Auschwitz-Flüchtling, Holocaust-Zeuge und Ankläger
Mit freundlicher Unterstützung des DEUTSCHLANDFUNK (Köln). *
Verständlich ist es, dennoch schade – daß das Gros der Holocaust-Überlebenden in den Monaten und Jahren unmittelbar nach ihrer Befreiung weder Kraft noch Neigung aufbrachte, über eigene Erlebnisse zu berichten. Nicht wenige haben das später nachgeholt, und so ist die zeitweilige Lücke wieder geschlossen worden. Einen Anstoß hatten sie benötigt, der sie aus dem selbstverordneten Schweigen herausholte; ein oftmals belangloses Ereignis brachte sie zu der Überzeugung, etwas zu sagen zu haben und etwas sagen zu müssen. So wie es dem slowakischen Juden Rudolf Vrba erging. Als junger Mann war er aus dem KZ Auschwitz geflohen und hatte danach mit wechselndem Erfolg versucht, durch seine Berichte die Alliierten auf das Schicksal der Juden in deutschen KZs aufmerksam zu machen. Nach dem Krieg wurde er Wissenschaftler und kam 1960 nach London. Eichmann war gefasst worden, und alle Welt diskutierte über den Holocaust. Britische Freunde überredeten Vrba zu einer Artikelserie im „Daily Herald“, die auch erschien und dem Blatt zu einer enormen Steigerung der Auflage verhalf. Nur Vrbas Londoner Milchmann, „ein kleiner, höflicher Mann“, hielt die Artikel für verspätete antideutsche Propaganda. Das gab Vrba den Anstoß, ein Buch zu schreiben, das 1963 unter dem Titel „I Cannot Forgive“ erschien – „vermutlich die erste Publikation zu diesem Thema in England, die nicht nur für Fachleute war. Ich schrieb sie für meinen Milchmann“.[1]
Rudolf Vrba wurde als Walter Rosenberg 1924 im slowakischen Topol’čany geboren. Die Slowakei sagte sich im März 1939 von der Tschechoslowakei los und wurde ein „Staat“ von Hitlers Gnaden.[2] Das zeigte sich umgehend am Schicksal der slowakischen Juden, die wie die Juden im „Reich“ drangsaliert wurden: Entrechtung, Ausgrenzung, Deportation.[3] Bereits im August 1940 wurde den Juden – laut Volkszählung von Ende 1938 nur 29.928 Personen, aber „zur israelitischen Religion bekannten sich 87.487 Einwohner“ – der Besuch von Ober- und Hochschulen untersagt, nur wenige Volksschulen standen ihnen noch offen, die von anderen Schulen streng separiert waren „und für deren Unterhaltung die jüdischen Religionsgemeinden aufzukommen“ hatten. Diese Bestimmungen trafen auch den 15-jährigen Walter Rosenberg: Er mußte die Oberschule verlassen und sich als Hilfsarbeiter durchschlagen. Im Frühjahr 1942 wollte er außer Landes fliehen, wurde aber verhaftet und zuerst nach Majdanek, dann nach Auschwitz deportiert. Hier bekam er die Gefangenen-Nummer 44.070 und blieb bis zum 7. April 1944 im Lager. An diesem Tag gelang ihm zusammen mit seinem Kameraden, dem sechs Jahre älteren Alfred Wetzler, die Flucht. Ende April 1944 schrieben sie in einem Versteck in Žilina einen Bericht von 35 Seiten über ihre Lagerzeit, der später zu den wichtigsten Zeugnissen über KZs gehörte.
Die etwas über zwei Millionen Slowaken waren weder kriegslüstern noch besonders antisemitisch, aber in ihrem von Kollaborateuren regierten und von Deutschen gelenkten „Staat“ – 38.456 km2, 2,6 Mio. Einwohner – hatten sie zunächst keine Möglichkeit, ihrer wahren Natur gemäß zu leben. Mitte März 1939 war der „Slowakische Staat“ entstanden[4], der sich von Anfang an bemühte, Hitlers „Mustersatellit“ zu sein: September 1939 Beteiligung am deutschen Überfall auf Polen, November 1940 Beitritt zur „Achse“, Juni 1941 Teilnahme am deutschen „Feldzug“ gegen die UdSSR, Dezember 1941 Kriegserklärung an England und die USA (was Slowaken mit dem bösen Witz kommentierten: „Zittere New York, die slowakischen Flößer kommen“).
Begonnen hatte alles mit dem Priester Andrej Hlinka (1864–1938), der bereits vor dem Ersten Weltkrieg, als die Slowakei („Ober-Ungarn“) noch zu Ungarn gehörte, mit seiner 1905 gegründeten „Slowakischen Volkspartei“ für die Unabhängigkeit seiner Heimat eintrat und deswegen von den Behörden jahrelang inhaftiert wurde. Nach dem Krieg entstand die Tschechoslowakei aufgrund eines Abkommens für einen gemeinsamen Staat, das Slowaken und Tschechen in Pittsburgh geschlossen hatten. Da das Pittsburgher Abkommen den Slowaken nicht die ersehnte Unabhängigkeit oder mindestens Autonomie gebracht hatte, radikalisierte sich die Partei immer mehr, die nach dem Tod ihres Gründers als „Hlinkas Slowakische Volkspartei“ (HSL’S) zur rechtsextremen nationalistischen Bewegung verfiel und sich mit der „Hlinka-Garde“ (HG) ein Pendant von Hitlers SA zulegte.[5]
Nachfolger Hlinkas wurde der Priester Jozef Tiso (1887–1947), der ab Oktober 1939 als Präsident des „Slowakischen Staats“ amtierte. Innerhalb des Staates, der von der HSL’S und ihren Formationen (HG, Hlinka-Jugend u. a.) nach Belieben manipuliert wurde, tobte ein permanenter Machtkampf zwischen den Konservativen und den Radikalen. Anführer der Konservativen war Tiso, dem ein „Sondermodell“ eines totalitären Staates, klerikal geführt und ständisch organisiert, vorschwebte.
