Łódź besitzt seit dem 29. Juli 1423 Stadtrecht und hat sich speziell im 19. Jahrhundert zur zweitgrößten Stadt Polens entwickelt – keine schöne Stadt, aber eine sehr fleißige, die von Polen, Deutschen und Juden zu einem pulsierenden Industriezentrum und einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt Osteuropas ausgebaut wurde. Anfang September 1939 überfielen deutsche Truppen Polen, am 8. Oktober 1939 verfügte Hitler, dass der größte Teil der Region Łódź in das Reichsgebiet eingegliedert wurde. Die Stadt selber sollte draußen bleiben, was den deutschen Bewohnern nicht gefiel. Sie forderten eine Neuregelung, hierbei von Partei- und Wirtschaftsbehörden nachdrücklich unterstützt. Hitler willigte ein, und am 9. November 1939 wurde Łódź feierlich ins Reich aufgenommen.
Polnisch-jüdisch-deutsches Łódź
Um 1820 waren erstmals Deutsche nach Łódź gekommen, 1864 zählte die Stadt rund 34.000 Einwohner, von denen 67 Prozent Deutsche, 20 Juden und 13 Polen waren. Bei Kriegsbeginn 1939 lebten in der Stadt ca. 370.000 Polen, 180.000 Juden und 90.000 Deutsche. Der polnische Stadtname hat den Deutschen nie etwas ausgemacht. Sie ließen einfach die polnischen diakritischen Zeichen weg und nannten sich „Lodzer (Lodscher) Menschen“. Aber soviel Lokalpatriotismus war Hitler unangenehm: Am 11. April 1940 wurde Łódź in „Litzmannstadt“ umbenannt – nach Karl Litzmann (1850-1936), einem General aus dem Ersten Weltkrieg und späteren NS-Würdenträger.
Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatte Polen rund 33 Millionen Einwohner, darunter ca. 3,5 Millionen Juden. Diese lebten vorwiegend in Städten und waren in Handel und Industrie tätig (da ihnen Staatsstellen so gut wie verschlossen blieben), was die Erklärung dafür ist, dass in Łódź eine der größten jüdischen Gemeinden Polens ansässig war. Laut Julian Baranowski, dem um die Geschichte des Ghettos hochverdienten polnischen Historikers, zählte sie bei Kriegsausbruch mindestens 233.000 Mitglieder, umfaßte also rund 40% der Stadtbevölkerung. Diese sollte auf Vorschlag von Friedrich Übelhör, Verwaltungschef der Region Kalisz, in bestimmten Stadtvierteln konzentriert werden. Das galt als bloße Übergangsregelung, da man mit der baldigen „Abschiebung“ der Juden in das „Generalgouvernement“ rechnete, also in die ehemaligen polnischen Regionen, die lediglich als „Nebenland des Reiches“ geführt wurden. Die für den NS-Apparat charakteristischen internen Rivalitäten verhinderten diesen Plan. Stattdessen wurden auf Befehl von Johann Schäfer, Polizeichef von Łódź, am 8. Februar 1940 die Altstadt, das Proletarierviertel Bałuty und der Vorort Marysin – ursprünglich 4,13 Quadratkilometer, die am 30. Juni 1942 auf 3,82 verkleinert wurden und auf denen 2.332 Häuser mit insgesamt 28.400 Wohnräumen standen – zum „Ghettogelände“ erklärt, in das die Juden umsiedeln mussten. Am 30. April 1940 wurde das Ghetto endgültig von der Außenwelt abgesperrt. Das Ghetto-Gelände war nicht kanalisiert, bot also keine Möglichkeiten der unterirdischen Kontaktaufnahme nach draußen, und in Łódź lebten noch 70.000 Deutsche, die als zusätzliche „Sicherung“ des Ghettos wirkten. Allerdings sollten auch diese nicht alles erfahren: Zwar durften sie mit der Straßenbahn durch das Ghetto fahren, aber die Linie war mit hohen Holzplanken abgeschottet und vor Fahrtantritt wurden die Wagen verschlossen.
Das „Ghetto Litzmannstadt“ galt als vollständig isoliert: Am 12. Juni 1940 waren hier 160.320 Juden interniert, davon 153.849 aus Łódź und 6.471 aus dem umliegenden „Warthe-Gau“. Im Spätherbst 1941 wurden 19.954 Juden aus Österreich, dem „Protektorat Böhmen und Mähren“, Luxemburg und Deutschland nach Łódź deportiert, bis zum Frühjahr 1942 weitere 17.826 Juden aus aufgelösten Ghettos im Warthe-Gau. Hinzu kamen noch 5.007 Roma aus dem österreichischen Burgenland, die im Ghetto in einem gesonderten „Zigeunerlager“ untergebracht waren. Rund um das ganze Ghetto-Gelände und entlang der beiden größten Durchgangsstraßen, der Zgierska- und der Limanowskiego-Straße, waren Stacheldrahtsperren gezogen und im Abstand von maximal 100 Metern Posten der Schutzpolizei aufgestellt, die jeden Juden, der das Ghetto verlassen wollte, ohne Vorwarnung erschießen durften. Dennoch gilt Litzmannstadt in der Holocaust-Forschung als das am besten dokumentierte KZ – das Staatsarchiv in Łódź besitzt allein 27 Alben mit Photos aus dem Ghetto. Die papierenen Dokumentenbestände füllen 12 große Räume, und die Betreuung der Archivmaterialien obliegt 20 Angestellten.
Innere Organisation des Ghettos Litzmannstadt
Das Ghetto Litzmannstadt musste von seinen Bewohnern selber finanziert werden, was anfänglich durch den Verkauf letzter Wertgegenstände, später durch Zwangsarbeit in Fabriken geschah. 1940 arbeiteten lediglich 31 Betriebe und Werkstätten, 1943 waren es bereits 119. In demselben Jahr waren in den Betrieben 70.000, bei der stark ausgebauten Ghetto-Verwaltung weitere 9.000 Personen beschäftigt. An der Spitze dieser Verwaltung stand Der Älteste der Juden in Litzmannstadt Ghetto, der einen Ältestenrat als beratendes Gremium berief. Die Verwaltung selber bestand aus einer Hierarchie von 33 Zentralen, Abteilungen, Ressorts und Kommissionen.
Die wichtigsten Gremien der Ghetto-Selbstverwaltung waren:
- Zentrale: Ein zentrales Sekretariat, über das der Älteste der Juden die Korrespondenz mit den Deutschen und die gesamte Verwaltung des Ghettos führte.
