Der Mord an Menschen, die nichts getan haben und auch nicht in der Lage sind, sich in irgendeiner Art und Weise zu wehren, ist in besonderem Maße als verabscheuungswürdig zu bezeichnen. Dass die Nationalsozialisten sich besonders dann stark fühlten, wenn sie gegen wehrlose Menschen vorgingen, dürfte mittlerweile als wissenschaftlich belegt gelten und war auch schon mehrfach Gegenstand von Publikationen. Von besonderer Verabscheuungswürdigkeit war der systematische Mord der Nationalsozialisten an behinderten Menschen und es darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Aufarbeitung dieser Massenmorde weder geschichtlich noch juristisch besonders erfolgreich war.
Die Ursprünge der perversen Idee der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“
Die Ursprünge dieser Idee gehen auf den österreichischen Psychologen Adolf Jost (22.08.1874 – 20.10.1908) zurück, der neben seinen Jostschen Sätzen zum Lernen und Behalten“ vor allem durch die 1895 erschienene 53 seitige Streitschrift „Das Recht auf den Tod“ bekannt wurde. Dieses Werk war in Deutschland der historische Ausgangspunkt einer breiten Diskussion über die Sterbehilfe. Der „Wert eines Menschenlebens“ wurde von Adolf Jost dabei wie folgt auf Seite 13f. seiner Streitschrift definiert:
„Der Wert eines Menschenlebens kann, einer rein natürlichen Betrachtungsweise nach, sich nur aus zwei Faktoren zusammensetzen. Der erste Faktor ist der Wert des Lebens für den betreffenden Menschen selbst, also die Summe von Freud und Schmerz, die er zu erleben hat. Der zweite Faktor ist die Summe von Nutzen und Schaden, die das Individuum für seine Mitmenschen darstellt. …… Der Wert eines menschlichen Lebens kann eben nicht bloß null, sondern auch negativ werden, wenn die Schmerzen so groß sind, wie es in der Todeskrankheit der Fall zu sein pflegt. Der Tod stellt selbst gewissermaßen den Nullwert dar, ist daher gegenüber einem negativen Lebenswert noch immer das Bessere.“
Jost forderte in seiner Streitschrift nicht nur ein Recht auf den Tod bei unheilbarer Krankheit sondern wandte diesen Grundsatz auch auf „unheilbar geistig erkrankte Menschen“ an, da diese nach der Auffassung von Jost nicht nur ein nutzloses, sondern auch höchst qualvolles Leben führten und darüber hinaus nach eine „beträchtlicher Menge materieller Werte“ konsumierten. Es mag eine Ironie des Schicksals sein, dass ein Adolf Jost im Alter von 34 Jahren, völlig mittellos geworden, in einer Nervenheilanstalt in Sorau verstarb.
Die Ideen Adolf Josts wurden zu Beginn der Weimarer Republik von dem deutschen Rechtswissenschaftler Karl Binding (04.06.1841 – 07.04.1920) und dem deutschen Psychiater und Neurologen Alfred E. Hoche (01.08.1865 – 16.05.1943) in ihrer 1920 erschienenen Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ weiterverarbeitet. Diese Schrift gilt als Wegbereiter der organisierten Massenvernichtung geistig behinderter Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus. Aus dem kranken Gedankengut der Herren Binding und Hoche in ihrer Schrift des Jahres 1920 wird wie folgt zitiert:
„Die Anstalten, die der Idiotenpflege dienen, werden anderen Zwecken entzogen; soweit es sich um Privatanstalten handelt, muss die Verzinsung berechnet werden; ein Pflegepersonal von vielen tausend Köpfen wird für diese gänzlich unfruchtbare Aufgabe festgelegt und fördernder Arbeit entzogen; es ist eine peinliche Vorstellung, dass ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige 70 Jahre und älter werden. …..
