Wenige Wochen nach seinem 90. Geburtstag ist der aus Baden-Baden stammende Fred R. Wohl in Washington gestorben. Der Bielefelder Journalist und Historiker Dr. Niko Ewers hat vor einigen Jahren die Lebensgeschichte seines jüdischen Großonkels nach langen Gesprächen aufgezeichnet. Ein Stück `Oral History´, ergänzt mit einigen Schriftstücken aus den Jahren des Exils, das bislang nur im Familienkreis verbreitet worden ist. Die Exilgeschichte dieses Fred R. Wohl soll nun der Fachöffentlichkeit und allen am Schicksal der deutschen Juden in der NS-Zeit Interessierten zugänglich gemacht werden, zumal über die Situation jüdischer Emigranten in Griechenland kaum etwas bekannt ist. Erst recht nichts über Zypern und die Evakuierung der rund 400 jüdischen Emigranten im Juni 1941.
Der vorliegende Bericht beruht auf der Lebensgeschichte Wohls und ist mit einigen für den historischen Kontext wichtigen Fakten versehen.
Es war um Weihnachten 1935, als das Thema Emigration auf die Tagesordnung der Familie Wohl kam. Sohn Fred, 1914 in Baden-Baden geboren, war arbeitslos geworden und von Hornberg (Schwarzwald), wo er nach seiner Ausbildung zum Kaufmannsgehilfen in der Buchhaltung eines Unternehmens tätig war, nach Frankfurt zu seinen Eltern gezogen. Man könne einen Juden nicht länger beschäftigen, hieß es seitens der Firmenleitung. Aus dem gleichen Grund wurde es ihm verweigert, eine Banklehre anzutreten, die ihm ein Bekannter seines Vaters angeboten hatte. „Andere berufliche Perspektiven sah ich nicht. Ich konnte und wollte meinen Eltern nicht auf der Tasche liegen, denn deren Taschen waren ziemlich leer“, erzählte Fred Wohl in seiner vor einigen Jahren entstandenen Lebensgeschichte.[1] „Es war eine ziemlich deprimierende Situation. Viele Juden in Deutschland waren damals in einer ähnlichen Situation.“
Mit dem Thema Emigration kam gleich auch Athen ins Spiel. Hier lebte bereits seine Schwester Ilse, die 1933 als Au-pair-Mädchen nach Griechenland gegangen und nach einem Jahr als Haus- und Kindermädchen bei einer reichen Familie auf einer der Ionischen Inseln in die Hauptstadt gezogen war und ihren Lebensunterhalt mit Deutschunterricht bestritt. Ein insofern naheliegendes Ziel. „Und so ging ich zum Passamt und sagte: Ich will nach Griechenland, um dort Archäologie zu studieren. Der Grund war natürlich nur vorgetäuscht, und die Beamten des Passamtes haben diesen Vorwand bestimmt auch durchschaut. Aber sie stellten mir einen Reisepass aus.“ Und dies noch ohne den Vermerk `Jude´, wie es schon einige Monate später üblich war. Dass die Frankfurter Behörden, vielleicht die Gestapo selber, aber gleich eine Meldung an die Athener Polizei schickte, in der es sinngemäß hieß: „Vorsicht, dieser Fred Wohl ist kein Student, sondern ein jüdischer Flüchtling“ – das habe Fred Wohl später dann erfahren, als Griechenland ihn nicht länger dulden mochte.
Im Februar 1936 landete der damals 21-jährige Wohl mit einem Schiff von Marseille aus in Griechenland. Die Einreise war noch kein Problem, und seine Schwester, der er telegraphisch seine Ankunft mitgeteilt hatte, kam nach Piräus und nahm ihren jüngeren Bruder in Empfang. Ein schönes Wiedersehen, bei dem Fred nur „ein wenig befremdet“ gewesen sei, dass Ilse sich geschminkt hatte. „So etwas hatte ich vorher nicht bei ihr gekannt.“ Noch fremder waren ihm die Verhältnisse in der Millionenstadt Athen: der „ungeheure Verkehr“, der „maßlose Lärm“, die vielen „einachsigen Pferdewagen“ und „Esel mit Körben auf den Buckel“, die stets heftig gestikulierenden Männer in Geschäften oder Kaffeehäusern – kurzum: das im Vergleich zu Baden-Baden oder Frankfurt so völlig andere öffentliche Leben in Griechenland. „Man glaubt sich tatsächlich manches Mal außerhalb Europas“, schrieb Fred Wohl in einem Bericht über dieses ihn doch faszinierende Athen.[2]
Flüchtlingsleben am Rande Europas
Fortan lebte Fred bei seiner Schwester Ilse, in einer 1-Zimmer-Wohnung unter dem Dach. „Etwas wenig für zwei, aber es reichte für uns“, erinnerte er sich, aber „wir waren ja noch jung“. Erst als die Eltern ebenfalls nach Athen kamen, knapp ein Jahr später, mietete er eine halbwegs passable Wohnung, bestückt mit Hausrat und so manchen Möbeln, die nach Auflösung des Haushalts in Frankfurt mitgenommen werden konnten. Aber während der Vater Julius Wohl, der Apotheker war, kaum Einkünfte als Auslandsvertreter eines deutschen Pharmaunternehmens erzielte, verdiente der junge Fred nicht schlecht und wurde bald Hauptverdiener der Familie. „Ich musste mir ja Arbeit suchen, um etwas Geld zu verdienen“, erzählte er von seinen bereits ersten Tagen in Athen. Dabei war es „sehr nützlich“, dass Ilse eine Reihe von Leuten in Athen kannte, darunter auch einige Deutsche und andere Ausländer, von denen einer ihm „aus Gefälligkeit“ einen ersten Job verschaffte. Zugleich begann Fred Wohl, griechisch zu lernen. „Oft war ich damals mit einem jungen Studenten zusammen, der bei mir Deutsch lernte und mir Griechisch beibrachte. Oft gingen wir zusammen durch die Stadt, vor allem abends und in den Nächten, besuchten Freunde und Bekannte oder wurden irgendwo eingeladen.“ Und so ergaben sich zunehmend auch Arbeitsmöglichkeiten – mal für einen jüdischen Stoffhändler oder bei einer einheimischen Im- und Exportfirma, mal im Ingenieurbüro eines Herrn Pesnikides, für den Fred Wohl bald regelmäßig tätig war.
„Bei allen Arbeiten, die ich angenommen habe, wurde ich niemals gefragt, ob ich eine Arbeitserlaubnis hatte. Ich hatte keine – die ganzen drei Jahre nicht“, so bilanzierte Fred Wohl dieses Kapitel seines Athener Exils. „Das einzige Problem für mich war, dass ich – wenn jemand mal hereinkam und einen gewissen `Fredericos Wohl´ sprechen wollte – schnell verschwinden musste. Niemand nannte mich damals so, aber bei der Fremdenpolizei war ich unter diesem Namen bekannt. Natürlich wurde ich einige Mal erwischt und musste zur Polizei. Aber die Leute, bei denen ich arbeitete, und auch Freunde haben mich immer wieder recht schnell freibekommen, natürlich immer mit ‚Schmieren‘, also mit Bestechungsgeldern. Glücklicherweise war meine Schwester Ilse mit zwei Rechtsanwälten bekannt. Auch das war hilfreich in solchen Situationen. Dies galt besonders für die Verlängerung meiner Aufenthaltserlaubnis, die immer nur für sechs Monate ausgestellt wurde. Die Verlängerung musste ich immer regelrecht kaufen, denn auch dies lief nur über Schmiergelder.“
Laut Wohl gab es damals in Griechenland kein Asylrecht, wie man es heute kennt. Es ging immer nur um das Aufenthaltsrecht für Ausländer – gleichgültig, ob sie aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen verfolgt waren oder aus anderen, etwa beruflichen Gründen nach Griechenland kamen. „Für uns Flüchtlinge war es anfangs noch relativ einfach, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen und diese regelmäßig verlängern zu lassen.“ Und sei es eben mit Hilfe von Bestechung. Wie viele jüdische Flüchtlinge aus Deutschland es waren, die bereits in Griechenland lebten bzw. nach und nach dorthin kamen – das hatte Fred Wohl selber nie genau erfahren. „Sicher gab es viele Ausländer damals in Athen, darunter auch jüdische Flüchtlinge. Aber wie viele es waren? Ich weiß es nicht.“ Damals sprach er selber mal von „einigen Hundert“, und nachdem er Athen verlassen hatte, bezeichnete er selbst die Zahl von 500-600 Emigranten noch als „sehr hoch geschätzt“. Soweit hatte Griechenland als Ziel ausgewanderter bzw. vertriebener Juden aus dem Machtbereich der Nazis in der Tat keine bedeutende Rolle gespielt, aber völlig „ohne Bedeutung für die Emigration“ – so die verbreiteten Einschätzung in der Fachliteratur[3] – war das Land denn doch nicht.