- Meldebüro: Eine auf deutschen Befehl eingerichtete Zentrale, die alle Personaldaten aller Ghettobewohner registrierte.
- Statistik–Abteilung zur quantitativen Erfassung aller Lebens- und Arbeitsbereiche des Ghettos.
- Ordnungsdienst (OD): Eine Lagerpolizei, die in mehreren Abteilungen 850 bis 1.200 Angehörige hatte und zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit im Ghetto, Hilfsleistungen bei Umzügen und Transporten etc. diente.
- Schnellgericht: Ein am 11. März 1941 geschaffenes Gericht, das Personen- und Strafsachen verhandelte, darunter auch Delikte wie Sabotage, „Aufhetzung der Gesellschaft“, „Widerstand gegen die Ghetto-Verwaltung“ etc. Abgeurteilte wurden zur Verbüßung ihrer Haft in das Zentralgefängnis eingewiesen. Dieses Gefängnis war auf deutschen Befehl gebaut worden, da die Deutschen überzeugt waren, dass unter vielen Juden auch viele Verbrecher wären.
- Versorgungsabteilung zur Verwaltung von Nahrungsmitteln und Medikamenten, die das Ghetto von deutschen Behörden erhielt.
- Wohnungsabteilung zur Verwaltung des Wohnraums, Einweisung von Bewohnern, Raumbeschaffung für die Ghetto-Verwaltung etc.
- Gesundheitsabteilung zur Verwaltung aller Krankenhäuser, Apotheken, Rettungsstationen, Sanitätsdienste, Altenheime, Waisenhäuser etc.
- Schulabteilung, der die Schulen im Ghetto und die Heime in Marysin unterstanden.
- Zentrales Arbeitsamt als Mittler zu deutschen Behörden und Firmen.
- Aussiedlungskommission: Ein auf deutschen Befehl geschaffenes Büro zur Erstellung von Listen für Transporte, Deportationen etc.
Alle diese und weitere Einrichtungen, z.B. eine eigene Ghetto-Zeitung, die vom 4. März 1941 bis zum 21. September 1941 in jiddischer Sprache erschien, sollten den Eindruck von Normalität und ernstgemeinter jüdischer „Selbstverwaltung“ vermitteln. Davon konnte jedoch keine Rede sein: Entweder führten die Institutionen deutsche Befehle aus, oder sie waren (wie etwa der Ältestenrat) ohne alle Bedeutung und ohne jeden Einfluss. Erste und letzte Instanz waren die deutschen Behörden, vor allem die Ghettoverwaltung als relativ eigenständiges Glied der Stadtverwaltung Litzmannstadt. Ihre Hauptaufgaben waren die Versorgung des Ghettos mit Nahrung, Medikamenten und Heizmaterial, die Vermittlung zwischen deutschen Wirtschaftsbehörden und Firmen und der Ghetto-Selbstverwaltung sowie die finanzielle Verwaltung des Ghettos. Auch deutsche Wehr-, Wirtschafts-, Zivil- und Sicherheitsbehörden waren in Angelegenheiten des Ghettos involviert. Im Vergleich zu ähnlichen Lagern war es früher entstanden, hatte länger existiert, war größer und vor allem ökonomisch bedeutsamer gewesen – alles Umstände und Gründe, die deutsche Aufmerksamkeit für das Ghetto Litzmannstadt erklären.
Im Ghetto bestand eine eigene Post mit eigenen Wertzeichen, die am 10. April 1940 ihre Arbeit aufnahm: Jüdische Briefträger verteilten im Ghetto Postsendungen. Zu diesem Zweck waren alle Ghetto-Bewohner aufgefordert worden, ihre „neuen Adressen“ beim Postamt einzureichen. Bereits am 17. Juni 1940 verboten die jüdischen Ghetto-Behörden den Postverkehr mit dem „feindlichen Ausland“ und verfügten: „Briefe müssen in deutscher Sprache abgefasst und deutlich lesbar sein“. Knappe vier Wochen später verpflichteten sich diese Behörden auch zur „Schaffung einer Selbstzensurstelle“.
Schließlich war im Ghetto eigenes Geld im Umlauf, die sog. „Mark-Quittungen“, die als Münzen und als Papiergeld in Werten zu 10 Pfennig und zu 1, 2, 5, 10, 20 und 50 Mark ausgegeben wurden. Sie galten nur für den Ghetto-Bereich und waren das einzige zugelassene Zahlungsmittel. Am 8. Juli 1940 wurde bekannt gemacht, dass die deutsche Reichsmark und polnische Złoty im Ghetto „keine gültigen Zahlungsmittel mehr“ seien.
Wie erlebten die Bewohner das Ghetto? Die tschechischen Überlebenden Věra Arnsteinová und Mája Randová berichteten:
„Fäkalien flossen den Bürgersteig entlang. Bei der Ankunft fanden wir Hinterhöfe vor, die voller Müll waren. Bałuty bestand aus Stein- und Holzhäusern mit großen Höfen, die untereinander verbunden und völlig verwahrlost waren. Erst als eine Epidemie drohte und die Deutschen Angst vor Infektionen hatten, ließen sie den Müll wegräumen. Es drohten Cholera, Gelbsucht, Typhus. Für Mutters Kleider tauschten wir Waschschüsseln und Kübel ein, um existieren zu können. Laufend gingen aus dem Ghetto die ersten Transporte ab, und niemand wusste, wohin. Reihenweise starben Menschen an Hunger und Krankheiten. Wir zogen in eine freigewordene Wohnung um – vier Personen in einem Zimmer mit zwei Pritschen, Tausende Wanzen, derer man nicht Herr wurde. (…) Wanzen. Flöhe, Kleiderläuse. Bei der Essenausgabe lange Schlangen, und man konnte beobachten, wie die Läuse von einem zum anderen sprangen. Die Läuse übertrugen Flecktyphus. Für die ausgehungerten und erschöpften Menschen war es schrecklich schwer, im Winter für tägliche Hygiene zu sorgen. Als wir ankamen, teilte man uns irgendeine Rübensuppe aus. Wir konnten sie nicht essen, aber die Einwohner bettelten darum. Bald haben auch wir sie geschluckt. Die ganzen Jahre war der Hunger im Ghetto am schlimmsten, vor Hunger starben Alte und Junge“.