Zusammenfassung aller Möglichkeiten, ein freimachen jeder verfügbaren Leistungsfähigkeit für fördernde Zwecke: Der Erfüllung dieser Aufgabe steht das moderne Bestreben entgegen, möglichst auch die Schwächlinge aller Sorten zu erhalten, allen, auch den zwar nicht geistig toten, aber doch ihrer Organisation nach minderwertigen Elemente Pflege und Schutz angedeihen zu lassen — Bemühungen, die dadurch ihre besondere Tragweite erhalten, dass es bisher nicht möglich gewesen, auch nicht im ernste versucht worden ist, diese von der Fortpflanzung auszuschließen. …..“
Es ist mehr als beschämend, dass im 20. Jahrhundert eine derart kranke Gedankenwelt bei Wissenschaftlern vorfand, die in dieser Form noch nicht einmal in Sparta mehr als 2.000 Jahre propagiert wurde. In diesem Zusammenhang dürfte es unstrittig sein, dass die Menschheit sich nicht in allen Bereichen weiterentwickelte.
Aus dieser Gedankenwelt entwickelte sich die Ideologie der Rassenhygiene der Nationalsozialisten, die bereits in den Jahren 1933 und 1935 von dem damaligen Reichsinnenminister Wilhelm Frick zu Gesetzen und Verordnungen wurden.
Struktur des systematischen Mordens
Kommen wir nun zur konkreten Entstehungsgeschichte der Aktion T4:
Im Rahmen der Ideologie der NS-Rassenhygiene sollte jede „Beeinträchtigung des deutschen Volkskörpers“ verhindert werden. In der typischen Schwarz-Weiß-Malerei der Nazis gab es nur die beiden Alternativen Heilen oder Vernichten.
1929 erklärte Hitler auf dem Reichsparteitag in Nürnberg, dass die „Beseitigung von 700.000 – 800.000 der Schwächsten von einer Million Neugeboren jährlich, eine Kräftesteigerung der Nation bedeute und keinesfalls eine Schwächung.“ Somit waren die Ideen Hitlers nachweislich vor seiner Machtergreifung bekannt. Auf dem Nürnberger Reichsparteitag von 1935 kündigte er dann gegenüber dem Reichsärzteführer Gerhard Wagner an, dass er die „unheilbar Geisteskranken zu beseitigen suche und zwar spätestens im Falle eines künftigen Krieges.“
Der systematisch geplante Mord der Nazis an behinderten Menschen vollzog sich in folgenden Stufen:
- „Kinder-Euthanasie“ von 1939 – 1945
- Erwachsenen-Euthanasie von 1940 bis 1945
differenziert nach:
Aktion T4: dezentralisierte Gasmorde von Januar 1940 bis August 1941
Dezentralisiert durchgeführte, aber zentral gesteuerte „Medikamenten-Euthanasie“ oder Tötung durch Unterernährung von September 1941-1945
- „Invaliden- oder Häftlings-Euthanasie“, bekannt als „Aktion 14f13“ von April 1941 bis Dezember 1944
Dabei wurden mindestens 260.000 Menschen nachweislich getötet. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass die wirkliche Zahl wahrscheinlich ein Vielfaches hiervon ist.
Kindereuthanasie – Vorläufer von T4
Betrachten wir uns die Kindereuthanasie als Vorläufer der Aktion T4:
Zentrales Dokument hierfür war ein Runderlass des Reichsministers des Innern vom 18. August 1939 Az.: IVb 3088/39 – 1079 Mi, der mit dem Vermerk „Streng vertraulich!“ den Kreis der Betroffenen und die Art und Weise ihrer Erfassung festlegte. Danach wurden Ärzte und Hebammen sowie Entbindungsanstalten, geburtshilfliche Abteilungen und Kinderkrankenhäuser, soweit dort ein leitender Arzt nicht vorhanden oder an der Meldung verhindert war, verpflichtet formblattmäßige Mitteilung an das zuständige Gesundheitsamt zu machen, „falls das neugeborene Kind verdächtig ist mit folgenden schweren angeborenen Leiden behaftet zu sein:
- Idiotie sowie Mongolismus (besonders Fälle, die mit Blindheit und Taubheit verbunden sind),
- Mikrocephalie,
- Hydrocephalus, schweren bzw. fortschreitenden Grades,
- Missbildungen jeder Art, besonders Fehlen von Gliedmaßen, schwere Spaltbildungen des Kopfes und der Wirbelsäule usw.,
- Lähmungen einschließlich Littlescher Erkrankung“
Meldepflichtig waren zunächst nur Kinder bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres, wenig später wurde die Altersgrenze dann auf 16 Jahre angehoben. Die vorgeschriebenen Meldebogen vermittelten den Eindruck, dass mit der Erfassung das Ziel einer fürsorgenden besonderen fachärztliche Betreuung verfolgt werden sollte. Die Amtsärzte leiteten die ausgefüllten Meldebogen an den „Rechtsausschuss“ weiter, wo das dahinterstehende Amt IIb der KdF mit den beiden medizinischen Laien Hefelmann und von Hegener die Fälle aussortierten, die nach ihrer Auffassung für die Aufnahme in eine „Kinderfachabteilung“, das heißt für die „Euthanasie“, nicht in Betracht kamen. Von den etwa 100.000 bis 1945 eingegangen Meldebogen wurden etwa 80.000 aussortiert.
