Eines der populärsten Zitate des britischen Linguisten und Schriftstellers John Ronald Reuel Tolkien (1892 – 1973) lautet: „Evil cannot create anything new, they can only corrupt and ruin what good forces have invented or made.“ („Böses kann nichts Neues hervorbringen, sondern nur korrumpieren und zerstören, was gute Kräfte erfunden oder geschaffen haben.“) Wie viel Wahres darin steckt, zeigt sich in der Ideologie der Nationalsozialisten, die abgesehen von ihrem Hass nichts beinhaltete, was von den Nazis selber stammte. Sie nahmen Ideale der politischen Linken, Symbole anderer Kulturkreise, alte Mythen und Legenden und reicherten sie mit Nationalismus, Antisemitismus, Fanatismus und Gewalt an. Eine große Rolle spielten hierbei auch okkulte Lehren, die durchaus einen weiten Weg gekommen waren von relativ harmlosen pseudoreligiösen Ideen und althergebrachten Mythen hin zu über die Jahre immer mehr mit Rassismus und kruden Wahnideen versetzten Glaubensvorstellungen, Symbolen und Ritualen. Den Anfang nahm diese Entwicklung im 19. Jahrhundert mit der modernen Theosophie (von griechisch θεοσοφία theosophía = „göttliche Weisheit“), welche von der ursprünglichen Theosophie unterschieden werden muss.
Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891) begründete die moderne Theosophie, einen Versuch, ähnlich der Gnosis der Antike einen Konsens aller bestehenden Religionen auf Grundlage rationaler Analysen der religiösen Quellen zu entwickeln. So die Theorie. In der Praxis gab Blavatsky dann jedoch an, eine göttliche Eingebung und Visionen gehabt zu haben, welche sie zu ihrem Lehrmeister Morya in Tibet führten. Morya, dessen Existenz sich nie belegen ließ, soll Blavatsky gesagt haben, sie sei zur Verbreitung einer geheimen Lehre auserwählt. Der Begriff der „Wurzelrassen“ wurde zwar erst von Alfred Percy Sinnett (1840 – 1921) in die Theosophie eingeführt, das Grundkonstrukt stammt jedoch von Blavatsky:
Grob zusammengefasst, glaubte sie, dass die Menschheit sieben Entwicklungsstufen durchlaufe, sieben Rassen, deren Zivilisationen entstehen und untergehen und so für die nächste Platz machen. Die erste oder polarische Wurzelrasse seien ätherische Wesen vom Mond gewesen, eher mit Engeln zu vergleichen. Die zweite Rasse habe auf dem Kontinent Hyperborea gelebt und habe den ersten Versuch der Vereinigung der ätherischen Wesen und physischer Körper dargestellt. Das Ergebnis wären tumbe, missgestaltete Riesen gewesen, die durch eine Sintflut untergegangen wären – man könnte hier Parallelen zum Nephilim-Mythos der Genesis sehen. Aus dem Schweiß der Hyperboräer entstanden die Lemurier, gestählte, hochgewachsene Menschen von gottgleicher Schönheit, die sich zunächst ohne individuelles Ich-Bewusstsein durch Eier fortpflanzten und erst später Individualität und Sexualität entwickelten. Erst nach dem Sündenfall sei aus den wenig reingebliebenen Abkömmlingen der dritten die vierte Wurzelrasse entstanden, die auf Atlantis angesiedelt war und in Gestalt und Bewusstsein als erste den heutigen Menschen entsprach. Die dunkelhäutigen Überlebenden des Untergangs von Atlantis hätten sich in Afrika angesiedelt. Die fünfte Wurzelrasse sei vor etwa 1 Million Jahre in Asien entstanden, habe sich aber in Indien und Europa angesiedelt: die Arier, zu denen Blavatsky anfangs die Juden noch dazuzählte. Die Semiten seien späteren Texten zufolge die am wenigsten entwickelte Rasse. Die Juden wären demnach ein Mischvolk ohne eigene Kultur. In Zukunft sollen noch zwei weitere Rassen folgen. Warum die Lehren Blavatskys aber eine wesentliche Rolle für die Rassenvorstellungen der Nazis spielten, dürfte nun recht naheliegend sein.
