„Wir sind im serbischen Leben bedeutungslos…“[1]
Rasim Ljajić, Muslim aus dem gebirgigen Sandžak zwischen Serbien und Montenegro, ist Minister für Menschen- und Minderheitenrechte im neuen „Staatenbund Serbien-Montenegro“ (SCG). In dieser Funktion trug er im Januar 2004 einen heftigen Streit mit Jules Leré, Vize-Chef der Beobachtermission des Europarats in Belgrad, aus. Der Europarat hatte nämlich „ein Anwachsen des Antisemitismus in Serbien“ festgestellt, und das wies Ljajić, hierbei von Vertretern des „Verbands jüdischer Gemeinden in Serbien und Montenegro“ (Savez jevrejskih opština Srbije i Crne Gore) vollauf unterstützt, empört ab. Andererseits soll, so ein Bericht der Wochenzeitung „Dani“ (Sarajevo) vom August 2001, im April 2001 Vojislav Koštunica, Präsident der (damaligen) „Bundesrepublik Jugoslawien“, die Synagoge in Belgrad besucht und dort um „Verzeihung für alles, was das serbische Volk den Juden in der Vergangenheit angetan hat“, gebeten haben. Das wiederum spräche für einen (zumindest historischen) serbischen Antisemitismus – wenn es wahr wäre. Koštunica ist in der Synagoge gewesen, aber weder hat er eine solche Bitte um Verzeihung ausgesprochen, noch haben ihn die Juden in Serbien um eine solche ersucht. Sie sahen absolut keinen Anlaß dafür.
Im SCG leben heute noch rund 2.200 Juden, laut Volkszählung 2002 sogar nur 1.158, verteilt auf neun Gemeinden (zajednica), die meisten in Belgrad und in der nördlich angrenzenden Vojvodina (Novi Sad, Zemun, Subotica, Zrenjanin etc.) und geführt von Aca Singer (*Januar 1923, Bild). Vom Sarajevoer „Dani“ wurde Singer mit der pessimistischen Aussage zitiert, die auch im Titel dieser Darstellung steht. Zu ihr bemerkte Aleksandar Lebl, Mitglied des Verbandes jüdischer Gemeinden, in einem Brief an den Verfasser: „Ich hoffe, daß das nicht zutrifft, zumindest nicht für die absehbare Zukunft, d.h. wenn den Juden in Serbien schon ein Verschwinden bevorstehen sollte, dann nicht so bald. Auch unter uns gab es Leute, die schon mehrfach ein solches Ende erwarteten, aber bekanntlich hatten sie damit nicht Recht. Zum ersten Mal dachten sie so nach dem Holocaust, in dem über vier Fünftel der Juden Serbiens umkamen. Das zweite Mal kam diese Ansicht nach mehreren Emigrationswellen 1948-1952 auf, als die Hälfte der Überlebenden in den neu entstandenen Staat Israel ging. Einige denken das auch heute, dazu durch sehr viele Mischehen, niedrige Geburtenrate, Auswanderungen etc. veranlasst“.
Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs lebten im gesamten damaligen „Königreich Jugoslawien“ rund 82.000 Juden, davon ca. 35.000 in Serbien. Hinzu kamen etwa 5.000 jüdische Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei. Drei Viertel aller jugoslawischen Juden lebten kompakt in nur elf Städten: In Zagreb und Osijek (Kroatien), in Sarajevo (Bosnien), in Subotica, Senta, Novi Sad, Zrenjanin, Zemun und Belgrad (Serbien), in Skopje und Bitola (Makedonien). Rein mit Blick auf die Dislokation der Juden hat sich also wenig verändert, unter numerischem Aspekt erlitt speziell das serbische Judentum enorme Verluste. Was geschah in Serbien?
Geschichte der Juden in Serbien[2]
Vermutlich haben bereits in der römischen Antike Juden in der Belgrader Region gesiedelt, doch vollends bestätigt ist ihre Präsenz erst ab dem frühen 16. Jahrhundert. Mit dem Fall Granadas war 1492 die Reconquista der Iberischen Halbinsel vollendet, der eine Vertreibung der Juden aus Spanien folgte. Am glücklichsten waren die schätzungsweise 100.000 „sephardischen“ (oder „spaniolischen“) Juden, die den Weg ins Osmanische Imperium fanden. Dieses stand damals im Zenit seiner Macht und territorialen Ausweitung – 1462 hatten die Osmanen Bosnien erobert, zwanzig Jahre später die südlich angrenzende Hercegovina – und bemühte sich, durch tolerante Behandlung der lokalen Bevölkerung seine Macht zu sichern. Diese Toleranz kam auch den Juden zugute: Der Sultan hatte seinen Statthaltern auf dem Balkan befohlen, den Juden „freundlichste Aufnahme“ zu gewähren. So geschah es auch: Die Juden kam zuerst nach Thessaloniki und Istanbul, dann nach Makedonien und Bosnien, schließlich ans rechte Donau-Ufer und vor allem nach Belgrad und Umgebung.[3] Einen Nutzen von dieser Neuansiedlung hatten alle Beteiligten: Die Juden fanden Schutz, die Osmanen bekamen „gratis“ ihnen bislang unbekannte Fertigkeiten wie moderne Molkereitechnik, Spiegelherstellung etc. Wenn man so will, war es die erfolgreichste „Werkspionage“ der gesamten Menschheitsgeschichte.
Die Juden lebten unbehelligt ihr Leben. An ihren Wohnorten bauten sie Synagogen und rituelle Bäder (mikwa bzw. türkisch amam[4]) – die in Belgrad ab dem 16. Jahrhundert mehrfach belegt sind – und feierten ihre Feste, was den Türken nichts ausmachte und von den slavischen Nachbarn als „malerisch“ empfunden wurde. Um 1663 lebten in Belgrad rund 800 Juden, und als früheste Denkmäler ihrer Anwesenheit sind am Eingang des Belgrader „Jüdischen historischen Museums“ (Jevrejski istoriski muzej) zwei Grabsteine von 1619 und 1641 ausgestellt. Verbürgt ist, daß Rabbi Jehuda Lerma 1617 in Belgrad eine religiöse Schule (ješiva) gründete und daß in der später eröffneten „Fürstlichen Druckerei“ (Knjaževska štamparija) laufend jüdische Bücher gedruckt wurden.