Das Urteil über Leben oder Tod der Kinder wurde lediglich anhand des Meldebogens getroffen, ohne dass die Gutachter Einsicht in die (nicht vorgelegten) Krankenakten nahmen, noch die Kinder gesehen hatten. Wurde ein Kind als „Euthanasie“-Fall beurteilt, trugen die Gutachter ein „+“ ein und umgekehrt ein „-“. War aus der Sicht der Gutachter keine eindeutige Entscheidung möglich, wurde ein „B“ für „Beobachtung“ vermerkt. Diese Kinder wurden zwar von der „Euthanasie“ vorläufig zurückgestellt, jedoch ebenfalls in eine „Kinderfachabteilung“ eingewiesen. Der dortige Arzt musste nach genauerer Untersuchung gegenüber dem „Rechtsausschuss“ einen entsprechenden Beobachtungsbericht abgeben. Entscheidendes Kriterium zur „positiven“ Begutachtung waren prognostizierte Arbeits- und Bildungsunfähigkeit.
Auch die schon mit einer „Behandlungs“-Ermächtigung eingewiesenen Kinder wurden in der Regel nicht sofort getötet, sondern dienten teilweise noch für Monate der wissenschaftlichen Forschung. So fand zum Beispiel eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Leiter der „Kinderfachabteilung“ in der Landesheilanstalt Eichberg, Walter Schmidt, und dem Direktor der Universitäts-Nervenklinik Heidelberg, Carl Schneider, statt. Diese Opfer wurden in Heidelberg eingehend klinisch beobachtet und dann nach Eichberg verlegt, wo sie getötet und die Gehirne entnommen wurden.
Zu den Nutznießern der Kinder-„Euthanasie“ gehörte auch das Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Hirnforschung in Berlin-Buch (Nachfolger ist heute das Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main). Der Abteilungsleiter für Hirnhistopathologie, Professor Julius Hallervorden, sammelte im KWI über 600 Gehirne von „Euthanasie“-Opfern. In der NS-Tötungsanstalt Bernburg sezierte er Leichen von Kindern, die aus der Landesanstalt Görden zur Tötung nach Bernburg gekommen waren.
Die Tötung der Kinder erfolgte durch zeitlich gestaffelte und überdosierte Barbituratgaben wie Luminal, Veronal, Trional oder Morphin, die unter das Essen der Patienten gemischt oder als angebliches „Anti-Typhusmittel“ gespritzt wurden. Diese führten zu Atemlähmungen, Kreislauf- und Nierenversagen oder Lungenentzündungen. So konnte immer eine scheinbar natürliche, unmittelbare Todesursache attestiert werden. Das Verfahren war als sogenanntes „Luminalschema“ vom späteren medizinischen Leiter der „Aktion T4“, Professor Hermann Paul Nitsche, Anfang 1940 entwickelt worden. In Kombination mit einer systematischen Unterernährung und Unterbringung in unzureichend geheizten Räumen, konnte die angestrebte Beseitigung „lebensunwerten Lebens“ durch derart provozierte Lungenentzündungen, Tuberkulose oder Typhus auf scheinbar natürliche und unauffällige Weise realisiert werden.
