Vom Schloss zur T4 Tötungsanstalt: Pirna-Sonnenstein
Pirna-Sonnenstein. Das klingt nach einem gemütlichen Kurort mit Heilbad, nach einer idyllischen Anlage zum Kneipen und Pilatis. Doch hat die hier einst eingerichtete Heil- und Pflegeanstalt eine düstere Geschichte.
Geschichte der Festung als Wehranlage und Verwaltungsgebäude
Pirna ist eine Stadt mit heute 39.000 Einwohnern im Südosten Sachsens, südlich der Landeshauptstadt Dresden und nahe der heutigen Grenze zur Tschechischen Republik. Zwischen Elbe und Gottleuba erhebt sich hier 235 m hoch der Sonnenstein, auf dem sich wiederum das gleichnamige Schloss, eine erstmals am 5. Dezember 1269 in einer Urkunde des Markgrafen Heinrich des Erlauchten (1215 – 1288) erwähnte Burg-Festung, befindet. Diese bestand damals noch aus einem Bergfried, einem steinernen Wohn- und einigen hölzernen Nebengebäuden. Ab 1293 gehörte Schloss Sonnenstein dem König von Böhmen, also Wenzel II. (1271 – 1305) und dessen Nachfolgern. Die Böhmische Krone verpfändete das Schloss jedoch mehrere Male.
Am 15. November 1372 unterzeichnete auf Schloss Sonnenstein der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Karl IV. (1316 – 1378) mit den Meißener Markgrafen Friedrich III. von Meißen (genannt Friedrich der Strenge oder Friedrich der Freundholdige, 1332 – 1381), Balthasar von Wettin (1336 – 1406) und Wilhelm I. von Meißen (genannt Wilhelm der Einäugige, 1343 – 1407) den Pirnaer Vertrag, der die Grenzregelung zwischen dem Königreich Böhmen und der Mark Meißen in Zukunft regeln sollte, bis ihm der Vertrag von Eger im Jahr 1459 nachfolgte. Schon 1405 gelangte Schloss Sonnenstein einschließlich seiner Pflege (so nennt man das umliegende Verwaltungsgebiet) dann in den Besitz der Meißener Markgrafen – damals also in den von Wilhelm dem Einäugigen. Etwa ein halbes Jahrhundert später wurde Sonnenstein zum Verwaltungssitz des Amts Pirna, in dem die Pflege Pirna mit anderen, benachbarten Verwaltungseinheiten wie Königstein, Rathen oder Dohna zusammengefasst wurde. Die nun neu errichteten Burgtürme und das Kemenatengebäude, in dem wohl der Amtshauptmann residiert haben dürfte, fielen mit anderen Teilen der Anlage 1486 einem Brand und 1489 einem Unwetter zum Opfer. 1491 veranlasste der amtierende Markgraf Albrecht III. von Meißen (genannt Albrecht der Beherzte, lateinisch: Albertus Animosus; 1443 – 1500), mit dem Wiederaufbau zu beginnen. Die Errichtung des Schlosses unter Kurfürst Moritz Wettin von Sachsen (1521 – 1553) in den Jahren 1545 bis 1548 führte zur baulichen Trennung von Gebäuden, die der Verteidigung dienten, welche später unter Kurfürst August Wettin von Sachsen (1526 – 1586) ausgebaut werden sollten, und solchen, die bewohnt wurden.
Die neuen Verteidigungsanlagen wurden im Dreißigjährigen Krieg auf die Probe gestellt, als 1639 Johann Siegmund von Liebenau (1607 – 1671) die Festung gegen Johan Banér (1596 – 1641) in einer mehrere Monate währenden Belagerung, nach deren Ende die durch Artilleriebeschuss beschädigten Gebäude wieder aufgebaut wurden, verteidigen musste. Auch wurde die Amtsverwaltung 1674 an den Markt von Pirna verlegt, wodurch Schloss Sonnenstein seine Funktion als Verwaltungsgebäude verlor. Unter dem Barockbaumeister Wolf Caspar von Klengel (1630 – 1691), der ab 1688 Festungskommandant von Sonnenstein war, wurde die Anlage erneut umgestaltet. Weitere Um- und Neubauten folgten im Zeitraum zwischen 1735 und 1737 – zu einer Zeit als Sonnenstein auch als Staatsgefängnis genutzt wurde – durch den französischen Architekten Jean de Bodt (1670 – 1745). Dazu zählten der Elbflügel und die Neue Kaserne.
Im Siebenjährigen Krieg belagerte die preußische Armee Pirna und Sonnenstein. Die Festungsbesatzung kapitulierte erst, nachdem sich das Gros der Sächsischen Armee am 14. Oktober 1756 den Preußen, die die Festung anschließend besetzten, ergeben hatte. Generalfeldmarschall Friedrich Michael von Pfalz-Zweibrücken-Birkenfeld (1724 – 1767) eroberte die Festung am 5. September 1758 von Oberst Johann Heinrich von Grape (1696 – 1759) zurück. Keine sechs Jahre später verlor die nun geschleifte Festung ihren militärischen Status endgültig.
Umgestaltung zur Pflegeeinrichtung
1811 wurde das teils verfallene Schloss von Christian August Fürchtegott Hayner (1775 – 1837) im Auftrag des sächsischen Ministers Gottlob Adolf Ernst von Nostitz und Jänkendorf (1765 – 1836) zur Anstalt für als heilbar angesehene Geisteskranke, die bis dahin teils mit Strafgefangenen in Gefängnissen, Waisenkindern in Heimen und Obdachlosen in Armenhäusern untergebracht worden waren, umfunktioniert. Unter der Leitung von Ernst Gottlob Pienitz (1777 – 1853) wurde die Anstalt am 18. Juli 1811 eröffnet. Am 14. September 1813, also im Zuge der Befreiungskriege gegen die französischen Besatzer unter Kaiser Napoléon Bonaparte (1769 – 1821), besetzten französische Truppen die Anstalt, die sie wieder zur Festung zurückbauen wollten, beschlagnahmten dortige Vorräte und führten die zwangsweise Evakuierung aller 250 Patienten herbei, wobei Pienitz seine Patienten in Pirna selbst unterbrachte. Neben dem Rückbau zur Festung durch die besetzenden Franzosen führte auch der Beschuss durch die Belagerer der Festung, Russen und Preußen, die die Franzosen am 11. November 1813 zur Kapitulation zwingen konnten, schwere Schäden an der Anlage an. Dennoch wurde die Heilanstalt im Februar 1814 wieder als solche in Betrieb genommen, wenn auch nur notdürftig für etwa 135 der Patienten. Erst 1817 war die Anlage, die sich nun wegen ihrer fortschrittlichen Herangehensweise einen Ruf als Musteranstalt erwerben sollte, wieder voll hergestellt. Die damals als fortschrittlich geltenden Therapieansätze schlossen Sport, Disziplin, einen strukturierten Tagesablauf, Diäten, Heilbäder, Medikamente, Erziehung in Form moralischer Belehrungen, aber auch Unterhaltung und Gesprächstherapien mit ein. 1826 wurde mit dem Genesungshaus am Pirnaer Obertor auch die erste ambulante Nachsorgeeinrichtung für psychisch kranke Menschen in Deutschland eingerichtet. 1830 wurden ein zweiter und 1838 ein dritter Arzt zur Unterstützung von Pienitz angestellt. Zeitweilig beschäftigte die Anstalt bis zu 50 Strafgefangene, die sich nur minderer Vergehen schuldig gemacht hatten, als Pflege- und Reinigungspersonal, ehe Pienitz sie ab 1826 nach und nach durch qualifizierte Pflegekräfte ersetzen konnte, was er mit der mangelnden Qualifikation der Sträflinge begründete. Andererseits wurden aber auch als geheilt eingestufte, ehemalige Patienten zur Pflege herangezogen. Auch die Anzahl der Patienten wuchs wegen der großen Erfolge der in Sonnenstein angewendeten Methoden auf wieder knapp 250 an.