Lebende und Tote von Litzmannstadt
In den knapp fünf Jahren seines Bestehens wies das Ghetto Litzmannstadt folgende „Bevölkerungsstatistik“ auf:
Jahr | Bewohner | Todesfälle |
1940 | 160.320 | 8.475 |
1941 | 145.992 | 11.456 |
1942 | 103.034 | 18.046 |
1943 | 84.226 | 4.573 |
1944 (I-VIII) | 72.551 | 2.778 |
Total | ca. 43.000 |
In den Jahren wurden lediglich 190 Ghetto-Bewohner erschossen, und generell erscheint die Todesrates des Ghettos mehr oder minder „normal“, besonders wenn man sich die ganzen Lebensumstände in Litzmannstadt vergegenwärtigt. Dieser Eindruck kann indessen nur entstehen, wenn man die Deportationen nicht berücksichtigt: Im Ghetto Litzmannstadt wurde gearbeitet, und wer zur Arbeit nicht fähig war, der wurde in ein KZ geschafft und dort getötet. Die Deportations-Statistik spricht eine deutliche Sprache:
Datum der Deportation | Zahl der Opfer | Tötungsort |
26.-29.1.1942 | 10.003 | Vernichtungslager Chełmno |
22.2.-2.4.1942 | 34.073 | Vernichtungslager Chełmno |
4.-15.5.1942 | 10.914 | Vernichtungslager Chełmno |
3.-12.9.1942 | 15.681 | Vernichtungslager Chełmno |
23.6.-14.7.1944 | 7.196 | Vernichtungslager Chełmno |
9.-29.8.1944 | 65.-67.000 | KZ Auschwitz |
August 1944 | 500 | KZ Sachsenhausen, KZ Ravensbrück |
Total | 143.-145.000 |
Das Gros der Bewohner und der Opfer von Litzmannstadt waren polnische Juden. Daneben wurden 1941 auch größere Gruppen westeuropäischer Juden eingeliefert:
Herkunftsland | Herkunftsort | Ankunft | Anzahl |
Österreich | Wien | 16.10.-3.11. | 4.999 |
Deutschland | Berlin | 18.10.-2.11. | 4.055 |
Deutschland | Emden | 25.10. | 122 |
Deutschland | Frankfurt M. | 22.10. | 1.186 |
Deutschland | Köln | 23.10. | 2.014 |
Deutschland | Hamburg | 26.10. | 1.063 |
Deutschland | Düsseldorf | 26.10. | 1.005 |
Prot. Böhmen-Mähren | Prag | 19.10. | 4.999 |
Luxemburg | Luxemburg | 18.10. | 512 |
Total | Ca. 19.722 |
Generell hat sich das Ghetto Litzmannstadt in vier Phasen entwickelt:
- 1940/41: Einrichtung des Ghettos, Übersiedlung der Juden von Łódź und aus kleineren Ghettos in der Umgebung, Transporte aus Westeuropa.
- 1942: Jahr der Deportationen in das Vernichtungslager Chełmno (Kulmhof) mit insgesamt über 70.000 Opfern.
- Oktober 1942 – Mai 1944: Keine größeren Deportationen.
- Juni bis August 1944: Liquidation des Ghettos, Massendeportationen mit insgesamt ca. 73.000 Opfern
Die „Führer“: Hans Biebow und Chaim Rumkowski
Formal stand das Ghetto unter der Leitung des Deutschen Hans Biebow und des Juden Mordechai Chaim Rumkowksi. Diplom-Kaufmann Hans Biebow, geboren 1902 in Bremen, hatte sich in seiner Heimatstadt als erfolgreicher Kaffeehändler betätigt. Am 1. Mai 1940 wurde er von Reinhard Heydrich, dem Chef des deutschen Sicherheitsdienstes, zu dem Biebow seit Jahren beste Beziehungen unterhielt, zum Leiter der „Ernährungs- und Wirtschaftsstelle Ghetto“ ernannt und somit oberster Beamter im 250 Mitarbeiter umfassenden Stab der deutschen Ghetto-Verwaltung. Biebow war für seine Auftraggeber der „richtige Mann“: Erst beraubte er die Juden ihres Besitzes, dann ließ er sie bei minimaler Ernährung und schlechtesten Bedingungen Schwerstarbeit leisten (was monatliche Gewinne von über 1 Million Reichsmark abwarf) und am Ende ließ er sie nach Chełmno, Auschwitz und in andere KZs deportieren, wo sie getötet wurden. Laut neuesten Forschungsergebnissen aus Łódź geschah die Beraubung der Juden auf dem Weg eines „Ankaufs“ ihrer Habe zu lächerlich niedrigen Preisen. Von November 1940 bis August 1942 wurden auf diese Weise 18.181.600 Reichsmark eingenommen. Von da ab waren ca. 70% der Ghetto-Bewohner kaum noch imstande, Geldmittel für die eigene Ernährung und Bekleidung aufzubringen, was für einen enormen Anstieg von Erkrankungen und Todesfällen sorgte.
Biebows jüdischer „Partner“ war Mordechai Chaim Rumkowski (1877-1944), vormals ein wenig erfolgreicher Textilunternehmer, Versicherungsagent und Direktor des jüdischen Waisenhauses „Helenowek“ in Łódź, den die deutschen Besatzer am 13. Oktober 1939 zum „Juden-Ältesten“ ernannten und mit der Bildung eines „Judenrats“ beauftragten. Bereits am 11. November 1939 wurden die Mitglieder dieses „Judenrates“ verhaftet, deportiert und zumeist ermordet. Rumkowski zwang man (nachdem man ihn schwer misshandelt hatte), einen neuen „Judenrat“ zu bilden und mit diesem eine Liste mit 50.000 Namen von den Juden zu erstellen, die ins „Generalgouvernement“ deportiert werden sollten. Zwischen dem 13. November 1939 und dem 28. Dezember 1940 wurden Tausende Juden aus Łódź deportiert.