Vergegenwärtigen wir uns an dieser Stelle einmal an exemplarischen Beispielen, wie diese Straftaten später geahndet wurden:
Hans Hefelmann (1906 – 1986):
Funktion: Leiter des für die Kindereuthanasie zuständigen Amtes IIb der KdF sowie des „Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“
Strafverfolgung: Im Heyde-Verfahren vor dem Landgericht Limburg mit angeklagt, Verfahren am 8. Oktober 1972 wegen „dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit“ eingestellt. Trotz der 1964 prognostizierten minimalen Lebenserwartung von nur noch zwei Jahren konnte Hefelmann weitere 22 Jahre eines (von juristischer Verantwortung für seine Tätigkeit im nationalsozialistischen Deutschen Reich unbelästigten) Lebensabends in München verbringen, ehe er dort 1986 verstarb.
Richard von Hegener (1905 – 1981):
Funktion: Vertreter Hefelmann im Amt IIb der KdF
Strafverfolgung: 1951 wurde Hegener wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhaftet und schließlich mit Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 20. Februar 1952 zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt. Durch einen sogenannten Ministerialbeschluss wurde er im Juli 1956 nach vierjähriger Haftzeit entlassen. Hegener nahm umgehend Kontakt zu seinem ehemaligen Vorgesetzten Hefelmann auf und fand als kaufmännischer Angestellter durch Vermittlung des dort als Justitiar tätigen Dietrich Allers (vormals Geschäftsführer der Zentraldienststelle-T4) eine Anstellung bei der Deutschen Werft. Mit Hefelmann hielt Hegener auch weiterhin Kontakt.
Werner Catel (1894 – 1981):
Funktion: Direktor der Universitätskinderklinik Leipzig, „Rechtsausschuss“-Gutachter
Strafverfolgung: Catel wurde 1947 in Wiesbaden als „unbelastet“ eingestuft und leitete dann die Kinderheilstätte Mammolshöhe in der Nähe von Kronberg, 1949 wurde er in Hamburg beim Entnazifizierungs-Tribunal freigesprochen und 1954 Professor für Kinderheilkunde an der Universität Kiel. Die Tötung unheilbarer behinderter Kinder hat er gerechtfertigt und jede Schuld geleugnet. Im Stasi-Archiv wurden inzwischen Briefe von Catel gefunden, die seine Tätigkeit bei der Euthanasie belegen. Noch 1964 behauptete er, dass es jedes Jahr fast 2000 „vollidiotische“ Kinder gebe, die wegen ihrer Fehlbildungen oder Behinderungen getötet werden sollten.“
Helmut Unger (1891-1953):
Funktion: Angehöriger des Gremiums zur Initiierung der Kinder-Euthanasie
Strafverfolgung: Eine juristische Aufarbeitung seiner Tätigkeit im Dritten Reich unterblieb; keine Strafverfolgung.
Aktion T4 – Das Morden wird intensiviert
Wie nicht anders von den Nazis zu erwarten, wurde das „systematische Morden“ durch „T4“ erweitert. Im Zeitraum 1940 bis 1941 wurden im Rahmen von T4 mehr als 70.000 Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen getötet. Dabei wurde der Begriff der T4 nicht von den Nazis geprägt. T4 ist vielmehr die Adresse der Zentraldienststelle T4 Tiergartenstraße 4 in Berlin und ein erst später in der Geschichtsaufarbeitung gebräuchlicher Arbeitstitel.
Im Oktober 1939 ermächtigte Hitler mit einem auf den 1. September 1939 zurückdatierten Schreiben den Leiter der KdF Bouhler sowie den Begleitarzt Hitlers, Karl Brandt, als medizinische Ansprechpartner mit der organisatorischen Durchführung der als „Euthanasie“ bezeichneten Tötung von „lebensunwertem Leben“. Das Schreiben auf Hitlers privatem Briefpapier hat folgenden Wortlaut:
„Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“
Dieses Ermächtigungsschreiben hatte keine Rechtsgültigkeit, ein solcher Erlass hätte von Hitler und Herbert Linden gegengezeichnet, auf offiziellem Papier gedruckt und im Reichsgesetzblatt publiziert werden müssen. Somit war sich Hitler vollumfänglich seines Verbrechens bewusst.
Da die Kanzlei des Führers im Zusammenhang mit den beschlossenen Maßnahmen nicht öffentlich in Erscheinung treten sollte, wurde eine halbstaatliche Sonderverwaltung gebildet, die formal dem Hauptamt II der KdF, geleitet von Viktor Brack, unterstellt wurde, seit April 1940 in einer Villa in der Berliner Tiergartenstraße 4 untergebracht war und durch den Reichsschatzmeister der NSDAP finanziert wurde. Diese Zentraldienststelle T4 unterstand Dietrich Allers.