Daraus resultierten ab 1855 vorgenommene Ausbau- und Erweiterungsarbeiten. Unter der Leitung des Direktors des Geheimen Medizinalrats Friedrich Hermann Lessing (1811 – 1887) entstanden so ein neues Frauenhaus, ein Wirtschaftsflügel, ein Wohngebäude für Beamte und auch ein Krankenhaus speziell für die männlichen Patienten. Weitere Neubauten folgten ab 1890, um den steigenden Patienten- und daraus resultierend auch Angestelltenzahlen gerecht zu werden. Aus dem einstigen Festungsbau wurde auch baulich ein Krankenhaus mit Parkanlage und Anstaltskirche. Im Zeitraum von 1922 bis 1939 war Sonnenstein auch der Sitz der staatlichen Pflegeschule. Im Jahre 1928, also schon fünf Jahre vor der Machtergreifung durch die Nazis, wurde mit Hermann Paul Nitsche (1867 – 1948) ein Gesinnungsgenosse der Nationalsozialisten zum neuen Direktor der nun über 700 Patienten beherbergenden Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein. Als Verfechter der Rassenhygiene und der sogenannten „Euthanasie“ (altgriechisch: εὐθανασία; von εὖ eu = „gut, richtig, schön“ und θάνατος thánatos = „Tod“, also frei übersetzt: „schöner Tod“) grenzte Nitsche chronisch psychisch kranke und psychisch behinderte Patienten ab, ließ Zwangssterilisationen vornehmen, bediente sich „Zwangsheilbehandlungen“ und „Verpflegungssparrationierungen“ gegen die sogenannten „erbkranken“ Patienten.
Hintergründe der Aktion T4
Nachdem Pirna-Sonnenstein 1939 noch als Reservelazarett und Umsiedlerlager gedient hatte, funktionierte man die einstige Pflegeeinrichtung 1940 im Rahmen der Aktion T4, welche die Nazis mit Euphemismen wie „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, „Gnadentod“ und „Euthanasie“ bedachten, zur Tötungsanstalt um. Ideengeber für diesen Teil der „Eugenik“ (altgriechisch: εὖ eũ = „gut“ und γένος génos = „Geschlecht“) oder „Rassenhygiene“, die nicht nur die Säuberung des deutschen Genpools von angeblichen „Fremdrassen“ wie Juden und Sinti und Roma, sondern auch von erblich bedingten und psychiatrischen Krankheiten und Behinderungen vorsah, waren die Werke „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ des Psychiaters Dr. Alfred Hoche (1865 – 1943) und des Juristen Karl Binding (1841 – 1920) von 1920 und „Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene“ der Mediziner Dr. Eugen Fischer (1874 – 1967), Dr. Erwin Baur (1875 – 1933) und Dr. Fritz Lenz (1887 – 1976) von 1921. So trat schon am 14. Juli 1933 das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in Kraft, was die Zwangssterilisation von „Erbkranken“ und Alkoholikern vorsah und 1935 um einen Passus zur Genehmigung von Schwangerschaftsabbrüchen bis zum sechsten Schwangerschaftsmonat im Falle diagnostizierter Erbkrankheiten erweitert wurde. Im Juli 1939 berieten sich Adolf Hitler (1889 – 1945), der Reichsgesundheitsführer Dr. Leonardo Conti (1900 – 1945), der Chef der Reichskanzlei Hans Heinrich Lammers (1879 – 1962) und der Leiter des Stabes des Stellvertreters des Führers Martin Bormann (1900 –1945) erstmals über die „Vernichtung von lebensunwertem Leben“, die im Oktober 1939 eingeleitet wurde, obgleich Hitler den Brief, in dem er seinen Begleitarzt Dr. Karl Brandt (1904 – 1948) und den Reichsleiter der NSDAP und Chef der Kanzlei des Führers, SS-Obergruppenführer Philipp Bouhler (1899 – 1945) mit der Durchführung der „Euthanasie“ beauftragte, auf den 1. September 1939, also Kriegsbeginn, nachträglich vordatierte.
Das Vorgehen in der Vernichtungsmaschinerie
Eine der sechs Anlagen, die die Nazis für die Ermordung chronisch kranker und behinderter Menschen auswählten, war Pirna-Sonnenstein. Als Aktion T4 bezeichnete die Nachwelt diese geheime Vernichtungsoperation der Nazis angelehnt an die leitende Behörde in Berlin, die sich in der Tiergartenstraße 4 befand. Diese veranlasste im Frühjahr 1940, dass in einem an Elb- und Parkseite mit einer Mauer und hohen Bretterzäunen abgeschirmten Teil von Schloss Sonnenstein eine Tötungsanlage eingerichtet wurde, was konkret bedeutete, dass man im Keller des Krankengebäudes C 16 eine Gaskammer und ein Krematorium installierte.