Die Ariosophie, die dann wirklich einen Herrschaftsanspruch der angeblich überlegenen Arier über vermeintlich minderwertige Völker aufstellte, entstand jedoch erst später aus der Theosophie. Wichtigste Wegbereiter waren Guido von List (1848 – 1919; eigentlich: Guido Karl Anton List) und dessen Schüler Jörg Lanz von Liebenfels (1874 – 1954; eigentlich: Adolf Joseph Lanz). List war besessen von nordischer und germanischer Mythologie und verband nun die Wurzelrassenlehre Blavatskys mit dem Glauben an die germanischen Götter. Er nannte die Lehre nach dem Göttervater Wotan (Odin) „Wuotanismus“. Die Arier in Lists Vorstellungen waren deshalb die Germanen und die Nicht-Arier (also alle anderen) waren die minderwertigen Überlebenden der Atlantier. List lehnte die Entwicklungen seiner Zeit ab und wollte, wie es für die deutsche Romantik typisch war, zurück zur Natur. Dieser Naturverbundenheit entspräche die Zugehörigkeit zu einer Rasse. Die Idee, dass Menschen sich wie Tiere nur mit „Genossen paaren“ sollten, griff Adolf Hitler (1889 – 1945) später in „Mein Kampf“ auf und verlor sich dabei in einer Akkumulation von Tierbeispielen. List schilderte in seinem Buch „Die Armanenschaft der Ario-Germanen“ auch, wie eine „Zuchtwahl“ der „Herrenmenschen“ der „rassischen Degeneration“ entgegenwirken solle. 1911 gründete er hierzu den Hohe Armanen Orden. Armanen waren laut List die Priesterkönige der Teutonen, die bei Tacitus (58 – 120) als Herminones beschrieben wurden, da aber einen Stamm und keine gesellschaftliche Klasse darstellten. Das Wissen der Armanen sei durch Geheimbünde wie Freimaurer, Templer und Rosenkreuzer, aber auch Kabbalisten weiter getragen worden. List prophezeite bereits das Erscheinen eines „Führers“ der Germanen. Auch das Hakenkreuz findet im Umkreis Lists bereits Verwendung. Der 1900 von Lists Schüler Liebenfels gegründete Neutemplerorden nutzte ein rotes Hakenkreuz auf goldenem Grund umrandet von vier blauen Lilien als Flagge.
Rudolf von Sebottendorf (1875 – 1945; eigentlich: Adam Alfred Rudolf Glauer) griff die Ideen des Neutemplerordens auf, ergänzte sie aber um seinen Glauben an eine „jüdische Weltverschwörung“, wegen dem er sich dem antisemitischen Geheimbund Germanenorden annäherte und auf Basis von dessen Münchener Ortsgruppe die Thule-Gesellschaft gründete, die im Wappen nun ein abgerundetes Hakenkreuz verwendete. Unter dem Deckmantel, sich mit Okkultismus und Traditionspflege zu befassen, kamen in der Thule-Gesellschaft zahlreiche Antisemiten der Münchener Gesellschaft zusammen, deren erklärte Ziele die Errichtung einer Diktatur und die Tilgung aller Juden aus dem Deutschen Reich waren. Sebottendorf war Chefredakteur des „Völkischen Beobachters“ und beauftragte dessen Sportredakteur Karl Harrer (1890 – 1926) mit der Gründung eines „Freien Arbeiterausschuß“, aus dem die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) erwachsen sollte, die später durch den Einfluss Hitlers zur Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) wurde. Zum Dunstkreis der Thule-Gesellschaft gehörten Hitlers Mentor Dietrich Eckart (1868 – 1923), DAP-Gründungsmitglied Gottfried Feder (1883 – 1941), NS-Chefideologe Alfred Rosenberg (1893 – 1946) und Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß (1894 – 1987).