Mit anderen Worten: Rumkowski war schon vor der Einrichtung des Ghettos nachdrücklich demonstriert worden, wie wenig Juden in den Augen der Deutschen galten. Als er Chef der jüdischen „Selbstverwaltung“ im Ghetto geworden war, bestand sein einziges Bestreben darin, das Ghetto für die Deutschen so „wertvoll“ zu machen, dass sie es möglichst lange intakt ließen und möglichst wenige Bewohner deportierten. Er schlug den deutschen Behörden am 5. April 1940 vor, „kriegswichtige“ Produktionsstätten ins Ghetto zu verlegen: Die Juden sollten arbeiten, dadurch für die Deutschen nützlich und von ihnen entlohnt und verpflegt werden. Am 30. April 1940 wurde Rumkowskis Plan grundsätzlich gebilligt, allerdings war von Entlohnung keine Rede und auch die Verpflegung wurde in Quantität und Qualität nicht näher bestimmt. Auch Rumkowskis Absicht, die Juden durch „kriegswichtige“ Arbeit am Leben zu erhalten, ließ sich nicht vollständig realisieren: In den ersten fünf Monaten 1942 wurden 55.000 Juden aus dem Ghetto nach Chełmno deportiert, im September 1942 nochmals knapp 16.000, vor allem kleine Kinder und alte Menschen. Rumkowski hatte sich erfolglos bemüht, bei den Deutschen die Deportationsauflagen zu mindern, und später musste er seine jüdischen Leidensgenossen bitten, ihre kleinen Kinder zu opfern, um wenigstens die etwas älteren zu retten. Die entsprechende Rede Rumkowskis ist erhalten geblieben und stellte gewiß eines der tragischsten Dokumente des Holocaust dar: Ein Jude bittet Juden, ihre Kinder dem sicheren Verderben auszuliefern, was er auch offen ausspricht: „Ich bin wie ein Räuber zu euch gekommen, um euch das zu nehmen, was euch am meisten am Herzen liegt“.
Es gibt gewiß keinen einzigen „Juden-Ältesten“, der die ständige Diskrepanz zwischen Kooperation mit den Deutschen und Fürsorge für die Juden ohne seelische Blessuren und physische Menschenverluste bewältigen konnte. Es gibt aber wohl auch keinen, der so umstritten war wie Chaim Rumkowski. Er ist 1944 in Auschwitz umgekommen, konnte also nichts mehr über Motive, Umstände und Folgen seines Tuns aussagen. So müssen die vorhandenen Dokumente über ihn Auskunft geben, so dürftig und unzulänglich diese auch immer ausfallen mag.
Der Jude Rumkowski wollte zweifellos die Juden im Ghetto Litzmannstadt schützen. Nach seiner Ansicht konnte er das am besten, wenn er den Deutschen dreifach entgegenkam – mit harter Arbeit von Juden für deutsche Wirtschaftsinteressen, mit harter Disziplin unter den Juden, um Deutschen keine Anlässe für Übergriffe zu geben, und mit persönlicher harter Amtsführung, die den Deutschen dank ihres „Führerprinzips“ durchaus vertraut war.
Die Vorstellung, Rumkowski als Repräsentanten eines jüdischen „Führerprinzips“ zu sehen, ist weniger absurd, als sie auf den ersten Blick anmutet. Die Nationalsozialisten praktizierten das „Führerprinzip“ als grundlegendes Ordnungselement ihrer gesamten Herrschaftstechnik: „Führer“ ist laut Hitler, wer in seinem Bereich, in seiner Gruppe „absolute Verantwortung“ trägt und „absolute Autorität“ besitzt, also deutlich von der „Gefolgschaft“ abgesetzt ist. Praktisch bedeutete das, dass Deutschland von „Führern“ nur so wimmelte – jeder kleine Fabrikbesitzer avancierte zum „Betriebsführer“ etc. An der Spitze dieser Hierarchie stand Adolf Hitler als „Führer und Reichskanzler“, und seine Spitzenstellung wurde so definiert, dass er für alles, was im „Reich“ geschah, die „Verantwortung vor dem Volk und vor der Geschichte“ trug. Das war natürlich eine Leerformel, die nur den Zweck hatte, das Phänomen Hitler und seine alles überragende Position zu charakterisieren – es konnte in Deutschland und in den von ihm eroberten Ländern keinen Zweiten geben, der so wie er über allen weltlichen und physischen Instanzen stand.
Unter der Voraussetzung der unwiederholbaren Ausnahmestellung Hitlers praktizierten die Nationalsozialisten ein situativ variables „Führerprinzip“: Es gab die charismatischen Führer, die wegen ihrer Nähe zu Hitler, ihrer „Verdienste“ und ihrer Schlüsselstellung im Machtapparat sektoral eine vergleichbar hohe Führerposition einnahmen – wie z.B. Heinrich Himmler als „Reichsführer SS“. Es gab zudem im nicht-deutschen Einflussbereich die repräsentativen Führer, die selbst dann noch so betitelt und behandelt wurden, als sie faktisch keinerlei Bedeutung mehr hatten – etwa der „Duce“ Benito Mussolini nach 1943, der „Leider“ Andriaan Mussert in den besetzten Niederlanden, der „poglavnik“ Ante Pavelić im faschistischen Kroatien etc. Schließlich gab es noch die funktionalen Führer, denen man ein Höchstmaß an Autorität gegeben hatte, um ihnen die maximale Verantwortung aufzubürden und sie im gegebenen Moment als „Sündenböcke“ nutzen zu können. Diese Führer wurden in der Regel „Älteste“ genannt – Juden-Ältester, Lagerältester, Blockältester etc. -, was aber nur ein verbaler Tribut an die politische Konnotation von „Führer“ war, denn mit Blick auf Hierarchien, Kompetenzen, Machtbefugnisse etc. waren sie „Führer“.
Ein solcher funktionaler Führer war Mordechai Chaim Rumkowski im Ghetto Litzmannstadt. Von ihm existiert ein Bild, das ihn inmitten von deutschen Uniformträgern zeigt, alle angetreten zur Begrüßung von Himmler bei dessen Besuch im Ghetto am 5. Juni 1941. Rumkowski trägt als einziger Zivilkleidung, auf welcher der Davidstern zu erkennen ist, das für alle Juden vorgeschriebene Kennzeichen auf Vorder- und Rückseite der Kleidung. Dennoch durfte er einem der höchsten und mächtigsten NS-Führer seine Aufwartung machen – als Chef einer Menschengruppe, die nach NS-Kriterien fast die doppelte Bevölkerung einer „Großstadt“ (=100.000 Einwohner) umfasste, als Manager eines „kriegswichtigen“ Industriekomplexes, als (gewissermaßen) „Oberbefehlshaber“ einer uniformierten Polizeitruppe, als „Premier“ eines parastaatlichen Gebildes, der mit Deutschen Verhandlungen führte und Abmachungen traf, als Kommunalpolitiker, der im Ghetto ein Kanalisationssystem anlegen ließ etc. Dass es sich bei all dem lediglich um Äußerlichkeiten handelte, die auch nur zeit des Funktionierens des Ghettos beachtet wurden, steht auf einem anderen Blatt.
Allerdings sind es diese Äußerlichkeiten, die das negative Bild Rumkowskis prägten. Er habe das Ghetto wie sein „Königreich“ geführt, sei ein „Despot“ gewesen, wäre einer „illusorischen Autonomie“ des Ghettos verfallen, habe Geldscheine mit seiner Unterschrift und Briefmarken mit seinem Porträt ediert etc.