„Dass ich dies nicht genau wusste“, so erzählte er weiter, „lag daran, dass ich in Athen immer Arbeit hatte und ziemlich beschäftigt war. Ich lebte nicht so sehr in den Kreisen der Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich. Die meisten Flüchtlinge verkehrten ja nahezu ausschließlich mit anderen Flüchtlingen, da sie kaum griechisch sprachen. Natürlich kannte ich auch viele Deutsche in Athen, zumeist jüdische Flüchtlinge, aber mindestens gleichermaßen kannte ich auch viele Griechen.“ Vielleicht auch kein Wunder, da Fred Wohl viel jünger als die meisten anderen Emigranten war; und er hatte – ebenfalls ein Unterschied – noch nicht viel zurücklassen müssen, als er seine Heimat verlassen musste: keine lange ausgeübte berufliche Existenz, keinen eigenen Hausstand, kein nennenswertes Vermögen. Hinzu kam, dass er schon von Haus aus, wie er mal sagte, „nicht besonders religiös“ war und sich insofern nicht gerade rege am jüdischen Gemeindeleben beteiligte.
Über das Flüchtlingsleben in Athen hatte Fred Wohl im Laufe des Jahres 1938 eine mehr als 100-seitige Erzählung verfasst[4]. Ein anschauliches Panorama verschiedener Schicksale zumeist jüdischer Flüchtlinge – zwar fiktiv, aber authentisch in dem Sinne, dass „ich all dies selber erlebt oder beobachtet oder von anderen gehört habe“, wie er später mal sagte. Die einen lebten „in recht guten Verhältnissen“, während andere „ohne einen Pfennig aus Deutschland gekommen“ waren und „nicht mehr wussten, wie sich helfen sollten“. Sie alle seien durchweg „keine bedeutenden Köpfe“ gewesen, von denen später nie etwas zu lesen oder zu hören war.[5] Immerhin habe „ein großer Teil“ der nach Athen gelangten Emigranten Arbeit finden können, „und es war – paradox genug – dem gesteigerten Handel Griechenlands mit Deutschland zu verdanken, wenn sie sich ihren Lebensunterhalt verdienen konnten“. Das galt auch für Fred Wohl, als er irgendwann 1937 bei der Firma `Spyros Tsangaris´ zu arbeiten begann, die ausländische und damit auch deutsche Zeitungen und Zeitschriften in Griechenland vertrieb. Zum Beispiel auch das `Berliner Tageblatt´ mit täglich 50 Exemplaren.
Über die griechischen Juden in Athen – zu jener Zeit rund 3000[6] – äußerte er sich in seiner Lebensgeschichte wie in seinem auch später nie veröffentlichen Skript von 1938 wenig. Für ihn waren die Athener Juden „alle gesellschaftlich ‚assimiliert'“ und lebten insofern „nie so separiert, wie dies in anderen Städten der Fall war. Viele waren Geschäftsleute, Anwälte, Ärzte oder in anderen gehobenen Positionen tätig“ und „bildeten einen selbstverständlichen Teil des städtischen Bürgertums“. Ganz anders in Saloniki, wo mehrere zehntausend Juden lebten – die sog. sephardischen Juden, die vor vielen Generationen aus Spanien vertrieben worden waren. Sie hatten eine eigene Sprache und eine eigene Kultur und bildeten eine Gemeinschaft für sich, geradezu eine Stadt in der Stadt.[7] „Ich hatte von alledem einiges gehört, war selbst aber niemals in Saloniki. Nach meiner Kenntnis gab es keine nennenswerten Beziehungen oder Verbindungen zwischen den Athener Juden und denen in Saloniki.“
Noch viel weniger erzählte Fred Wohl etwas von Judenfeindschaft oder Antisemitismus. Davon habe er in den ersten Jahren in Griechenland nie etwas verspürt. Aber das war nur die Sicht aus Athen. In Mazedonien, Thrazien und in Epirus sah das schon anders aus, seitdem im Zuge des griechischen Freiheitskampfes gegen die osmanische Herrschaft – vollendet mit der Rückgewinnung von Saloniki 1912 – und des massenhaften Zustroms griechischstämmiger Menschen aus Kleinasien es zu manchen antijüdischen Pogromen gekommen war. Zwar betrieb der bis 1935 amtierende Regierungschef Venizelos eine Politik des Ausgleichs, zugleich der aktiven Assimilierung der Juden in die Mehrheitsgesellschaft, aber diese Befriedung erfuhr immer wieder dramatische Rückschläge wie zuletzt 1931.[8] Das änderte sich nach der Errichtung der Diktatur Metaxas am 4.8.1936 zunächst nicht. Zwar mit strikt antikommunistischem Feindbild enthielt sie sich, ideologisch wie praktisch, irgendwelchen antisemitischen Sentenzen. Der Staat wolle die Juden „wie alle anderen Kinder Griechenlands“ behandeln, versprach Metaxas.[9] Das wurde in Nazideutschland – trotz des Beifalls für den Diktator und Bündnisgenossen[10] – mit einigem „Befremden“ aufgenommen[11], zumal Griechenland nach wie vor auch jüdischen Flüchtlingen Zuflucht gewährte. Es gebe dort „keine Judenfrage“, konstatierte 1940 der im Nachkriegsdeutschland viel gelesene Gaitanides; und erleichtert hob er hervor, dass die griechischen Juden „nur in der Türkenzeit eine bedeutsamen Stellung inne(gehabt)“ hätten und „ihre Gefährlichkeit weiterhin durch ihre geringe internationale Versippung eingeschränkt“ sei.[12]
Von der „relativen Toleranz“ bis zum „Damoklesschwert“ der Ausweisung
Wenn heute durchweg hervorgehoben wird, dass bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, wenn nicht gar bis 1941, die griechischen Juden „unter der Diktatur Metaxas trotz dessen unverhohlener Bewunderung für NS-Deutschland ein Leben in relativer Toleranz genossen“ hätten[13], so gilt dies nicht gleichermaßen für die jüdischen Flüchtlinge, die sich seit 1933 nach Griechenland retteten, ohne es nur als Sprungbrett nach Palästina nutzen zu wollen. Fred Wohl zufolge fingen die Schwierigkeiten im Laufe des Jahres 1938 an und wurden recht schnell existentiell. „Ich kann das nicht genau überprüfen, aber damals hatte ich wirklich den Eindruck, dass die griechischen Behörden immer strenger und restriktiver wurden.“ Es kam zu ersten Festnahmen von Emigranten, die keine Arbeitserlaubnis hatten oder denen die Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert worden war, und es machte sich „panische Angst“ breit. „Das Damokles-Schwert hing über allen Emigranten in Griechenland, und es musste früher oder später auf jeden von ihnen hinunterfallen.“
Diese zunehmend restriktive Politik war nicht so sehr innenpolitisch motiviert, etwa aufgrund der vorrangigen Aufnahme und Versorgung von griechischen Heimatvertriebenen, zuletzt von jenen, die die Sowjetunion ausgebürgert hatte. Vielmehr folgte es außenpolitischen Erwägungen oder Rücksichtnahmen: nämlich „kein Ausländerproblem zu schaffen und nicht Berlin zu provozieren“.[14] Und seit der Diktatur Metaxas war Nazideutschland zunehmend in Griechenland präsent. Dies hatte Fred Wohl, nachdem er schon bei `Spyros Tsangaris´ mit einem dort angestellten Deutschen mit NSDAP-Abzeichen am Revers konfrontiert war, vielfach beobachten können: angefangen von der Nazi-Propaganda in Athen bis hin zu den „Verbindungen zwischen der Fremdenpolizei und der deutschen Gesandtschaft“ und – „in Handelskreisen ein offenes Geheimnis“ – jenem Auskunftsbüro, das „nur dem Zweck diene, herauszufinden, in welchen griechischen Unternehmen Juden eine Rolle spielten“, um jene dann aufzufordern, die betreffenden Personen zu entlassen, „wenn man einem schädlichen Einfluss auf seine Geschäftsverbindungen vorbeugen will“.
