Rudolf John Gorsleben: der deutschnationale Übersetzer der Edda und Ideengeber für die SS
Auch wenn Adolf Hitler (1889 – 1945) selbst leugnete, Inspiration aus Kreisen wie Thule-Gesellschaft und Neutemplerorden gezogen zu haben und diese Geheimbünde verspottete, sind die Parallelen zwischen Ariosophie und nationalsozialistischer Rassenlehre nur schwer zu leugnen. Gerade in Kreisen der SS war das Interesse am Okkulten groß. Ein einflussreicher Vordenker der SS-Ideologen, der trotz seiner Übersetzungsarbeit erst nach seinem Tod wirkliche Beachtung fand, war Rudolf John Gorsleben (1883 – 1930), der eigentlich Rudolf John hieß und keinerlei erkennbare Berührungspunkte zur Ortschaft Gorsleben südlich des Harzes zu haben schien.
Rudolf John wurde am 16. März 1883 in Metz geboren und wuchs in Elsaß-Lothringen auf. Vor dem Ersten Weltkrieg ging er nach München, um sich als Bühnenautor zu versuchen. Sein Stück „Der Rastaquär“ wurde 1913 auch für kurze Zeit aufgeführt. Sein Geld verdiente er als Journalist und gab eine Flugblattzeitschrift mit dem Titel „Allgemeine Flugblätter Deutscher Nation“ heraus. Wie der Name schon vermuten lässt, war diese völkisch-nationalistisch und alldeutsch ausgerichtet. Als überzeugter Nationalist meldete sich John bei Kriegsausbruch 1914 freiwillig bei einem bayerischen Regiment und kämpfte zunächst zwei Jahre an der Westfront, ehe er zu einer Einheit, die die osmanische Armee unterstützte, wechselte. In den vier Jahren des Ersten Weltkriegs stieg John zum Leutnant auf. Der Leiter des 1919 ins Leben gerufenen Reichswehrkommandos 4 Propagandaabteilung Ib/P, der Nachrichten-, Presse- und Propagandaabteilung zur „politischen Aufklärung“ der Truppe, Hauptmann Karl Mayr (1883 – 1945) warb John in Abstimmung mit DAP-Mitbegründer Gottfried Feder (1883 – 1941) und dem nationalistischen Historiker Karl Alexander von Müller (1882 – 1964) als politischen Lehrer für die Soldaten an.
John kehrte nach München zurück, wo er die Bekanntschaft von Dietrich Eckart (1868 – 1923) machte, mit dem zusammen er im April 1919 von Mitgliedern der kommunistischen Münchener Räterepublik als Geisel festgenommen wurde. Eckarts Wortgewandtheit bewahrte die beiden Männer vor der Exekution. Eckart führte John aber auch in die okkultistische und völkisch-nationalistische Thule-Gesellschaft ein, in der Eckart selbst wohl nie Mitglied war, der sich John hingegen anschloss. Er hielt hier am 28. Dezember 1920 auch einen Vortrag über den „arischen Menschen“.
Im Juni 1921 wurde John Gauleiter des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbunds in Südbayern. Beim Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund handelte es sich um eine nationalistische und antisemitische Vereinigung, der Verwicklungen in Fememorde und Attentate auf politische Gegner nachgesagt und in manchen Fällen sogar nachgewiesen wurden. Der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund war in seinen Anfangsjahren eng mit der NSDAP verbandelt und nutzte auch das Hakenkreuz als Symbol. Bekannte Mitglieder neben John und Eckart waren etwa der spätere Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti (1900 – 1945), der spätere Organisator der „Endlösung der Judenfrage“ und SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich (1904 – 1942), der spätere Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Fritz Sauckel (1894 – 1946) und der wohl hervorstechendste Propagandist und Hetzer der NS-Bewegung Julius Streicher (1885 – 1946). John zog die Mitgliedschaft bald in Parteistreitigkeiten und eine Allianz mit Streicher hinein, was 1922 zu seiner Absetzung durch die Bundesleitung führte. Streicher war selbst für Verhältnisse der Nationalsozialisten ein besonders vulgärer und hasserfüllter Hetzer, der sich mit obszönen Geschichten über „Rassenschande“ profilierte und einmal selbst Hitler öffentlich angriff, weil dieser in Streichers Augen nicht in ausreichendem Maße gegen die Juden vorginge. Als die parteiinternen Streitigkeiten auch nach Johns Absetzung anhielten, entschied dieser sich zu einem Rückzug aus der Politik und widmete sich nun seiner wahren Leidenschaft: der ideologischen und literarischen Forschung im Bereich der Edda und der Runenkunde, was auch mit einem gesteigerten Interesse an der Ariosophie einhergehen sollte. Er hatte bereits 1920 die Edda ins Hochdeutsche übersetzt. Die Gorsleben-Edda wurde etwa von Mathilde Ludendorff (1877 -1966) rezipiert, die ihren Mann General Erich Friedrich Wilhelm Ludendorff (1865 – 1937) in seinem völkischen Wahn noch bestärkte und in vielen Punkten übertraf.
