Jörg Lanz von Liebenfels und die okkultistischen Wurzeln des nationalsozialistischen Rassenwahns
Zu einer Zeit, als sich die Nationalsozialisten noch großer Beliebtheit erfreuten, gab es eine Reihe von Personen, die sich selbst gerne zu den Ideengebern Adolf Hitlers (1889 – 1945) erklärten: Dietrich Eckart (1868 – 1923), Rudolf von Sebottendorf (1875 – 1945; eigentlich: Adam Alfred Rudolf Glauer) und Jörg Lanz von Liebenfels (1874 – 1954; eigentlich: Adolf Joseph Lanz), ein Schüler von Guido von List (1848 – 1919; eigentlich: Guido Karl Anton List), dem Begründer der Ariosophie. Wo genau Hitler seine Ideen her hatte, ist heute nur schwer nachzuhalten. Eckart ist gemeinhin als Mentor des Diktators anerkannt, aber von Sebottendorf und von Liebenfels beanspruchten den Ruf besonders vehement für sich. In der Tat ist ein Einfluss der Ariosophie von von Liebenfels Mentor List auf die nationalsozialistische Ideologie recht wahrscheinlich, tauchten doch hier schon Rassenlehre und Symbole der Nazis auf. Andererseits waren von Liebenfels und auch von Sebottendorf Hochstapler, die gerne mal ein wenig übertrieben, wenn es um ihre eigenen Verdienste und Leistungen ging.
Adolf Lanz wurde am 19. Juli 1874 in Wien als Sohn des Lehrers Johann Lanz und dessen Frau Katharina Lanz (geb. Hoffenreich) geboren und wuchs streng römisch-katholisch erzogen auf. Wie sein späterer Mentor List war Lanz schon in jungen Jahren der Romantik und der Welt des Spirituellen zugetan. Anders als List brach er jedoch bei allem Interesse für Esoterik nicht mit seiner katholischen Erziehung, hatte er doch eine romantisierte Vorstellung von der Welt von Ordensgemeinschaften und trat daher nach seiner Matura 1893 unter dem Ordensnamen Bruder Georg in den Zisterzienserorden ein. Im Zisterzienserkloster Heiligenkreuz im Wienerwald wurde der antisemitische Professor für Altes Testament und orientalische Sprachen, Nivard Schlögl (1864 – 1939), Lanz‘ Novizenmeister. Schon als Novize tat sich Lanz als Experte für die österreichische Historie, aber auch die Geschichte seines Ordens, besonders des eigenen Stifts hervor. Ab 1894 verfasste er so über dreißig Abhandlungen im Bereich Geschichte und Kunstgeschichte, von denen einige in wissenschaftlich anerkannten Zeitschriften wie „Berichte und Mittheilungen des Alterthums-Vereines zu Wien“ und „Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige“ publiziert wurden. Lanz befasste sich aber auch damals schon mit dem Gralsmythos, Pseudowissenschaften wie Astrologie und vom Katholizismus abweichenden Glaubensvorstellungen wie Neopaganismus und Okkultismus. Neben den Schriften des Ariosophen List beeinflussten Lanz vor allem die des Alldeutschenführers Georg von Schönerer (1842 – 1921), wodurch Lanz sich zunehmend zum deutschnationalen Eugeniker entwickelte.
Ein Jahr nach seiner Priesterweihe 1898 wurde Lanz dazu aufgefordert, den Orden zu verlassen. Laut Stiftsarchiv (in lateinischer Sprache verfasst) sei Lanz „der Lüge der Welt ergeben und von fleischlicher Liebe erfasst.“ Lanz selbst behauptete hingegen später, er habe den Orden im April 1899 verlassen, weil er unter „steigender Nervosität“ litt und sich sein auch sonst angegriffener Gesundheitszustand zunehmend verschlechtert habe. Statt Georg nannte Lanz sich nun Jörg, da es deutscher klinge und führte ab 1902, ohne je promoviert zu haben, einen Doktortitel. Lanz Geldquellen aus dieser Zeit sind nicht geklärt, aber er hatte eine recht schaffensreiche Phase, in der er etliche Erfindungen patentieren ließ und zahlreiche Artikel veröffentlichte, in denen er gegen den Einfluss der Jesuiten innerhalb der römisch-katholischen Kirche, später aber gegen den gesamten Klerus wetterte. Überdies schrieb er für die antisemitische Zeitschrift „Der Hammer“ von Theodor Fritsch (1852 -1933).