So war es auch bei Fred Wohl, der bereits nach den ersten ihm bekannten Ausweisungen jüdischer Emigranten sich vergeblich um eine Einbürgerung bemüht hatte. Jetzt im Herbst 1938 hatte „die deutsche Botschaft in Athen herausgefunden, dass in dem Zeitungsvertrieb, in dem ich arbeitete, ausgerechnet ein Jude die nach Griechenland gelieferten deutschen Zeitungen durchsah und – wenn man so will – kontrollierte.“[15] Entsprechend informierte die Botschaft die griechischen Behörden und „forderte die Ausländerpolizei auf, mich auszuweisen, vielleicht sogar – ich weiß es nicht genau – mich nach Deutschland abzuschieben. Jedenfalls kam die Polizei eines Tages in die Firma und verhaftete mich. Ich wurde einige Tage in einem Polizeirevier festgehalten. Es war kein Gefängnis, sondern irgendeine Art von Arrest und man konnte es einigermaßen dort aushalten. Freunde von mir brachten mir regelmäßig Mahlzeiten. Ich selber sagte den Polizeibeamten: Wenn ihr wollt, dass ich aus Griechenland verschwinden soll, dann kann ich das nur, wenn ich hier nicht rumsitze und keine Gelegenheit habe, mir einen Pass zu besorgen. Die Polizisten wussten nicht so recht, was sie mit mir machen sollten, und einige Tage später wurde ich dann freigelassen. Sogleich schalteten wir einige befreundete Rechtsanwälte ein, und auch Anagnostopoulos (der Chef von `Spyros Tsangaris´) versprach seine Hilfe. Aber alles, was sie erfuhren, war, dass die griechischen Behörden uns jetzt als `Illegale´ betrachteten und dass sie uns an die deutschen Behörden verwiesen. Und was wir von den deutschen Behörden zu erwarten hatten, war uns natürlich klar.“
Von ähnlichen Fällen berichtete Wohl auch in seiner Erzählung „Athener Flüchtlingsleben“ sowie in einem Artikel, den er nach der Ankunft in Zypern verfasst hatte.[16] Hier bilanzierte er die Flüchtlingspolitik der Regierung Metaxas mit den Worten: „Da das kleine Land nichts anderes an die Stelle seines Handels mit Deutschland stellen kann, springt man in Athen mit den paar Emigranten um, wie es Deutschland passt“ – und dies sogar manchmal mit einem „deutlichen antisemitischen Anstrich“. Auch in der Türkei wurden bei Kriegsanbruch viele der nicht im Staatsdienst tätigen deutschen Emigranten, zumal wenn Juden oder des Kommunismus Verdächtigte, „urplötzlich ausgewiesen“ – und dies „nicht ohne `Nachhilfe´ durch die deutschen amtlichen Vertretungen“, wie Fritz Neumark schrieb.[17]
Dementsprechend zufrieden äußerte sich das NS-Regime: „In Nordamerika, in Südamerika, in Frankreich, in Holland, Skandinavien und Griechenland – überall, wohin sich der jüdische Wanderungsstrom ergießt, ist bereits heute eine deutliche Zunahme des Antisemitismus zu verzeichnen. Diese antisemitische Welle zu fördern, muss eine Aufgabe der deutschen Außenpolitik sein“, so heißt es in der Denkschrift `Die Judenfrage als Faktor der Außenpolitik´ vom 25.1.1939.[18] Je größer der Zustrom auswandernder Juden, „desto stärker wird das Gastland reagieren“, da man überall zu der „gereiften Erkenntnis“ gelangen würde, „welche Gefahr das Judentum für den völkischen Bestand der Nationen bedeutet“ – und „desto erwünschter ist die Wirkung im deutschen propagandistischen Interesse.“ Ein Jahr später schrieb der schon zitierte Gaitanides: „Gegen eine deutsche Emigrantenflut hat sich Griechenland sehr energisch und erfolgreich zur Wehr gesetzt.“[19]
Von dieser Politik waren die griechischen Juden zunächst nicht weiter tangiert. Sie „konnten ruhig bleiben“, wie Fred Wohl schrieb. „Die Freundschaft des Diktators mit führenden Juden und seine Zusicherungen waren Garantie genug, dass sich in Griechenland nie das ereignen würde, was in Mitteleuropa geschehen war. Die ausländischen Juden aber fühlten, wie ihnen der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Sie waren vogelfrei. Griechenland schien auf dem besten Wege, ein Staat in der Reihe derer zu werden, die den gehetzten Opfern deutscher Demagogie keine Unterkunft mehr boten.“ Da schien es kein Widerspruch, dass die griechische Regierung den 1938 anschwellenden Zustrom jüdischer Flüchtlinge, die von hier aus den rettenden Sprung nach Palästina versuchten, keine Hindernisse in den Weg legte; die waren ja keine Einwanderer. Zwar „Geheimfrachten“ auf kleinen, bisweilen nicht ganz seetüchtigen Schiffen quer durch die Ägäis, sei dies allgemein bekannt gewesen. Ebenso der Fahrpreis und die Orte, von wo die Flüchtlingsschiffe ablegten, kleine Häfen auf der Insel Euböa. Selbst dass zionistische Organisationen aktive Fluchthilfe betrieben und damit bewusst den für Palästina damals gültigen Einwanderungsstopp durchkreuzten, war Fred Wohl zufolge „ein offenes Geheimnis“. In Saloniki habe man sogar, wie er damals hörte, „ein Lager zur vorübergehenden Unterbringung von Flüchtlingen errichten“ wollen, „bis diese Opfer deutscher Kultur nach Palästina weiterbefördert werden könnten“.
Wenn nicht Palästina, dann wohin?
Für Fred Wohl kam Palästina allerdings nicht in Frage. Seiner Erinnerung nach galt dies auch für die Mehrheit der jüdischen Flüchtlinge in Athen – sei es, weil man nicht erneut einen illegalen Status riskieren mochte oder weil man „der Kultur Europas nahe bleiben“ wollte und dem orthodoxen Judentum und dem Zionismus wenig oder nichts abgewinnen konnte. Aber wohin, wenn „unser weiterer Aufenthalt in Athen nicht möglich sein würde“?