So oder ähnlich kann man es in vielen Darstellungen des Ghettos Litzmannstadt lesen, aber solche Urteile sind mehr oder minder Unsinn! Jeder kleine Blockälteste in jedem KZ war ein größerer Despot als dieser Ghetto-Chef. Und was sonst noch vorgebracht wird, verkennt einfach Urheber und (gezwungenen) Ausführer. Die Deutschen haben, schon aus propagandistischen Gründen, das Bild einer „weitgehenden Selbstverwaltung“ in den Ghettos verbreitet, und wie kann man diese Fiktion glaubhafter machen als mit Geldscheinen, die jeder ständig bei sich führt und als monetären Beleg dieser Autonomie ansieht.
Es hat im Ghetto die (erwähnten) Geldscheine gegeben. Sie alle trugen die Unterschrift von Rumkowski und wurden von den Bewohnern deshalb spöttisch „Rumkies“ genannt. Aber welche Unterschrift hätten sie sonst tragen sollen? Die Scheine waren kein wirkliches Geld, sondern eine „Quittung“ für dieses – ediert in Litzmannstadt und als offizielles Zahlungsmittel im Ghetto signiert vom „Aeltesten der Juden in Litzmannstadt“. Dieser „Aelteste“ aber war Chaim Rumkowski. Was kann man ihm vorwerfen? Im Grund gar nichts, denn eine Chance gegen die reale Macht der Deutschen hatten weder er noch sonst ein Jude im Ghetto.
Dasselbe gilt auch für die ominösen Briefmarken mit dem Porträt von Rumkowski. Es hat diese Briefmarken in der Tat gegeben – als Entwurf und Druckmuster. Offiziell verwendet wurden sie nie, weswegen sie heute noch als vollständige Bögen eine philatelistische Rarität darstellen. Aber auch wenn Postsachen aus dem Ghetto gegangen wären, die mit solchen Briefmarken frankiert gewesen wären, dann wäre die Ausgangssituation nicht anders gewesen: Rumkowski konnte (oder wollte) nicht verhindern, dass die Deutschen sein Abbild als weiteres Zeugnis jüdischer Autonomie missbrauchten, aber wenn diese deutsche Praxis einen Beitrag zu wirklicher Autonomie – verstanden als ein Plus an Sicherheit für die bloße physische Existenz der Juden – gebracht hätte, dann wären Rumkowski und alle Juden glücklich gewesen.
„Unser einziger Weg ist die Arbeit“, lautete Rumkowskis Credo. Das erinnerte zwar fatal an den NS-Slogan „Arbeit macht frei“, aber es war doch Rumkowskis Verdienst, dass aus dem reinen Ghetto ein Arbeitslager wurde, welches allseitige Möglichkeiten bot. Die Deutschen hassten die Juden, schätzten aber deren billige Arbeitskraft und deren Arbeit für ihre Kriegswirtschaft, nicht zuletzt auch den Umstand, dass deutscher Dienst im Ghetto davor bewahrte, an der gefürchteten Ostfront eingesetzt zu werden. Die Juden fürchteten die Deutschen, rechneten aber damit, durch angestrengteste Arbeit mehr physische Sicherheit erlangen zu können; tatsächlich waren sie zumeist so entkräftet, dass sie die verordnete Schwerstarbeit kaum leisten konnten. An Arbeitserleichterungen dachten die Deutschen nie, an Verbesserungen der Arbeits- und Ernährungsbedingungen nur selten. Also lag es vor allem an Rumkowski, die Juden zur Arbeit zu bewegen, zu treiben, zu zwingen. Ein Gemälde aus dem Ghetto hat Rumkowski abgebildet, wie er wohl war: Die untere Hälfte des Bilds zeigt das Ghetto (erkennbar an der Holzbrücke über die Zgierska-Straße, deutsch Hohensteiner Str., und an der Kirche „Allerheiligste Jungfrau Maria“, die 1941-1944 als Magazin für die den Juden geraubten Güter diente). Darüber Rumkowski, grübelnd und in ein Buch vertieft, um ihn herum Elendsgestalten aus dem Ghetto, die ihn mit schreckgeweiteten Augen anstarren. War Rumkowski an ihrem Elend schuld? Es gibt Berichte Überlebender, die bekunden, dass die Ghetto-Bewohner viel Vertrauen zu ihm, dem „Präsidenten“, hatten.
Hunderte Anordnungen sind erhalten geblieben, die von Rumkowski unterschrieben wurden. Praktisch alle sind in einem Ton abgefasst, der einfach selbstherrlich anmutet: „Ich“ verfüge, „meine letzte Warnung“, Gelder sind „in meiner Bank“ einzuzahlen etc. War Rumkowski selbstherrlich? Ist ihm die eigene Position so zu Kopf gestiegen, dass ihm die Pseudo-Autonomie des Ghettos wie eine reale Machtstruktur mit ihm an der Spitze erschien? Oder hat er, wissentlich oder nicht, in seinen (zumeist zweisprachig deutsch-jiddischen) Verfügungen jenen Tonfall angeschlagen, der ihm und allen anderen aus rein deutschen Erlassen vertraut war? Sollte man Rumkowskis Anordnungen nicht als bittere, verzweifelte Parodie des NS-Befehlsstils im okkupierten Polen lesen? In Polen, Israel und anderswo gibt es nicht wenige Autoren, die solche Fragen schon deswegen nicht beantworten, weil sie sie gar nicht stellen: Rumkowskis Name steht unter dem Dokument, also hat Rumkowski es so gemeint und kann dafür angeklagt werden! Macht es sich, wer so urteilt, nicht sehr leicht? Viele, die nach dem Krieg vor Gericht gestellt wurden, haben sich auf ihren „Befehlsnotstand“ berufen: Ich hatte den Befehl, für Nichtausführung hätte mir der Tod gedroht, ich habe Schlimmeres verhütet etc. Rumkowski konnte nach Kriegsende nicht mehr befragt werden, dabei hätte er aus rund fünf Jahren „Amtszeit“ ungezählte Beispiele anführen können, dass er tagtäglich aus einem Befehlsnotstand heraus handelte.