Selbst wenn es vereinzelt einmal zu antijüdischen Vorfällen kam, dann waren die nicht antisemitisch: Nach dem ersten serbischen Aufstand verfügte der „Regierende Rat“ der serbischen Aufständischen am 8. Januar 1807 eine Vertreibung von einigen Hundert Juden aus Belgrad – „um eine Konkurrenz für serbische Händler zu verhindern“. Die betroffenen Juden gingen in die habsburgischen Nachbarregionen Srem (Syrmien) und Banat – und kehrten ab Oktober 1813 langsam nach Belgrad zurück, wo die Türken einen halbgelungenen Gegenschlag gelandet und eine „türkisch-serbische Doppelherrschaft“ installiert hatten. Im Grunde war den Juden nicht viel passiert, und so konnte die erste serbische „Conscription“ von 1834 allein in Belgrad 150 jüdische Familien als ständige Einwohner registrieren. Als später die Verhältnisse etwas schwieriger wurden, gab es genügend Ausweichmöglichkeiten: Man konnte aus Belgrad ins südliche Niš oder Šabac ausweichen, über die Donaubrücke ins habsburgische Zemun gehen, dem sephardischen Eigennamen ein serbisches –vić anfügen oder sonst etwas unternehmen, um fortan seine Ruhe zu haben.
Auch bei Serben gab es kleine Gruppen, die ein schärferes Vorgehen gegen Juden befürworteten, z.B. in der Vojvodina die „Radikalen“ des Jaša Tomić, aber die Vojvodina war damals habsburgisch, und das eigentliche Serbien befand sich unter strenger Aufsicht der Großmächte. Als nach dem Russisch-Türkischen Krieg von 1877/78 der Berliner Kongreß im Juni 1878 zur ersten politischen Neuordnung des Balkans schritt, billigte er Serbien zwar beträchtliche Statusverbesserungen (souveränes Fürstentum statt Vasall des Osmanischen Imperiums) und territoriale Zugewinne zu (südliche Region Pirot – Vranje), gab ihm aber auch harsche Hausaufgaben auf (Bau der Bahnlinie Belgrad – Niš, Donauregulierung am Djerdap) und verlangte von Serbien gesetzliche Absicherungen der rechtlichen Gleichstellung aller Bürger. So bestimmte Artikel XXXV des Vertrags von Berlin, daß „in Serbien keine Unterschiede in Glauben und Konfession der Grund dafür sein dürfen, daß jemand im Genuß seiner bürgerlichen oder politischen Rechte behindert, von öffentlichen Diensten, Ämtern oder Ehren ausgeschlossen würde oder irgendein Handwerk oder Geschäft nicht ausüben dürfe. Die Freiheit und ungehinderte Ausübung religiöser Riten wird allen serbischen Bürgern und Ausländern (in Serbien) garantiert und es darf kein Versuch unternommen werden, eine Hierarchie der verschiedenen Glaubensbekenntnisse zu verordnen“. Das klang rigoros, war aber nötig, denn 1874 lebten im halbsouveränen Fürstentum Serbien nur 1.754 Juden, während in den vier Jahre später angeschlossenen Gebieten weit größere Gruppen von Juden bestanden: Niš – 1.706, Pirot – 360 etc. Nach dem Berliner Kongreß zog es die Juden vor allem nach Belgrad, das laufend mehr jüdische Mitbürger zählte: 2.599 (1889), 3.099 (1895), 4.192 (1910). Wer als Jude damit noch nicht zufrieden war, konnte nach Nahost weiterreisen, wofür in der Belgrader Presse schon 1883 ganz offen geworben wurde: „Alle Juden, die nach Jerusalem wollen, können dies mit allen Dokumenten und unter Erstattung aller Reisekosten tun. Am Ziel erhalten die Übersiedler Land und alles weitere, was ein selbständiger Landwirt benötigt“.
Moderne serbische Historiker bezweifeln, daß solche Aufforderungen ein großes Echo hatten. Es lässt sich auch nicht mehr nachprüfen, da nach der serbischen Verfassung von 1888 die Juden volle Bürgerrechte bekamen und nach Ende des Ersten Weltkriegs für sie eine neue Epoche begann. Der Krieg hatte um und gegen Serbien begonnen, diesem enorme Blutopfer abgefordert, aber am Ende fand sich Serbien nicht nur auf der Siegerseite wieder – es wurde auch zum rettenden Hafen für die südslavischen Länder (Slowenien, Kroatien, Bosnien etc.), die zuvor zur Habsburger Monarchie gehört hatten und nun in Gefahr standen, als herrenloses Beutegut behandelt zu werden. Davor bewahrte sie Serbien, das dann auch zum Kernland des im Dezember 1918 entstandenen „Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen“ (SHS) wurde, das sich ab 1929 „Jugoslawien“ nannte. Wichtig war, daß sich unter den über 12 Millionen Bürgern des neuen Königreichs die altserbische Toleranz gegenüber Juden fortsetzte, so daß deren Zahl langsam anstieg: 64.159 (1921) und 68.195 (1931). Auch sozioprofessionell boten die jugoslawischen Juden noch 1939/40 ein ganz „normales“ Bild, was ja wohl für ihr ungehindertes Dasein sprach:
Beruf | Zahl |
Handwerker | 2.000 |
Händler | 5.000 |
Ärzte | 550 |
Anwälte | 350 |
Ingenieure | 170 |
Apotheker | 100 |
Tierärzte | 60 |
Lehrer, Wissenschaftler | 130 |
Rabbiner | 350 |
Bankiers, Geldwechsler | 120 |
Staatsangestellte | 500 |
Privatangestellte | 4.200 |
Handelsvertreter | 1.300 |
Industriearbeiter | 300 |
Landwirte | 130 |
sonstige | 700 |
Wo in dieser generellen Normalität jüdischer Präsenz in Jugoslawien Antisemitismus auftauchte, blieb er marginal und im Grunde lächerlich – beispielsweise bei kroatischen Rechtsextremen, die 1929 in Split eine serbokroatische Übersetzung der „Protokolle der Weisen von Zion“ herausbrachten, der wohl infamsten (wiewohl langlebigsten) antisemitischen Legende, fabriziert Ende des 19. Jahrhunderts in den Fälscherwerkstätten der russisch-zaristischen Geheimpolizei „Ochrana“.[5]
Jüdische Selbstverwaltung
Zur jüdischen Normalität im königlichen Jugoslawien trug vor allem bei, daß die Juden loyale Bürger waren und der Staat ihnen alle Freiheiten zur Selbstorganisation bot. Besseres konnte er auch nicht tun, denn die per se heterogenen Länder, die im Königreich vereint waren, brachten in dieses noch jüdische Volksgruppen ein, die innerlich kulturell, sprachlich, sozial etc. extrem divergent waren. In dieser „Buntheit“ eine gewisse Ordnung zu haben und diese die Juden selber schaffen zu lassen, war die Politik des Staates, die besten Effekt bei minimalem Aufwand zeitigte.