„Angesichts der Gefahr, nach Deutschland deportiert zu werden“ – wobei Fred Wohl auch später nie gehört hatte, dass zu jener Zeit jüdische Flüchtlinge an die Gestapo ausgeliefert wurden – „begannen mein Vater, meine Schwester und ich sogleich, die Konsulate verschiedener Länder abzuklappern um Erkundigungen über die jeweiligen Einwanderungsmöglichkeiten einzuholen. Dabei wurde uns mehr und mehr klar, dass jüdische Flüchtlinge nirgendwo willkommen waren. Dies galt jedenfalls für Menschen und Familien, die nicht viel Geld hatten und nichts anderes als ihre Arbeitskraft, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen und zu überleben.“ Nach einigen Absagen zeichnete sich im Konsulat von Paraguay aber ein Ausweg ab. „Der Konsul sagte zu, uns Visa zu beschaffen. Aber wo liegt Paraguay? Wir sammelten alle verfügbaren Informationen über dieses südamerikanische Land und verkauften einen Teil unserer Möbel, um die Visagebühren zu bezahlen und die Reisekosten aufzubringen. Mit großen Hoffnungen gingen wir dann ins Office von American Express, um die Tickets für die Schiffspassage zu kaufen. Dort wurde uns aber gesagt, unsere Pässe müssten erst zum Generalkonsul von Paraguay, der in Italien sitzt. Der müsse unsere Visa unterschreiben, nur mit der Unterschrift des Konsuls in Athen seien die Visa nicht gültig. Wir waren natürlich ziemlich enttäuscht – und der Kerl, der ohnehin nur ein Honorarkonsul war mit begrenzten Kompetenzen, wusste das genau. Nur mit großen Schwierigkeiten und dem Verweis auf das Schicksal, das uns drohte, schafften wir es, wenigstens die Hälfte des an ihn gezahlten Geldbetrages zurückzubekommen.“
„Mittlerweile“, so erzählte Fred Wohl weiter, „hatten wir nur noch sechs Wochen Zeit, um Griechenland zu verlassen. Die lokalen Behörden behielten uns strikt im Auge. Also setzten wir die Runde durch die ausländischen Vertretungen fort. Da kam uns zuhilfe, dass mein Vater schon seit längerer Zeit einer Freimaurerloge angehörte und dort einen jungen Engländer kennen gelernt hatte, der uns einige Male besucht hatte. Er war Sekretär in der britischen Botschaft und verschaffte meinem Vater einen Termin bei dem britischen Botschafter. Der Termin kam zustande, und der Botschafter schaltete daraufhin den britischen Geheimdienst – Intelligence Service – ein, der uns eingehend befragte und Erkundigungen über uns einholte. Dabei stießen die Briten auf den Umstand, dass meine Mutter einen Vetter hatte, der in der Weimarer Zeit Außenminister Deutschlands gewesen war: Walter Rathenau, der 1923 von Rechtsradikalen ermordet wurde. Dies beeindruckte die Briten und sie stellten uns ein Dokument aus, in dem wir als `politische Flüchtlinge´ eingestuft wurden und damit die Erlaubnis erhielten, in alle britischen Hoheitsgebiete und Kolonien zu reisen.“
Da das nächstgelegene britische Hoheitsgebiet Zypern[20] war und die Wohls zu wenig Geld hatten, fernere Länder des Empires anzusteuern, beantragten sie ein Visum für ebendieses Zypern. Aber selbst das war teuer: 1000 Britische Pfund pro Person. Immer noch mehr, als man aktuell hatte. Aber nach einem erneuten Gespräch mit dem britischen Botschafter, der eine erhebliche Reduzierung der verlangten Einreisegebühren veranlasste, und mit finanzieller Hilfe der Inhaber der beiden Firmen in Athen, bei denen Fred Wohl besonders lange tätig war, gelang es das Geld für die Einreise nach Zypern aufzubringen. Und an einem kühlen Februartag des Jahres 1939 bestieg man in Piräus ein Schiff nach Limassol.
Fred Wohl hatte auch später nie einen Überblick bekommen, wohin es die jüdischen Flüchtlinge in Athen verschlagen hatte, die wie er damals Griechenland verlassen mussten. Er kannte oder hörte nur von Einzelnen, die in die Türkei gingen oder ein Visum für eines der lateinamerikanischen Länder ergattern konnten. Doch vielen blieb nichts anderes übrig als der Weg nach Palästina. Die darin liegende „Tragik“ hat Wohl für zwei der Hauptpersonen seiner Erzählung beschrieben: „Sich jetzt, angesichts des drohenden Schiffbruches, an ihr Judentum im allgemeinen und an den Zionismus im besonderen als Rettungsring zu hängen, widerstrebte ihrer Aufrichtigkeit, obwohl sie einsahen, dass es eventuell eine Notwendigkeit werden könnte.“
Eine zornige Abrechnung mit der Flüchtlingspolitik
In den ersten Wochen in Zypern brachte Fred Wohl, untergebracht in einer billigen Pension in Nikosia, seinen Frust über die erfahrene Behandlung der jüdischen Flüchtlinge aufs Papier[21]. Auch dieses Skript mit dem Titel „Was nützt dem Flüchtling das Mitleid“, unterzeichnet mit „F. Richard“ (sein zweiter Vorname), ist nie veröffentlicht worden. Wohl erinnerte sich nur, es an eine Adresse nach England geschickt zu haben, es also irgendwo publizieren zu wollen. Deshalb hier nun der Wortlaut dieses bemerkenswerten Dokuments eines unmittelbaren Betroffenen:
„Es mag vielleicht daran liegen, dass man vermeiden will, größeren Schaden anzurichten als bereits gestiftet, und dies ist sicherlich der Hauptgrund, dass über die Auswanderungsbedingungen, die Flüchtlingen in verschiedenen Ländern vorfinden, und über die im Laufe der Zeit wechselnde Haltung der Staaten dazu so wenig zu hören ist. Dazu kommt auch, dass in den meisten Kulturstaaten der Auswanderer von jeher nur als Individuum Aufnahme gefunden hat. Besonders unter den Flüchtlingen fehlt jede Organisation, und sie sie sind deshalb noch mehr als an und für sich schon dem Willen oder Mutwillen der Landesregierungen ausgeliefert, unter deren Oberhoheit das furchtbare Schicksal der Emigration sie verweht hat.
Bedenken wir, dass das Dritte Reich nun bereits sechs Jahre besteht und dass in diesen sechs Jahren nichts geschehen ist, um irgendeines der vielen großzügig auf den Plan gebrachten Projekte auch nur vorzubereiten. Was nutzt dem Flüchtling das Mitleid der ganzen kultivierten Welt, wenn ihm nirgends eine Bleibe geboten wird? Was nutzen die größten und bestgemeinten Geldspenden, wenn der Heimatlose kein neues Betätigungsfeld eröffnet bekommt? Gerade aus diesem negativen Ergebnis der Flüchtlingspolitik geht hervor, wie wenig bemüht die Regierungen fast aller Länder waren, dem anfänglich wirklich vorhandenen Mitgefühl der Völker durch Aufnahme der unverdient so hart betroffenen Menschen eine positive Folge zu geben.
Hunderttausende leben heute noch in den Grenzen der Diktaturstaaten, denen keine Heimat mehr geboten ist; und für deren Zukunft machen humanitäre Organisationen Pläne, die sogar – wie aus den Verhandlungen in Evian ([22]) hervorgeht – soweit gehen, Deutschland die Freizügigkeit dieser Bedauernswertesten durch wirtschaftliche oder finanzielle Zugeständnisse abzukaufen. Es ist bezeichnend für unsere Zeit, die nur noch für Zahlen mit vielen Nullen ein Auge hat, dass darüber der Flüchtlingspolitik der einzelnen Regierungen keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. Und wenn wir deshalb hier die Flüchtlingspolitik in einer einzigen Gegend, im östlichen Mittelmeerbecken, einer Betrachtung unterziehen, so um das Gewissen der Welt darauf aufmerksam zu machen, wie wenig doch an praktischer Unterstützung den Heimatsuchenden zuteil geworden ist.
Es ist bekannt, dass bei Beginn der Auswanderungen die Türkei viele bedeutende deutsche Juden an ihre Universitäten berufen hat, dass deutsche Techniker und Spezialisten in für ein Land wie die Türkei großzügiger Weise sogar in den Staatsdienst aufgenommen wurden. Es ist aber nicht bekannt, wie diese nach Ablauf ihrer Verträge kurzfristig des Landes verwiesen wurden. Die Zeitungen schrieben lediglich von der großzügigen Geste, mit der die türkische Regierung im vergangenen Jahr 2000 Ausländern das türkische Bürgerrecht verliehen hat. Es waren dies aber in erster Linie in der Türkei lebende Griechen und von den Emigranten nur solche, die eben tatsächlich unentbehrlich geworden waren. Von den Zwangsverschiffungen verzweifelter Menschen, die in Istanbul an der Tagesordnung sind, schweigt die Presse.