Rumkowski musste immer wieder „Aussiedlungen“ organisieren, d.h. seine jüdischen Mitgefangenen in den sicheren Tod schicken. Allein zwischen Dezember 1941 und Herbst 1942 sollen 85.000 Bewohner des Ghettos getötet worden sein. Im Sommer 1944 rückte die sowjetische Armee rasch in Polen vor und erreichte am 29. Juli 1944 das Weichselufer gegenüber von Warschau. Die Deutschen forcierten die Ghetto-Transporte nach Auschwitz, wo sich Ende Juli 70.000 Juden aus Łódź befanden. Danach beschlossen sie die völlige Liquidation des Ghettos, was den Bewohnern am 2. August durch eine Verordnung Rumkowskis über eine „Verlegung“ des Ghettos bekannt gemacht wurde. Die Auflösung des Ghettos war am 30. August 1944 beendet, zwei Tage zuvor war Rumkowski mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert und dort kurz darauf getötet worden. Besser erging es den ca. 13.000 Ghetto-Bewohnern, die in andere KZs bzw. ins „Reich“ geschickt worden waren und dort mehrheitlich überlebten. Im ehemaligen Ghetto blieb ein „Aufräumkommando“ von 830 Personen sowie rund 30 Personen, die sich in irgendwelchen Verstecken verborgen hatten. Das „Aufräumkommando“ war zur Tötung vorgesehen, was aber die Offensive der sowjetischen Armee im Januar 1945 verhinderte. Am 17. Januar 1944 wurde Łódź befreit. Zahlreiche Juden kehrten bei Kriegsende nach Łódź zurück, wo 1945 bereits wieder rund 38.000 von ihnen lebten – solche, die den Holocaust überlebt hatten, vor allem solche, die aus den nunmehr sowjetisch okkupierten polnischen Gebieten im Osten geflüchtet waren. Fast alle Juden emigrierten 1968 nach Israel – aus Polen vertrieben von der lärmenden antisemitischen, „antizionistischen“ Kampagne dieses Jahres. Gegenwärtig leben in Polen noch rund 5.000 Juden, in Łódź ca. 200.
Hans Biebow konnte sich zunächst „absetzen“. In Deutschland wurde er von einem Ghetto-Überlebenden erkannt, von den Alliierten an Polen ausgeliefert, vom Bezirksgericht Łódź zum Tode verurteilt und am 23. Juni 1947 hingerichtet. Sein Schicksal teilten Arthur Greiser (1897-1946), Gauleiter des Warthe-Gaus, und andere deutsche Funktionäre, die mit dem Ghetto zu tun gehabt hatten. Laut polnischen Berichten war darunter auch Otto Bradfisch (1903-1994), (kommissarischer) Oberbürgermeister und Gestapo-Chef von Litzmannstadt. Aber das war ein Irrtum: Bradfisch hatte sich bei Kriegsende rechtzeitig nach Westen begeben und dort bis 1961 unter falschem Namen unbehelligt gelebt; als er seinen richtigen Namen wieder annahm, wurde er erkannt, vor Gericht gestellt und zu 13 Jahren Haft verurteilt.
Die Chronisten: Mendel Grossman und Henryk Ross
Im Ghetto Litzmannstadt wurde gehungert und gelitten, geschuftet und gestorben – aber nicht nur das. Hier wurde auch geliebt und geheiratet, gespielt und gefeiert, Sport getrieben – in einem Boxclub, in Laufstaffeln, auf Schachturnieren etc. -, hier gingen Kinder in eine „Ferienkolonie“ oder veranstalteten Karneval und zahlreiche Dinge mehr, die verdeutlichen, dass es an diesem Ort gelegentlich so etwas wie menschliche Normalität gab. Diese „Normalität“ ist in Tausenden Bildern eingefangen, was um so erstaunlicher ist, als Photographieren im Ghetto streng verboten war. Unter den zahllosen Bekanntmachungen und Verordnungen Rumkowskis findet sich auch eine, die „Neueingesiedelte im Getto“ auf dieses Verbot hinweist, ihnen gleichzeitig aber den Verkauf von Fotoapparaten „in meiner Bank“ anbietet. Daneben existierte jedoch noch ein sozusagen „legales“ Photographieren: Für die Dokumente des Selbstverwaltungsapparats mussten Bilder angefertigt werden, für die Statistik-Abteilung, für die Ghetto-Zeitung und für andere ebenfalls, Plakate und Bekanntmachungen mussten photokopiert werden etc. Dafür hatte man Fachleute, die mit Geräten und Filmen ausgestattet waren, und das allem Anschein nicht zu knapp: Wenn in dieser Darstellung einleitend konstatiert wurde, dass Litzmannstadt das am besten dokumentierte NS-Lager war, dann bezog sich das vor allem auf die Tausenden Bilder, die offizielle Photographen auch heimlich machten und die nach dem Krieg tiefe Einblicke in den Ghetto-Alltag erlaubten. Genau das hatten diese Photographen beabsichtigt: Wie jeder Insasse eines KZs oder Ghettos machten sie sich nicht nur keine Illusionen über ihr Schicksal – sie rechneten vielmehr täglich mit ihrem Tod. Bis dahin nutzten sie ihre Chance, Chronisten mit der Kamera zu sein und die eigenen Bilder der Nachwelt zukommen zu lassen, damit diese sich eine Vorstellung davon machen konnte, wie nationalsozialistische „Schutzhaft“ in ihrer brutalen Realität aussah.
Im Ghetto Litzmannstadt waren zwei Augenzeugen in dieser Weise tätig. Der eine war Mendel Grossman, geboren 1917 in Łódź. Nach der Besetzung Polens war er einige Zeit im Untergrund als Widerstandskämpfer aktiv, wurde aber entdeckt und in das Ghetto eingewiesen. Hier wurde er bei der Statistik-Abteilung angestellt, für die er photographierte. Daneben machte er Bilder, für die er keinen Auftrag hatte: Mit seiner unter einem Regenmantel versteckten Kamera nahm er alles auf, was ihn interessierte. Im Spätsommer 1944 wurde er in das Arbeitslager Königs-Wusterhausen (bei Berlin) gebracht, wo er 1945 verstarb. Zuvor hatte er seine zahlreichen Negative versteckt, die lange Jahre nach dem Krieg wiedergefunden und in einem Buch publiziert wurden.
