen dem 21. November 1940 und dem 30. Juli 1943 zwischen 14.000 und 15.000 Menschen umgebracht – 9385 Pflegebedürftige aus 38 verschiedenen Fürsorgeeinrichtungen und Pflegeheimen und noch einmal um die 5000 KZ-Häftlinge aus Buchenwald, Flossenbürg, Groß-Rosen, Neuengamme, Ravensbrück und Sachsenhausen.
Grundlage für das, was die Nazis mit „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, „Gnadentod“ und am Ende „Euthanasie“ (altgriechisch: εὐθανασία; von εὖ eu = „gut, richtig, schön“ und θάνατος thánatos = „Tod“, also frei übersetzt: „schöner Tod“) betitelten, war eine abgeänderte Fassung des am 14. Juli 1933 in Kraft getretenen Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Dies bildete einen Teil der Eugenik (altgriechisch: εὖ eũ = „gut“ und γένος génos = „Geschlecht“) des NS-Regimes, das die „arische Rasse“ nicht nur von den Einflüssen der „jüdischen Rasse“ befreien, sondern auch von Krankheiten und Behinderungen in den eigenen Reihen säubern wollte. Die Grundlage für die Idee, das deutsche Erbgut reinigen zu müssen, entstammte etwa den Büchern „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ des Psychiaters Dr. Alfred Hoche (1865 – 1943) und des Juristen Karl Binding (1841 – 1920) von 1920 und „Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene“ der Mediziner Dr. med. Eugen Fischer (1874 – 1967), Dr. med. Erwin Baur (1875 – 1933) und Dr. med. Fritz Lenz (1887 – 1976) von 1921. Im Juli 1939 beriet Adolf Hitler (1889 – 1945) dann mit Reichsgesundheitsführer Dr. med. Leonardo Conti (1900 – 1945), dem Chef der Reichskanzlei Hans Heinrich Lammers (1879 – 1962) und Martin Bormann (1900 -1945), dem Leiter des Stabes des Stellvertreters des Führers, erstmals über die „Vernichtung von lebensunwertem Leben“. Zu Kriegsbeginn mit der „Euthanasie“ beauftragt wurden letztendlich Hitlers Begleitarzt Dr. med. Karl Brandt (1904 – 1948) und der Reichsleiter der NSDAP und Chef der Kanzlei des Führers, SS-Obergruppenführer Philipp Bouhler (1899 – 1945), die mit SS-Oberführer Viktor Brack (1904 – 1948), Oberdienstleiter des Amtes II in der Kanzlei des Führers (KdF), von der Zentraldienststelle in der Tiergartenstraße Nr. 4 aus die systematische Ermordung Kranker und Behinderter organisierten.
So auch in der Tötungsanstalt Brandenburg, die jedoch schon im Oktober 1940 geschlossen wurde (zu dieser haben wir einen eigenen [Artikel/Link einfügen]). Das dortige Anstaltspersonal wurde anschließend großteils nach Bernburg verlegt, wo sie ihre Tätigkeit fortsetzten. Das Gebäude, in dem die Tötungsanstalt in einem abgetrennten Bereich untergebracht wurde, war eine am 1. Oktober 1875 als zentrale psychiatrische Heil- und Pflegeanstalt für das Herzogtum Anhalt eröffnete Anlage. Diese war ursprünglich auf nur 132 Kranke ausgelegt gewesen, aber stetig erweitert worden, als sich die Patientenzahl immer weiter erhöht hatte. Dies hatte sich im Ersten Weltkrieg geändert: Die Todesraten waren wegen dem Mangel an finanziellen Mitteln und Epidemien mit Typhus und Pocken sowie Verhungern gestiegen, was sich erst in den 1920ern wieder gebessert hatte. Doch mit der Machtergreifung der Nazis waren nur noch Leistungsfähigkeit und der damit verbundene Wert für den „Volkskörper“ von Bedeutung. Chronisch Kranke und Behinderte, die dauerhafte Pflegefälle waren, galten als Belastung und selbst als eine Art Krankheit, die den „Volkskörper“ befallen hatte und deshalb vernichtet gehörte. Daher auch der Ausdruck „Rassenhygiene“.