Es sei hier nur der Fall eines Berliner Juden erwähnt, der von Griechenland ausgewiesen nach der Türkei kam, und nachdem er ein Jahr in Istanbul lebte, zwangsweise auf einem italienischen Schiff nach Genua transportiert wurde. Mit einer Genehmigung, sich drei Tage lang, aber keine Stunde mehr auf italienischem Boden aufhalten zu dürfen, überquerte dieser Mann mit einer Gesellschaft Leidensgenossen unter größten Strapazen die französische Grenze…
Kann dieser Vorgang in der Türkei immer noch so erklärt werden, dass der Staat eben anfangs Interesse an den Flüchtlingen hatte und sich späterhin nicht mehr interessierte, d.h. sich der Emigranten solange annahm, als das nützlich erschien bzw. erscheint, so ist die Lage in Griechenland noch schlimmer, wo die Qualen der wenigen dorthin verschlagenen Emigranten mehr oder weniger von Berlin aus diktiert werden. Es ist sehr hoch geschätzt, wenn man für ganz Griechenland eine Ziffer von 500 – 600 Emigranten annimmt, die in das Land gelangt sind. Der bescheidene Zustrom von Menschen war für Handel und Industrie in Griechenland äußert nützlich, da der griechische Handel wie auch die Maschineneinfuhr in den letzten Jahren völlig von Deutschland beherrscht werden. Dadurch war es möglich, dass alle diese Emigranten mehr oder weniger rasch von den einzelnen Berufen absorbiert werden konnten, ohne dass irgendjemand auf den Gedanken gekommen wäre, dass Griechen dadurch ihre Arbeitsplätze weggenommen werden.
Leider verschließt sich die griechische Regierung diesen Tatsachen völlig. Dazu kommt die Furcht vor einer etwaigen Änderung der wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland. Die deutschen Stellen suchen natürlich von jeher zu vermeiden, dass größere Mengen Emigranten nach Griechenland, denn in diesem befreundeten Markt soll keine deutschfeindliche Stimmung aufgebracht werden. Da das kleine Land nichts anderes an die Stelle seines Handels mit Deutschland stellen kann, seit sich England in sein Imperium zurückgezogen hat, springt man in Athen mit den paar Emigranten um, wie es Deutschland passt. Leider ist außerhalb Griechenlands leider wenig bekannt, wie stark die deutsche Propaganda und der deutsche Einfluss in diesem Lande sind. In Athen existiert sogar eine Handelsauskunftei, deren Spezialität es ist zu prüfen, welche griechischen Firmen in irgendeiner Weise mit Emigranten zusammenarbeiten. Von der Landesleitung der NSDAP ([23]) aus werden diese Firmen dann durch Abgesandte freundlich aufgefordert, diesem Zustand abzuhelfen, wenn man einem schädlichen Einfluss auf seine Geschäftsverbindungen vorbeugen will. Menschen, die nun schon jahrelang im griechischen Wirtschaftsleben stehen, werden so zu kurzfristigem Verlassen des Landes aufgefordert; und wenn es ihnen nicht gelingt, rechtzeitig irgendein Visum zu erhalten, werden sie einige Tage in griechische Gefängnisse gesteckt – denn wer erst einmal diese kennen gelernt hat, verlässt das Land gerne.
So wurde der leitende Spezialist einer der größten griechischen Webereien, dem seine Firma den Vertrag nicht verlängerte, weil die Polizei die Aufenthaltsgenehmigung verwehrte, arrestiert… Von einer anderen 4-köpfigen Familie haben drei die griechischen Arrestlokale kennen lernen müssen. Auch eine Petition an den König hatte keinen Erfolg. Bezeichnend ist auch jener Fall einer jungen Frau, dessen Bruder infolge harter Behandlung in einem deutschen Konzentrationslager starb und die sich dann veranlasst sah, bei der griechischen Polizei einen Antrag zur Einreisegenehmigung der Mutter zu stellen. Es wurde ihr ganz offen gesagt, dass sie dadurch nur ihre eigene Aufenthaltsgenehmigung so gefährdet habe, dass sie sich besser raschestens einen anderen Aufenthaltsort wählen sollte.
Es beunruhigt in Griechenland selbst, dass die Emigrantenausweisungen dort auch einen sehr deutlichen antisemitischen Anstrich haben, den sich gerade dieses Land mit der starken Bindung an England und aufgrund seiner Tradition nicht leisten dürfte. Es liegen jedoch hierzu Äußerungen sogar des verantwortlichen Ministers vor, die nichts an Deutlichkeit zu wünschen lassen. Es ist bedauerlich, dass etwas derartiges unter einem halbdiktatorischen Regime vorkommen kann, dem das heutige Griechenland sonst viel Gutes verdankt. Es ist dies aber sehr auf deutschen Druck zurückzuführen. (So hat) einer der Direktoren der griechischen Fremdenpolizei im vergangenen November Deutschland besucht, worauf dann eine außerordentliche Verschärfung der Fremdenpolitik in diesem Land eintrat, die sich fast ausschließlich gegen die Emigranten richtet und der auch der Vertreter des Flüchtlingskommissars des Völkerbundes machtlos gegenübersteht, da Griechenland an den Verhandlungen in Evian nicht beteiligt war.
Großbritannien hat zwar in Evian eine führende Rolle gespielt, doch dies hinderte nicht, dass Ägypten einer der ersten Staaten war, die alle Türen für eventuelle Einwanderer geschlossen haben. Von Ägypten wurde das Beispiel gegeben, dass heute von jedem Inhaber eines deutschen Reisepasses im ganzen Orient zum Erhalt eines Visums auch eine amtliche deutsche Bescheinigung der Abstammung erforderlich ist. Auch Palästina kann für jene Emigranten, die auf sich selbst gestellt sind, nicht als Ziel infrage kommen, da die Einwanderungsquote bekanntlich für viele Jahre im voraus vergeben ist.
Im östlichen Mittelmeer liegt dann noch die Insel Zypern, die tatsächlich etwa 400 Emigranten aufgenommen hat, also im Verhältnis zu den anderen Gebieten den weitaus größten Prozentsatz. Heute ist es allerdings auch nicht mehr möglich, dort hin zu kommen, es sei denn mit einem sehr großen Kapital.
Für all diese Menschen, die in jene Gegenden verschlagen wurden und die stets davon bedroht sind, einen neuen Wohnungswechsel vornehmen zu müssen, ist es schrecklich mit ansehen zu müssen, wie Schiffe mit hunderten von Emigranten in mittelländischen Meer herumfahren und wie man diesen Menschen in jedem Hafen die Landung verwehrt (wird). Der Streik, durch den in Tel Aviv die englischen Behörden veranlasst wurden, die Menschenfracht eines dieser Schiffe auf-zunehmen, ist nur ein schwacher Ausdruck dessen, was jeden beseelt, der von dem gleichen Schicksal bedroht ist. Wie furchtbar ist aber das Niveau unserer ‚Kultur‘ gesunken, wenn wir sehen, wie sich heute schon keine Stimmen mehr zugunsten dieser neuartigen ‚Pestschiffe‘ meldet, wie die Welt hiervon gar nicht mehr Notiz nimmt und wie diejenigen Mitmenschen, die glauben unbeteiligt zu sein, sich nur unangenehm berührt fühlen, wenn man sie darauf hinweist.
Wo bleibt hier das Gewissen der Welt? Wo bleiben die so laut angekündigten Hilfsaktionen? Es handelt sich bei all dem ja nur um wenige hunderte Menschen. Aber wie sollen die großzügigen Pläne, von einen wir immer wieder lesen, verwirklicht werden, wenn es nicht einmal gelingt – oder sagen wir besser: wenn man nicht einmal versucht, hier einigen Hunderten, einem kleinen, winzigen Bruchteil des ganzen zu Ruhe und Einordnung zu verhelfen?“
Exil in Zypern, bis der Krieg vor der Haustür zu toben begann
Nun in Zypern fing für Fred Wohl das Spiel von vorne an: Fuß fassen, Kontakte knüpfen und Arbeit finden. Nur war es jetzt etwas leichter als zu Beginn seiner Exilzeit in Athen, da er derweil fast fließend griechisch sprach und ihm der in Nikosia kaum andere Alltag vertraut war. Zugleich aber auch schwieriger, da die Lebensverhältnisse ärmlicher und auch viel weniger international geprägt waren als in Athen. Das minderte die Chancen selbst für Gelegenheitsarbeiten gebildeter Flüchtlinge wie er, und wenn doch, verdiente man weniger als auf dem griechischen Festland. So war es auch bei Fred Wohl, der dank eines Empfehlungsschreibens von Anagnostopoulos bei einer ganz ähnlichen Firma wie `Spyros Tsangaris´ Arbeit fand. „Nun gut, es war besser als überhaupt keine Arbeit und kein Einkommen zu haben“, erzählte er über dieses 2-monatige `Gastspiel´. Dann lernte er zwei österreichische Juden kennen, ebenfalls Flüchtlinge, die gerade ein Wurstgeschäft eröffneten und jemanden mit guten Sprachkenntnissen für den Verkauf suchten. Wohl stimmte zu und arbeitete etwa zehn Monate lang eben als Wurstverkäufer in Nikosia.