Ihm gegenüber standen die Radikalen um Premier Vojtĕch Tuka (1880–1946), Außenminister Ferdinand Ďurčánský (1906–1974) und Innenminister Saňo Mach (1902–1968). Als Studenten hatten sie in dem Svoradov-Internat der Universität Bratislava (Pressburg) gelebt, das als Brutstätte eines aggressiven Antisemitismus galt. Diesen brachten sie in die HSL’S ein und über ihn knüpften sie Kontakte zu Hitlers NSDAP: Mitte Oktober 1938 hatte sich Ďurčánský mit Göring getroffen und ihm versprochen, eine unabhängige Slowakei werde „die Judenfrage nach deutschem Muster lösen“. Verbindungen zwischen beiden Seiten knüpfte auch Franz Karmasin (1901–1970), Gründer und Leiter der „Karpatendeutschen Partei“, deren „Freiwillige Schutzstaffeln“ zusammen mit der HG ab dem ersten Tag des „Slowakischen Staates“ gegen die Juden vorgingen. Begründung: Die slowakische Wirtschaft war stark verjudet. (…) Die Entjudung bildet eines der brennendsten und schwierigsten Probleme, das im Interesse des Staates gelöst werden muß. Der Jude hat auch in der Slowakei mit Hilfe seiner unsauberen Methoden die wirtschaftliche Führung an sich gerissen. (…) Es gibt kaum ein Land, das so viel jüdische Advokaten und Ärzte besaß wie die Slowakei“.[6]
Den slowakischen und deutschen Radikalen konnte alles nicht schnell genug gehen, und bereits am 5. März 1939, also zehn Tage vor dem offiziellen Beginn des „Staates“, hatte Ďurčánský ein Gesetz vorgeschlagen, das durchweg eine Kopie der deutschen „Nürnberger Gesetze“ war. Dem gegenüber waren Tisos Gemäßigte überzeugt, daß man die Juden wegen ihrer Wirtschaftskraft nicht im vollen Maße aus dem slowakischen Wirtschaftsleben eliminieren könne, aber eben diese ökonomische Stärke stachelte die Radikalen nur dazu an, die „Arisierung“ jüdischen Besitzes ständig zu verschärfen. Fast 350 antijüdische Gesetze hat der „Slowakische Staat“ binnen seiner kurzen Existenz erlassen, und bald entwickelte sich in seinen Strukturen ein grotesker Wettbewerb: Mittels „Führerprinzip“ (vodcovský princíp), ständig verstärkter Kollaboration etc. versuchten beide Seiten, sich in der Erfüllung deutscher Wünsche zu übertreffen, so daß allein 1942 58.000 slowakische Juden deportiert wurden. Zur Tschechoslowakei gehörte vor 1938/39 noch die östliche Karpato-Ukraine, die nach dem Münchner Abkommen und der Einrichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ in zwei Etappen an Ungarn kam. Nach dem Krieg wurde sie im Juni 1945 an die Sowjetunion abgetreten, und bis dahin waren aus den ehemaligen Landesteilen der Tschechoslowakei Zehntausende deportiert worden, fast ausnahmslos Juden:[8]
Region | Deportierte | Getötete |
Protektorat | 89.000 | 78.000 |
Slowakei | 73.000 | 72.000 |
Karpaten-Ukraine | 97.000 | 85.000 |
Ein letzter Höhepunkt der slowakischen Deportationen folgte im Herbst 1944 mit 13.000 deportierten oder im Lande ermordeten Juden. In dieser Zeit wagten die Slowaken ihren heroischen Nationalaufstand, an dem sich ab September auch Walter Rosenberg beteiligte, jetzt schon unter seinem Partisanennamen Rudolf Vrba, den er zeitlebens beibehielt. Der Aufstand galt und gilt zwar als rein slowakische Angelegenheit, war es streng genommen aber nicht: Die Aufständischen wurden von den Alliierten als „1. Tschechoslowakische Armee in der Slowakei“ angesehen und hatten den Status einer verbündeten Armee der Anti-Hitler-Koalition. Der Aufstand, der zu späteren kommunistischen Zeiten als Tat von ausschließlich kommunistischen Partisanen gefeiert wurde, war ein wahrer Volksaufstand: Die Slowaken hatten einfach genug – ihr Land hatte im „1. Wiener Schiedsspruch“ (2. November 1938) rund ein Viertel seines Territoriums an Ungarn verloren, war wirtschaftlich ausgebeutet, politisch gegängelt und in sinnlose Kriege mit ungezählten Opfern gezogen worden. Dagegen regte sich so massiver Widerstand, dass der Aufstand um Monate früher ausbrach, als es sein militärischer Leiter, General Jan Golián (1906–1945), geplant hatte. Zwischen August und Oktober 1944 hatten die Aufständischen so große Erfolge, dass die Regierung die Kontrolle über den größten Teil des Landes verloren hatte. Zum Unglück der Aufständischen brach aber Rumänien Ende August 1944 aus der deutschen Front aus, was den Sowjets den Weg zum Balkan öffnete, sie also von der Slowakei ablenkte, während deutsche Truppen auf dem Rückzug aus Rumänien eingesetzt wurden. Unter diesen Umständen brach der Aufstand gegen Ende 1944 mehr oder minder zusammen.