Anders als bei anderen Tötungsanstalten war die Aktion T4 bei Inbetriebnahme von Bernburg bereits durchorganisiert. Das Vorgehen war ausgearbeitet und erprobt. Patienten aus verschiedenen Heil- und Pflegeanstalten im Gebiet der preußischen Provinzen Sachsen, Brandenburg und Schleswig-Holstein, sowie der Länder Braunschweig, Anhalt und Mecklenburg und der Städte Hamburg und Berlin wurden nach Aktenlage von Gutachtern als „unheilbar“ eingestuft. Die Einrichtungen übermittelten die Unterlagen an die Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten (RAG), wo 40 Gutachter die Akten mit einem schwarzen „+“ für „töten“, schwarzen „–“ für „nicht töten“ oder schwarzen „?“, wenn sie unsicher waren, versahen, ehe die Obergutachter Prof. Dr. Werner Heyd (1902 – 1964) und Ministerialdirigent Herbert Linden (1899 – 1945) mit einem roten „+“ oder „-“ das finale Urteil fällten. Einige Patienten kamen direkt aus den Pflegeanstalten, doch die meisten wurden in eine von sieben Zwischenanstalten verbracht, um die Tötung besser verschleiern zu können, damit sich bei den Angehörigen kein Argwohn regte. Diese Zwischenanstalten waren die Landesheilanstalt Jerichow (heute AWO-Fachkrankenhaus), die Landesheilanstalt Uchtspringe (heute Fachklinikum Uchtspringe), Landesheilanstalt Altscherbitz (heute Sächsisches Krankenhaus Altscherbitz) im heutigen Schkeuditz, die Landesanstalt Görden (heute Asklepios Fachklinikum Brandenburg), die Landesirrenanstalt Neuruppin, die Landesanstalt Teupitz und die Landesheil- und Pflegeanstalt Königslutter (heute AWO-Psychiatriezentrum). Aus Jerichow kamen 390 Opfer, aus Uchtspringe 864, aus Altscherbitz 1385, aus Görden 1110, aus Neuruppin 1497, aus Teupitz 1564 und aus Königslutter 423.
Unter dem Decknamen „Dr. Schneider“ leitete Dr. med. Irmfried Eberl (1910 – 1948), der ehemalige Leiter der Tötungsanstalt Brandenburg, die Anstalt Bernburg. Er war Mitglied der NSDAP, des DAF, der SA und der SS und übernahm nach seiner Arbeit in den Tötungsanstalten die Leitung des Vernichtungslagers Treblinka. Auch verfasste er in Bernburg ein Kompendium mit 61 Mustergutachten mit möglichst glaubwürdigen Todesursachen für die gefälschten Totenscheine als Grundlage für andere „Euthanasie“-Ärzte. Nach Kriegsende entzog sich Eberl einer gerichtlichen Anklage, indem er sich in Untersuchungshaft erhängte, ehe den US-amerikanischen Behörden überhaupt in vollem Umfang bewusst geworden wäre, wer ihnen da in die Fänge geraten war. Sein Stellvertreter war wie auch schon Brandenburg Dr. med. Heinrich Bunke (1914 – 2001), der unter dem Decknamen „Dr. Keller“ arbeitete. Bunke wurde nach vielen Gerichtsverfahren erst 1988 wegen Beihilfe zum Mord in 9200 Fällen zu drei Jahren Haft verurteilt. Tatsächlich im Gefängnis verbrachte er dann 18 Monate.