Das begann mit der Evidenz der ethnokulturellen Großgruppen, was ja auch die Berücksichtigung sozialer, sprachlicher, religiöser etc. Unterschiede einschloß. Mitte des 17. Jahrhunderts waren die Belgrader Juden amtlich als „türkische“ (turski) und „deutsche“ (nemački) geführt worden, was wohl eine Unterscheidung in Sephardim und Ashkenazim implizierte. Im alten Serbien hatten die Sephardim überwogen, die auch nach 400 oder mehr Jahren noch die Sprachkonventionen ihrer iberischen Urheimat bewahrten: Das „Judesmo, Ladino, Judeo-Espagnol“ oder wie diese spanisch-kastilianische Mischsprache sonst noch genannt wurde, die strukturell auf dem Stand des 15. Jahrhunderts stehen geblieben, lexikalisch aber mit einer Fülle von Turzismen, Slavismen etc. angereichert worden war. Aus den neuen Landesteilen nördlich der Sava und Donau kamen nun die Ashkenazim, die sog. „Ostjuden“, die wohl das (auf einem deutschen Grundstock beruhende) Jiddisch sprachen, wenn sie nicht in den Jahrhunderten der Nachbarschaft mit Slaven deren Sprachen übernommen hatten. In den nördlichen Landesteilen (wie der Bačka), die erst durch den Ersten Weltkrieg zu Jugoslawien kamen, waren auch Deutsch und Ungarisch (das bei manchen Familien bis zur Gegenwart im internen Gebrauch ist) unter den Juden sehr verbreitet. Unter ihnen gab es viele divergierende Denominationen des Judentums, darunter die Orthodoxen so in ausgeprägter Stärke, daß sie als eigene Großgruppe geführt wurden:
Gruppe | Bestand 1931 |
Juden, total | 68.195 |
Askenazim | 39.010 |
Sephardim | 26.168 |
Orthodoxe | 3.227 |
Juden und staatliche Stellen waren sich darin einig, daß die Hauptstadt Belgrad auch das Zentrum jüdischer Selbstorganisation sein müsse, wenn man die Integration der Juden ins Königreich rasch und nach bewährtem serbischen Muster schaffen wollte. Noch 1918, also nur wenige Tage nach der Entstehung des jungen Staates am 1. Dezember, schlug die „Jüdische Kirchen- und Schulgemeinde Belgrad“ vor, daß sich alle jüdischen Gemeinden im SHS zu einem Verband vereinen sollten, „um die Beziehungen zum Staat zu erleichtern und alle Glaubens- und anderen Fragen der Juden im ganzen Land einheitlich zu regeln“. Anfang Juli 1919 wurde im slawonischen Osijek der „Verband jüdischer Glaubensgemeinden“ (Savez jevrejskih vjeroispovjednih opština) gegründet, dessen Führung Dr. Hugo Spitzer, ein Anwalt aus Osijek, übernahm. Ähnliches geschah im religiösen Bereich: 1923 entstand das Oberste Rabbinat (Vrhovni rabinat), an dessen Spitze der Belgrader Dr. Isak Alcalay gewählt wurde, der dadurch auch Vorsitzender des „Verbands der Rabbiner im Königreich SHS“ (Savez rabina Kraljevine SHS) wurde.
Bis 1929 griff der Staat praktisch überhaupt nicht in das Leben der jüdischen Gemeinden ein. Die einzige Ausnahme bildete ein Erlaß des Religionsministeriums vom 10. Februar 1926, mit welchem den Gemeinden auferlegt wurde, nur dann Ausländer in ihre Dienste zu nehmen, wenn sich im ganzen SHS keine geeigneten Anwärter finden ließen. Mit dem „jugoslawischen“ Umsturz vom 6. Januar 1929 – vom König als eine Art „Notbremse“ gegen die eskalierenden Konflikte zwischen serbischen „Unitaristen“ und kroatischen „Autonomisten“ inszeniert – änderten sich die Verhältnisse etwas. Das „Gesetz über die Glaubensgemeinde der Juden im Königreich Jugoslawien“ vom 14. Dezember 1929 regelte das Verhältnis zum Staat neu und schaffte partiell die traditionelle jüdische Selbstverwaltung ab. Das war in gewisser Hinsicht unvermeidlich: In ganz Europa hatten sich die jüdischen Gemeinden zum Selbstschutz gegen den aufkommenden Antisemitismus fester zusammengeschlossen, und die so entstehenden größeren Vereinigungen erforderten auch in Jugoslawien neue Regelungen seitens des Staates. Offiziell blieben die jüdischen Gemeinden „Selbstverwaltungs-Körperschaften“, tatsächlich mussten sie ihre Statuten dem Justizministerium zur Bestätigung vorlegen, und das Ministerium sprach auch das letzte Wort, wenn sich jüdische Gemeinden gründeten, spalteten, vereinten oder auflösten.
1929 bestanden in Jugoslawien insgesamt 114 jüdische Glaubens-Gemeinden (jevrejske vjeroispovjedne općine), davon 70 ashkenasische, 38 sephardische und 6 orthodoxe. Die Selbstbezeichnung dieser Organisationen verdeckt etwas die Tatsache, daß in der internen Struktur zwischen administrativen „Glaubens“- (vjerski) und religiösen „geistlichen Organen“ (duhovni organi) unterschieden wurden. Organe der „Glaubens-Selbstverwaltung“ waren die „Gemeinde-Verwaltung“(općinska uprava) und das „Gemeinde-Komitee“ (općinski odbor), deren Funktionsträger – „unbezahltes Ehrenamt“ – auf drei Jahre gewählt wurden. Wichtige Aufgabe für sie war das Einsammeln diverser „Steuern“ (takse), „Abgaben“ (dadžbine) und „Beiträge“ (prinosi), deren Höhe eine siebenköpfige „Steuerkommission“ (Komisija za razrez) festlegte. Als einzige Glaubensgemeinschaft durften die Juden diese Mittel selber einsammeln, während bei anderen der Staat aktiv wurde. „Geistliches Organ“ der Gemeinde war der „Gemeinde-Rabbiner“. War die Gemeinde sehr groß, konnten auch mehrere Rabbiner in ihr tätig sein, von denen einer der Vorgesetzte der anderen war.
