NS-„Führer“ der Niederlande: Anton Adriaan Mussert
Warum eigentlich werden Kollaborateure nicht „Musserte“ genannt? In vielen europäischen Sprachen hat sich der Name des norwegischen Naziführers Vidkun Quisling (1887–1945) als Synonym für Volksverräter eingebürgert, aber für diese Rolle hätte der Niederländer Anton Adriaan Mussert noch weit mehr Berechtigung aufgebracht. Wie dem auch sei, Quisling und Mussert waren bei ihren Völkern derart verhasst, daß beide nach Kriegsende vor Erschießungskommandos landeten. Was von ihnen blieb, ist einmal der „sprichwörtlich“ schlechte Ruf, dann noch ein Rätsel: Was brachte begabte, erfolgreiche, bürgerlich situierte Männer dazu, sich in den schwersten Zeiten ihrer Völker dem Eroberer Hitler bis zur Selbstaufgabe in die Arme zu werfen? Und dabei noch in ausufernder Direktheit demonstriert zu bekommen, daß man beim angebeteten Idol wenig galt und von ihm nichts zu erwarten hatte? Kollaboration mit dem Feind hat es immer und überall gegeben, oftmals wies sie „verschwimmende“ Abgrenzungen zum Widerstand auf, aber nur sehr selten steigerte sie sich zu dem Extrem, für das Mussert exemplarisch stand.
Anton Mussert wurde am 11. Mai 1894 in Werkendam (Nord Brabant) als Sohn des Volksschullehrers Johannes Leonhardus Mussert und seiner Ehefrau Frederika geboren. Er besuchte die Volksschule seines Vaters und wechselte später zur Höheren Bürgerschule (HBS) in Gorinchen. Seine Schulleistungen waren bestenfalls mittelmäßig, und speziell im Fach Deutsch soll er arge Schwächen gehabt haben. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs drängte es Mussert zur Königlichen Marine, wurde zu seinem Kummer aber abgelehnt. Er diente dann ein Jahr bei einer Artillerieeinheit, musste diesen Dienst aber bald wegen einer schweren Nierenerkrankung aufgeben. Während seiner Krankheit pflegte ihn seine Tante Maria Witlam, die der 18 Jahre jüngere Mussert im September 1917 heiratete, woran ihn nicht einmal die von der Königin Wilhelmina verweigerte Heiratserlaubnis hinderte. Zuvor hatte er an der Technischen Hochschule in Delft ein Studium für Straßen- und Wasserbau begonnen, das er 1918 mit großem Erfolg abschloß. Ab 1920 war er beim Wasserbauamt in Utrecht beschäftigt, wo er bereits 1927 zum „Chefingenieur“ avancierte und sich Verdienste bei der Trockenlegung der Zuidersee erwarb.
Obschon von früher Jugend an für politische und „nationale“ Fragen interessiert, war Mussert wenig aktiv. Nominell engagierte er sich für den 1921 entstandenen liberal-konservativen „Freiheitsbund“ (Vrijheidsbond), ohne in diesem irgendwie in den Vordergrund zu treten. Das änderte sich 1925, als es in den Niederlanden zu Massenprotesten gegen einen Vertrag mit Belgien kam. Es ging um ein Kanalprojekt, das von Antwerpen zum Rheindelta geplant war, von den Niederländern aber als „schädlich für nationale Belange“ angesehen wurde. Die Proteste leitete ein „Nationales Aktionskomitee gegen den Antwerpen-Vertrag“, dem Johannes Luden (1857–1940), der langjährige Chef der „Nederlandsche Bank“, vorstand. Im Februar 1927 verwarf das Parlament den Vertrag, der verantwortliche Außenminister Herman Adriaan van Karnebeek (1874–1942) trat zurück.
Für Musserts weiteren Werdegang hatte diese Episode zweifache Bedeutung: Er hatte sich als begabter Organisator erwiesen und er kam in Kontakt zum dem breit gefächerten rechten Spektrum. Eine der ältesten Formationen in diesem war die im November 1924 entstandene „Nationale Unie“ (NU), ein rechtsautoritärer „Studienclub“ unter dem Intellektuellen Frederic Carel Gerretson (1884–1958), der unter dem Pseudonym Geerten Gossaert auch als Poet einen Namen hatte. In diesem Milieu driftete Mussert rasch von liberalen zu rechts-totalitaristischen Positionen ab, ohne jedoch bei den „faschistischen“ oder „nationalsozialistischen“ Parteien und Bünden eine politische „Heimat“ zu finden.