Die Vernichtungsanstalt nahm am 28. Juni 1940 mit der Vergasung von zehn Patienten aus der Heil- und Pflegeanstalt Waldheim ihren Betrieb auf. Von da an rollten mehrmals in der Woche die berüchtigten grauen Busse mit Patienten aus umliegenden Heil- und Pflegeanstalten in Sachsen, Thüringen, Preußen, Schlesien, dem Sudetengebiet und Bayern nach einem „Zwischenstop“ in den Zwischenanstalten wie Arnsdorf, Großschweidnitz, Waldheim oder Zschadraß an, die zunächst das Eingangstor, das von auf Sonnenstein stationierten Polizisten bewacht wurde, passierten. Zu den Opfern zählten auch Kinder aus dem „Katharinenhof“ in Großhennersdorf, Sachsen und aus der Landesanstalt Chemnitz-Altendorf. Das vermeintliche Pflegepersonal führte die Patienten ins Erdgeschoss von Haus C 16, trennte sie nach Männern und Frauen und geleitete sie in die jeweiligen Aufnahmeräume. Danach verbrachte man die Opfer einzeln in Untersuchungsräume, wo Ärzte der Anstalt basierend auf dem Zustand des Patienten die fingierte Todesursache festlegten, die in die Sterbeurkunde eingetragen und den Angehörigen mitgeteilt wurde. Man wollte verhindern, dass die Bevölkerung von den Morden erfuhr. Mehr und mehr äußerten später Verdachte, was auch zur Beendigung der Aktion T4 durch Hitler selbst am 24. August 1941 führen sollte, womit das Töten aber bekanntlich nicht enden sollte. Ein weiterer Grund für die Untersuchung war, dass man feststellen wollte, welche Patienten Goldzähne hatten, um diese vor der Verbrennung herauszubrechen, oder eine medizinisch interessante Krankheit oder Behinderung hatten. War dies der Fall, wurden die Leichen nach der Vergasung seziert und entsprechende Körperteile zu Schulungszwecken präpariert. Die Anstaltsärzte waren auch die einzigen, die den Gashahn betätigen durften. Bevor man die Opfer jedoch in die als Dusche ausgegebenen Gaskammer im Keller brachte, wo sie in Gruppen von 20 bis 30 Menschen ermordet wurden, mussten sie sich im Beisein der Pfleger und Schwestern entkleiden. Waren die Opfer in der Gaskammer, wurden die Stahltüren davor geschlossen und einer der Anstaltsärzte leitete durch Öffnen des Ventils Kohlenstoffmonoxyd (|C≡O|) ein, das die Menschen erstickte – ein Vorgang, der bis zu einer halben Stunde andauern konnte und von den Ärzten durch ein Sichtfenster beobachtet wurde. Nochmal 20 Minuten danach war das Gas abgesaugt und die „Brenner“ oder „Heizer“ sondierten die zuvor markierten Leichen, brachen die Goldzähne heraus und verbrannten alle nicht für die Sezierung vorgesehenen Leichen in einem großen Koksofen. Die Asche verschüttete man, nachdem man sie tagsüber hinter dem Gebäude gelagert hatte, am Elbhang. In den Monaten von Juni 1940 bis August 1941 wurden 13.720 Menschen in Sonnenstein ermordet.
Doch auch wenn die Aktion T4 ihr Ende nahm, tat es das Morden keineswegs. Vor der Errichtung der Vernichtungslager oder der von Gaskammern in bereits bestehenden Konzentrationslagern zur „Endlösung der Judenfrage“ nutzte man die immer noch bestehenden Gaskammern in den Vernichtungsanstalten um politische und ethnische Gruppen, die den Nazis ein Dorn im Auge waren, umzubringen. Im Rahmen der Aktion 14f13 wurden politische Gegner wie Kommunisten, Sozialisten und Widerständler und Juden aus den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Buchenwald und Auschwitz in Pirna-Sonnenstein ermordet. Die Täter nutzten ihre Erfahrungen später im Rahmen der Aktion Reinhardt, in deren Verlauf 6 Millionen Juden in Vernichtungslagern vergast wurden. Sonnenstein wurde erst im Sommer 1942 von einer Tötungsanstalt in ein Lazarett umgewandelt. Die Nazis waren sehr bemüht ihre Spuren zu verwischen.
Die Täter und was aus ihnen wurde
Die Leitung über die Anstalt hatte zu jener Zeit der Mediziner Dr. Horst Schumann (1906 – 1983), dem weitere Ärzte, die unter Decknamen agierten, unterstellt waren: Dr. Kurt Borm (1909 – 2001) alias „Dr. Storm“, Dr. Klaus Endruweit (1913 – 1994) alias „Dr. Bader“, Dr. Ewald Wortmann (1991 – 1985) alias „Dr. Friede“ und Dr. Curt Schmalenbach (1901 – 1944) alias „Dr. Palm“. Insgesamt beschäftigte die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein jedoch über 100 Personen – neben Ärzten und „Pflegern“ bzw. Krankenschwestern, auch Fahrer, Polizisten und Büroangestellte für den Papierkram, denn natürlich vollführten die Nazis ihre Massenmorde mit deutscher Gründlichkeit und Effektivität sowie bürokratisch durchorganisiert und genaustens protokolliert.
Dr. Horst Schumann
Schumann war in der Tiergartenstraße 4 in Berlin von SS-Oberführer Viktor Brack (1904 – 1948) persönlich ausgewählt worden, um zunächst die Tötungsanstalt Grafeneck aufzubauen und dann später, um Sonnenstein zu leiten. Nach Ende der Aktion T4 selektierte Schuman zunächst im Rahmen der Aktion 14f13 Opfer, ehe er an die Ostfront versetzte wurde, wo er in einem Feldlazarett tätig war. Aufgrund seiner Expertise im Bereich Massenmord setzte man Schuman jedoch bald in beratender Funktion in einer Vielzahl von Vernichtungslagern ein. In Auschwitz führte er zudem Zwangssterilisationen durch. Danach wurde er im Januar 1945 an die Westfront versetzt, wo er bei seiner Tätigkeit als Truppenarzt in Kriegsgefangenschaft der US-Truppen geriet, aus der er im Oktober desselben Jahres jedoch schon wieder entlassen wurde.