Hinzukamen vermeintlich wissenschaftliche Artikel in den Fachbereichen Anthropologie, Archäologie und Frühgeschichte, bei denen es sich in Wahrehit um Rechtfertigungen für seine Rassenlehre handelte. Grundlage hierfür dürfte die Lektüre zeitgenössischer „anthropologischer“ Literatur gewesen sein, die die Lehre von einer arischen Herrenrasse wie von List verbreitet propagierte: „Origines Ariacae“ von Karl Penka (1847 -1912), „Die Heimat der Indogermanen“ von Matthäus Much (1832 – 1909) und „Die Germanen“ von Ludwig Wilser (1850 – 1923). Lanz, Hochstapler, der er war, gab aber an, selbst aufgrund einer Epiphanie zu seinen Lehren gekommen zu sein, für deren Verbreitung er Weihnachten 1900 den Neutemplerorden oder Ordo Novi Templi (ONT) gegründet hatte, einen zur Verschwiegenheit verpflichteten Männerbund Gleichgesinnter, also deutsch-nationaler Rassisten mit Weltmachtsambitionen. Die Mitglieder waren demnach ausschließlich männliche Angehörige der „arioheroischen“ Rasse, die sich ab 1907 in der von Lanz erworbenen Burgruine Werfenstein zu kultischen Treffen einfanden, bei denen sie ihren rassistischen Vorstellungen folgende Schönheitswettbewerbe abhielten und sich mit Heraldik beschäftigten. Folglich hatte der Neutemplerorden auch eine eigene Flagge: Rotes Hakenkreuz auf goldenem Grund, eingerahmt von vier blauen Lilien. Das Programm des Neutemplerordens publizierte Lanz aller Verschwiegenheit zum Trotz in seiner seit 1905 erscheinenden Zeitschrift Ostara, welche auch das Hakenkreuzsymbol verwendete und im Großen und Ganzen Lanz‘ Lehren publizierte:
Nach Lanz‘ Darstellung habe sich Lanz die Ordnung der Welt bei der Betrachtung eines Grabsteins im Jahre 1894 erschlossen: Ein Ritter rang darauf einen Hundsaffen nieder. Lanz hatte eine Vision, durch die sich ihm offenbarte, dass der blonde Ritter der „Herrenmensch“ wäre, der den bösen und „minderrassigen“ Menschen, den er in dem Hundsaffen sah, zu übermannen hätte. Die Germanen oder Arier wären laut Lanz aber längst durch Vermischung mit anderen Rassen geschwächt und es bedürfe umfassender „rassenhygienischer“ Maßnahmen, um die Arier wieder zu ihrer „Reinform“ zurückzuzüchten. Für diese „Reinzucht“ und „Veredlung“ bedürfe es der bedingungslosen Unterordnung der arischen Frau unter den arischen Mann. Eine These, die auch Hitler in „Mein Kampf“ vertrat. Den Begriff „Arier“ entlehnte er dabei der theosophischen Wurzelrassenlehre, die allerdings anders als die Lehren von List und Lanz von Liebenfels nicht nationalistisch gebunden war. In der Ausformung seiner Theozoologie ging Lanz aber noch einen ganzen Schritt weiter als selbst Hitler oder List: Bezug nehmend auf die Schilderungen antiker Autoren wie Hēródotos von Halikarnassos (490 – 430 v. Chr.), Euhḗmeros von Messana (um 300 v. Chr.) und Ploútarchos (45 – 125) entwickelte er die in der Artikelserie „Anthropozoon biblicum“ 1903/04 publizierte These der Theozoologie, wonach in antiken Zivilisationen bei kultischen Veranstaltungen Zoophilie (oder, wie man es zu Lanz‘ Zeiten nannte, Sodomie), also Sexualverkehr mit Tieren praktiziert worden sei. Diese steile Behauptung vermischte er dann mit dem Alten Testament und erklärte, der wahre Sündenfall sei die Vermischung der gottgleichen Arier mit Tieren gewesen, woraus minderwertige Menschenrassen entstanden wären, die nun die Vorherrschaft der Arier, derer es im deutschsprachigen Raum im globalen Vergleich am meisten gäbe, bedrohen würden.