Nach der französischen Revolution hatte sich im Judentum eine „reformistische“ Richtung ausgebreitet, gegen die sich wiederum eine kompromisslose, eben „orthodoxe“ Opposition formierte. Auch im SHS gab es solche Gemeinden, die bis 1924 Mitglieder im (erwähnten) „Verband“ waren, dann eine eigene „Vereinigung der orthodoxen jüdischen Glaubensgemeinden im Königreich SHS“ (Udruženie ortodoksnih[6] jevrejskih vjeroispovjednih općina Kraljevine SHS) gründeten. Ihr Sitz war in Senta (Vojvodina), den Vorsitz übernahm Moses Deutsch, ein Rabbiner aus Subotica. Der Staat behandelte „Verband“ und „Vereinigung“ in derselben distanzierten Weise: Zwei juristische Personen, die zwischen Staat und jüdischen Gemeinden vermittelten bzw. die Gemeinden beim Staat vertraten. Mehr war auch nicht nötig, da sich die Juden politisch pointiert neutral verhielten und keine politische Organisation schufen. Für die innere Organisation bestimmte das Gesetz die bekannte Zweiteilung: „Verband“ und „Vereinigung“ unterhielten je ein „Hauptkomitee“ (Glavni Odbor) für die Administration und je einen „Rabbiner-Synod“ – mit drei Mitgliedern bei den Orthodoxen und fünf beim „Verband“ – für beide Gruppen. „Geistliches Oberhaupt“ (duhovni poglavar) aller jugoslawischen Juden war der „oberste Rabbiner“ (vrhovni rabin), der laut Gesetz seinen Sitz in Belgrad haben musste. Zu seinen Aufgaben gehörte auch der Vorsitz in „Arbitrage-Kommissionen“, die einberufen wurden, wenn sich Hauptkomitee und Synod über irgendwelche Fragen nicht einigen konnten.
Neben diesen Institutionen existierte als einzige Zentralinstitution die „Mittlere jüdische theologische Lehranstalt“ (Jevrejski srednji teološki zavod) in Sarajevo, eine vom „Verband“ unterhaltene Schule, die sich bei Juden im In- und Ausland allgemeiner Anerkennung erfreute.
Kurz nach der Entstehung des SHS hatte sich ein „Verband der Zionisten im Königreich SHS“ formiert, der seinen Sitz in Zagreb hatte. „Ehrenvorsitzender“ war Hugo Spitzer, „Arbeitsvorsitzender“ David Alcalay, und in zahlreichen Gemeinden waren Zionisten in die Leitung gelangt. Dennoch war die Idee eines „Judenstaats“ in Palästina schwer vermittelbar, ein paar jugendliche Enthusiasten begeisterten sich für das Konzept der (quasi-sozialistischen) Kibbutzim, und die ganze Frage war für die SHS-Behörden so ohne Interesse, daß sie die Zionisten ungestört werkeln ließen. Größere Emigrationen wurden nur von Juden aus dem makedonischen Bitola registriert, da diese nach der Bildung Jugoslawiens verarmt waren.
Jüdisches Leben in Belgrad
Im Januar und Februar 1997 wurde in Belgrad eine interessante Ausstellung über jüdisches Leben im Belgrader Viertel Dorćol gezeigt.[7] Dorćol, im nordöstlichen Stadtgebiet an der Donau gelegen, war der Kreuzungspunkt mehrerer Überlandstraßen und beherbergte lange eine Quarantänestation für Karawanen, was zahlreiche Händler, Handwerker, Wirte und leichte Mädchen anzog. Vor Zeiten stand dort auch der städtische Galgen, und das alles machte Dorćol zeitweilig zu einem heißen Pflaster. Später beruhigten sich die Umstände und Dorćol wurde ein attraktives Kneipen- und Geschäftsviertel, welches durch die unübersehbare Präsenz von sephardischen Juden ein besonderes Flair besaß. Die fleißigen und sparsamen Handwerker schickten ihre Kinder auf bessere Schulen, und so bekam das Viertel langsam auch eine lokale Intelligenzschicht. Jüdische Steuerlisten wiesen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs folgendes Bild aus:
Gruppe | Zahl, Anteil (%) |
Steuerzahler, total | 2.002 |
Kaufleute | 27 |
Beamte | 21 |
Handwerker | 8 |
Ärzte, Ingenieure | 4 |
Allein der aus dieser Tabelle deutliche hohe Fehlbetrag zu 100 Prozent lässt erkennen, daß von den Dorćoler Juden nicht wenige einfach zu arm waren, um überhaupt Steuern bezahlen zu können. Exakt 74 Prozent aller Familien fielen in die niedrigste Steuergruppe, 400 Familien zahlten gar keine Steuern. Hier war dann die Fürsorge der Gemeinde gefragt, die Armen und Alten, Studenten und Handwerksgesellen und anderen zugute kam, etwa von der ashkenasischen Frauenvereinigung „Dobrotvor“ (Wohlfahrt). Daneben gab es ein paar Reiche, allen voran der Kaufmann Alkan Djerasi, der ein in Belgrad bekannter Wohltäter war; kurz nach der deutschen Besetzung Belgrads im Frühjahr 1941 wurde er zusammen mit einhundert prominenten Juden der Hauptstadt erschossen.
1939 lebten in Belgrad 10.338 Juden, davon 8.500 Sephardim. Bereits im 16. und 17. Jahrhundert besaßen sie „mehrere“ Synagogen, aber bekannt ist nur die im 18. Jahrhundert gebaute (und später ständig umgebaute) „Alte Synagoge“, die im Ersten Weltkrieg als Lazarett diente und im Zweiten zerstört wurde. Später wurde die größere „Neue Synagoge“ gebaut, die auch als Raum für Vorträge, Konzerte und Hochzeitsfeiern diente. Gesellschaftlicher Mittelpunkt von Dorćol war das Gebäude „Oneg Sabbat“, eine Art Festsaal, in dem (wie schon der Name besagte) jeden Sonnabend Feiern stattfanden und auch die traditionellen jüdischen Feiertage (Hanukka, Purim etc.) begangen wurden. Das 1922 erbaute Gebäude beherbergte auch ein jüdisches Altenheim und war vor allem der „Sitz“ der zahlreichen Vereine des Viertels.