Offiziell war nur diesen beiden Anstaltsärzten erlaubt den Gashahn zu bedienen, der Kohlenstoffmonoxyd (|C≡O|) in die Gaskammer einleitete und so die pflegebedürftigen Menschen tötete. In der Praxis werden auch andere Personen die Tötungen durchgeführt haben, denn die leitenden Ärzte waren nicht immer vor Ort und die Tötungsmaschine sollte dennoch weiterlaufen. Die Gaskammer und die zwei stationären Verbrennungsöfen befanden sich im Keller des Männerhauses II. Allein in Eberls Zeit als Leiter wurden 9385 Menschen in Bernburg vergast und anschließend verbrannt. Doch mit Ende der Aktion T4 im Spätsommer 1941 endete das Töten in Bernburg keineswegs. Bis Ende Juli 1943 diente die Anlage im Rahmen der Aktion 14f13 der Ermordung arbeitsunfähiger KZ-Häftlinge – man schätzt die Zahl der Opfer auf etwa 5000 Menschen.
Im April 1945 wurde Bernburg von US-Truppen eingenommen. Diese beauftragten die Mordkommission der Staatsanwaltschaft in Bernburg schon damals mit einer Untersuchung der Ereignisse, doch übernahmen schon im Juli die sowjetischen Streitkräfte als neue Besatzungsmacht die Kontrolle und stellten die Untersuchungen ein. Zu dem für November anberaumten Prozess kam es nicht mehr. Auch wenn die Sowjet in vielen Bereichen konsequenter in der Verfolgung und Bestrafung der NS-Verbrecher waren als die Westmächte, kam es hinsichtlich der Aktion T4 zu schweren Versäumnissen. Auch als 1951 der Zentralvorstand der Vereinigung der Verfolgten des Nationalsozialismus (VVN) die „ehemalige Vergasungsanstalt Bernburg“ als Gedenkort auserkoren hatte, entstand keine Gedenkstätte für die Opfer der Aktion T4. Es waren Mitarbeiter des Krankenhauses, auf dessen Gelände sich die Tötungsanstalt befunden hatte, die um das Jahr 1980 herum anfingen, die Geschichte aufzuarbeiten. Im September 1989 wurde die Gedenkstätte mit einer allgemeinen Leihausstellung zur „Euthanasie“ eröffnet. Es folgten jedoch drei auf Bernburg bezogene Dauerausstellungen. Auch zu denen wäre es aber wegen des Zusammenbruchs der DDR kaum gekommen, wenn nicht verschiedene Interessenverbände und Institutionen den Erhalt ermöglicht hätten. So übernahm 1994 das Land Sachsen-Anhalt die Trägerschaft, zu dessen Stiftung Gedenkstätten Bernburg seit 2007 gehört.
Literatur und Quellen
Friedrich Karl Kaul: „Nazimordaktion T4“. Verlag Volk und Gesundheit, Berlin 1972.
Dietmar Schulze: „‚Euthanasie‘ in Bernburg. Die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg/Anhaltische Nervenklinik in der Zeit des Nationalsozialismus“. Verlag Die Blaue Eule, Essen 1999.
Ute Hoffmann: „Todesursache ‚Angina‘. Zwangssterilisationen und ‚Euthanasie‘ in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg“. Ministerium des Innern des Landes Sachsen-Anhalt, Magdeburg 1996.
Ute Hoffmann, Dietmar Schulze: „‚… wird heute in eine andere Anstalt verlegt‘ – nationalsozialistische Zwangssterilisation und ‚Euthanasie‘ in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg – eine Dokumentation“. Regierungspräsidium Dessau, Dessau 1997.
Ute Hoffmann: „Die Vernichtung der ‚Unbrauchbaren‘. NS-Gesundheits- und Rassenpolitik am Beispiel der ‚Euthanasie‘-Anstalt Bernburg“. Metropol, Berlin 2022.
https://www.gedenkplaetze.info/ns-gesundheitspolitik/toetungsanstalt-bernburg