Für die Auswahl der Opfer waren 40 „Gutachter“ berufen worden, die anhand einer Patientenbeschreibung auf Meldebögen über deren Schicksal entscheiden sollten. Diese Beurteilungen wurden -vergleichbar der Fälle der so genannten Kinder-Euthanasie- nur anhand der Aktenlage gefällt.
In einer Besprechung am 9. Oktober 1939 wurde die Zahl der infrage kommenden Patienten mit etwa 70.000 bestimmt. Dabei wurde das Ziel verfolgt, unheilbare Erbkrankheiten auszurotten und gleichzeitig die Kosten für die Anstaltspflege zu senken.
Mit Runderlass vom 9. Oktober 1939 der von Leonardo Conti geleiteten Abteilung IV des Reichsministeriums des Innern wurden die in Frage kommenden Heil- und Pflegeanstalten zur Benennung bestimmter Patienten mittels Meldebögen aufgefordert, auf denen detaillierte Angaben zu Krankheit und Arbeitsfähigkeit zu machen waren. In einem beiliegenden Merkblatt waren folgende Kriterien angegeben:
- Schizophrenie, Epilepsie, Encephalitis, Schwachsinn, Paralyse, Chorea Huntington, Menschen mit seniler Demenz oder anderen neurologischen Endzuständen, wenn sie nicht oder nur noch mit mechanischen Arbeiten beschäftigt werden konnten.
- Menschen, die schon länger als fünf Jahre in der Anstalt waren.
- Kriminelle „Geisteskranke“.
- Menschen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen oder nicht „deutschen oder artverwandten Blutes“ waren.
Die an den zuständigen Referenten Herbert Linden im Reichsministerium des Innern zurückgegebenen Meldebögen wurden an die T4-Zentrale weitergeleitet. Dort wurde nach Anlegen einer Karteikarte von jedem Meldebogen Kopien gefertigt und an drei Gutachter gesandt. Die Gutachter trugen ihre Entscheidung in einem schwarz umrandeten Kasten auf die Meldebogenkopie mit einem roten „+“ für „Töten“ und einem blauen „–“ für „Weiterleben“ ein. Konnte sich ein Gutachter nicht entscheiden, versah er den Meldebogen mit einem „?“ und gegebenenfalls einer Bemerkung. Eine wichtige Rolle bei der Beurteilung spielte die Frage, ob der Patient als arbeitsfähig und heilbar bewertet wurde.
Die T4-Organisatoren Viktor Brack und Werner Heyde ordneten an, dass die Tötung der Kranken ausschließlich durch das ärztliche Personal erfolgen durfte, da sich das Ermächtigungsschreiben Hitlers vom 1. September 1939 nur auf Ärzte bezog. In den einzelnen NS-Tötungsanstalten waren folgende Ärzte tätig, wobei die nachfolgende Anzahl von Menschen getötet wurde:
T4-Tötungsanstalt Grafeneck:
- von Januar 1940 bis Dezember 1940 getötete Menschen: 9.839
- Tötungsärzte: Horst Schumann, Ernst Baumhard, Günther Hennecke
T4-Tötungsanstalt Brandenburg:
- von Februar 1940 bis November 1940 getötete Menschen: 9.722
- Tötungsärzte: Irmfried Eberl, Aquilin Ulrich, Heinrich Bunke
T4-Tötungsanstalt Hartheim:
- von April 1940 bis August 1941 getötete Menschen: 18.269
- Tötungsärzte: Rudolf Lonauer, Georg Renno
T4-Tötungsanstalt Bernburg:
- von November 1940 bis August 1941 getötete Menschen: 8.601
- Tötungsärzte: Irmfried Eberl, Aquilin Ulrich, Heinrich Bunke
T4-Tötungsanstalt Sonnenstein:
- von Juni 1940 bis August 1941 getötete Menschen: 13.720
- Tötungsärzte: Horst Schumann, Curt Schmalenbach, Klaus Endruweit, Kurt Borm
T4-Tötungsanstalt Hadamar:
- von Januar 1941 bis August 1941 getötete Menschen: 10.072
- Tötungsärzte: Ernst Baumhard, Friedrich Berner, Curt Schmalenbach, AdolfWahlmann
Die in den ursprünglichen Anstalten und Heimen erfassten und von den Gutachtern für die Euthanasie vorgesehenen Personen wurden in Zwischenanstalten transportiert. Im Regelfall wurden die Bustransporte zentral organisiert, nur in Ausnahmefällen wurde auf öffentliche Verkehrsmittel zurückgegriffen. Den Ursprungsanstalten wurden dabei genaue Vorgaben gemacht, was den Patienten als Vorbereitung zur Bereicherung mitzugeben sei. Als Zwischenstation in der Euthanasiekette dienten jeweils zwei bis vier Anstalten im weiteren Umfeld der Tötungsanstalten, zumeist staatliche Psychiatrien.