Wichtigster dieser Vereine war der 1879 gegründete „Serbisch-jüdische Gesangverein“ (Srpsko-jevrejsko pevačko društvo), ein in mehrfacher Hinsicht außergewöhnliches Ensemble: Unter den Leitern und Sängern waren Juden und Serben gleichermaßen vertreten, in Belgrad war es der „erste weltliche Chor“, bereits 1899 wurden auch Frauen aufgenommen, worauf sich die künstlerischen Möglichkeiten des Ensembles ungemein erweiterten etc.
Schon 1874 war die „Jüdische Frauengesellschaft“ (Jevrejsko žensko društvo) entstanden, was einer kleinen Revolution gleichkam. Sephardische Frauen waren per se in eine extrem konservative Umgebung, in der ausschließlich „Spanisch“ gesprochen wurde, eingeschlossen, zudem durch die häufige Abwesenheit ihrer Ehemänner, die als Kaufleute unterwegs waren, noch stärker auf Haushalt und Familie verwiesen. Diese patriarchalische Beschränkung wurde nun radikal aufgesprengt: Speziell durch das Wirken der Lehrerin Jelena Demajo, die den Verein von 1920 bis 1941 leitete, wurde dieser eine Sozial- und Berufsanstalt für jüdische Frauen, die diesen ungeahnte Möglichkeiten verschaffte, neue Wirkungsstätten zu finden. Beispielsweise gab es eine „Handwerksschule für Frauen“, die später vom Handels- und Industrieministerium übernommen (weil die Juden sie einfach nicht mehr unterhalten konnten) und zur ersten Belgrader Berufsschule umgestaltet wurde.
Daneben bestanden jüdische Begräbnisvereine, Armen- und Krankenkassen, Fürsorgevereine für verarmte Kinder und junge Mädchen, Theatervereine, allein vier Jugendorganisationen (die sich im Maße der Verschärfung politischer Verhältnisse zu jüdischen Selbstschutzbrigaden formierten) und ähnliches mehr.
Die zahlreichen Vereine sorgten auch dafür, daß es in Belgrad ab dem späten 19. Jahrhundert eine bunte jüdische Zeitungslandschaft gab. Dabei lässt sich aus den diversen Vereins-, Nachrichten-, Unterhaltungs- und Amtsblättern eine interessante Entwicklung verfolgen. Das erste Blatt hieß „El amigo del puevlo“, erschien 1888-1892 und war in „Spanisch“ gedruckt. In der Folgezeit wurden die Zeitungen immer „serbischer“: Die Juden verlernten buchstäblich die hebräische Schrift und druckten deshalb hebräische Texte mit serbisch-kyrillischen Lettern, und mehr und mehr kam auch das früher obligatorische „Spanisch“ außer Gebrauch – wenn es ab Beginn des 20. Jahrhunderts überhaupt noch ertönte, dann in den Synagogen oder aus alten Liedern und Balladen, die bei den Sephardim unverändert beliebt blieben.
Endlösung der serbischen „Judenfrage“
1934 war König Aleksandar I. in Marseille von jugoslawischen Extremisten ermordet worden, an seiner Stelle übernahm Prinzregent Pavle die Staatsführung. Mit Blick auf eine mögliche Annäherung an Hitlers Deutschland erließ die Regierung am 5. Oktober 1940 zwei Gesetze, mit denen Juden der Handel mit zahlreichen Nahrungsmitteln verboten und für sie ein Numerus clausus in den ersten Klassen der weiterführenden Schulen und in den ersten Studienjahren der Universitäten eingeführt wurde.
Am 6. April 1941 überfielen deutsche, italienische, ungarische und bulgarische Truppen Jugoslawien, besiegten es in einem kurzen Feldzug und teilten es auf: Teile Sloweniens wurden direkt an „Groß-Deutschland“ und Italien angegliedert, Ungarn und Bulgarien rissen in Nordosten und Süden (Makedonien) enorme Territorien an sich, an der Adria entstand unter Mussolinis Aufsicht aus West-Makedonien, dem größten Teil des Kosovo und Albanien ein „Groß-Albanien“, Kroatien und Bosnien bildeten zusammen den faschistischen „Unabhängigen Staat Kroatien“ (NDH), und der verbleibende serbische Rest wurde zu einer Sonderzone des deutschen Oberbefehlshabers „mit eigener Regierung“ umgebildet.[8]
Das nationalsozialistische Deutschland hatte weder Interessen an oder in Jugoslawien, noch hegte es die geringste Feindschaft gegen dieses. Umgekehrt hatte sich Jugoslawien seit den späten 1930-er Jahren Deutschland bereits deutlich angenähert und war am 24. März 1941 sogar dem „Dreimächtepakt“ beigetreten. Damit hatte die Regierung jedoch den Bogen überspannt und in Belgrad gab es drei Tage später einen gewaltsamen Regierungsumsturz. In Berlin fürchtete man, Jugoslawien werde auf die Seite Englands abgleiten, das bereits in Griechenland Fuß gefasst hatte. Gegen Griechenland führte Italien seit Oktober 1940 einen verlustreichen Krieg, den es zu verlieren drohte. In dieser Situation startete Hitler den Krieg gegen Jugoslawien, den er zwar nicht gewollt hatte, der ihm aber drei Vorteile einbrachte: Deutschland half dem bedrängten Italien, vertrieb die Engländer aus Griechenland und erweiterte den deutschen Einfluß auf gang Südosteuropa, nachdem Ungarn, Rumänien und Bulgarien schon fest im deutschen „Lager“ standen.[9]
Der „Feldzug Marita“ gegen Jugoslawien war kurz und relativ unblutig gewesen, der nachfolgende Partisanenkrieg dauerte Jahre und forderte auf allen Seiten enorme Opfer. Anfänglich 130.000 (oder weniger) schlecht ausgebildete, bewaffnete und versorgte Tito-Partisanen banden fast eine Million Soldaten der Aggressoren und ihrer regionalen Helfer, konnten am Ende aber über diese triumphieren. Bis dahin vergingen vier Jahre, in welchen die jugoslawischen Juden beinahe zur Gänze ausgerottet wurden.