Anfang 1930 lernte Mussert den jungen Verwaltungsbeamten Cornelis van Geelkerken (1901–1976) kennen und plante mit ihm die Bildung einer neuen „nationalsozialistischen“ Partei. Offenkundig wollte van Geelkerken, der schon länger ein überzeugter Faschist war, das Prestige Musserts und dessen Vorliebe für Uniformen und Ränge nutzen. Am 14. November 1931 war es dann so weit: In Utrecht veranstaltete die neue „Nationaal-Socialistische Beweging“ (NSB) ihren ersten Aufmarsch, den Mussert als „leider“ (Führer) abnahm – das „leidend beginsel“ (Führerprinzip) hatte man sich den Deutschen sofort abgeschaut.
Allein der Name der NSB suggerierte eine politische Nähe zu Hitlers NSDAP. Zwar waren große Teile des NSB-Programms von der NSDAP abgeschrieben, aber in zwei Kernbereichen unterschieden beide Bewegungen sich fundamental: Die NSB hatte auch von Mussolini kräftigt kopiert und dabei dessen weitgehende Abneigung gegen Hitlers Rassismus und Antisemitismus übernommen – anfänglich konnten auch Farbige und Juden NSB-Mitglieder werden. Zum zweiten hieß das Ziel der NSB „Dietschland“, also ein „groß-niederländisches“ Reich, was natürlich mit Hitlers Plänen für ein „Groß-Deutschland“ unvereinbar war. Dieses Programm, Musserts Popularität und sein Engagement für Niederländisch-Indien sicherten der NSB einen raschen Aufstieg: Zählte sie 1933 gerade 1.000 Mitglieder, so waren es am 1. Januar 1936 schon 52.000, was die NSB zur drittstärksten Partei der Niederlande machte. Bei den Wahlen vom April 1935 hatte sie einen Stimmenanteil von 7,94 Prozent oder 44 Sitze (von insgesamt 535) erreicht. Zuvor war Mussert am 1.Mai 1934 vom Utrechter Wasserbauamt entlassen worden, was ihm nicht schadete und der NSB sogar nützte: Der „leider“ konnte sich ihr ungestört widmen, und der um Ideologie und Programmatik unbekümmerte Mussert konnte aufkeimende Konflikte noch eindämmen. Was er wollte, wurde beschlossen und über das NSB-Wochenblatt „Volk en Vaderland“ den Mitgliedern als Richtungsangabe vorgeschrieben.
Im Grunde war jedoch Musserts „leider“-Position schon 1934/35 zunehmend gefährdet. Beeindruckt von Hitlers Dynamik und Erfolgen in Deutschland wuchs in der NSB eine gefährliche „Duitsgezindheid“ (Deutschfreundlichkeit), die Mussert mehr und mehr in die Richtung von Hitlers Antisemitismus drängte: Antijüdische Ausfälle fanden sich immer häufiger in „Volk en Vaderland“ – jüdische NSB-Mitglieder wurden zuerst ausgegrenzt und ab 1938 ausgeschlossen. Dahinter steckte die starke Gruppe der „volksen“ (Völkische), zu der Mussert anfänglich gewiß nicht gehörte: Hitlers „Blut und Boden“-Mystik sagte ihm gar nichts, dessen „Nacht der lange Messer“ von 1934, also Hitlers rücksichtsloses Vorgehen gegen den sog. „Röhm-Putsch“ der SA, verurteilte er sogar öffentlich. Seine Verehrung galt Mussolini, dessen Feldzug gegen Abessinien er in seinen Reden guthieß.