1905 folgte Lanz‘ Buch „Die Theozoologie oder die Kunde von den Sodoms-Äfflingen und dem Götter-Elektron“, das einige Bibelpassagen, Apokryphen und gnostische Schriften ebenso wie den damaligen naturwissenschaftlichen Forschungsstand und Werke von Wilhelm Bölsche (1861 – 1939) zweckentfremdete und aus ihnen die These entwickelte, dass frühere Menschen, die er Theozoa oder Gottmenschen nannte, von göttlicher Natur gewesen wären. Sie hätten elektrische Sinnesorgane besessen, mit denen sie miteinander über elektrische Signale kommunizierten. Sie seien daher allwissende Telepathen gewesen. Gegenstück zu den Theozoa seien die Anthropozoa oder „Äfflinge“ gewesen, deren Stammvater der biblische Adam war, wohingegen Jesus einer der letzten reinrassigen Theozoa gewesen wäre. Heutige Menschen seien nämlich aus der Vermischung beider Arten entstanden, vor der das Alte Testament habe warnen wollen. Dass diesem vermeintlichen Hauptzweck der Heiligen Schrift zum Trotz die bis zu Adam rückverfolgbare Ahnenreihe Jesus in der Bibel steht, dürfte Lanz von Liebenfels als ehemaligem Priester bewusst gewesen sein. Doch laut ihm sei die Reinhaltung der Rasse und insbesondere der der Arier, in denen das göttliche Erbe der Theozoa noch am stärksten vertreten sei, der eigentliche Zweck der Religion. Dazu mischten sich Lanz‘ Misogynie und seine Pläne zur Eugenik: So wollte er eine strikte Rassentrennung und ein gezieltes Zuchtprogramm zur Rückzüchtung der Arier zu den Theozoa, bei dem germanische Helden mit einem Zeugungsvorrecht in arischen Reinzuchtkolonien die nordischen Zuchtmütter beschlafen sollten, damit die eine neue Generation von Gottmenschen zur Welt brächten. Derweil wollte er die „minderwertigen Rassen“ durch Kastration und andere Methoden der Zwangssterilisation an der weiteren Fortpflanzung hindern. Alles Konzepte, die in der Tat auch Hitler und die Nazis verfolgten, so sehr der Diktator den Einfluss der Okkultisten später auch leugnen sollte.
Lanz knüpfte auch erste Kontakte zu Alldeutschen und Sozialdarwinisten der Wiener Gesellschaft und stellte nun auch eine Beziehung zwischen seinem Nachnamen und dem Adelshaus Lanz von Liebenfels her, behauptete, sein Vater sei ein „Baron Johann Lancz de Liebenfels“ gewesen und nannte sich Dr. Jörg Lanz-Liebenfels. 1910 nahm er den Namen Dr. Jörg Lanz von Liebenfels an. Er begründete diese Täuschung, die dank der Unterstützung seines Mentors List, der selbst zu Unrecht ein Adelsprädikat führte, selbst vor dem Wiener Meldeamt durchzog, damit, dass er sich einer „astrologischen Überprüfung seiner Person“ entziehen müsse. In Wahrheit wollte er mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nur die jüdischen Wurzeln seiner Mutter vor seinen neuen antisemitischen Freunden vertuschen, in deren Kreis sich Lanz von Liebenfels weiter durch antiklerikale Publikationen hervortat. Guido von List sah als seinen primären Feind nämlich die römisch-katholische Kirche, die als Rechtsnachfolger des Römischen Imperiums noch immer nichts anderes im Sinn hätte, als die Germanen und ihren Glauben an Wotan und die anderen Asen zu unterdrücken.
1915 wandte Lanz sich dann vermehrt der Astrologie zu, indem er zeitgenössische, astrologische und prophetische Schriften studierte und rezensierte. Sein Interesse galt dabei primär Otto Pöllner und Ernst Tiede (genaue Lebensdaten beider nicht überliefert, aber sie waren Zeitgenossen Lanz‘). Pöllner hatte die moderne politische Astrologie begründet und erstellte Horoskope für Staaten und Völker. Tiede beschäftigte sich mit den Horoskopen der Herrscher der am Ersten Weltkrieg beteiligten Staaten, woraus er den weiteren Kriegsverlauf ablesen wollte. Ferner befasste Lanz sich mit den Texten von Michel de Nostredame (1503 – 1566). Natürlich ließ Lanz es nicht dabei bewenden und schuf die „rassenmetaphysische Astrologie“, bei der er Ländern Planeten und Tierkreiszeichen gemäß ihren laut Ariosophie entsprechenden Eigenschaften in Kultur und „Geist“ zuordnete. Basierend darauf machte er zunächst Aussagen zum weiteren Kriegsverlauf, ging dann aber darüber hinaus und verfasste selbst prophetische Texte, in denen er eine Zeit der „messianischen Wehen“ beschrieb, die dem Krieg folgen würde: Die Rassen würden sich demnach weiter vermischen, bis die dämonische Vorherrschaft mit einer Invasion der Mongolen von 1960 bis 1988 in Europa ihren Höhepunkt erfahre. Ausgehend von Wien stelle sich dem ein supranationaler arischer Staat beherrscht von der Priesterschaft der neugegründeten Kirche des Heiligen Geistes entgegen.