Sein Vater, inzwischen 58 Jahre alt, blieb – wie schon im letzten Jahr in Athen – ohne Beschäftigung, während seine Schwester Ilse einigen besser verdienenden Zyprioten Deutschunterricht erteilte und damit das Familieneinkommen aufbessern konnte. Die gewisse Nachfrage daran mochte teilweise von den Sympathien für Nazideutschland herrühren, die im Zuge nationalistischer Bestrebungen gegen die britische Fremdherrschaft aufkamen. „Es gab politische Kreise, die die Okkupation durch die Nazis regelrecht herbeiwünschten“, so erinnerte sich Fred Wohl an die Stimmung 1941, als die deutsche Wehrmacht Griechenland besetzte. Namentlich den griechischen Bischof Makarios, der später Präsident von Zypern wurde, bezeichnete er als „erklärten Freund der Nazis“.
Aber das war noch kein Thema, als die Wohls sich in Zypern einzurichten begannen. Nach gut einem Jahr fand Fred Wohl, selber jetzt 26 Jahre alt, eine relativ gut bezahlte Arbeit in einer großen Asbestmine im Troodos-Gebirge, wo in der Sommerzeit bis zu 3000 Arbeiter – in der Mehrheit türkische Zyprioten und Wanderarbeiter aus der Türkei – beschäftigt waren. Dort fing er in der Buchhaltung des Unternehmens an, und in Amiandos, dem nächst gelegenen Dorf, zwei bis drei Stunden Busfahrt von Nikosia entfernt, bezog er ein Zimmer im Haus eines deutschen Juden, der bereits in der Asbestmine arbeitete. Von woher der stammte, hatte Wohl vergessen; er erinnerte sich nur, dass jener mit Frau und Kind zunächst nach Palästina gegangen war, um sich später dann in Zypern niederzulassen.
Hier konnte man ohnehin immer wieder jüdische Flüchtlinge aus dem Machtbereich der Nazis kennenlernen. „Wie klein ist die Welt, überall finden sich gemeinsame Bekannte“, hieß es in einem Brief der Mutter an ihren nach Bolivien emigrierten Neffen Gerd Michaelis, den zu kennen „ein gewisser Herr Tetschmar“ ihr erzählte. „Er lässt Dich grüssen und Dir gutes wünschen!“ Dieser Deutsche hatte sich zunächst nach Turin abgesetzt, im Frühjahr 1939 schließlich nach Zypern, wo er in derselben Pension in Nikosia wohnte wie Freds Eltern.
Bald aber war die Unterkunft nicht mehr zu bezahlen, und die Eltern zogen zu ihrem Sohn, nachdem er durch Vermittlung seines Arbeitgebers ein kleines Haus in der Nähe von Amiandos ergattert hatte – und dies ganz mietfrei. Kein Wunder, denn es handelte sich um eine alte verlassene Polizeistation. Ein Haus mit einen „großen zentralen Raum sowie sechs oder acht winzigen Räumen, die früher als Arrestzellen dienten.., ohne Wasseranschluss“, wie Fred Wohl erzählte. Hier zu leben sei „mehr als bescheiden“ gewesen. Gerade für seine Eltern, für die derlei Wohnverhältnisse, fernab gesellschaftlichen Lebens, „natürlich ein totaler Abstieg“ waren. „Schon bei dem Umzug von Athen hatten sie nur einen Teil ihrer Wohnungseinrichtung mitnehmen können; weitere Sachen mussten sie dann in Nikosia lassen und verkaufen, so dass sie nur noch zwei oder drei Möbelstücke mitbrachten, als sie sich in der ehemaligen Polizeistation einquartierten.“
Aber so abgelegen die Wohls nun lebten, waren sie dennoch nicht abgeschnitten von der Welt und der politischen Eskalation auch im Südosten Europas. „Es gab ja Zeitungen und Radio“, erzählte Fred Wohl. Und es waren insbesondere die Sendungen der BBC, die „wir regelmäßig hörten. Im Libanon und in Griechenland gab es damals nämlich englische Sender, so dass wir einen recht guten Empfang hatten. So waren wir ziemlich genau über die politische Situation informiert.“ Also über den deutschen Überfall auf Polen, den `Blitzkrieg´ im Westen, die Besetzung von Paris, über den Kriegseintritt Italiens und schließlich auch über den im Oktober 1940 begonnenen Feldzug gegen Griechenland. „Eine Eskalation, die sich auch auf Zypern auswirkte“, wie er hinzufügte, auch wenn die Insel vor der südöstlichen Küste der Türkei (noch) nicht akut bedroht war. Als dann aber die deutsche Wehrmacht im April 1941 in Griechenland einmarschierte, schellten alle Alarmglocken. Gleichwohl schien Fred Wohl nicht damit gerechnet zu haben, wie ernst es auch für die in Zypern lebenden Flüchtlinge wurde. Jedenfalls tauchten eines Tags – an das genaue Datum erinnerte er sich nicht mehr – britische Soldaten auf, nahmen ihn und seinen Vater fest und brachten sie in ein Internierungslager. „Das kam ziemlich überraschend und plötzlich, von einem Tag zum anderen und völlig ungeachtet, ob jemand eine Arbeit hatte oder nicht.“
In dem direkt neben dem Gefängnis von Nikosia aufgeschlagenen Lager, bestückt mit Militärzelten, waren nach seinen Erinnerungen bereits „ungefähr 200 Flüchtlinge, die meisten waren jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich“. Und es waren nur die Männer unter den Flüchtlingen, die man dorthin gebracht hatte. „Da saßen wir nun in der Hitze, hatten nichts zu tun und wussten zunächst nicht, was das alles bedeutete und was man mit uns vorhatte. Den Sinn dieser Internierung erfasste Fred Wohl aber schnell: „Es war ja Krieg, Weltkrieg, und deshalb war es nicht verwunderlich, dass die Engländer uns sagten: Wir wissen ja nicht, ob du ein feindlicher Ausländer bist oder nicht, wir müssen das erst überprüfen.“ Deshalb auch die strenge Bewachung der Internierten, die das Lager einstweilen nicht verlassen konnten. „Trotz allem: Wir wurden von den Engländern gut behandelt, bekamen auch genug Lebensmittel. Wir mussten die Mahlzeiten aber selbst zubereiten. „
Nach etwa drei Wochen wurden alle Lagerinsassen mit Bussen und Lastwagen an einen Ort irgendwo im Troodos-Gebirge gebracht und in ein leerstehendes Hotel untergebracht. Der alte Name lautete „Hotel Berengaria“, und es war bewacht wie das Lager in Nikosia. „Aber im Vergleich zu dem staubigen und öden Lager in Nikosia war das die reinste Erholung: kühles, gesundes Klima, wunderschöne Umgebung“, erzählte Fred Wohl. „Wir haben einige Wochen hier gelebt, bis die Engländer herausgefunden hatten, dass wir keine Feinde waren. Zunächst wurde mein Vater freigelassen, kurz daraufhin auch ich.“
Aber das `back home´ in Amiandos, wo Fred Wohl gleich wieder im Büro der Asbest-Mine zu arbeiten begann, war indes nur von kurzer Dauer. Anfang Juni 1941 kam ein Telegramm vom Britischen Gouverneur mit der Mitteilung, dass die auf Zypern lebenden Juden evakuiert werden sollten. Wer dabei sein will, müsse sich binnen drei Tagen bei einer Dienststelle in Nikosia einfinden. Eine Maßnahme, die eindeutig in Zusammenhang mit dem am 20.5. begonnenen deutschen Überfall auf Kreta stand. Da war zu befürchten, dass auch Zypern angegriffen werden könnte, zumal die Alliierten hier eine strategisch wichtige Militärbasis für den gesamten östlichen Mittelmeerraum unterhielten.[24] Deshalb wurden bereits zahlreiche britische Staatsangehörige, vor allem Frauen und Kinder, in Sicherheit gebracht und überwiegend in das Kolonialgebiet im südlichen Afrika gebracht. Laut Wohl auch eine Reihe von Offizieren und Soldaten der polnischen Armee, die sich nach der deutschen Okkupation Polens nach Zypern gerettet hatten. Und jetzt waren eben die jüdischen Flüchtlinge an der Reihe.