Die letzten Kampfhandlungen endeten erst mit der Befreiung der Slowakei im April 1945. Anfang Mai waren auch Böhmen und Mähren frei, und Rudolf Vrba nahm an der Prager „Hochschule für chemisches und technisches Ingenieurswesen“ ein Studium der Chemie und Biochemie auf. Nach dem Studium war er als angesehener Fachmann für Hirnforschung in der Hauptstadt tätig, fühlte sich politisch aber immer weniger wohl, wie er selber schilderte:
„Natürlich richtete der Verband antifaschistischer Kämpfer alljährlich einen Erinnerungsabend an die Opfer von Auschwitz aus. Einmal habe ich daran teilgenommen. Man redete vor allem vom Heldentum tschechischer Kommunisten. Dagegen ist nichts zu sagen: Dutzende von ihnen sind, wie auch Hunderte weiterer tschechischer Bürger, umgekommen, weil sie den Nazis bewussten Widerstand entgegensetzten. Ehre ihrem Andenken. Im Laufe des Abends erwähnte jedoch niemand die Tausende tschechischen (nämlichen jüdischen) Kinder, die in Auschwitz kaltblütig ermordet wurden und so zu Märtyrern wurden, ob sie es wollten oder nicht. Den ganzen Abend über nahm kein einziger die Wörter Jude oder jüdisch in den Mund. Oder doch, einer tat es, ein honorig aussehender Mann, der zu mir kam und mir zuflüsterte, ob ich es bemerkt hätte, daß »auf dem Podium nur Juden rumhängen«. Ich sagte nichts, es war schließlich die Zeit des Slánský-Prozesses[10] und ich wollte das Schicksal nicht herausfordern. Aber eins wusste ich: Im nächsten Jahr gehe ich nicht wieder hin“.
Vrba flüchtete 1958 aus der Tschechoslowakei und ging für zwei Jahre nach Israel. In seinen Erinnerungen äußerte er eine gewisse Enttäuschung – nicht einmal in den Memoiren von Chaim Weizmann, dem ersten Staatspräsidenten Israels, fand er eine Erwähnung von Auschwitz, und er fragte sich, „ob diese Tatsache auf ein Desinteresse Weizmanns und seiner Umgebung verweist, oder ob das Wort Auschwitz damals sogar in Israel ein Tabu war“. Im Jahre 1960 kam dann die eingangs erwähnte Einladung nach London, die sein Leben gleich zweifach veränderte: Er machte eine brillante wissenschaftliche Karriere, und er publizierte Aufsätze und Bücher über seine KZ-Erlebnisse. Mitte der 1980er Jahre war er auch in Claude Lanzmanns legendärem Film „Shoa“ zu sehen.[11]
Im Jahre 1996 kam Rudolf Vrba nach Köln, wo er beim Deutschlandfunk, aus Anlaß des ersten Holocaust-Gedenktags in Deutschland (27. Januar) mit German Werth und Günter Mücheler ein langes Gespräch zum Thema Auschwitz führte, dessen „Rohfassung“ (d. h. die direkte Aufnahme, nicht die bearbeitete Sendeversion) dem folgenden Bericht zugrunde liegt. Das Gespräch bestand aus zwei grundverschiedenen Teilen. Zunächst berichtete Vrba – immer in deutscher Sprache – davon, was Auschwitz war, wie das Leben ablief, wie das Verhältnis der Gefangenen unter einander und mit den Bewachern war, wie ihm endlich die Flucht gelang. Im zweiten Teil ging Vrba ausführlich und polemisch auf die Rolle der osteuropäischen „Judenräte“ ein, die das NS-Regime in jedem Land geschaffen und mit der Organisation der Deportationen beauftragt hatte.
In diesen Passagen wird eine tragische Situation berührt: Waren die Judenräte „Kollaborateure“, die die Juden den Deutschen auslieferten? Praktisch niemand hatte je den Mut, diese Frage rundheraus zu bejahen. Vrba nahm einen sehr entschiedenen Standpunkt ein, den er bereits im Februar 1961 im Daily Herald so formuliert hatte: „I accuse certain Jewish leaders of one of the most ghastly deeds of the war. This small group of quislings knew what was happening to their brethren in Hitler’s gas chambers and bought their own lives with the price of silence. Among them was Dr. Kasztner, leader of the council which spoke for all Jews in Hungary. While I was prisoner number 44.070 at Auschwitz – the number is still on my arm – I compiled careful statistics of the exterminations . . . I took these terrible statistics with me when I escaped in 1944 and I was able to give Hungarian Zionist leaders three weeks notice that Eichmann planned to send a million of their Jews to his gas chambers . . . Kasztner went to Eichmann and told him, ‚I know of your plans; spare some Jews of my choice and I shall keep quiet.‘ Eichmann not only agreed, but dressed Kasztner up in S.S. uniform and took him to Belsen to trace some of his friends. Nor did the sordid bargaining end there. Kasztner paid Eichmann several thousand dollars. With this little fortune, Eichmann was able to buy his way to freedom when Germany collapsed, to set himself up in the Argentine“.