Diese Zwischenanstalten dienten einerseits dem Zweck der Verschleierung des Endpunktes: Begleitpersonen durften den Patienten nur bis dort folgen. Andererseits dienten sie als Zwischenstation, damit die Tötungsanstalten nicht überfüllt wurden. In der Aufnahmebaracke der Tötungsanstalt wurden die eingelieferten Menschen entkleidet, gemessen, gewogen, fotografiert und dann den Ärzten vorgeführt. Dabei wurden die Personendaten überprüft und auffallende Kennzeichen wie Operationsnarben vermerkt, die für die Erstellung einer angeblichen Todesursache von Bedeutung sein konnten.
Zur Täuschung der Opfer waren die Gaskammern mit Brauseköpfen ausgestattet. Meist wurden 30 und mehr Menschen zugleich vergast. Die Tötung erfolgte durch Kohlenmonoxidgas, das der Anstaltsarzt einströmen ließ. Die Zufuhr des Gases betrug in der Regel etwa 20 Minuten; sie wurde eingestellt, wenn sich im Vergasungsraum keine Bewegung mehr feststellen ließ. Die Leichen wurden im Regelfall in den anstaltseigenen Krematorien verbrannt; Goldkronen wurden vorher herausgebrochen. Das so gewonnene Rohmaterial wurde über die Zentraldienststelle T4 an die Degussa geliefert und zu Feingold verarbeitet.
Als einziger deutscher Richter prangerte Lothar Kreyssig aus Brandenburg an der Havel die Euthanasiemorde an. Als Vormundschaftsrichter hatte er bemerkt, dass sich nach einer Verlegung Nachrichten über den Tod seiner behinderten Mündel häuften. Im Juli 1940 meldete er seinen Verdacht, dass die Kranken massenhaft ermordet würden, dem Reichsjustizminister Franz Gürtner. Nachdem ihm mitgeteilt worden war, dass die Mord-Aktion in Verantwortung der Kanzlei des Führers ausgeführt werde, erstattete Kreyssig gegen Reichsleiter Philipp Bouhler Anzeige wegen Mordes. Den Anstalten, in denen Mündel von ihm untergebracht waren, untersagte er strikt, diese ohne seine Zustimmung zu verlegen. Kreyssig, der damit gerechnet hatte, sofort verhaftet zu werden, wurde lediglich in den Ruhestand versetzt.
Unter dem Datum 31. Januar 1941 notierte Joseph Goebbels in seinem Tagebuch: „Mit Bouhler Frage der stillschweigenden Liquidierung von Geisteskranken besprochen. 40000 sind weg, 60000 müssen noch weg. Das ist eine harte, aber auch notwendige Arbeit. Und sie muss jetzt getan werden. Bouhler ist der rechte Mann dazu.“ Das hier genannte Planungsziel von 100.000 Opfern wurde nach der oben genannten Hartheimer Statistik nicht verwirklicht und der Tagebucheintrag wird als Beweis dafür angeführt, dass die Aktion T4 vorzeitig abgebrochen wurde.