Wenige Tage nach dem deutschen Einmarsch in Belgrad bildete die Gestapo dort ein „Referat für Judenangelegenheiten“ und bei der Stadtverwaltung eine entsprechende „Abteilung“. Den jüdischen Organisationen „Verband“ und „Vereinigung“ wurde jede Betätigung verboten, ihr Vermögen eingezogen. Stattdessen wurde eine „Vertretung der jüdischen Gemeinschaft“ (Pretstavništvo jevrejske zajednice) formiert, das eine jüdische „Volkszählung“ durchführen und alle erfassten Juden mit gelben Armbinden markieren musste (16. April 1941). Es folgten Entlassungen von Juden aus allen Arbeitsverhältnissen, Verhaftungen, Zwangsarbeit (10 Stunden täglich für Männer von 14 bis 60, für Frauen von 16 bis 40 Jahren), Aberkennung aller Rechte für Juden (30. Mai 1941), Hinrichtungen (ab Juni 1941), KZs und Todeslager auf dem Stadtgelände – alles in raschester Brutalität zwischen April und August 1941 und erstmalig in einem von Deutschen eroberten Land.
Seit Mai 1941 war es Juden verboten, sich in serbische Krankenhäuser zu begeben, sie mussten einen eigenen Gesundheitsdienst organisieren und diesen selber finanzieren. Das gelang auch, es wurden ein Krankenhaus, Ambulanzen und ein häuslicher Pflegedienst geschaffen – was alles (bis auf das Krankenhaus) schon im Dezember 1941 wieder aufgelöst wurde, da das Gros der jüdischen Männer in KZs umgebracht und Frauen in anderen KZs interniert und dort getötet worden waren.[10] Das Belgrader jüdische Krankenhaus wurde am 22. März 1942 geschlossen, zuvor waren alle Patienten in mobilen Gaskammern getötet worden.
Außerhalb von Belgrad ging das Vernichtungswerk sogar noch rascher und grausamer vonstatten, da beispielsweise in der Vojvodina zahlreiche Volksdeutsche lebten, deren „Kulturbund“ sich als eifriger Helfer der Gestapo betätigte. Die entsprechenden Anweisungen gab der „Chef der Militärverwaltung im besetzten Serbien, Turner: „Vor allem ist zu betonen, daß Juden und Zigeuner ein Element der Unordnung darstellen und somit die öffentliche Ordnung bedrohen. Der jüdische Intellekt hat diesen Krieg provoziert und muß vernichtet werden. Alle Juden und Zigeuner sind den Truppen als Geiseln zur Verfügung zu stellen. In Verbindung mit meiner Anordnung Nr. 2848/41 vom 10. Oktober 1941 befehle ich, daß augenblicklich alle Juden und Zigeuner als Geiseln festzunehmen sind“.[11]
Nach Berechnungen des Jüdischen Historischen Museums in Belgrad hatte der Holocaust der jugoslawischen Juden folgende Ausmaße:
Region | Juden 1941 | Getötet 1941-45 | Todesrate (%) |
Banat | 4.200 | 3.800 | 90.47 |
Serbien | 12.500 | 11.000 | 88.00 |
Kroatien, Slavonien | 25.000 | 20.000 | 80.00 |
Vojvodina | 16.000 | 13.500 | 84.40 |
Bosnien | 14.000 | 10.000 | 71.43 |
Makedonien | 7.762 | 6.982 | 89.95 |
Montenegro | 330 | 288 | 87.28 |
Slowenien | 1.500 | 1.300 | 86.67 |
Dalmatien | 400 | 148 | 37.00 |
Kosovo | 550 | 210 | 38.18 |
Total | 82.242 | 67.228 | 81.74 |
Bereits im Frühjahr 1942 konnten die Besatzungsbehörden nach Berlin melden, ganz Serbien sei „judenfrei“. Das war kaum übertrieben, obwohl einige Hundert Juden überlebten. Unter ihnen war Ženi Lebl (*1927), die 1943 festgenommen, als Minderjährige aber „ins Reich“ zur Arbeit geschickt worden war. Ende April 1945 erlebte sie in Berlin ihre Befreiung und in späteren Jahren hat sie ein sehr detailliertes Buch über das Schicksal der Belgrader Juden verfasst.[12]
Epilog: Antisemitismus ohne Juden in Serbien?
Jugoslawien hat im Zweiten Weltkrieg 1,7 Millionen Todesopfer gebracht, darunter 82 Prozent (in Serbien 85 Prozent) der 82.000 Juden, die nach jüngsten Angaben der jüdischen Gemeinden im alten Königreich gelebt haben. Von den wenigen Überlebenden sind 1948 schätzungsweise 8.000 in den (gerade geschaffenen) Staat Israel übergesiedelt. Das war im Prinzip problemlos möglich, da sich das UN-Gründungsmitglied Jugoslawien hierbei keine Blöße geben wollte, war im Detail aber an den Verzicht auf den „immobilen“ Besitz (Land, Grundstücke und Bauten) und die Staatsbürgerschaft des Ausreisewilligen gebunden.
Eine letzte Ausreisewelle folgte eingangs der 1990-er Jahre, als Jugoslawien zerbrach und in fast allen Nachfolgestaaten blutige Kriege tobten. So sind beispielsweise im Krieg in Bosnien-Hercegovina (1992-1995) 1.077 Juden nach Serbien geflohen, von wo sie zumeist in andere Länder weitergingen; Ende 2003 lebten in Belgrad noch 239 bosnische Juden.
1999 wurden die wenigen Juden, die im Kosovo lebten, nahezu gänzlich von den dortigen Albanern vertrieben. Damit setzten die Kosovo-Albaner gegenwärtig das Werk der SS fort, die im April 1942 die Juden von Mitrovica und Prishtina, zusammen schätzungsweise 150, nach Belgrad deportierte und dort umbrachte. Später kamen einige zurück und bildeten in Prishtina eine jüdische Gemeinde von rund 100 Mitgliedern, die von Čedomir Prlinčević (Bild) geführt wurde. Seit 1999 gibt es in der kosovarischen Hauptstadt keinen einzigen Juden mehr, und ihr gesamter Besitz wurde von Albanern geraubt.[13] So wurde es in den Medien berichtet, wozu Aleksandar Lebl präzisierend bemerkte: „Die Juden aus Prishtina durften einen Teil ihres Besitzes mitnehmen; gegenwärtig werden ihnen ihre Immobilien zurückgegeben, die sie (falls sie nicht zurückkehren) verkaufen oder dem staatlichen Aufkauf anbieten können“.