Er ließ sich in Gladbeck nieder, wo er erst als Sportarzt für die Stadt arbeitete und dann vom Geld eines Flüchtlingskredits 1949 eine eigene Praxis aufmachte. Im Folgejahr wurde er Knappschaftsarzt der Ruhrknappschaft. Trotz Nennung in Eugen Kogons (1903 – 1987) Werk „Der SS-Staat“ führte erst ein Antrag Schumanns auf Erteilung eines Jagd- und Fischereischeines am 29. Januar 1951 dazu, dass die Behörden auf ihn aufmerksam wurden, denn für einen Jagd- und Fischereischein musste man auch ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. So fiel dann auf, dass es einen Haftbefehl gegen Schumann seitens der Staatsanwaltschaft Tübingen gab. Doch verliefen die Ermittlungen so zögerlich, dass Schumann am 26. Februar 1951 fliehen konnte. Wirklich gelernt hatte Schumann aus seinem Fehler nicht und so beantragte er, nachdem er drei Jahre untergetaucht und als Schiffsarzt tätig gewesen war, am 25. Februar 1954 einen deutschen Reisepass beim deutschen Generalkonsulat im japanischen Osaka-Kobe, das den Hinweis an die Strafverfolgungsbehörden in Deutschland weitergab. Die Jagd auf Schumann führte die Ermittler 1955 erst nach Ägypten und dann weiter in den Sudan. Am 16. April 1959 erschien in der Wochenzeitung „Christ und Welt“, deren Redaktionsleiter ein alter Gesinnungsgenosse Schumanns, der ehemalige SS-Hauptsturmführer Giselher Wirsing (1907 – 1975) war, ein Artikel, der einen „zweiten Albert Schweitzer“ lobpreiste, der in Li Jubu, einem Ort im Grenzgebiet von Kongo, Sudan und Französisch-Äquatorialafrika tätig sei. Obgleich dies wieder zur Enttarnung Schumanns führte, entkam er den Ermittlern durch die Flucht über Nigeria weiter nach Ghana ein weiteres Mal. In Kete Krachi baute er ein Urwaldkrankenhaus auf. In der Zwischenzeit erkannte man ihm in der Heimat den Doktortitel ab. Ein Jahr später, 1962, wurde Schumann nebst Gattin von einem Reporter des Daily Express erkannt, nachdem zuvor schon ein Auslieferungsersuchen an den ghanaischen Staatspräsidenten Kwame Nkrumah (1909 – 1972) gestellt worden war, was jener ignoriert hatte, weil er Schumann zu seinen Freunden zählte. So kam es zur Auslieferung erst nach Nkrumahs Sturz im Jahre 1966. Schuman kam in der Justizvollzugsanstalt Butzbach in Hessen in Untersuchungshaft.
Am 23. September 1970 begann vor dem Landgericht Frankfurt am Main der Prozess gegen Schumann und entwickelte sich zum Justizskandal, weil zahlreiche Gutachten über seine Verhandlungsunfähigkeit mit fragwürdiger Herkunft ins Felde geführt wurden. Doch sie hatten Erfolg, denn am 14. April 1971 wurde das Verfahren wegen der durch einen zu hohen Blutdruck diagnostizierten Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten vorläufig eingestellt. Schumann wurde am 29. Juli 1972 aus der Haft entlassen. Er starb am 5. Mai 1983 in Frankfurt am Main.
Dr. Kurt Borm
Kurt Borm war Mitglied der SS und meldete sich etwa ein Jahr vor Kriegsbeginn, also im Herbst 1938, freiwillig für die Teilnahme an einer zweimonatigen Übung der SS-Totenkopfverbände, also unter den überzeugtesten Nazis noch einmal den Verband, der sich durch ganz besondere Grausamkeit und Fanatismus auszeichnete. Nach seinem Einsatz als Musterungsarzt im Sudetenland, meldete er sich am 11. September 1939, der Krieg hatte 10 Tage zuvor begonnen, als Freiwilliger zur Leibstandarte SS „Adolf Hitler“, der Vorläuferorganisation der späteren Waffen-SS. Borm wurde im Rahmen seiner Tätigkeit als Truppenarzt in München und Prag am 20. April 1940 zum SS-Obersturmführer befördert. Nach einigen Monaten bei der Sanitäts-Inspektion der Waffen-SS in Berlin führte ihn sein leichengepflasterter Weg dann nach Sonnenstein. Man beurlaubte Borm am 20. September 1940, was jedoch mit der Weisung, sich in der Kanzlei des Führers für eine Sonderaufgabe zu melden, verknüpft war. Laut Borms eigener Aussage, habe er zunächst nur mit SS-Hauptsturmführer Friedrich Haus (1909 – 1945), der seine Personalien aufnahm und ihn anschließend mit dem Auto zur Reichskanzlei fuhr, gesprochen. Dort wurde er zu SA-Obersturmführer Werner Blankenburg (1905 – 1957) geleitet, der in einem kleinen Zimmer auf ihn gewartet hätte. Blankenburg klärte Borm nach eigner Aussage, darüber auf, dass „ein Hitler-Befehl, auf Grund dessen unheilbar Geisteskranke von ihren Leiden erlöst werden sollten“ bestünde. Weiter führte Borm aus: „Zuverlässig kann ich nur noch angeben, dass Blankenburg von einem Gesetzentwurf sprach, der in der Schublade liege und aus Rücksicht auf die Psyche der Bevölkerung noch nicht veröffentlicht werden sollte.“ In Anbetracht der Tatsache, dass die Gerüchte über die Aktion T4 den einmaligen Fall darstellen sollten, bei dem die Bevölkerung sich so klar gegen das Regime positionierte, dass dieses dem Druck der Öffentlichkeit zumindest teilweise, zum Schein aber zunächst gänzlich nachgab, war die Sorge der Entscheidungsträger offenkundig berechtigt. Borm weiter: „Im Verlauf dieser Unterrichtung belehrte Blankenburg mich darüber, dass es sich bei diesen Maßnahmen um eine ‚Geheime Reichssache’ handele und ich zur strengsten Verschwiegenheit auch gegenüber engsten Familienangehörigen unbedingt verpflichtet sei.“
Borm gab weiter an, dass er, im Monat, nachdem er in der Zentraldienststelle in der Tiergartenstraße 4 als „Ärzte in Anstalten“ geführt wurde (der Eintrag erfolgte am 25. November 1940), in Pirna-Sonnenstein eintraf. Laut einer Aussage von Schumann, der Borm und Endruweit einwies, sei „Dr. Borm als der Ältere als Sprecher [aufgetreten]“. Auch sagte Schumann: „Während ich Dr. Endruweit als verschlossen, zurückhaltend, scheu und unsicher bezeichnen möchte, machte Dr. Borm auf mich den Eindruck eines soldatischen Types. Ich habe noch gut in Erinnerung, wie er sich bei mir einführte. Er sagte etwa sinngemäß: ‚Ich habe den Befehl bekommen, mich bei ihnen zu melden. Sie sollen mir instruieren.’“
Zu Borms Stellung sagte Schumann, dass er „als der Ältere praktisch [sein] Vertreter und während [seiner] häufigen Abwesenheit Vorgesetzter der gesamten Anstalt“ gewesen sei. Schumans weitere Ausführungen verraten viel sowohl über Borm als auch über Schumann selbst:
„Während meiner mehrfachen Abwesenheit lief der Betrieb in Sonnenstein weiter und hierfür war in erster Linie Dr. Borm verantwortlich […] Ich kann mit Bestimmtheit behaupten, dass der Betrieb – d. h. die Tötung von Menschen – nicht ruhte.“