Rudolf Vrba starb am 27. März 2006 in Vancouver / Kanada.
Vrbas Bericht im DEUTSCHLANDFUNK (Köln)
Wo liegt Auschwitz?
Ich war 21 Monate und sieben Tage in Auschwitz, also fast zwei Jahre. Natürlich hat es mir dort ab dem ersten Moment nicht gefallen, und die Idee zu flüchten ist langsam gereift. Ich kam dazu, mir zu sagen: Es ist im Grunde möglich. Die Bewachung von Auschwitz war nicht anders als die von Dachau, Sachsenhausen, Oranienburg und anderen KZs, wie sie damals in Deutschland waren. Auch in Majdanek, wo ich vorher war, herrschte dasselbe Prinzip. Natürlich dauerte es lange, bis ich das Prinzip der Bewachung begriffen hatte. Und es dauerte lange, bis ich die Geographie begriffen hatte. Denn niemand hatte mir gesagt, wo Auschwitz liegt. Ich wusste es nicht: Von Majdanek[12] war ich nach Auschwitz gekommen und benötigte lange Zeit zur Orientierung: Auf Waggons, die von Auschwitz abgingen, las ich das Wort „Oberschlesien“. Aus Gymnasialzeiten erinnerte ich mich an „Mährisch-Schlesien“, „Oberschlesien“ konnte also nicht in der Tschechoslowakei liegen – ich schloß auf die weitere Umgebung von Mährisch-Ostrau. Gefragt habe ich niemanden, denn dadurch wäre aufgefallen. Nach der Geographie von Auschwitz zu fragen, war lebensgefährlich. Ich war damals 18 Jahre alt.
Die Lücken der „Postenkette“
An Flucht hatte ich ab dem ersten Tag gedacht, aber gereift ist der Entschluß erst 1944. Da wusste ich sicher, daß ich es versuchen werde, ob es gelingt oder nicht. Die Sache war, daß Auschwitz ein Bewachungssystem besaß, dem die Nazi fest vertrauten. Aber nichts ist perfekt, und das System hatte eine Schwäche, und auf diese habe ich gebaut. Jedes Konzentrationslager – also auch Auschwitz, auf das ich mich vor allem beziehe – war von zwei Postenketten umgeben, die „kleine“ und die „große Postenkette“. Die „kleine Postenkette“ bewachte nachts das eigentliche Barackenlager, sie hat also die Häftlinge während der Nacht eingeschlossen. Beim morgendlichen „Zählappell“ wurden die Häftlinge gezählt und marschierten dann zur Arbeit aus dem Lager heraus. Das Gelände lag rings um das Lager und war von der „großen Postenkette“ umgeben. Die Häftlinge befanden sich nachts also innerhalb der „kleinen Postenkette“ und arbeiteten am Tag innerhalb der „großen Postenkette“. Am Tag benötigte man also keine „kleine Postenkette“, da die Häftlinge ja draußen waren, und nachts keine „große Postenkette“, weil die Häftlinge bereits innerhalb der „kleinen Postenkette“ waren.
Das System lief so: Vor Dunkelwerden wurden alle Häftlinge in die „kleine Postenkette“ hereingeholt. Sie kamen ins Lager, die „kleine Postenkette“ formierte sich und draußen stand noch die „große Postenkette“. Es ist fünf Uhr Nachmittag, niemand ist mehr zwischen „kleiner“ und „großer Postenkette“. Innerhalb der „kleinen Postenkette“ werden die Häftlinge erneut gezählt, beim sog. „Stehappell“. Es sind 29.236 Häftlinge, das ist schnell abgezählt, wofür es auch ein System gibt. Es dauerte eine, zwei Stunden, und wenn festgestellt ist, daß alle 29.236 da sind und niemand fehlt, wird die „kleine Postenkette“ definitiv geschlossen und der „großen Postenkette“ befohlen „Postenkette abziehen“. Nehmen wir an, daß ich von meinem Arbeitsplatz zwischen „kleiner“ und „großer Postenkette“ nicht zurück komme und mich irgendwo verstecke. Alle anderen marschieren herein, die „kleine Postenkette“ wird geschlossen, aber zwei Häftlinge fehlen. Es war klar, daß zwei Häftlinge nicht am hellen Tag durch die „große Postenkette“ hindurchgehen konnten. Folglich müssen sich die zwei Häftlinge noch auf dem Gelände zwischen „kleiner“ und „große Postenkette“ befinden. Vom Lagerzentrum bis zur „großen Postenkette“ waren etwas zwei, drei Kilometer, und ich würde sagen, es handelte sich um zehn Quadratkilometer. Die „kleine Postenkette“ ist geschlossen, im Lager herrscht der normale Betrieb, aber eine Sirene heult auf, weil zwei noch da draußen sind. Das ist das Signal für die „große Postenkette“, daß sie nicht abgezogen wird. Zwei Hundestaffeln werden bereit gestellt, zweimal hundert Schäferhunde, und die haben das Gelände durchsucht. Die Suche dauerte drei Tage und drei Nächte. So lautete die Vorschrift.