Der andere Chronist war Henryk Ross, geboren 1910 in Warschau, lebte in Łódź, wo er als Foto- und Sportreporter arbeitete und ein eigenes Fotogeschäft betrieb. Nach der Einrichtung des Ghettos mussten er und seine Frau dort Wohnsitz nehmen, und wie Grossman war er für die Statistik-Abteilung tätig. Als das Ghetto im August 1944 aufgelöst wurde, vergrub er ca. 3.000 Negative in der Jagiellońska-Straße Nr. 11 (zu Ghetto-Zeiten Bertholdstr. bzw. Dietrich v. Bern-Straße), wo er sie nach elf Monaten wieder ausgrub. 1950 wandert er nach Israel aus, wo er 1960 einen Großteil seiner Bilder als Buch veröffentlichte. Gross starb 1991 und hat bis zu seinem Tod noch erleben können, wie seine Photos aus dem Ghetto in aller Welt gezeigt wurden. Selber hat er zweimal wichtige Aussagen in Prozessen gegen Kriegsverbrecher gemacht – 1947 in Łódź beim Prozeß gegen Hans Biebow und 1961 in Tel Aviv beim Prozeß gegen Adolf Eichmann. Am 24. Prozeßtag, dem 2. Mai 1961, machte er seine Aussage, die der Richter mit der Frage begann, was Henryk Ross im Ghetto im Auftrag der Statistik-Abteilung alles aufgenommen hatte. Ross antwortete:
„Was immer der Judenrat uns auftrug, nachdem er selber Befehle von den Deutschen bekommen hatte. Beispielsweise musste jeder im Ghetto photographiert werden für einen Ausweis, den Amtsleiter Biebow unterschrieb. Jede Person, die arbeitete, musste dafür einen Sonderausweis haben, für den ebenfalls ein Photo benötigt wurde. Daneben mussten wir Menschen photographieren, die in den Straßen verstorben waren und bei denen keine Papiere gefunden wurden. Auf Befehl der Deutschen mussten diese als »unidentifizierte Personen« registriert werden. Zusätzlich fertigten wir Kataloge von Produkten an, die in den Fabriken für die Armee hergestellt wurden, also etwa Uniformen und Schuhe. Wenn von den Deutschen der Befehl kam, ein Gebäude in der Nachbarschaft einzureißen, mussten wir es zuvor von allen Seiten her aufnehmen“.
Ross’ Aussage ging dann so weiter, dass Staatsanwalt, Gerichtspräsident und Beisitzer ihm ein Bild nach dem anderen zeigten und ihn erklären ließen, was oder wen das Bild zeige, wann und wo es aufgenommen wurde, was gewisse sichtbare Aufschriften („Central-Gefängnis“) bedeuteten und ähnliches mehr:
Frage: Was zeigt dieses Bild? Das ist auch ein Bild von Menschen auf dem Weg zur Deportation. Trifft das zu?
Antwort: Ja, genau das.
Frage: Und da seitwärts ist jüdische Polizei mit dem gelben Zeichen zu sehen. Trifft das zu?
Antwort: Alle Männer in Uniform sind jüdische Polizei.
Bekanntlich wurde der Eichmann-Prozeß gegen den obersten „Manager“ der Todestransporte in nationalsozialistische KZs geführt. Von daher war es verständlich, daß sich das israelische Gericht vorwiegend für jene Aufnahmen von Ross interessierte, die irgendwelche Szenen in Verbindung mit Deportationen zeigten. Das gab Ross Gelegenheit, die Umstände zu schildern, unter denen die Bilder entstanden waren:
Frage: Wie ist es Ihnen gelungen, derartiges abzulichten?
Antwort: Ich war befreundet mit Leuten, die am Bahnhof Radegast arbeiteten. Der lag außerhalb des Ghettos, war aber mit ihm verbunden, denn von dort gingen Züge nach Auschwitz ab. Einmal gelang es mir, als vorgeblicher Angehöriger des Reinigungspersonals in den Bahnhof zu kommen. Meine Freunde schlossen mich in einem Zementlager ein. Dort blieb ich von 6 Uhr morgens bis 7 Uhr abends, bis die Deutschen abrückten und die Züge abfuhren. Ich beobachtete die abfahrenden Züge. Ich hörte Schreie. Ich sah, wie Menschen geschlagen wurden. Ich sah, wie auf sie geschossen wurde, wie jeder umgebracht wurde, der nicht gehorchte. Durch ein Loch in der Wand des Lagerraums habe ich zahlreiche Aufnahmen gemacht.
Aufnahmen dieser Art waren ein Teil von Ross’ Œvre, jedoch nicht der einzige, eventuell nicht einmal der wichtigste. Ross hat unglaublich viele Bilder gemacht, die man in einem NS-Ghetto einfach nicht vermuten würde: Gut gekleidete Menschen bei einer fröhlichen Feier mit Essen und Bierflaschen auf dem Tisch, gut genährte und muskulöse Sportler, ein im Gebüsch halb verstecktes Liebespaar, einen jungen Mann, der eine Thora-Rolle über die Straße trägt, einen jüdischen Ghetto-Polizisten, der Frau und Kind küsst, Kinder, die bei einem fröhlichen Umzug Fähnchen schwenken oder die in ein Spiel vertieft sind etc.
Solche Bilder haben vor allem die Überlebenden schockiert, die kaum glauben konnten, was sie sahen. Das galt speziell für ein Bild, das wohl zu den meistveröffentlichten von Henryk Ross gehört: Zwei kleine Jungen spielen so etwas wie Räuber und Gendarm, wobei der eine die maßgenau auf Kindergröße geschneiderte Uniform eines Ghetto-Polizisten trägt. Das überstieg bei nicht wenigen jegliches Fassungsvermögen, was dann wieder den Autor verblüffte. Henryk Ross nach dem Krieg, als seine Bilder bereits in vielen Galerien und Museen gezeigt worden waren: „Ich war wie vor den Kopf geschlagen, wie wenig diese Bilder den Vorstellungen entsprachen, die wir uns gemeinhin machten aufgrund von Bildern, die zum Holocaust bis dahin in Büchern veröffentlicht waren. Ich merkte, dass hier offenkundig ein interessanter Umstand vorlag, aber ich brauchte lange Zeit, um diese Dinge für mich zu klären, und eigentlich hält dieser Prozeß noch an“.
Besonders ernst scheint Ross diesen Aspekt jedoch nicht genommen zu haben, dazu verstand er seinen selbstgestellten Auftrag zu tiefgehend, allseitig und ausgreifend. 1987 erklärte er, was er getan und gewollt hatte: „Ich hatte eine offizielle Kamera, ich konnte heimlich das Leben der Juden im Ghetto abbilden. Kurz vor der Auflösung des Ghettos 1944 vergrub ich meine Negative in der Erde, damit eine Dokumentation unserer Tragödie erhalten bliebe, nämlich die totale Vernichtung der Juden von Łódź durch die Nazi-Exekutoren. Ich hatte die völlige Vernichtung des polnischen Judentums kommen sehen, und ich wollte ein historisches Zeugnis unseres Martyriums hinterlassen“.