Angesichts dieser Eskalation zögerten die Wohls nicht, dem Evakuierungsaufruf der Briten zu folgen. „Meine Eltern verkauften daraufhin kurzfristig alles, was sie noch an Möbeln und Hausrat hatten. Wir wussten ja nicht, wohin mit den Möbeln und dem Hausrat, denn wir durften pro Person nur zwei Koffer mitnehmen – und diese durften nur so schwer sein, dass sie von einer Person getragen werden konnten.“
Aus dem Kreis der zu evakuierenden Flüchtlinge hatten die britischen Behörden drei Männer als Sprecher oder Unterhändler bestimmt. „Soweit ich mich erinnere, hießen sie Goldhammer, Kästenbaum und Dessauer“, so Fred Wohl. „Da ich gut englisch und griechisch sprach, bot ich mich an, Ihnen bei der Erstellung der Evakuierungslisten zu helfen. Sie nahmen mein Angebot an und so fing ich gleich an, die Listen zusammenzustellen.“[25] Es waren etwa 500 Personen: fast alle der einheimischen oder dorthin geflüchteten Juden – nur 10 bis 15 Leute wollten bleiben – sowie ein paar Dutzend Zyprioten. Nach Wohls Erinnerungen waren diese eher wohlhabende Leute, die „sich zur Emigration entschlossen, weil sie nicht auf einem von den Nazis okkupierten Zypern – so die verbreitete Befürchtung – leben wollten“. Zumal es unter den Inselgriechen so manche Sympathien für den Nationalsozialismus gab. Das hob ein Naziautor 1940 ausdrücklich hervor: In Zypern habe man „mit traurigen Blicken“ miterleben müssen, dass die hier herrschenden Briten überhaupt jüdische Flüchtlinge in das Land gelassen hatten – für griechische Zyprioten „umso unerträglicher“, da schon einmal die Juden von dieser Insel vertrieben worden seien.[26]
Nach ein paar Tagen Wartens wurde die ganze Gruppe mit Bussen von Nikosia nach Famagusta gebracht. In der Abenddämmerung bestieg sie dann ein Schiff. „Ein überraschend kleines Schiff“ und also „sehr beengt“, wie sich Fred Wohl erinnerte. Man habe dicht gedrängt auf dem Deck gestanden oder gesessen. Und noch immer „wussten wir alle nicht, wohin man uns bringen würde und was überhaupt mit uns passieren würde. Wir wurden angewiesen, auf das Schiff zu gehen und ansonsten keine Fragen zu stellen. Fragen, wohin die Reise gehen würde, wurden von den Vertretern der britischen Behörden oder der britischen Armee – aus welchen Gründen auch immer – nicht beantwortet.“ Deshalb sei die Stimmung unter den Flüchtlingen sehr bedrückt und von großer Unsicherheit geprägt gewesen.
Erst während der Überfahrt wurde den Passagieren das Ziel der Reise mitgeteilt: die Hafenstadt Jaffa in Palästina, die man nach einem nächtlichen „Zick-Zack-Kurs über das Mittelmeer“ schon am frühen Morgen erreichte. Aber Palästina war nicht das eigentliche Ziel, konnte auch nicht sein, da es zu jener Zeit einen Einwanderungsstopp gab. So stellten die Briten, die das Mandat über dieses Gebiet innehatten, „gleich zu Anfang unmissverständlich klar, dass wir in keinem Fall die Erlaubnis bekommen würden, im Mandatsgebiet zu bleiben. Unser Aufenthalt sei nur vorübergehend; in Kürze würde der Weitertransport der Flüchtlinge in ein anderes Land erfolgen.“
Ein Zwischenstopp in Palästina, aus dem fast ein halbes Jahr wurde
Gleich nach dem Anlegen des Schiffes wurden die Flüchtlinge mit Bussen nach Tel Aviv gebracht. „Die Busfahrt erfolgt noch bei Dunkelheit ohne Scheinwerfer und ohne Licht“, erzählte Fred Wohl. „Der Grund hierfür war, dass es in Haifa und Tel Aviv gerade Luftangriffe durch Kampfflugzeuge der deutschen und italienischen Luftwaffe gab.“ Es musste also einige Tage nach diesen Angriffen vom 10. und 12. Juni 1941 gewesen sein. „Wir wurden zunächst in Zelten untergebracht, die auf einem Gelände am Stadtrand von Tel Aviv aufgestellt worden waren. Ich erinnere mich, dass an diesem Lagerplatz Gräben ausgehoben wurden, die Schutz bei Luftangriffen geben sollten. Auch in den nächsten Tagen gab es nachts immer wieder Fliegeralarm. Bis zur Entwarnung mussten wir uns dann in den Gräben aufhalten.“
Nach kurzer Zeit wurde man einzeln auf jüdische Familien in Tel Aviv und Umgebung verteilt, aber auch dabei galt: Aufenthalt nur vorübergehend! Es bestünde keine Aussicht, sich in Palästina niederzulassen; man bekäme auch keine Arbeitserlaubnis. Allerdings hatte sich schon gleich nach Ankunft, wie Fred Wohl sich erinnerte, „ungefähr ein Drittel der Leute“ sich abgesetzt, da sie Verwandte oder Bekannte in Tel Aviv oder in anderen Gebieten Palästinas hatten, bei denen sie Unterschlupf finden konnten. Danach habe er diese „nie wieder gesehen:“ In den folgenden Wochen und Monaten schrumpfte die Gruppe der Zypern-Flüchtlinge, für die die Jewish Agency einen speziellen Stab eingerichtet hatte, immer weiter, so dass letztendlich, bei Weiterfahrt nach Afrika im November, nur rund 200 Leute – weniger als die Hälfte – übrig blieben.
Bis dahin unterstützte die Jewish Agency mit 2-wöchentlich ausgezahlten Geldbeträgen die Flüchtlinge. Aber es habe nicht gereicht, weshalb die Eltern die fast letzten Mitbringsel aus früheren Baden-Badener Zeiten – eine Briefmarkensammlung und etwas Silberbesteck – verkaufen mussten und Fred Wohl selbst „auch immer nach Gelegenheiten suchte, etwas Geld zu verdienen“, aber nur wenig erreichte. Während dieser Monate in Palästina blieben ihnen das orthodoxe Judentum und der Zionismus so fremd wie immer schon. Sie wollten hier nicht leben und warteten Woche für Woche auf den Weitertransport.