Doch anders als sein Vorgesetzter leugnete Borm seine Rolle in Sonnenstein und die Bedienung des Gashahns:
„Meine Aufgabe war die Feststellung der Identität der zur Euthanasie vorgeführten Kranken, das Heraussuchen einer angemessenen Diagnose als Todesursache und die ideologische Einwirkung auf das Anstaltspersonal, dass hier eine gute Idee verwirklicht werde.“
Schuman gab diesbezüglich zu Borm und Endruweit gleichermaßen an:
„Über die Aufgaben der Ärzte habe ich bereits in meinen früheren Vernehmungen Angaben gemacht. In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals betonen, dass auf Befehl von Brack und Heyde nur die Ärzte die Gaszufuhr bedienen durften. Wenn während meiner häufigen Abwesenheit Transporte anfielen, so mussten die mir unterstellten Ärzte an meiner Stelle das Gas bedienen. In Sonnenstein waren es Dr. Borm und Dr. Endruweit. Da Dr. Endruweit noch sehr jung und weich war, haben wir ihn weitgehend geschont, so dass ich mir vorstellen könnte, dass während meiner Abwesenheit vorwiegend Dr. Borm das Gas bedient hat.“
Nicht nur in Sonnenstein vertrat Borm den zuständigen Vergasungsarzt, sondern auch in Bernburg: Dr. Heinrich Bunke (1914 – 2001) im März 1941. Nach Ende der Aktion T4 wurde Borm wie viele der daran beteiligten Ärzte zunächst als Sanitätsarzt im Rahmen der Organisation Todt an die Front versetzt, wo er vom 15. Januar bis zum 15. März 1942 Verwundete der Winterschlacht 1942 im Stützpunkt in Wyasma-Gshatsk versorgte. Nach seiner Rückkehr ins Deutsche Reich arbeitete Borm als Mitarbeiter von Dr. Hermann Paul Nitsche, der mittlerweile ärztlicher Leiter der Aktion T4 war, in der Zentraldienststelle in der Tiergartenstraße 4. Auch seine Rolle als Nitsches Zuarbeiter spielte er nach Kriegsende herunter und meinte er sei „ein Dr. Nitsche zugeordneter medizinischer Hilfsarbeiter“ gewesen, obwohl er nachweislich maßgeblich an der Durchführung weiterer „Euthanasie“ wie etwa der Aktion 14f13 und der Aktion Brandt, für die er Medikamente beschaffte und an die entsprechenden Anstalten verteilte, beteiligt war. Blankenburg richtete am 6. März 1943 sogar einen Brief mit einer Bitte um Beförderung Borms an das Führungshauptamt, Amtsgruppe D, Sanitätswesen der Waffen-SS, in dem es hieß, Dr. Kurt Borm sei in einem Hitler bekannten Sonderauftrag seit dem 20. November 1940 tätig und habe „sich seit Durchführung der Aktion hervorragend bewährt“, weshalb Blankenburg im Auftrag von SS-Obergruppenführer Bouhler nun um die Beförderung vom SS-Obersturmführer zum SS-Hauptsturmführer ersuche. Die Beförderung sollte am 20. April 1943 erfolgen. Seit Oktober 1942 untersuchte Borm zudem Geisteskranke, die sich nach § 42 Strafgesetzbuch in Sicherungsverwahrung befanden, auf ihre Arbeitstauglichkeit.
Borm bekam einen Monat nach Kriegsende eine Anstellung im Städtischen Krankenhaus von Uetersen, wobei er seine Vorgeschichte beim Einstellungsgespräch wohlweißlich verschwieg. Durch eine zusätzliche internistische Ausbildung konnte Borm in der Inneren Abteilung des Krankenhauses bis zum Leiter aufsteigen. Spätestens im Februar 1962 wussten die Behörden, wo Borm sich aufhielt, doch zur Verhaftung kam es erst am 13. Juni 1962. Allerdings wurde er schon 16 Tage später wieder unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen. Er arbeitete zwar nicht weiter im Städtischen Krankenhaus praktizierte jedoch als niedergelassener Arzt in Uetersen weiter. Erst am 15. Januar 1965 erhob die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main Klage gegen ihn und andere T4-Ärzte, darunter Endruweit, wegen Beihilfe zum Mord an mehreren tausend Geisteskranken. Das Verfahren gegen Borm wurde jedoch vom Staatsanwalt selbst von den übrigen Verfahren abgetrennt, weil man annahm, dass man Borm mit weiteren Ermittlungen auch andere Straftaten nachweisen könnte – eine Entscheidung, die nach dem aufgehobenen Freispruch gegen die anderen Angeklagten am 7. August 1970 durch den Bundesgerichtshof wegen sachlicher Widersprüche rückgängig gemacht wurde, weil man sich doch dazu entschlossen hatte weitere Vorwürfe gegen Borm nicht weiter zu verfolgen. Weil dann aber die Verfahren gegen die anderen Angeklagten wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt wurden, saß Borm, als das Verfahren am 16. Dezember 1971 eröffnet wurde, dann doch alleine auf der Anklagebank. Das Urteil, das am 6. Juni 1972 gesprochen und später am 20. März 1974 vom Bundesgerichtshof bestätigt wurde, stellte einen der größten Justizskandale der Nachkriegszeit dar, denn nicht nur, dass Borm freigesprochen wurde, nein, die Begründung war in Augen vieler – darunter 15 Prominente, die sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 10. Juni 1974 mit einem offenen Brief direkt an Bundespräsident Gustav Heinemann (1899 – 1976) wandten – eine Farce. So sah es das Gericht zwar als unstrittig, dass Borm Beihilfe bei der Tötung von mindestens 6652 Menschen geleistet habe, war aber auch der Ansicht, dass ihm die Unrechtmäßigkeit seiner Handlungen nicht bewusst war – denn anders als im Volksmund oft behauptet, schützt Unwissenheit sehr wohl vor Strafe. So heißt es im Urteil:
„In den entscheidenden Jahren seines Heranwachsens, der Bildung von Wertvorstellungen und Umweltbegreifung hat er kaum etwas anderes vernommen, als die Verherrlichung nationalsozialistischen Gedankengutes. Er ist aufgewachsen in einem Beamtenhaushalt mit der dort erfahrungsgemäß in der Regel vorhandenen staatstreuen Gesinnung und dem unbedingten Glauben an die Gesetzmäßigkeit hoheitlichen Gebarens.“
Mit der Argumentation, dass die nationalsozialistische Gesinnung und Obrigkeitsgläubigkeit selbst ihn vor der Schuldfähigkeit schützen würden, brachte das Urteil viele Menschen auf, und folgte damit Borms eigener Argumentation:
„Abschließend möchte ich sagen, dass ich mich im Hinblick auf die gegen mich erhobenen Beschuldigungen strafrechtlich frei von jeder Verantwortung fühle. Ich bin aufgrund der mir erteilten Belehrungen der Auffassung gewesen, ‚was Du tust, ist richtig’. Ich kam zu dieser Überzeugung, weil man mir gesagt hatte, es läge ein Gesetz vor, was allerdings aufgrund einer Führerentschließung noch nicht veröffentlicht war.“
Borm praktizierte nach dem Freispruch weiter als Arzt, zog 1998 zu einem seiner Söhne nach Suderburg, wo er 2001 starb.