Es ist schwer, zum Leben der Juden in Serbien und auf dem ganzen Balkan exakte Zahlen zu ermitteln. Beispielsweise waren im Kosovo einige Juden durch familiäre Bande mit Albanern verbunden und haben sich bei Volkszählungen nicht mehr als Juden deklariert. Sie taten es erst dann wieder, als sie nach 1999 von Albanern vertrieben wurden. Genauere Angaben, aus denen wenigstens ein Überblick über die Situation nach dem Krieg zu entnehmen war, lieferte die Volkszählung vom 15. März 1948, nach welcher Jugoslawien genau 15.772.107 Einwohner zählte.[14] Zu den Juden wurden folgende Zahlen ermittelt:
Region | Zahl |
Jugoslawien total | 6.861 |
Serbien | 4.649 |
Kroatien | 712 |
Slowenien | 25 |
Bosnien | 1.147 |
Makedonien | 319 |
Montenegro | 9 |
Aber auch wenn es keinen einzigen Juden mehr in Serbien gäbe, könnte dort sehr wohl Antisemitismus auftreten. Antisemitismus kommt sehr gut ohne Juden aus – je weniger Juden es gibt, die die hirnverbrannten Behauptungen der Antisemiten durch gelebte Mitbürgerlichkeit widerlegen könnten, desto besser! Nach diesem Prinzip verfährt etwa der kroatische Antisemitismus, der vermutlich nicht nur der „lebendigste“ im gegenwärtigen Europa ist, sondern auch einen Großteil der Gründungsideologie der gegenwärtigen Republik Kroatien ausmachte. Diese ist das Werk des Kriegsverbrechers Franjo Tudjman (1922-1999). Dieser war nicht nur „glücklich, daß meine Frau keine Serbin oder Jüdin ist“, verfasste nicht nur antisemitische Pamphlete nach „Stürmer“-Manier[15], er hat seinen „Staat“ exakt dem faschistischen NDH nachgebildet, den er als „die Erfüllung der historischen Sehnsüchte aller Kroaten“ pries.
Gemessen an solchen „Vorbildern“, ist Serbien nichts vorzuwerfen. Zu konstatieren ist höchstens eine Geistesverwirrung sui generis, die jedoch erklärbar ist: Die serbischen Juden sind – ohne ihr Zutun, ja nicht einmal persönlich betroffen – durch politische Entschlüsse wechselnder Belgrader Regime „ins Gerede“ gekommen, was sie misstrauisch und vorsichtig gemacht hat. Den ersten dieser Entschlüsse traf Tito 1967, als er die diplomatischen Beziehungen zu Israel, das gerade die zum Judenmord größten Ausmaßes entschlossenen Araber glänzend besiegt hatte, abbrach. Zweieinhalb Jahrzehnte später probierte der Belgrader Diktator Slobodan Milošević das Gegenteil: Von Embargos der internationalen Gemeinschaft bedrängt, versuchte der serbische Warlord, durch demonstrativ projüdische Aktionen das Wohlwollen amerikanischer Juden zu gewinnen. Damals schossen „Serbisch-jüdische Freundschaftsgesellschaften“ (Društva srpsko-jevrejskog prijateljstva) förmlich aus dem Boden. Auf dem Papier bestehen diese Gesellschaften immer noch, tatsächlich sind sie längst verschieden. Aber den bleibenden Schaden davon hatten die wenigen Juden, die in Serbien noch lebten.
Titos und Miloševićs konträre Schachzüge hatten einen identischen Effekt – bei manchen Serben den Eindruck zu erwecken, Juden seien „etwas Besonderes“. Und es blieb den Einzelnen überlassen, diese scheinbare jüdische Singularität auf ihre Weise zu interpretieren und zu instrumentalisieren. Dafür boten sich zwei Lesarten an. Die eine besagte, daß die Juden, exakt wie die Serben, ein auserwähltes und „himmlisches Volk“ seien. Das Postulat von den Serben als „himmlischem Volk“ (nebeski narod) ist – seit der (angeblich) verloren und tatsächlich nie stattgehabten „Schlacht auf dem Amselfeld“ von 1389 – fester Bestandteil der Theologie der Serbischen Orthodoxen Kirche (SPC), und eine solche nationalistisch-mystische Identifikation konnte den Juden natürlich nicht gefallen. Genauso wenig gefiel ihnen die zweite Lesart von den Juden als den Drahtziehern und Finanziers einer „jüdisch-freimaurerischen Verschwörung“ gegen „das serbische Volk“, die auch hinter der NATO-Aktion um das Kosovo von 1999 steckten.
Das mentale Grundproblem der Serben ist seit Jahrhunderten und nach zahllosen verlorenen Kämpfen ihr Image als „Volk, das seine Niederlagen feiert“. Sie schufen kompensatorische ethnokulturelle („himmlisches Volk“ nach dem Verlust des irdischen Reichs) und nationalreligiöse Ideologien („Kreuzesfeier“ als Ausdruck eines horizontalen „Bandes um alle Serben“ und eines vertikalen Direktbezugs zu Gott) zur Selbstbestätigung. Diese konnten sie nicht nur niemandem vermitteln (und werden deshalb seit langen Zeiten als „Störenfriede“ empfunden und angeklagt) – sie müssen zudem damit leben, daß nationalistische Narren wie Dobrica Ćosić („Vater der Nation“) mit autodestruktiven Slogans wie „Serbien gewinnt im Krieg und verliert im Frieden“ einer mentalen Bankrotterklärung Vorschub leisten. Serbien hat noch niemals allein einen Krieg gewonnen und in noch keinem Frieden etwas verloren. Und vielleicht oder gewiß ist es eine Aufgabe der Juden in Serbien, die Serben über diesen Grundfehler ihrer Existenz aufzuklären – und das gesamte Ausland über die eigentliche Natur der Serben.