Der erfolgte schließlich Mitte November 1941. „Wir erhielten von der Jewish Agency die Instruktion, alle unsere Sachen zu packen. Wir sind dann mit dem Zug nach Kairo gefahren. Die Pläne bezüglich der weiteren Evakuierung besagten: Die eine Hälfte der Flüchtlinge sollte nach Nyassaland – das heutige Malawi – gebracht werden, die andere Hälfte nach Tanganyika. Beides waren britische Protektorate in Ostafrika.“ Nach einigen Tagen in Kairo ging es nach Port Twefik, an der Einmündung des Suez-Kanals in das Rote Meer, und an Bord des belgischen Schiffes „Leopoldville“. „Die Passagiere waren nicht nur jüdische Flüchtlinge, auch zahlreiche Soldaten und Offiziere aus England und aus den britischen Kolonien“, erzählte Fred Wohl. „Bei Nacht musste das Schiff vollständig verdunkelt werden, denn man fürchtete Luftangriffe der deutschen oder italienischen Streitkräfte. Als wir dann außerhalb der Reichweite der deutschen und italienischen Kampfflugzeuge waren, konnten die Vorsichtsmaßnahmen aufgehoben werden. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, als der Kapitän dies verkündete. Es war der 7. Dezember 1941. Einen Tag später hörten wir über Radio vom Angriff der Japaner auf die amerikanische Flotte in Pearl Harbour auf Hawaii. Nachdem diese Meldung eintraf, ordnete der Kapitän wieder die Verdunklungsmaßnahmen an. Ich sehe noch vor mir, wie verängstigt alle Passagiere waren. Insbesondere waren wir in Sorge, dass am südlichen Ausgang des Roten Meeres, in der Straße von Aden, ein japanisches Untersee-Boot auf uns warten und unser Schiff versenken könnte.“
Es passierte dann doch nichts, so dass man nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Monbasa sicher den Hafen von Dar es Salaam ansteuerte. Am letzten Tag an Bord, am 12. Dezember 1941, überreichten die Sprecher der Flüchtlingsgruppe – unterzeichnet von Dr. Kästenbaum und Dr. Weidmann – einen Brief an die zuständigen britischen Offiziere, in dem jenen die „Grundzüge für die Statuten der zu gründenden Organisation der Evakuierten von Cypern“ mitgeteilt wurden. Abschließend hieß es: „Wir benutzen diese Gelegenheit, um Ihnen anlässlich der Beendigung Ihrer Tätigkeit als Executive Officers im Namen der Abteilung, die uns zu ihren Vertretern gewählt haben, unser aller Dank und Anerkennung für alles auszusprechen, was Sie für die Evakuierten von Cypern geleistet haben. Es freut uns besonders feststellen zu können, dass unsere gemeinschaftliche freundliche Aussprache allen Missverständnissen den Boden entzogen hat, und wir bitten Sie um Bestätigung des vorliegenden Schreibens.“ [27]
Fred Wohl, der nach fünf Jahren Ostafrika in die USA emigrierte und hier heimisch wurde, war zeitlebens dankbar für das Engagement der Briten. „Die haben uns das Überleben ermöglicht.“ Seine Großmutter Auguste Wohl aus Leobschütz schaffte es nicht. Sie wurde 1941 im KZ Theresienstadt ermordet.
Autor: Dr. Niko Ewers
Literatur
Fleischer, Hagen: „Griechenland: Das bestrittene Phänomen“, in: Vorurteile und Rassenhass. Antisemitismus in den faschistischen Bewegungen Europas, hrsg. v. H. Graml u.a., Berlin 2001
Gaitanides, Hans: „Neues Griechenland“, Berlin 1940
Lacina, Evelyn: Emigration 1933-1945, Stuttgart 1982
Neumark, Fritz: „Flucht am Bosporus“, Frankfurt 1980
Spengler-Axiopoulos, Barbara: „`Wenn ihr den Juden helft, kämpft ihr gegen die Besatzer´. Der Untergang der griechischen Juden“, in: Solidarität und Hilfe für die Juden während der NS-Zeit. Regionalstudien 1, hrsg. v. W. Benz / J. Wetzel, Berlin 1996
Stephens, Robert: Cyprus. A place of arms, London 1966
Wohl, Fred R.: „Lebensgeschichte eines deutschen Juden in Amerika“, Essen / Bielefeld / Washington 2002, 88 S. mit Anhang (unveröff. Ms.)
Wohl, Fred R.: „Athener Flüchtlingsleben“. Kopie des Manuskripts im Besitz des Autors.
Ziebarth, Erich: „Zypern. Griechen unter britischer Herrschaft“, Berlin 1940
Anmerkungen
[1] Fred R. Wohl. Lebensgeschichte eines deutschen Juden in Amerika“, Essen / Bielefeld / Washington 2002, 88 S. mit Anhang (unveröff. Ms.)
[2] „Am Rande Europas: Eindrücke aus Athen“, Frühjahr 1936. Abschrift in „Lebensgeschichte“, S. 14-16
[3] Dagegen Evelyn Lacina: „Emigration 1933-1945“, Stuttgart 1982, S. 381: „Griechenland war für die Emigration ohne Bedeutung, obgleich einige wenige Emigranten dorthin versprengt wurden.“
[4] Fred R. Wohl: „Athener Flüchtlingsleben“. Kopie des Manuskripts im Besitz des Autors.
[5] Also keine Prominenten wie der Wirtschaftswissenschaftler Fritz Neumark, der seine Exiljahre in der Türkei verbrachte und später darüber ein Buch veröffentlicht hatte: „Flucht am Bosporus“, Frankfurt 1980.
[6] Barbara Spengler-Axiopoulos: „`Wenn ihr den Juden helft, kämpft ihr gegen die Besatzer´. Der Untergang der griechischen Juden“, in: Solidarität und Hilfe für die Juden während der NS-Zeit. Regionalstudien 1, hrsg. v. W. Benz / J. Wetzel, Berlin 1996, S. 142
[7] Vgl. B. Spengler-Axiopoulos, a.a.O., S. 139 ff; Hagen Fleischer: „Griechenland: Das bestrittene Phänomen“, in: Vorurteile und Rassenhass. Antisemitismus in den faschistischen Bewegungen Europas, hrsg. v. H. Graml u.a., Berlin 2001, S. 208 ff;
[8] H. Fleischer, a.a.O., S. 213
[9] H. Fleischer, a.a.O., S. 217f
[10] Zum Beispiel bei Hans Gaitanides: „Neues Griechenland“, Berlin 1940, S. 128ff
[11] H. Fleischer, a.a.O., S. 218
[12] H. Gaitanides, a.a.O., S. 83
[13] B. Spengler-Axiopoulos, a.a.O., S. 141
[14] H. Fleischer, a.a.O., S. 218
[15] Das „kontrollierte“ bezieht sich auf eine Weisung der Athener Zensurbehörde, alle importierten Presseorgane vor Auslieferung an die Abonnenten bzw. die Geschäfte nach etwaigen kritischen Bemerkungen über das griechische Königshaus durchzusehen.
[16] „Was nützt dem Flüchtling das Mitleid?“ Artikel von F. Richard = Fred W. Wohl, 1939. Abschrift in: „Lebensgeschichte“, S. 25-28
[17] F. Neumark, a.a.O., S. 210f. Hinweise zu den Flüchtlingsausweisungen der Türkei finde sich auch in: „Das Exil der kleinen Leute“, hrsg. v. W. Benz, Frankfurt 1991 (Dietrich Gronau); „Die Heimat wurde ihnen fremd, die Fremde nicht zur Heimat. Erinnerungen österreichischer Juden aus dem Exil“, hrsg. v. Adi Wimmer, Wien 1993 (Herbert Anderson).
[18] Dokumentiert in der Website: www.ns-archiv.de/verfolgung/auswanderung/aussenamt.shtml
[19] H. Gaitanides, a.a.O., S. 83
[20] Einst Teil des Osmanischen Reichs fiel die Insel Zypern 1878 an Großbritannien, die es 1914 formell annektierte und 1925 zur Kronkolonie erhob.
[21] Siehe Fußnote 16
[22] Gemeint ist die von US-Präsident Roosevelt initiierte Internationale Flüchtlingskonferenz in Evian am Genfer See im Juli 1938. Ungeachtet grundsätzlicher Solidarität mit den verfolgten Juden wies jeder der teilnehmenden Staaten darauf hin, dass man nicht noch mehr Flüchtlinge aufnehmen könne. Dementsprechend beinhaltete die Resolution keinerlei Verpflichtungen zur Flüchtlingsaufnahme. Hämischer Kommentar im `Völkischen Beobachter´ (13.7.1938): „Niemand will sie“.
[23] Formal gab es einen griechischen Zweig der NSDAP nicht, sehr wohl aber Auslandsorganisationen wie in anderen Ländern auch.
[24] Dazu z.B. Robert Stephens: „Cyprus. A place of arms“, London 1966, S. 118ff
[25] Die Evakuierungsliste war lange Zeit im Besitz von Fred Wohl, ehe er sie dem Holocaust Museum in Washington übergeben hat.
[26] Erich Ziebarth: „Zypern. Griechen unter britischer Herrschaft“, Berlin 1940, S. 38
[27] Faksimile in „Lebensgeschichte“, S. 46