John zog nach Dinkelsbühl und begann nun erst recht, überall Runen zu sehen – etwa in Fachwerken, weshalb er dazu auch gleich ein Buch verfasste, das jedoch erst 1928 erscheinen sollte: „Das Geheimnis von Dinkelsbühl“. Als Journalist übernahm er 1926 ein Münchener Wochenblatt, das er mehrmals umbenannte: nach der Übernahme in „Deutsche Freiheit“, dann in „Arische Freiheit“ und zu guter Letzt in „Hagal“ – wohl in Bezug auf die Rune Hagalaz (ᚺ). Mit der Ariosophie kam er durch seinen Freund Jörg Lanz von Liebenfels (1874 – 1954; eigentlich: Adolf Joseph Lanz), den Begründer des Neutemplerordens und Schüler des Ariosophiebegründers Guido von List (1848 – 1919), in Kontakt. John war auch Mitglied im Neutemplerorden und der Guido-von-List-Gesellschaft. Während List die Wahrheit in Runen, Kabbala und Alchemie suchte und sich bei Tacitus (58 – 120) und Helena Petrovna Blavatsky (1831–1891) bediente, sich viele Teile seiner Ideologie aber auch selbst zurecht fantasiert hatte und Lanz antike Schriftsteller und die Bibel zurate gezogen hatte, war John davon überzeugt, dass in der Edda, die laut ihm aus Atlantis stammte, der Bibel und den Veden die uralten arischen Geheimlehren verborgen wären. Am 29. November 1925 gründete John daher in Dinkelsbühl die Edda-Gesellschaft, die zunächst mehr eine Art Lesezirkel um Johns Edda-Übersetzung war. John selbst stand den mehreren hundert Mitgliedern als Kanzler vor. Wirklich von Bedeutung war der religiöse Verbund zu Lebzeiten Johns nicht. Dieser starb am 23. August 1930 an einer chronischen Herzerkrankung.
Erst mit der Übernahme durch Werner von Bülow (1889 – 1943, und ja, entfernt verwandt mit Bernhard-Viktor Christoph-Carl von Bülow (1923 – 2011), besser bekannt als Loriot) nach Johns Tod gewann die Edda-Gesellschaft an Einfluss. „Hagal“, deren Schriftsetzer von Bülow schon 1929 geworden war, war zu diesem Zeitpunkt der publizistische Arm der Edda-Gesellschaft und diente dem Bund nun als Eintrittskarte in die Kreise der SS. Von Bülow wanzte sich an Heinrich Himmlers (1900 – 1945) persönlichen Okkultismusberater Karl Maria Wiligut (1866 – 1946) heran, der in SS-Kreisen, darunter der Reichsführer SS Heinrich Himmler selbst und SS-Obergruppenführer Walther Darré (1895 – 1953), die Werbetrommel für die „Hagal“ rührte, woraufhin eine ganze Reihe SS-Männer der Edda-Gesellschaft beitraten. Dadurch fanden die Lehren von Rudolf John Gorsleben nun doch den Weg in NS-Kreise und dürften diesen wegen ihrer Berufung auf die Edda wohl etwas mehr zugesagt haben als etwa die Veröffentlichungen von Lanz von Liebenfels oder von Sebottendorf, die sich beide als Ideengeber Hitlers inszenierten, aber mit ihren okkultistischen Lehren nicht mehr zum Anstrich der NSDAP, wie sie sich nach außen geben wollte, passten. Der okkultismusbegeisterte Himmler dürfte auch an ihnen interessiert gewesen sein, Hitler hingegen dementierte eine Verbindung zu jenen Kreisen.