1918 endete der Krieg und Österreich-Ungarn zerbrach. Lanz von Liebenfels emigrierte nach einem Leben im Metropolenraum Wien nach Ungarn. Er behauptete später, er habe sich hier am Widerstand gegen die kurzlebige kommunistische Räterepublik des jüdischstämmigen Bolschewiken Béla Kun (1886 -1938) beteiligt. Lanz Hass auf Juden und Sozialisten wuchs sich zu einer handfesten Paranoia aus, die die gegenüber seinem bisherigen Feindbild Nummer 1, den Frauen, noch überstieg. Nachdem 1920 die Gegenrevolution den Sieg davon getragen hatte, arbeitete Lanz bei einer christlich-nationalen Presseagentur des Außenministeriums in Budapest, für die er reaktionäre Artikel verfasste. 1923 erschien Lanz‘ Buch „Weltende und Weltwende“, worin er nun über die Weltverschwörung von Juden, Sozialisten und Freimaurern postulierte. Er lobte die bereits entstandenen rechten Diktaturen von Miguel Primo de Rivera (1870 – 1930) in Spanien, Benito Mussolini (1883 – 1945) in Italien und eben Miklós Horthy (1868 – 1957) in Ungarn und sah sie als erste Vorboten der von ihm vorhergesagten Neugestaltung der Welt. Lanz von Liebenfels versuchte sich auch als „Bahnbrecher des Nationalsozialismus“ und „Mann, der Hitler die Ideen gab“ zu stilisieren. Hitler selbst ignorierte Lanz zunächst, erteilte ihm und anderen okkultistischen Geheimbündlern in „Mein Kampf“ aber eine Abfuhr. Im NS-Staat sollte Lanz vom Regime an weiteren Publikationen gehindert werden. Auch den Neutemplerorden sollten die Nazis letztendlich verbieten.
Mit „Grundriss der ariosophischen Geheimlehre“ knüpfte Lanz 1925 mit den Thesen seines Mentors List an und fasste noch einmal seine gesamte eigene Lehre zusammen. Bis Lanz 1933 in die Schweiz nach Luzern auswanderte, gab er mit Herbert Reichstein (1892 – 1944) ariosophische Schriften heraus, hielt öffentliche Vorträge und verfasste das ab 1929 erschienene zehnbändige Werk „Bibliomystikon oder die Geheimbibel der Eingeweihten“. Auch in der Schweiz verfasste Lanz weiter Texte, die aber großteils ordensintern blieben. Weder die Zurückweisung Hitlers selbst noch der verlorene Krieg und der Zusammenbruch des NS-Regimes brachten Lanz davon ab, sich weiter als Hitlers Ideengeber hinzustellen. Zeitweilig schwenkte er auch um und wollte nun Vordenker Lenins (1870 – 1924) gewesen sein. Nach einer fünfjährigen Reaktivierung des Neutemplerordens zwischen 1947 und 1952 starb Adolf Joseph Lanz am 22. April 1954 in seiner Geburtsstadt Wien.
Literatur
Friedrich Buchmayr: Jörg Lanz von Liebenfels. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 16, Bautz, Herzberg 1999, Sp. 941–945.
Wilfried Daim: Josef Lanz. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 13, Duncker & Humblot, Berlin 1982,, S. 626 f. (Digitalisat).
Nicholas Goodrick-Clarke: Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus. Marix, Wiesbaden 2012, ISBN 978-3-937715-48-3 (Kapitel „Jörg Lanz von Liebenfels und die Theozoologie“, S. 83–95).
Nicholas Goodrick-Clarke: Lanz von Liebenfels. In: Wouter J. Hanegraaff (Hrsg.) Dictionary of Gnosis and Western Esotericism. Brill, Leiden 2006, S. 673–675.
Ekkehard Hieronimus: Jörg Lanz von Liebenfels. In: Uwe Puschner, Walter Schmitz, Justus H. Ulbricht (Hrsg.): Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918. Saur, München u. a. 1996, S. 131–146
Rudolf J. Mund: Jörg Lanz von Liebenfels und der Neue Templer Orden. Rudolf Arnold Spieth, Stuttgart 1976.
Youtube Beitrag zu Lanz von Liebenfels