Bei mir war Alfred Wetzler, der im Lager B II untergebracht war – B für „Bauabschnitt“ Sektion d, ich war B II a.[13] Wir hatten uns von Kindheit an gekannt und zwischen uns bestand absolutes Vertrauen. Außerdem waren wir 650 Mann aus der Stadt Tyrnau (slowak.: Trnava), wo wir alle gewohnt hatten, aber nur wir beide waren noch am Leben. So etwas schließt noch mehr zusammen, zumal er in Auschwitz schon drei Brüder und Vater und Mutter verloren hatte.
Die Flucht
Unser Plan war folgender: Zwischen „kleiner“ und „großer Postenkette“ wurde ein neuer Bau vorbereitet, von dem ich noch nicht wusste, wozu er dienen sollte. Später bekam ich heraus, daß er für die ungarischen Juden bestimmt war. An der Baustelle wurde Holz aus Hunderten von Waggons gestapelt, Planken, woraus die neuen Baracken entstehen sollten. Einer dieser Holzstapel, etwa zehn Waggonladungen umfassend, war von polnischen Häftlingen so aufgebaut worden, daß drinnen ein kleiner Hohlraum belassen war. Dort konnten wir zwei uns verstecken. Ich hatte einen Tipp, wie uns die Hunde nicht finden konnten. Ein russischer Kriegsgefangener namens Dimitrij Volkov, Hauptmann der Roten Armee, sagte mir, daß echt russischer Machorka[14], in Benzin getränkt, die Hunde vertreibt. Details wollte er gar nicht wissen, denn er fürchtete, ich könnte unter einer etwaigen Folter ihn als Mitwisser nennen.
Wir „organisierten“ also ein dreiviertel Kilo russischen Machorkas, auch Benzin, in dem wir den Machorka tränkten und trocknen ließen. Als wir dann unser Bretterloch bestiegen, da habe ich die ganze Umgebung mit dem Machorka präpariert. Am 7. April 1944 gingen wir hinein, es war ein Nachmittag, polnische jüdische Häftlinge deckten das Versteck zu. Von außen sah es wie ein normaler Stapel aus. Dort blieben wir und kehrten nicht in die „kleine Postenkette“ zurück. Jetzt war Zählappell, wir waren nicht da, und bald fand man heraus, daß wir aus der derselben Stadt stammen. Die Sirene heulte los, die Lagerleitung war überzeugt, daß wir noch innerhalb der „großen Postenkette“ sein mussten, also: Hunde heraus! Drei Tage wurde das Gelände durchgekämmt, aber immer, wenn die Hunde an unser Versteck kamen, nahmen sie wieder Reißaus. Das Mittel wirkte also.
So ging es drei Tage und drei Nächte. Als sie uns nach drei Tagen und drei Nächten nicht gefunden hatten, sagten sie sich, daß wir nicht mehr da seien. Etwas Unverständliches ist passiert, aber die beiden sind fort. Auf diese Schlussfolgerung warteten wir in unserem Versteck, und daß sie gefallen war, erfuhren wir so: Telefone zwischen den Türmen der „großen Postenkette“ gab es noch nicht, die im Abstand von etwa 150 Metern in acht Kilometer Umkreis ums Lager standen. Zwischen den Türmen war das Gras kurz geschoren, so daß am Tage nicht eine Maus durchgekommen wäre – sie hätte sofort das Kreuzfeuer von zwei Maschinengewehren auf sich gezogen. Nachts standen weitere SS-Männer mit Hunden zwischen den Türmen. Wir wussten, daß die Abriegelung für drei Tage und drei Nächte eine Totale war. Wir sind am Freitag um zwei Uhr in unser Versteck gegangen und haben dann Freitag, Sonnabend und Sonntag die Suche nach uns verfolgt. Am Montag sollte die Suche an der „großen Postenkette“ beendet sein, was so ablief: Der Postenleiter ging zu einem Posten und sagte ihm „Postenkette abziehen“, und dieser Befehl wurde per Zuruf von Turm zu Turm weitergegeben. Ich sitze in meinem Versteck und höre die Rufe, die mal näher, mal ferner ertönen – ich konnte das Signal auf dem ganzen Weg verfolgen. Die Frage war nur: Wollen die mich täuschen, oder ziehen sie die Postenkette wirklich ab? Aber sie war weg. Wir verließen das Versteck, krochen auf dem Bauch zur „großen Postenkette“ und fanden sie verlassen vor. Jetzt waren wir frei!