Das alles brachte ihn in eine aussichtslose Lage. Nach dem Wahlerfolg von 1935 hatte er an eine „unvermeidliche“ Machtergreifung der NSB mit ihm an der Spitze geglaubt, aber nun war die NSB innerlich gespalten und äußerlich auf dem Rückzug: Bis Mai 1940 verlor sie 22.000 Mitglieder, und ihre Wahlergebnisse wurden immer kümmerlicher (Mai 1937 4,22%, April 1939 3,89%). Wohl in Panik tat Mussert alles, was ihm die Niederländer noch weiter entfremden musste: Er beschwor die Zukunft des Landes in der Gemeinschaft „verwandter“ Regime wie Deutschland und Italien, er pilgerte am 16. November 1936 zu Hitler und wurde von diesem zur Audienz empfangen, er veröffentlichte im Oktober 1937 eine Broschüre, in der er die nationalsozialistische Rasseideologie im vollen Umfang für die NSB übernahm etc.
In der niederländischen Mussert-Literatur wird oft gemutmaßt, daß der „leider“ eine deutsche Invasion sogar herbeisehnte, da er sich von ihr die Wiederherstellung seiner NSB-Führerschaft und deren Ausweitung über die ganzen Niederlande erhoffte. Auch andere warteten auf die Deutschen, allen voran die „volksen“ der NSB, die sich als Hitlers fünfte Kolonne verstanden und auch so betätigten. Zu ihnen gehörte vor allen Meinout Marinus Rost van Tonningen (1894–1945), der von 1923 bis 1936 als Bediensteter des Völkerbunds in Österreich tätig gewesen war. In dieser Zeit war er in engste Kontakte zu Nationalsozialisten gekommen und ein begeisterter Befürworter des österreichischen „Anschlusses“ an Deutschland geworden. 1936 schloß er sich der NSB an, wurde Chefredakteur von deren Zeitung „Het Nationale Dagblad“ und baute seine Kontakte nach Deutschland aus. Sein erster Partner war Himmler und fortan war er der Führer niederländischer Delegationen auf den „Reichparteitagen“ der NSDAP. Von ähnlichem Zuschnitt war Johannes Hendrikus Feldmeijer (1910–1945), NSB-Mitglied seit 1932 und unermüdlicher Gründer von Parteiformationen, die Kopien deutscher Vorlagen waren. So entstanden 1937 „Der Vadderen Erfdeel“ (Väter-Erbe), die sich der „germanischen Ahnenforschung“ widmete, und 1939 die „Mussert-Garde“, eine paramilitärische Formation, die die offizielle NSB-Jugendorganisation „Nationale Jeugstorm“ nachhaltig radikalisierte. Die dritte und vermutlich einflussreichste Figur dieser prodeutschen Strömung in der NSB war „Max“ (Marius Hugh Louis Wilhelmus) Blokzijl (1884–1945), einer der begabtesten niederländischen Journalisten überhaupt. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg wurde er Korrespondent des „Algemeen Handelsblad“ in Berlin und begleitete von dort Hitlers Aktivitäten mit sehr kritischen Berichten – noch 1938 verurteilte er dessen antijüdische Politik. Offenkundig war das Heuchelei, denn seit 1935 war Blokzijl (heimliches) NSB-Mitglied und schrieb unter dem Pseudonym „Roland“ laufend pronationalsozialistische Artikel.
Auch Mussert hegte prodeutsche Sympathien, wenn auch nicht in dem Ausmaß der „volksen“. Seit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs forderte er die „strikte Neutralität“ der Niederlande – davon überzeugt, daß Deutschland und Italien den Krieg gewinnen und nach dem Sieg ihr „neues Europa“ errichten würden. In diesem würden auch die von der NSB geführten Niederlande einen gebührenden Platz einnehmen. Man könne, so Musserts unausgesprochenes Credo, die kommende Entwicklung in aller Ruhe abwarten. Unruhe schufen nur die Behörden, die mit der wachsenden Kriegsgefahr Verhaftungslisten von NSB-Funktionären anlegten und bei Ankunft der deutschen Truppen rund 10.000 von ihnen festsetzten. Mussert selber konnte sich durch rasches Untertauchen einer Verhaftung entziehen.