Ein Mitglied der Thule-Gesellschaft und Freund von Liebenfels und Eckart war Rudolf John Gorsleben (1883 – 1930; eigentlich: Rudolf John), der die Edda-Gesellschaft gründete. Er legte den Schwerpunkt wieder mehr auf die nordische Mythologie. Edda-Gesellschaft und Thule-Gesellschaft hatten ein Mitglied gemein, dass am Ende die okkultistischen Lehren in die Praxis des NS-Kults einfließen ließ: Karl Maria Wiligut (1866 – 1946). Der war nach seiner Entlassung aus der Nervenheilanstalt, in der er gelandet war, weil er behauptet hatte, selbst einer der letzten Überlebenden des untergegangenen Atlantis zu sein, der nun als Mittler die geheimen Lehren verbreiten solle, aus Österreich ins Deutsche Reich geflohen. 1933 traf Wiligut auf den Reichsführer SS Heinrich Himmler (1900 – 1945), der Wiligut zu seinem Berater in allen okkulten und mythischen Fragen machte. Wiligut entwickelte auf Basis heidnischer Bräuche Rituale für die Schutzstaffel (SS), war an der Gestaltung der Ordensburg Wewelsburg und der SS-Insignien wie Runen-Symbolen und Totenkopf maßgeblich beteiligt und führte zusätzlich zu der Ariosophie den Glauben an Irmin, eine lokale Variation des nordischen Gottes Tyr aus Sachsen, als interne Religion in die SS ein. Als Hitler dem Okkultismus öffentlich eine Absage erteilte, wurde Wiligut der Austritt aus der SS nahegelegt, zumal er auch durch Medikamenten- und Alkoholmissbrauch unangenehm aufgefallen war. Ob Hitler, der selbst einen Hang zur Verehrung nordischer und germanischer Heldensagen und Mythen hatte, dem Okkultismus aus Überzeugung abschwörte oder schlicht, weil viele Inhalte der ariosophischen Lehre, obwohl diese klar die Vorlage für die Rassenlehren der Nazis bildete, dem Volk schwer zu vermitteln gewesen wären, wird wohl nie abschließend geklärt werden können. Viele obskure Rituale pflegte auch Hitler, etwa die Verehrung der Blutfahne, einer Hakenkreuzflagge, die beim Hitler-Ludendorff-Putsch 1923 mit dem Blut von drei beim Putsch erschossenen SA-Männern getränkt worden sein sollte, als Reliquie der Bewegung. Himmler aber war vom Okkultismus besessen und hielt so nicht nur weiter Kontakt zu Wiligut und ließ sich von diesem beraten, sondern unterhielt etwa eine Sonderabteilung in der SS, die mit der Suche nach dem Heiligen Gral betraut war. Diese leitete bis zu seinem Tod SS-Obersturmführer Otto Rahn (1904 – 1939). Der griff auch eine andere Idee Blavatskys wieder auf und versuchte angelehnt an die gnostische Strömung der Katharer, die Figur Luzifers positiv zu deuten. Dabei ging er jedoch vor allem auf die Bedeutung des Namens „Lichtbringer“ ein und nicht etwa auf den Umstand, dass die Gleichsetzung Lucifers mit Satan erst im Mittelalter basierend auf einem Übersetzungsfehler des Buches Jesaja entstand. Überhaupt sollte man abschließend hinsichtlich der Verwendung nordischer Götter wie Tyr (Teiwaz) und Odin (Wotan), biblischer Figuren wie Helel (Lucifer) und alter Symbole wie Runen und Hakenkreuz/Swastika festhalten, dass man diese nicht wegen ihres Missbrauchs durch die Nazis und deren geistige Vorgänger nachträglich ins Negative umdeuten sollte. Gleiches gilt für religiöse Strömungen wie Gnostiker und Katharer, bei denen sich Okkultisten bedienten und aus ihnen ihre kruden Ideologien zimmerten.