Arbeit an der „Rampe“
Das war eine komische Sache in Auschwitz. Auschwitz war der verschlossenste Teil der Welt, aber von politischen Ereignissen draußen wusste ich früher, als der „Völkische Beobachter“ darüber schrieb. Von Transporten ungarischer Juden erfuhr ich am 15. Januar 1944[15], als Ungarn noch gar nicht besetzt war. Wir wussten, daß die jüdischen Gemeinden in ganz Europa mehr oder minder dezimiert waren; wir kannten sozusagen die Statistik, da alle nach Auschwitz kamen. Die einzige noch größere Gemeinde war die ungarische. Ich war seit zehn Monaten auf der sog. „Rampe“[16] beschäftigt, und jetzt muß ich Ihnen das Mordsystem von Auschwitz erklären, denn um die ungarischen Juden zu ermorden, musste man dieses System ändern. Bis dahin hatte man, meiner damaligen Schätzung nach, binnen zwei Jahren etwa 1,75 Millionen Menschen ermordet. Heutige Historiker streiten um diese Zahlen, aber ich halte an meiner Zahl fest. Wie gesagt, das geschah über zwei Jahre hinweg. Aber jetzt wollte man die Juden aus Ungarn, insgesamt etwa eine Million, rasch ermorden. Ich behielt Opferzahlen auf diese Weise im Gedächtnis: Ich wurde in eine Häftlingsgruppe eingereiht, die euphemistisch „Aufräumungskommando“ hieß. Im Lagerjargon hieß es „Kanada“.[17] Es gab dort eine Kernmannschaft eingearbeiteter Häftlinge, zu denen, wie immer es das Morden erforderte, Hunderte zusätzliche Kräfte genommen wurden.
Wir wurden mitten in der Nacht aufgeweckt und an die Rampe gebracht. Die Rampe war das „Herz“ des Auschwitzer Mordapparats.[18] Das KZ Auschwitz bestand aus zwei Teilen, Auschwitz I und Auschwitz II, also Birkenau. Zwischen diesen zwei Teilen befand sich ein Stück „ziviles“ Land, wo der Zug Wien-Krakau hindurchfuhr – jeden Tag, pünktlich. Dieser Luxuszug fuhr im Grunde zwischen zwei Postenketten hindurch. Von diesem Gleis ging ein „blinder“ Seitenstrang ab, ein bis zwei Kilometer Schienen, an dem unser Arbeitsplatz lag. Wenn die Transporte der angeblich „umgesiedelten Juden“, denen man neue Arbeits- und Wohnplätze „im Osten“ zugesagt hatte, auf diesem Gleisstrang ankamen, fuhren sie bis zur Rampe. Dort warteten wir und um die Rampe wurde eine eigene Postenkette gebildet. Es gab dort Lichter, die den Platz nachts taghell erleuchteten – ob Regen, Schnee, Nebel. Licht war immer da und niemand kam durch die Postenkette hindurch.
Jetzt schob sich der Zug mit den Deportierten herein, die Waggons wurden geöffnet und die Leute herausgetrieben auf die Rampe. Manchmal hieß „Bitte aussteigen“, manchmal aber auch „Los ihr Hunde, ‚raus“, wie die SS Laune hatte. Den Leuten wurde gesagt: Gepäck drinnen lassen, es wird nachgebracht. Dann stellte man sie in Fünferreihen auf, ein SS-Arzt kam mit einem Spazierstock. Die SS hatte immer Spazierstöcke bei sich, keine Knüppel, und mit denen wurde für Ordnung gesorgt, wenn anfänglich Durcheinander und Geschrei herrschten. Dann hörten sogar Säuglinge auf zu weinen. Es hieß „Sprechen ist verboten“, und wer dennoch den Mund aufmachte, wurde sofort mit den Spazierstöcken niedergeschlagen. Da gab es sofort Tote und Verletzte, und die anderen haben begriffen. Sie stellten sich in den Fünferreihen auf und marschierten am Arzt vorbei. Der Arzt zeigte mit dem Daumen nach rechts oder links, was manche nicht verstanden. Da gab es z. B. eine 22-jährige Tochter, die als „arbeitsfähig“ nach links sollte, während ihre 50-jährige Mutter nach rechts geschickt wird. Jetzt wollen die sich aber nicht trennen, also zieht der Arzt sie mit dem gekrümmten Stück seines Spazierstocks auf die Seite, und wenn sie sich immer noch sträubt, bekommt sie mit dem Stock einen Hieb über die Schulter. Ob die Schulter bricht, ob die herumstehenden Kinder heulen, das interessiert niemanden – die Neuankömmlinge kriegen Angst und machen, was man ihnen sagt. So geht die Selektion sehr rasch vonstatten.
Wie viele „aussortiert“ wurden, hing vom jeweiligen Transport und der Situation im Lager ab – manchmal waren es fünf Prozent, dann wieder 30 Prozent. Ich meine, daß generell 10 bis 20 Prozent ins Lager gebracht wurden, der Rest direkt in die Gaskammer. Jetzt zu uns: Auf der Rampe waren fünf, sechs Lastkraftwagen, Kippwagen, wie sie z. B. für Kiestransporte verwendet werden. Die Neuankömmlinge wurden, jeweils zu Hundert, auf diese Autos verladen, die sofort ins Krematorium abgingen, das zwei Kilometer entfernt in Birkenau II war.[19] Dort mussten sie sich ausziehen und wurden in die Gaskammern getrieben. Diejenigen, die zur Arbeit ausgewählt waren, mussten ins Lager marschieren. Die Lastwagen bewegten sich in einer Art Pendelverkehr. Das „Aufräumkommando“, das wir waren, verlud zuerst die Toten, also die Menschen, die schon tot ankamen, oder Kinder, die während des Transports ihre Angehörigen verloren hatten, oder bewegungsunfähige Kranke. Das alles geschah „im Laufschritt“[20], war jemand krank oder tot, dann mussten zwei Häftlinge ihn an den Händen packen und „im Laufschritt“ zum Lastkraftwagen ziehen. So wurde alles auf diesen Wagen geworfen und zur Gaskammer abtransportiert. Wenn die Leute, die etwas spürten, dort nicht absteigen wollten, dann wurde ein Knopf gedrückt, die Plattform hob sich und die Leute fielen wie Sand heraus.