Als am 10. Mai 1940 Deutschland die Niederlande überfiel, verbot Mussert seinen Anhängern jede aktive Unterstützung für die Invasoren. Alles schien ja auch nach seinen Erwartungen abzulaufen: Wenige Tage nach Beginn der deutschen Besatzung flohen Königin Wilhelmina (1880–1962) und die Regierung nach London, am 29. Mai 1940 ernannte Hitler den Österreicher Arthur Seyß-Inquart (1892–1946) zum „Reichskommissar für die besetzten Niederlande“. Was das alles bedeutete, erklärte Mussert am 22. Juni 1940 auf einer Massenveranstaltung in Lunteren: Für die Niederlande ist der Krieg vorbei, die Deutschen werden siegen, durch die Flucht der Staatsführung ist ein Machtvakuum entstanden, das die NSB füllen wird, alle Niederländer müssten zur NSB stehen, weil allein diese eine künftige Unabhängigkeit des Landes garantieren könne. Details malte er am 27. August 1940 in einer Denkschrift an Hitler aus: Deutschland solle einen „Bund germanischer Völker“ anführen, in dem auch die Niederlande vertreten wären, die durch den Anschluß Belgiens und nordfranzösischer Regionen auf „groß-niederländische“ Ausmaße vergrößert werden müssten; im Lande selber sollten er, Mussert, Staatsoberhaupt und seine NSB die einzige zugelassene Partei sein, da sie sich als alleiniger „Rettungsbringer“ profiliert habe.
Viermal traf Mussert im Krieg mit Hitler zusammen – September 1940, Dezember 1941, Dezember 1942 und Dezember 1943 –, wobei er hätte erkennen müssen, daß die Deutschen von der NSB wenig und von ihm nichts hielten. Ursprünglich war daran gedacht, Rost van Tonningen zu ihrem niederländischen Vertrauensmann zu machen, aber dann behielt man Mussert doch – gewissermaßen als Geisel. Er hatte immerhin mit seiner Linie, Kollaboration plus Beharren auf einer gewissen Unabhängigkeit, der NSB einen Zulauf auf 100.000 Mitglieder verschafft, was den Besatzern bei ihrer Politik nur nützlich sein konnte. Was diese Politik letztlich bezweckte, hatte am 9. Juni 1940 SS-General Gottlob Berger (1896–1975) Mussert in aller Offenheit erklärt: Von einer niederländischen Unabhängigkeit könne gar keine Rede sein, da die Niederlande eines baldigen Tages ins Deutsche Reich eingegliedert würden.
Generell ließ sich die deutsche Besatzungsmacht erträglich an: Kriegsgefangene wurden rasch und ohne Umstände entlassen, die niederländische Verwaltung konnte weiter arbeiten, stand jedoch unter der Kontrolle von fünf „Generalkommissariaten“, in den Ministerien amtierten niederländische „Generalsekretäre“ mit beträchtlicher Macht, und ganz allgemein arbeiteten Verwaltung und Wirtschaft mit den Besatzern problemlos zusammen. Zudem standen auf beiden Seiten erfahrene und willige „Gleichschalter“ bereit, bei den Deutschen z. B. Johann Albin Rauter (1895–1949), der als „Generalkommissar für Sicherheit“ die deutsche und die niederländische Polizei völlig unter seiner Hand hatte, und auf niederländischer der „holländische Goebbels“ Max Blokzijl, der die Medien im deutschen Sinne ausrichtete. Unter diesen Umständen konnte sich Mussert in der Illusion wiegen, daß die Besatzungspolitik über kurz oder lang doch zu seinem „groß-niederländischen“ Reich führen würde. Darin bestärkte ihn auch die deutsche Maßnahme, die NSB am 13. Dezember 1941, also exakt zum 10. Jahrestag ihres Bestehens, zur einzigen zugelassenen Partei zu machen.
Dabei übersah Mussert jedoch, daß die Besatzerpolitik im Maße des rückläufigen deutschen Kriegserfolgs härter werden mußte, um aus den Niederlanden das Maximum an Unterstützung für die deutsche Kriegswirtschaft herauszuholen. 1942 überlegte Seyß-Inquart ernsthaft, Mussert zum Ministerpräsidenten zu machen, scheiterte aber am Widerspruch Hitlers. Stattdessen ernannten die Deutschen Mussert im Dezember 1942 zum „leider van het Nederlands volk“ und erlaubten ihm die Bildung eines „Staatssekretariats“, aber realpolitische Bedeutung hatte das alles nicht, vielmehr ließ Mussert ab 1942 jeden „groß-niederländischen“ Gedanken fallen. Ohne Gegenwehr ließ er zu, daß die niederländische Wirtschaft voll in deutsche Dienste genommen wurde, was automatisch die Lebensbedingungen der Niederländer verschlechterte und ihren Widerstandswillen steigerte, und daß bis Ende 1943 über 400.000 niederländische Arbeiter freiwillig oder zwangsweise nach Deutschland gebracht wurden. Ebenfalls schien es ihn nicht zu interessieren, daß insgesamt 102.000 niederländische Juden deportiert und ermordet wurden.