Dr. Klaus Endruweit
Dr. Klaus Endruweit hatte zusammen Aquilin Ullrich (1914 – 2001) zunächst in München und später in Würzburg, wo der spätere Obergutachter der Aktion T4 Prof. Dr. Werner Heyde (1902 – 1964) Universitätsprofessor für Psychiatrie und Neurologie gewesen war, Medizin studiert, aber noch nicht promoviert. Zusammen dienten Endruweit und Ullrich bei der Reichswehr und traten der SA bei. Ullrich, der bereits Arzt bei der Aktion T4 in der Tötungsanstalt Brandenburg war, empfahl Endruweit Heyde, der den kürzlich zum Assistenzarzt beförderten Endruweit als „u.k.“ (unabkömmlich) ab 22. November 1940 freistellen ließ und ihn damit nach Pirna Sonnenstein berief. Nach eigener Aussage wurde Endruweit „bei [s]einer Vorstellung in der ‚KdF‘ [Kanzlei des Führers] gleich an die Anstalt Sonnenschein zu Dr. Schumann verwiesen.“ Er sollte des weiteren aussagen:
„Bevor ich jedenfalls nach Sonnenstein fuhr, wurde ich in Berlin davon unterrichtet, dass die Tätigkeit, die ich jetzt ausüben sollte, eine Geheime Reichssache sei und dass ich über meine Tätigkeit Stillschweigen zu wahren hätte.“
Bei Endruweits Eintreffen war Schumann noch abwesend und so klärte Borm ihn über den Zweck der Anstalt auf. Die letztendliche Einweisung in seine Aufgaben übernahm aber Schumann persönlich. Endruweit gab nach Kriegsende an, er habe seine Tätigkeit im Rahmen der Aktion T4 aus moralischer sowie ärztlicher Sicht nicht gutheißen können, habe sie aber aufgrund der bestehenden Gesetzeslage als rechtmäßig angesehen. Eine aktive Rolle bei den Vergasungen bestritt er vor Gericht später. Schumann sagte allerdings aus:
„Wenn Dr. Endruweit bestreitet, je das Ärztezimmer betreten zu haben und behauptet, niemals durch das Fensterchen in den Vergasungsraum geschaut zu haben, so stimmt dies nicht. Alle Ärzte einschließlich Dr. Endruweit wurden von mir eingewiesen – und zwar bis in die letzten Einzelheiten – denn schließlich mussten sie mich ja vertreten, wenn ich von Sonnenstein abwesend war. Zu der Einweisung gehörte insbesondere das Einlassen des Gases und das Beobachten der Kranken durch das Fenster. Ich verstehe nicht wie Dr. Endruweit das bestreiten kann.“
Von Mai bis Juli 1941 ließ Endruweit sich beurlauben, um in Würzburg seine Dissertation zum Thema „Teplitz. Gesundheitliche Untersuchungen in einem deutschen Dorfe Bessarabiens im Rahmen einer Reichsberufswettkampfarbeit“ zu verfassen und zum Doktor der Medizin zu promovieren. So kehrte er erst nach der Beendigung der Aktion T4 nach Sonnenstein zurück. Am 28. November 1941 nahm Endruweit an einer Tagung in Pirna Teil, bei der es um den künftigen Einsatz des an der Aktion T4 beteiligten Personals ging. Bei der Organisation Todt diente Endruweit im November 1941 als Stabsarzt in der Nähe von Breslau. Bei Kriegsende war Endruweit an der Ostfront im Einsatz, wo er in die Kriegsgefangenschaft der US-Armee geriet, aus der er jedoch schon bald wieder entlassen wurde.
Keine zwei Monate nach der Kapitulation des Deutschen Reichs kam er vorübergehend im Städtischen Krankenhaus Hildesheim unter, wo ihm Wohnung und Verpflegung gestellt wurden. Gut ein Jahr später, am 1. Juli 1946, ließ er sich in Bettrum, einer Gemeinde im Landkreis Hildesheim, mit einer eigenen Praxis nieder. 1956 wurde Endruweit Vorstandsmitglied der Kassenärztlichen Vereinigung und der Ärztekammer Niedersachsens, wobei die Vorstandsmitgliedschaft bei letzterer von 1958 bis 1961 und dann wieder ab 1965 ruhte. Trotz seiner Verhaftung am 20. Juni 1962 konnte Endruweit zunächst ungehindert weiter praktizieren, denn er wurde noch am Tag der Verhaftung mit der Auflage, einmal pro Woche bei der Polizei vorstellig zu werden, wieder auf freien Fuß gesetzt. Am 15. Januar 1965 klagte die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main Endruweit gemeinsam mit drei anderen T4-Ärzten, nämlich Borm, Ullrich und Heinrich Bunke (1914 – 2001), an „heimtückisch, grausam, aus niederen Beweggründen, vorsätzlich und mit Überlegung jeweils mehrere Tausend Menschen getötet zu haben“. Beginn der Hauptverhandlung war am 3. Oktober 1966. Noch im Vorfeld ordnete der Hildesheimer Regierungspräsident an, dass Endruweits Bestallung als Arzt zu ruhen hätte, was eine Welle von Sympathie- und Solidaritätsbekundungen seitens anderer Ärzte, Verbände und einiger Bürgermeister auslöste.