„Kanada“ und Transporte
Wenn die Autos vom Krematorium zurückkamen, wurden sie manchmal mit neuen Leuten beladen, aber manchmal haben wir auch schon die Koffer und anderen Sachen, die die Leute wegen der vorgeblichen „Umsiedlung“ mitgebracht hatten, verladen. Dann gingen die Wagen in die andere Richtung, nach Auschwitz I. Dort wurden in einem speziellen Depot diese Sachen gelagert, offiziell hieß das „Aufräumungskommando Lager“, im Lagerjargon war es das erwähnte „Kanada“. Das kam daher, daß sich die polnischen Bauern vorstellten, Kanada sei ein Land von reinstem Überfluß, und in diesen Magazinen gab es wirklich alles. Die Neuankömmlinge hatten in ihrem Gepäck buchstäblich alles mitgebracht, und es handelte sich um Millionen von Koffern. In denen war alles Mögliche – Kleidung, Aspirin, Medikamente, Esswaren, Geld. Allein aus diesem Gepäck konnte ich berechnen, wie viele Züge mit wie vielen Menschen angekommen waren. Wenn wir hingingen – und ich gehörte zu denen, die immer hingehen mussten –, dann waren wir zwischen 100 und 400 Männern. Der Befehl kam an den Capo, daß ein Transport ankäme, 2.500 „Stück“, und allein aus der von uns aufgebotenen Zahl wusste ich, wie viele im Transport sein würden. Zum anderen konnte ich mit denen sprechen, die nicht vergast wurden, sondern zur Arbeit abkommandiert waren. Ich fragte die neuen Gefangenen, woher sie kämen und wie viele im Transport waren. Und ihre Antworten stimmten völlig mit meinen vorigen Berechnungen überein. In dem nahezu einen Jahr, in dem ich auf der Rampe war, war ich immer über alle Transporte und ihre Herkunftsorte informiert. Auch die bürokratische Regelung der LKW-Transporte – immer exakt 100 „Stück“ pro Fahrt –, ließ sich rechnerisch umsetzen. Mit der Zeit bekam ich eine gewisse Fertigkeit: Es genügte, den Transport anzuschauen und sofort zu wissen, ob er 1.000, 2.000 oder 3.000 Menschen umfasste. Die meisten Transporte betrugen 2.-3.000. Es gab kleinere Transporte von 1.000, aber auch größere, etwa von Białystok[21], die bis zu 5.000 umfaßten. Konkret waren es 50 Waggons zu je 100 Insassen, und bei einer solchen Enge kommen nach 7, 8 Tagen Fahrt 20 Prozent tot an. Ich konnte Statistiken aufstellen, andere auch – es war im Lager ziemlich bekannt, wie „der Stand“ jeweils war.
Wenn wir nicht auf der Rampe arbeiteten, mussten wir die Koffer aufbrechen. Die Sachen wurden sofort sortiert: Kleider nach mehreren Güteklassen, Männeranzüge auch, Decken, Prothesen, Brillen zu Tausenden etc. Was immer man sich vorstellen kann, was Leute so mitbringen: Violinen, Zahnarztinstrumente, Töpfe, Kinderwagen, alles Mögliche. Das haben wir sortiert und später in spezielle Waggons verladen, mit denen es ans „Winterhilfswerk“[22] in München oder andere Städte abging. Ich habe Tausende solcher Waggons beladen, auch solche, die nur noch Lumpen enthielten, die dann an die Papierfabrik in Memel geschickt wurden.
Alle Kleider und Schuhe wurden durchsucht. Wir hatten da ein Kommando von etwa 20 Mädchen, die den ganzen Tag Zahnpastatuben auf einer Bank ausdrückten. In einer von Tausend fand sich vielleicht ein Diamant – diejenige, die ihn fand, bekam ein Stück Brot als Belohnung. Die Menschen, die mit den Transporten gekommen waren, wussten ja seit Jahren, daß ihnen Schlimmes bevorstand, und sie versuchten, aus den Resten ihres Besitzes etwas zu sichern, das sich gegen andere Dinge eintauschen ließ. So kam es zu Dollars, die in Brote eingebacken waren, Schweizer Franken, die in Schuhen eingenäht waren, Diamanten in Schuhsohlen versteckt etc., was alles von „Experten“ sehr schnell aussortiert und in einen speziellen Koffer für „Wertsachen“ hineingeworfen wurde. Am Abend ist der Unterscharführer Kühnemann gekommen und der Koffer war so voll, daß Kühnemann und SS-Unterscharführer Otto Graf den Inhalt mit ihren Stiefeln zusammenpressen mussten. Dann wurde es in ein Büro zu SS-Mann Wickler gebracht, wo es sortiert wurde. Ob alles abgegeben oder vieles gestohlen wurde, weiß ich nicht. Die Häftlinge wurden natürlich streng durchsucht, und bei wem etwas gefunden wurde, der verlor augenblicklich sein Leben. Das war alles Routine.