In den Jahren 1940 bis 1943 machte Mussert in jeder Hinsicht eine „traurige Figur“. Die Deutschen nahmen ihn nicht besonders ernst, seine innerparteilichen Gegner überspielten ihn bei jeder Gelegenheit, und alle dramatischen Aktionen des „leiders“ verliefen im Sande. Schon im Frühsommer 1940 hatte Hitler ihn angewiesen, innerhalb der SS-Division „Wiking“ eine rein niederländische Standarte „Westland““aufzustellen, was Mussert zuerst empört ablehnte, nach wenigen Monaten aber akzeptierte. Am 11. September 1940 entstand innerhalb der NSB die „Nederlandse SS“ unter Führung von Feldmeijer, und Anfang 1941 forderte Mussert selber die NSB-Mitglieder auf, in „Westland“ einzutreten. Nach Beginn des Kriegs gegen die Sowjetunion (22. Juni 1941) kam noch eine niederländische „Vrijwilligerslegion“ hinzu, was Mussert anfänglich auch nicht wollte, gegen die „Germanische Leitstelle der SS“ aber keine Chance hatte. Insgesamt schätzt man, daß bis zu 40.000 Niederländer bei der Waffen-SS dienten, Tausende weitere bei anderen Formationen des NS-Regimes.
Nur rein äußerlich stand Anton Mussert 1942/43 im Zenit seiner Macht: Die NSB zählte im Juli 1943 103.228 Vollmitglieder und Anwärter, davon rund 10.000 in der sog. „Auslandsgruppe“, die von Hendrik Jan Woudenberg (1891–1967) auf strammen NSB-Kurs gebrachte und von den Besatzern nachdrücklich geförderte „Nederlandsch Arbeidsfront“ (NAF) über 200.000, die Parteiformationen „Nationale Jeugstorm“ (NJS) und (die der SA nachgebildete) „Weerafdeling“ (WA) je 12.000. Hinzu kamen noch 18.000 Mann der Polizei und 2.000 der gefürchteten „Hilfspolizei“ sowie weitere Gruppen. Auch gab es eine vage Absprache zwischen Seyß-Inquart und Mussert, der NSB künftige größere Kompetenzen bei der Verwaltung des Landes einzuräumen.
Diesen imponierenden Zahlen stand eine sich permanent verschlechternde Lage gegenüber: In Fabriken kam es zu Streiks, ein bewaffneter Widerstand regte sich, der u. a. ein erfolgreiches Attentat auf General Hendrik Seyffardt (1872–1943), den Chef der Freiwilligenverbände, verübte. Und innerhalb der NSB folgte eine Krise nach der anderen, in aller Regel von Deutschen initiiert und von Mussert-Gegnern exekutiert. 1943 wollten beide die SS völlig von der NSB trennen, was Mussert nur mittels eines Gesprächs mit Himmler am 8. Juli 1943 aus der Welt schaffen konnte. Zudem bildeten die NSB-Radikalen um Feldmeijer eigene Milizen, die von September 1943 bis September 1944 bewaffnete Kämpfe („Aktion Silbertanne“) mit dem Widerstand austrugen. Dabei gab es auf beiden Seiten zahlreiche Tote, aber insgesamt trug das, im Verein mit deutschen Terrormaßnahmen, nur dazu bei, daß Musserts NSB in der niederländischen Gesellschaft in die nahezu völlige Isolation geriet. Was nützte da der immer noch beträchtliche Anhang, wenn die Deutschen plötzlich daran gingen, die 1940 so großzügig entlassenen Kriegsgefangenen erneut in Lagern zu internieren? So etwas musste natürlich auf die so endlos prodeutsche NSB zurückfallen.