Schlussbemerkung
Die zwei Fragen, die in der Holocaust-Forschung am häufigsten gestellt werden, lauten: 1. Was haben die Gefangenen in den KZs gewusst? 2. Warum haben sich die Gefangenen nicht gegen ihre Vernichtung gewehrt?
So wird in naiver Neugier gefragt, und wer eine halbwegs schlüssige Antwort geben will, muß vor der Fülle der zu berücksichtigenden Aspekte in die holzschnittartige Simplizität flüchten: 1. Die Gefangenen haben alles gewusst und sich keine Illusionen über das gemacht, was sie erwartete. 2. Sie hatten keine Chance, und ihre Recht- und Wehrlosigkeit wurde ihnen tagtäglich demonstriert.
Die Holocaustforscher selber fragen sich, wie sie die in ihrer Grausamkeit letztlich unfassbare Singularität des Holocaust fassen können. Sie fühlen sich wie jemand, der in einem dunklen Zimmer eine Taschenlampe auf eine Tischfläche richtet: Je höher er die Lampe hält, desto größer wird der ausgeleuchtete Kreis – wie aber auch der dunkel bleibende Umkreis größer wird.
Exakt so verhält es sich mit der Arbeit zum Holocaust: Jede halbwegs abgesicherte Antwort zieht Dutzende neue Fragen nach sich. Und das unter den Umständen eines eskalierenden Zeitdrucks: Die kleine Gruppe der Holocaust-Überlebenden geht ihrem biologischen Ende entgegen, das Ich-kann-es-nicht-mehr-hören-Vergessen wird langsam zur allgemeinen Norm der „Vergangenheitsbewältigung“, pompöse Gedankenlosigkeit ersetzt ehrliche Aufarbeitung: Man knausert bei Entschädigungen für Holocaust-Opfer und türmt sinnleere Steinhaufen als „Mahnmale“ auf.
„Zukunft braucht Erinnerung“ lautet das Motto von Shoa.de. Zwei Substantive, ein Verb – kein einschränkendes, präzisierendes Adjektiv: nur eine Weisung, die inhaltlich so eindeutig wie „Parken verboten“ daherkommt.
Daran halten sich alle, die sich ernsthaft und verantwortungsbewusst mit dem Holocaust beschäftigen. Warum ist ihre Wirkung dennoch eine relativ begrenzte? Weil sie es mit einem Problem zu tun haben, das bereits Lessing in seinem „Laokoon“ behandelte: Kann man höchsten Schmerz, größte Qual, schwerstes Leiden in Wort und Bild setzen? Man kann es, sollte es aber nicht tun, weil jede Darstellung des Extremen nur in Mitteln machbar ist, die beim Rezipienten Abscheu, Überdruß, Desinteresse auslösen: „Er musste Schreien in Seufzen mildern – nicht, weil Schreien eine unedle Seele verrät, sondern weil es das Gesicht auf eine ekelhafte Weise verstellet“. Das dargestellte Extreme schaltet die Vorstellungskraft aus: Wer extreme Qual „serviert“ bekommt, kann Werden, Wesen und Wirkung der Qual nicht nachvollziehen, kann nicht mit-leiden. Damit ist alles verfehlt, denn „kein Mitleid ist stärker, keines zerschmelzet mehr die ganze Seele, als das, welches sich mit Vorstellungen der Verzweiflung mischet“.
So weit und so knapp Lessing, und was er konstatierte und postulierte, sollte auch in der Holocaustforschung bedacht werden: Es gibt keine extremere Qual als den Holocaust, aber die Darstellung des Holocaust scheint partiell die Kontraproduktivität auszulösen, vor der Lessing warnte. Damit ist weder ein Vorwurf an die Forschung, noch gar ein Rat verbunden, zu einer gewissermaßen Soft-Darstellung überzugehen. Wohl aber die Absicht, jenen Kollegen in Osteuropa mehr nachzueifern, die (wie etwa die Krakauer KZ-Forscher in ihren „Auschwitz-Jahrbüchern“) schon vor Jahrzehnten ihre Arbeit breiter und tiefer anlegten, als es allgemein getan wird. Die Krakauer haben bereits 1973 eine Umfrage unter Auschwitz-Überlebenden gemacht, ob es in diesem KZ so etwas wie einen echten „Humor“ gegeben habe. Sie waren sich bewußt, ein „besonderes Phänomen“ zu behandeln, „das außerhalb bisheriger Theorien des Komischen steht, aber dennoch eine breitere und tiefere Darstellung verdient“. Denselben „Aha-Effekt“ hatte, wie erwähnt, Henryk Ross mit manchen seiner Bilder aus dem Ghetto Litzmannstadt ausgelöst: Litzmannstadt zu kennen, ist eine Sache – über Litzmannstadt zu erschrecken, weil es dort auch Liebespaare gab, die im Gebüsch schmusten, ist der Holocaust-spezifische Laokoon-Effekt, über den sich die Forscher einmal unterhalten sollten.
Autor: Wolf Oschlies
Literatur
Baranowski, Julian: Łódzkie Getto 1940-1944/ The Łódź Ghetto 1940-1944 – Vademecum. 3. A. Łódź 2005.
Feuchert, Sascha Feuchert / Erwin Leibfried / Jörg Riecke / Julian Baranowski / Krytsyna Radziszewska (Hrsg.): Letzte Tage. Die Lodzer Getto-Chronik Juni/Juli 1944. Göttingen 2004.
Lustig, Arnošt: Album z pekla (Album aus der Hölle), in: Reflex (Prag) Nr. 51/2004.
Seemann, Richard (Hrsg.): Ghetto Litzmannstadt 1941-1944. Dokumenty a výpovědi o životě českých Židů v lodžském ghettu [Das Ghetto Litzmannstadt 1941-1944. Dokumente und Zeugenaussagen über das Leben der tschechischen Juden im Lodzer Ghetto], Prag 2000.
Singer, Oskar: „Im Eilschritt durch den Getto-Tag“. Reportagen und Essay aus dem Getto Lodz 1942-1944. Hgg. v. Sascha Feuchert, Erwin Leibfried, Jörg Riecke sowie Julian Baranowski, Krystyna Radziszewska und Krzysztof Wozniak. Berlin 2002.
Unger, Michal: Das Letzte Ghetto – Leben in Lodz Ghetto, Yad Vashem 1995.