Am 24. August 1941 gab Hitler seinem Begleitarzt Brandt und Reichsleiter Bouhler die mündliche Weisung, die „Aktion T4“ zu beenden und die „Erwachseneneuthanasie“ in den sechs Tötungsanstalten einzustellen. Die sogenannte „Kinder-Euthanasie“ wurde jedoch fortgesetzt, ebenso die dezentrale Tötung behinderter Erwachsener in einzelnen „Heil- und Pflegeanstalten“ durch Nahrungsentzug sowie Verabreichung von Luminal oder Morphium-Scopolamin. Außerdem wurde in den drei Tötungsanstalten Bernburg, Sonnenstein und Hartheim die als „Aktion 14f13“ bezeichnete Tötung von kranken beziehungsweise nicht mehr arbeitsfähigen KZ-Häftlingen weiter durchgeführt.
Aufarbeitung nach 1945:
Vergegenwärtigen wir uns an dieser Stelle einmal an zwei Beispielen, was mit gewichtigen Persönlichkeiten der Aktion T4 nach 1945 geschah und wir werden uns mal wieder wundern, was (nicht) geschah.
Dietrich Allers (1910 – 1975):
Funktion: Jurist, Geschäftsführer der Zentraldienststelle T4 und somit leitend an der Organisation des systematischen Mordens an Behinderten beteiligt
Nachkriegszeit: 1948 von der US-Armee festgenommen und der deutschen Justiz übergeben, diese entließ ihn im September 1949 aus der Untersuchungshaft, im Oktober 1949 entnazifiziert. Das Landgericht Frankfurt/Main verurteilte Dietrich Allers wegen seiner Beteiligung an der T4-Aktion am 20. Dezember 1968 wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 34.549 Fällen zu acht Jahren Zuchthaus Allers mussten jedoch die Haft nicht antreten, da ihm bereits die Untersuchungshaft und andere Haftzeiten angerechnet wurden und die Strafen damit als verbüßt galt.
Kurt Borm (1909 – 2001):
Funktion: Arzt in der NS-Tötungsanstalt Sonnenstein sowie als Mitarbeiter in der Zentraldienststelle T4
Nachkriegszeit: Obwohl Borm´s Vergangenheit bekannt war, kam es erst im Dezember 1971 zum Prozess gegen ihn. Am 6. Juni 1972 sprach ihn das Gericht frei. Borm habe zwar objektiv Beihilfe zur Tötung von mindestens 6652 Geisteskranken geleistet, jedoch könne ihm nicht nachgewiesen werden, dass er schuldhaft gehandelt habe, da ihm „unwiderlegbar das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit“ seines Tuns gefehlt habe. Das „Unerlaubte“ seiner Handlung sei für ihn nicht erkennbar gewesen, denn:
„In den entscheidenden Jahren seines Heranwachsens, der Bildung von Wertvorstellungen und Umweltbegreifung hat er kaum etwas anderes vernommen, als die Verherrlichung nationalsozialistischen Gedankengutes. Er ist aufgewachsen in einem Beamtenhaushalt mit der dort erfahrungsgemäß in der Regel vorhandenen staatstreuen Gesinnung und dem unbedingten Glauben an die Gesetzmäßigkeit hoheitlichen Gebarens“. Das Urteil wurde vom Bundesgerichtshof am 20. März 1974 bestätigt.
Damit wurde gerichtlich gebilligt, was Borm zu den Tatvorwürfen im Verfahren äußerte:
„Abschließend möchte ich sagen, dass ich mich im Hinblick auf die gegen mich erhobenen Beschuldigungen strafrechtlich frei von jeder Verantwortung fühle. Ich bin aufgrund der mir erteilten Belehrungen der Auffassung gewesen, ‚was Du tust, ist richtig’. Ich kam zu dieser Überzeugung, weil man mir gesagt hatte, es läge ein Gesetz vor, was allerdings aufgrund einer Führerentschließung noch nicht veröffentlicht war. […] Hinzu kommt, dass ich die Gutachten über die zu euthanisierenden Kranken mit der größten Hochachtung betrachtete. Ich ging davon aus, dass diese mit der gleichen Präzision wie im Verfolg des Erbgesundheitsgesetzes erstattet wurden. […] Bei alledem darf nicht übersehen werden, dass ich damals mit Jahrgang 09 verhältnismäßig jung war. Prof. Dr. Nitsche war für mich eine Autorität. Er erzählte mir, dass sich fast alle Ordinarien der Euthanasie-Aktion verschrieben hätten“.