Am 12. Dezember 1941 hatte Mussert in Berlin einen Loyalitätseid auf Hitler geschworen, und das brachte ihm etwas mehr Aufmerksamkeit bei NS-Größen ein. Beispielsweise wurde er zu einem Besuch des KZs Dachau eingeladen, von dem er sich sehr beeindruckt zeigte. Ein Antisemit nach NS-Maßstäben war er immer noch nicht geworden, ein wütender Kommunistenhasser geblieben, und diese „antibolschewistische“ Linie war ab 1942 das starke Band, das ihn an Hitler auch dann noch knüpfte, als weder von „groß-niederländischen“ noch „großdeutschen“ Reichsplänen die Rede sein konnte.
Am 6. Juni 1944 begann die alliierte Invasion in der Normandie, durch die auch die Niederlande Kampfgebiet wurden. Die Deutschen sprengten Deiche und zwangen die Bevölkerung zu Bauarbeiten – die NSB stellte noch einen „Landstorm Nederland“ auf. Ab September 1944 erreichten alliierte Verbände die Niederlande, wo sie nach anfänglichen Zerstörungen große Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nahmen. Das gab den Deutschen Gelegenheit, noch mehr Niederländer zur Zwangsarbeit zu rekrutieren, wovor sich gerade NSB-Anhänger häufig durch die Flucht nach Deutschland bewahrten. Überhaupt war die Flucht nach Deutschland damals nicht selten: Nach der Befreiung Antwerpens am 5. September 1944 sollen sich in Sonderzügen 60.000 NSB-Anhänger nach Deutschland abgesetzt haben. Wer noch in den Niederlanden blieb, verstrickte sich in offene Machtkämpfe, die Mussert dadurch beendete, dass er alte Gegner und Mitarbeiter – Rost van Tonningen, van Geelkerken und weitere – aus der Bewegung ausschloß. Andere, etwa Feldmeijer, wurden durch Tiefflieger getötet. Die deutschen Besatzer hatten auch keine Zukunft mehr, nachdem Hitler-Nachfolger Dönitz am 30. April 1945 Seyß-Inquart absetzte und die „Festung Holland“ am 4. Mai 1945 kapitulierte.
Am 7. Mai 1945 wurde Anton Mussert im gerade befreiten Den Haag gefangen genommen, am 27. November 1945 begann vor dem Haager „Sondergericht“ der Prozeß gegen ihn. Die Anklage warf ihm vor, die Niederlande unter eine Fremdherrschaft gebracht, sich gegen die Grundwerte des Landes vergangen, an der Deportation von über 100.000 niederländischen Juden mitgewirkt und weitere Verbrechen begangen zu haben. Dagegen soll sich Mussert auf beeindruckende Weise verteidigt haben. Die Anklage forderte im Namen der Königin die Todesstrafe, die am 12. Dezember 1945 auch ausgesprochen wurde. Die Berufungskammer bestätigte das Urteil am 20. März 1946. Auf ein Gnadengesuch verzichtete Mussert. Seine Familie stellte es für ihn, aber die Königin lehnte es Anfang Mai ab. Am 7. Mai 1946 wurde Mussert erschossen.
Sein Grab war nicht gekennzeichnet und auch nur engsten Angehörigen bekannt. Dennoch wurde die Leiche Musserts im Juni 1956 von Unbekannten exhumiert und entführt.
Autor: Wolf Oschlies
Literatur
Benz, Wolfgang / Hermann Graml /Hermann Weiß: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997.
Gutman, Israel / Eberhard Jäckel / Peter Longerich (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. München 1998
Christoph Dieckmann et al. (Hrsg.): Kooperation und Verbrechen – Formen der „Kollaboration“ im östlichen Europa 1939-1945, Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus Bd. 19, Göttingen 2003
Koos Groen: Authentieke historische geluidsfragmenten, LP 6846 048, Nijmegen
Dokumentarfilm auf Mubi.
Anmerkungen
(1) Christoph Dieckmann et al. (Hrsg.): Kooperation und Verbrechen – Formen der „Kollaboration“ im östlichen Europa 1939-1945, Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus Bd. 19, Göttingen 2003
(2) Biographie nach Internationales Biographisches Archiv (Munzinger-Archiv), Lieferung 36, 8.9.1956; Biografisch Woordenboek von Nederland 1,Den Haag 1979