Auszüge aus dem Urteil des sogenannten ersten Ärzteprozesses vom 23. Mai 1967:
„Die im Rahmen der Aktion ‚T4‘ durchgeführten Massentötungen … erfüllen den Tatbestand des Mordes im Sinne des § 211 StGB in der zur Tatzeit geltenden und in der heute gültigen Fassung. Jedes menschliche Leben, auch das der Geisteskranken, genießt bis zu seinem Erlöschen den Schutz des § 211 StGB […] kein Kulturvolk [hat] jemals eine derartige Aktion durchgeführt.“
„Der Angeklagte Dr. Endruweit war sich bei seiner Tätigkeit darüber im Klaren, dass durch die Vorstellung bei den Ärzten den Kranken eine Untersuchung vorgetäuscht werden sollte. Diesem Zweck dienten – wie dem Angeklagten Endruweit auch bewusst war – die in Sonnenstein wie in Brandenburg und Bernburg gestellten Testfragen, auf die die Kranken ebenso wie in den anderen Anstalten reagierten. Nach der Vorstellung bei den Ärzten wurden die Kranken in den Keller geführt, wo sich der Tötungsraum und der Verbrennungsraum befanden. Der Angeklagten Dr. Endruweit war jedoch niemals bei der Tötung zugegen und hat auch niemals den Gashahn bedient. Er hat auch keine Todesursachen ausgewählt. Seine Aufgabe nach der Tötung bestand lediglich darin, von einer Sekretärin vorbereitete ‚Trostbriefe‘ zu unterzeichnen. Obwohl er zu dieser Zeit noch nicht promoviert hatte, bediente er sich dabei des Decknamens ‚Dr. Bader‘.“
„Die Angeklagten sind davon ausgegangen, dass sie nur bei der Tötung von Geisteskranken‚ ohne natürlichen Lebenswillen‘ mitwirkten und dass deren Tötung erlaubt war. Da hiermit die Schuld entfällt, waren die Angeklagten freizusprechen.“
Demnach wurde zwar festgestellt, dass Endruweit Beihilfe zur Ermordung von mindestens 2.250 Geisteskranken geleistet habe, er aber wie seine Mitangeklagten wegen des fehlenden „Bewusstseins der Rechtswidrigkeit“ (im schönsten Juristendeutsch auch: „unvermeidbarer Verbotsirrtum“) freigesprochen werden müsse. Dieses Urteil hob der Bundesgerichtshof am 7. August 1970 wegen sachlicher Widersprüche auf. Doch schon am 6. Februar 1972 legte Endruweit eine ärztliche Bescheinigung über einen erlittenen Herzinfarkt vor und schied als dritter der vier Angeklagten aus dem am 16. Dezember 1971 begonnen neuen Prozess als verhandlungsunfähig aus. Bis zur Schließung seiner Praxis durch die Bezirksregierung am 1. März 1984 praktizierte Endruweit sowohl illegal als auch unbehelligt weiter. Jedoch verzichtete man ab Februar 1984 gegen eine Hinterlegung von 500.000 DM auf die wöchentliche Polizeimeldung.
Es wurde jedoch erneut ein Verfahren gegen Endruweit, Bunke und Ullrich angestrengt. Verhandlungsbeginn vor dem Landgericht Frankfurt am Main war der 29. Januar 1986. Gleich zu Prozessbeginn ließ sich Endruweit erneut als aus Krankheitsgründen nicht verhandlungsfähig entschuldigen – ein Zustand, den das Gericht vier Jahre später als dauerhaft anerkannte, was zur Einstellung sämtlicher Verfahren führte. Am 3. September 1994 verstarb Endruweit in Hildesheim.
Dr. Ewald Wortmann
Nach eigenen Angaben wurde Dr. Ewald Wortmann, der ebenfalls bei Prof. Dr. Werner Heyde in Würzburg Vorlesungen besucht hatte, aus seinem Kriegseinsatz in der Wehrmacht um den Monatswechsel September/Oktober 1940 mit der Weisung entlassen, bei Dr. Hermann Paul Nitsche in der Kanzlei des Führers vorstellig zu werden. Über dieses Treffen mit Nitsche gab Wortmann später zu Protokoll:
„Bei dieser Besprechung hat mich Nitsche gefragt, wie ich zur Euthanasie stünde. Ich habe ihm erklärt, dass ich der Euthanasie nicht ablehnend gegenüberstehe.“
Und:
„Damals habe ich bei Prof. Nitsche nicht nach einer Rechtfertigung für die Euthanasie gefragt. Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass etwas, was mir ein Professor in einer Dienststelle der Kanzlei des Führers sagt, nicht richtig oder gar gesetzeswidrig sein könnte.“
Wortmanns Darstellung widersprechen die offiziellen Unterlagen in der Zentraldienststelle T4, in denen er in der Rubrik „Ärzte in den Anstalten“ vom 12. Mai 1940 bis zum 31. Oktober 1940 geführt wurde. Man teilte Wortmann vorerst dem T4-Gutachter Theodor Steinmeyer (1897 – 1945) als Mitarbeiter zu. In dieser Funktion besuchten Steinmeyer und seine aus etwa 35 Personen bestehende Ärztekommission Heil- und Pflegeanstalten im Reichsgebiet und begutachteten die Patienten anhand der Krankengeschichte und Gesprächen mit dem Personal vor Ort. Ohne die Patienten selbst gesehen zu haben, füllten sie entsprechende Meldebögen aus, die Grundlage der Selektion, welche Patienten euthanasiert werden sollten, waren.