Wer sucht, der findet – in Serbien antisemitische Äußerungen, Publikationen, Organisationen, Graffitis etc. Dazu anonyme Briefe und telefonische Drohungen, besorgte Berichte von Helsinki-Komitees und anderes mehr. Repräsentativ für die Serben ist es nicht, aber kann es gefährlich werden? Aca Singer, Präsident der jüdischen Gemeinden in Serbien, registrierte derartiges eher verwundert: „Für das soziale und politische Leben des Landes sind wir so bedeutungslos, daß es uns überrascht, überhaupt zur Zielscheibe von Druck und Angriffen geworden zu sein“. Der Verband jüdischer Gemeinden in Serbien und Montenegro hat seit langem eine „Kommission zur Beobachtung des Antisemitismus“ (Komisija za praćenje antisemitizma) gebildet, die von dem Belgrader Aleksandar Lebl geleitet wird und gelegentlich, d.h. ohne formale Abmachung mit dem Belgrader „Zentrum für Menschenrechte“ unter Vojin Dimitrijević kooperiert.
Anfang 2004 erschien in Belgrad eine Report mit demographischen Angaben zu den Angehörigen der 29 ethnischen Minderheiten, die in Serbien leben. Die Juden sind mit Abstand die gebildetste Volksgruppe: Analphabeten null, Akademiker 48,5 Prozent ihrer Population. Aber ihr Altersdurchschnitt liegt noch weit über dem der letzten serbischen Deutschen (53,02%): Nach über einem halben Jahrtausend jüdischer Präsenz in Serbien kann das endgültige Ende jeden Tag erfolgen!
Autor: Wolf Oschlies
Literatur
Ðordevic, Životije: Hapšenja Jevreja po Banatu (Verhaftung von Juden im Banat), in: Glas javnosti 2.3.2004
Kazimir, Velimir Curgus (Hrsg.): Prica o komšijama kojih više nema – A tale of the neighbours that are no more – Nachbarn, die es nicht mehr gibt, Belgrad o.J. (1997)
Lebl, Ženi: Do „konacnog rešenja“: Jevreji u Beogradu 1521-1942 (Bis zur „Endlösung“: Juden in Belgrad), Belgrad 2001
Prlincevic, Guljšen Reufi: Beg od novog holokausta (Flucht vor einem neuen Holocaust), in: Glas javnosti 1.9.2003
Anmerkungen
[1] Der Verfasser bedankt sich sehr herzlich bei Aleksandar Lebl in Belgrad, der auf Bitten des Jüdischen Historischen Museums in Belgrad das vorliegende Manuskript kritisch durchgesehen und zahlreiche Korrekturen angefügt hat.
[2] Mustafa Imamović: Položaj Jereja u Srbiji in Kraljevini Jugoslaviji (Die Lage der Juden in Serbien und im Königreich Jugoslawien), in: Sefarad 92, S. 65-79
[3] Kapitel „Jugoslawien“ in: Mark Wischnitzer: Die Juden in der Welt, Berlin 1935, S. 111-116
[4] Werbeanzeigen für solche Bäder boten sprachlich ein interessantes Bild. Ihre Texte waren grundsätzlich in serbischer Sprache verfasst, die aber zahlreiche Turzismen aufwiesen: Das Bad selber hieß, wie erwähnt, „amam“, der Betreiber eines Bades nannte sich „amamdžija jevrejski“ (jüdischer Bademeister). Die dem Badebecken angeschlossene Sauna wurde als „kupanje po običaju carigradskom“ inseriert, also „Baden nach Zarigrader (Istanbuler) Art“.
[5] Diese „Protokolle“, um deren „Echtheit“ noch 1935 in Europa mehrere Prozesse geführt wurden, stammen von einem anonymen Verfasser, dem allem Augenschein nach eine französische Satire von 1865 und ein deutscher Roman von 1868, die beide angebliche Wege und Ziele einer Weltherrschaft von Juden und Freimaurern artikulierten, als Vorlage dienten.
[6] Interessante Benennung: „Orthodox“ heißt in der serbischen (serbokroatischen) Sprache eigentlich „pravoslavni“, aber dieser Ausdruck war seit Jahrhunderten für die nationale Serbisch-Orthodoxe Kirche (SPC) reserviert, weswegen die Juden zur Vermeidung von Missverständnissen für sich ein Fremdwort benutzten.
[7] Velimir Ćurgus Kazimir (Hrsg.): Priča o komšijama kojih više nema – A tale of the neighbours that are no more – Nachbarn, die es nicht mehr gibt, Belgrad o.J. (1997)
[8] Ahmet Donlagić et al.: Yugoslavia in the Second World War, Belgrad 1967, S. 33 ff.
[9] Rolf Bathe, Erich Glodschey: Der Kampf um den Balkan – Chronik des jugoslawischen und griechischen Feldzugs, Oldenburg/ Berlin 1942
[10] In seinem erwähnten Brief an den Verfasser schreibt dazu Aleksandar Lebl: „Der größere Teil der jüdischen Männer, vor allem die aus dem Lager »Topovske šupe«, waren bis zum Dezember 1941 als Geiseln getötet worden. Vom 8. bis 12. Dezember 1941 wurden die jüdischen Frauen und Kinder, dazu eine kleinere Anzahl von zumeist älteren Männern in das »Judenlager Semlin«, also nach Zemun am linken Sava-Ufer, und dort von März bis Mai 1942 in speziell dafür ausgerüsteten Lastwagen umgebracht. Die gleichfalls in Lagern gefangen gehaltenen Roma wurden nach Hause entlassen“.
[11] Životije Đorđević: Hapšenja Jevreja po Banatu (Verhaftung von Juden im Banat), in: Glas javnosti 2.3.2004
[12] Ženi Lebl: Do „konačnog rešenja“: Jevreji u Beogradu 1521-1942 (Bis zur „Endlösung“: Juden in Belgrad), Belgrad 2001
[13] Guljšen Reufi Prlinčević: Beg od novog holokausta (Flucht vor einem neuen Holocaust), in: Glas javnosti 1.9.2003
[14] Informativni priručnik o Jugoslaviji (Informatives Handbuch über Jugoslawien) Bd. 8, Nr. 1/1950, S. 408 ff.
[15] Franjo Tudjman: Bespuća üovijesne zbiljnosti (Irrwege historischer Realität), Zagreb 1990, speziell S. 158 ff., wo der Autor die gesamte israelische Politik als „Judeo-Nazismus“ charakterisiert.