In absolutem Gegensatz hierzu steht die Urteilsbegründung im ersten Ärzteprozess vor dem Landgericht Frankfurt am Main vom 23. Mai 1967:
„Die im Rahmen der Aktion ‚T4‘ durchgeführten Massentötungen […] erfüllen den Tatbestand des Mordes im Sinne des § 211 StGB in der zur Tatzeit geltenden und in der heute gültigen Fassung. Jedes menschliche Leben, auch das der Geisteskranken, genießt bis zu seinem Erlöschen den Schutz des § 211 StGB […] kein Kulturvolk [hat] jemals eine derartige Aktion durchgeführt.“
Von 438 „Euthanasie“-Strafverfahren, die bis 1999 eingeleitet wurden, endeten nur 6,8% mit rechtskräftigen Urteilen, darunter zahlreiche Freisprüche. Es gibt Momente, da fehlen einem die Worte. Dies ist zweifelsfrei einer dieser Momente.
Autor: Stefan Loubichi, Wirtschaftswissenschaftler des Jahrganges 1966, der sich seit vielen Jahren auf wissenschaftlicher Basis mit dem Thema beschäftigt und durch sein Engagement verhindern möchte, dass durch Vergessen jemals wieder vergleichbare Gräueltaten wie die der Nazis im III. Reich entstehen könnten – Zukunft braucht Erinnerung.
Literatur
Udo Benzenhöfer: Der gute Tod? Geschichte der Euthanasie und Sterbehilfe. 2. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009, ISBN 978-3-525-30162-3
Udo Benzenhöfer: „Das Recht auf den Tod“. Bemerkungen zu einer Schrift von Adolf Jost aus dem Jahre 1895. In: Recht & Psychiatrie 16 (1998), S. 198–201.
Hans-Walter Schmuhl: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ 1890–1945. 2. Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1992, ISBN 3-525-35737-0
Markus Zimmermann-Acklin: Euthanasie. Eine theologisch-ethische Untersuchung. 2. Auflage. Universitäts-Verlag, Freiburg (Schweiz) 2002, ISBN 3-7278-1148-X; Herder, Freiburg (Breisgau) und Wien 2002, ISBN 3-451-26554-0.
Karl Binding & Alfred Hoche: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. Meiner, Leipzig 1920; Reprint, Hg. Wolfgang Naucke: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form (1920). BWV Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2006 ISBN 3-8305-1169-8
Walter Müller-Seidel: Alfred Erich Hoche – Lebensgeschichte im Spannungsfeld von Psychiatrie, Strafrecht und Literatur, Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 1999, ISBN 3-7696-1607-3
Lutz Kaelber, Raimond Reiter (Hrsg.): Kinder und „Kinderfachabteilungen“ im Nationalsozialismus. Gedenken und Forschung. Lang, Frankfurt 2011, ISBN 978-3-631-61828-8
Andreas Kinast: „Das Kind ist nicht abrichtfähig.“ Euthanasie in der Kinderfachabteilung Waldniel 1941–1943. Reihe: Rheinprovinz, 18. SH-Verlag, Köln 2010, ISBN 3-89498-259-4
Ernst Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat. 11. Auflage, Fischer-Taschenbuch, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-596-24326-2
Angelika Ebbinghaus, Klaus Dörner (Hrsg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Folgen. Berlin 2002, ISBN 3-7466-8095-6
Urteil des Landgerichtes Frankfurt am Main vom 6. Juni 1972 Ks 1/66
Wagma Hayatie: Von der NS-„Euthanasie“ zum Facharzt in Uetersen: der Mediziner Dr. Kurt Borm. In: Sönke Zankel (Hrsg.): Uetersen und die Nationalsozialisten: Neue Forschungsergebnisse von Schülern des Ludwig-Meyn-Gymnasiums. Schmidt & Klaunig, Kiel 2010, ISBN 978-3-88312-417-9
Weblinks
http://journals.zpid.de/index.php/GdP/article/view/362/397 http://www.tolmein.de/bioethik,euthanasie,50,ermordung-behinderter-menschen.html http://www.zeit.de/2006/42/Dresdener-Hygiene-Museum http://www.zeit.de/1986/11/euthanasie/komplettansicht