Im Anschluss an diese Tätigkeit stellte Wortmann sich in Sonnenstein bei Dr. Horst Schumann, der Wortmann in seine Tätigkeit in die Vergasungseinrichtung einwies, vor. Wortmann gab später an, Schumann habe ihm die Funktionsweise der Gaskammer praktisch vorgeführt:
„Wir saßen in einem größeren Raum an einem langen Tisch oder mehreren Tischen. Dr. Schumann saß in der Mitte und hatte die Unterlagen vor sich liegen bzw. die Schwestern brachten die Unterlagen der Kranken in jedem Fall mit. Dr. Schmalenbach saß rechts, ich selbst links von Dr. Schumann. […] Die Kranken wurden einzeln aber fortlaufend hereingeführt. Eine Untersuchung fand nicht mehr statt. Es kann jedoch sein, dass Dr. Schumann in Einzelfällen noch Fragen gestellt hat. Ich selbst hatte nichts zu tun, sondern nur dabei zu sitzen. […] [Die Kranken] wurden anschließend in einem Nebenraum fotografiert und dann in den Raum geführt, wo sie gemeinsam getötet wurden. Dr. Schumann hat die Anlage selbst in Tätigkeit gesetzt und durch ein kleines Glasfenster den Vorgang beobachtet. Er forderte mich noch auf, selbst auch einmal hineinzusehen. Ich habe so getan, als ob ich hineinsehen würde, mich jedoch gleich wieder abgewandt.“
Geschockt von dem Vorgehen, habe Wortmann um seine Abberufung gebeten und in seiner Zeit in Sonnenstein nur die gefälschten Trostbriefe mit „Dr. Friede“ unterzeichnet:
„Ich [habe] gleich darauf Dr. Schumann gebeten […], mich wieder fortzuschicken. Dr. Schumann sagte mir indessen, dass er das nicht entscheiden könne. Prof. Heyde werde kommen und ich solle ihm den Wunsch vortragen. Ich habe nun gewartet, dass Prof. Heyde käme und hatte nur einen dringenden Wunsch, nämlich dass inzwischen kein weiterer Transport ankäme. Leider kam inzwischen doch ein Transport an. Ich kann noch genau sagen, dass ich mich in einer außerordentlich bedrückten Stimmung befand, so dass ich schließlich einfach nach Berlin zu Prof. Heyde telefoniert und ihn um meine Abberufung gebeten ha[b]. Ich weiß noch, dass er recht ungnädig am Telefon war und mir Anweisung gab, nach Berlin zu kommen. Ich bin dann auch nach Berlin gefahren und habe wohl auch gleich meine Siebensachen mitgenommen.“
Heydes Versuche, Wortmann mit Hinweis auf die sich bietenden Aufstiegschancen bei der Aktion T4 umzustimmen, blieben erfolglos und so wurde Wortmann ohne Androhung oder Verhängung von Sanktionen zunächst in ein Lazarett in Litzmannstadt (Łódź) versetzt und später wieder zur Wehrmacht eingezogen, wo er an der Ostfront eingesetzt wurde und dann in russische Kriegsgefangenschaft geriet, aus der er 1950 entlassen wurde.
Er ließ sich in Friedrichskoog als Allgemeinmediziner mit eigener Praxis nieder. Im Prozess gegen den T4-Arzt Dr. Georg Renno (1907 – 1997) sagte Wortmann am 21. März 1963 erstmals als Zeuge vor Gericht aus. Zwar war Wortmann als letzter der T4-Ärzte ermittelt worden und hätte mit Ullrich, Endruweit, Borm und Bunke angeklagt werden sollen, doch wurde das eingeleitete Ermittlungsverfahren am 1. August 1969 eingestellt. Im Oktober 1970 sollte er im Prozess gegen Schumann aussagen, verweigerte die Aussage jedoch. Anders als seine Kollegen räumte ausgerechnet Wortmann eine eigene Schuld ein, „weil [er] nichts gegen diese Dinge unternommen habe.“ Im weiteren Wortlaut:
„Das ist aber nur eine Angelegenheit, die mich innerlich trifft. Ich konnte ja damals überhaupt nicht gegen diese Dinge antreten. Es fehlte mir die Möglichkeit und auch der Einfluss.“
Dr. Ewald Wortmann starb am 15. September 1985 in Osnabrück.
Dr. Curt Schmalenbach
Dr. Curt Schmalenbach führte die Zentraldienststelle T4 ab dem 26. Juni 1940 zunächst in der Rubrik „Ärzte in der Zentrale“. Dennoch wurde er ab Herbst 1940 in der Vergasungsanstalt Pirna-Sonnenstein eingesetzt, wo er in Schumanns Abwesenheit selbst die Vergasungen durchführte und auch die Trostbriefe – natürlich unter seinem Pseudonym – unterzeichnete. Nachdem man jedoch Borm und Endruweit im November bzw. Dezember Sonnenstein zugewiesen hatte, agierte Schmalenbach als Verbindungsmann zwischen der Tötungsanstalt in Pirna und der Zentraldienststelle in Berlin.
Nach seinem Wiedereintritt in die NSDAP wurde Schmalenbach dann ab dem 28. August 1941 als Gutachter geführt und eingesetzt und begutachtete Patienten in Anstalten wie Bethel, Andernach, Göppingen, Galkhausen, Schwäbisch Hall, im Riedhof nahe Ulm und in den Anstalten der Diakonie Neudettelsau. Wie andere Gutachter selektierte er die Patienten trotz seiner Anwesenheit vor Ort nach Aktenlage. Einer der Ärzte in Galkhausen erinnerte sich an Schmalenbach und seine schnelle Arbeitsweise, so hatte er den Eindruck, „dass Dr. Schmalenbach die gewissenhafte Arbeit seiner beiden älteren Kollegen nicht zusagte und als wenn er seine Entscheidungen verhältnismäßig oberflächlich getroffen hätte.“ Nach Ende der Aktion T4 begutachtete Schmalenbach für Aktion 14f13 Häftlinge in den Konzentrationslagern Buchenwald und Ravensbrück und selektierte sie zur Vergasung.
Da die Zentraldienststelle T4 nicht wusste, ob die Vergasungen in den nicht mehr genutzten Anstalten wieder aufgenommen werden sollten, hielt man sie in Bereitschaft. So wurde Schmalenbach Ende 1941 zum Leiter von Hadamar. Von Januar bis März 1942 wurde Schmalenbach an die Ostfront bei Minsk versetzt, wo er im Rahmen der Organisation Todt in einem Lazarett verwundete und von der Kälte geschädigte Soldaten medizinisch versorgte. Im Sommer desselben Jahres hatte er dann den Rückbau der nun aufgelösten Tötungsanstalt Hadamar zu organisieren und zu überwachen. Danach kam er als Stabsarzt an die Universitätsfrauenklinik in Greifswald, wo er begierig auf einen erneuten Sonderauftrag hoffte, der nie erteilt wurde. Curt Schmalenbach kam am 15. Juni 1944 bei einem Flugzeugabsturz über dem Comer See in Italien ums Leben.
Literatur
Boris Böhm: „Geschichte des Sonnensteins und seiner Festung“; Hrsg. Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e. V., Pirna 1994.
Boris Böhm: „Die ehemalige Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein. Geschichte, Gedenken, Leben“ (= Pirnaer Miniaturen. Heft 5). Pirna 2015.
Ernst Klee: „Was sie taten – Was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord“, 12. Auflage. Fischer-TB, Frankfurt/M. 2004.
http://www.ns-euthanasie.de/index.php/pirna-sonnenstein
https://www.memorialmuseums.org/denkmaeler/view/37/Gedenkst%C3%A4tte-Pirna-Sonnenstein