„Ungarische Salami“ im Januar 1944
Im Januar 1944 sah ich eine plötzliche Änderung der Routine. Ich stehe im Lager B IIa und sehe eine Gruppe Leute kommen, die da Messungen vornehmen. Ihr Führer ist ein deutscher Capo, Jupp mit Namen, roter Winkel.[23] Ich kannte Jupp, und Sie müssen etwas wissen: In allen KZs gab es eine gewisse „Seniorität“ – je länger jemand im Lager war, desto mehr „Senior“ war er: Man hatte eine größere Freiheit sich zu bewegen, zu sprechen usw. Wer in Auschwitz ein Jahr überlebt hatte, besaß eine große „Seniorität“. Ich war so ein „Senior“, ein „alter“ Auschwitz-Häftling, fast zwei Jahre dort. Ich gehe also zu Jupp und frage ihn, was er da macht. Jupp war ein „Politischer“, ein Gewerkschaftler, schon jahrelang im KZ. Er sagte, er könne mir nichts sagen, es handele sich um ein großes Geheimnis – die wollen jetzt ungarische Juden bringen. Und wir bauen eine neue Rampe, direkt beim Krematorium da. Es sind eine Million Leute.
Ich habe Jupp sofort geglaubt, denn diese Million Leute hätte man „per Hundert“ von der alten Rampe zum Krematorium transportieren müssen. In der Lagerkommandantur hat man ausgerechnet, wie viele Tausende LKW-Fahrten das bedeuten würde. Und weil die Aktion schnell durchgeführt werden musste, hat man sie von der alten Rampe verlegt und die Strecke einfach um zwei Kilometer verlängert. Ich wusste auch, daß es nur noch ungarische Juden in einer so großen Zahl gibt. Jupp sagte mir: Die SS spricht darüber – „es kommt ungarische Salami“. Das war nämlich eine der Gepflogenheiten von Auschwitz, Transporte durch Esswaren zu bezeichnen. Das spiegelte auch die Wirtschaftslage in den verschiedenen okkupierten Ländern Europas wider. In der Slowakei konnte man z. B. in der Kriegszeit von Sardinen nicht einmal träumen, aber in Frankreich gab es Sardinen. Und alle Deportierten versuchten, gewisse Nahrungsmittel mit sich zu bringen, die lange haltbar waren. Die Franzosen brachten Sardinen, und wenn ein französischer Transport kam, dann sagte die SS „Sardinen kommen“. Es wurde den Menschen ja alles weggenommen und ging in die Offizierskantine, während die Leute vergast wurden. Aus Holland kamen Käse und Kondensmilch – gedacht als Kindernahrung, aber verwendet in den SS-Kantinen. Und die SS machte noch ihre Scherze: „Käse kommt – prima Juden, fett gefressen von holländischem Käse“. So hatte jeder Transport seinen spezifischen Namen, und jetzt sprach man ganz offen von „ungarischer Salami“. Mir war bei solchen Reden klar, zumal ich die neue Rampe sah, daß es sich um ungarische Juden handelte.
Die Opfer warnen?
Ich wusste auch, daß es sehr wichtig wäre, den ganzen Prozeß zu unterbrechen, indem man die Opfer warnt. Denn die Geheimhaltung des Prozesses war entscheidend für seinen Ablauf. Der Zweck von Auschwitz musste geheim bleiben. Für uns in Auschwitz war der Anblick ja unglaublich: Da kommen Leute von Holland, Frankreich, Italien, Belgien, Slowakei, Polen, Österreich, Griechenland und haben nie das Wort „Auschwitz“ gehört. Die haben nie das Wort „Gaskammer“ gehört. Wir konnten es nicht fassen, wie dieser ganze Prozeß vor den Opfern geheim gehalten wurde. Ich war mir klar, daß im deutschen Apparat viele davon wussten, aber die Opfer wussten nichts. Die Wahrung des Geheimnisses von Auschwitz war die entscheidende Voraussetzung der industriellen Ausplünderung und des Massenmordes, der dort seit Jahren tagtäglich als Routine betrieben wurde.
Die Passivität zahlloser jüdischer Mütter und Väter, die ihre Kinder an der Hand zu dem elenden Tod in den Gaskammern von Auschwitz brachten, war keineswegs die Folge „jüdischer Minderwertigkeit“, wie es Nazis behaupteten. Auch war es nicht die Folge einer Unfähigkeit, die Wahrheit zu begreifen, was manche heutige israelische Historiker wie z. B. Jehuda Bauer[24] sagen. Die Juden neigten zu der Hoffnung, daß sie durch Gehorsam der zunehmenden Gewalt in ihrer Heimat entrinnen könnten. Sie huldigten sogar dem optimistischen Glauben, größere Sicherheit zu finden, wenn man sie in weniger gefährliche sogenannte „Umsiedlungsgebiete“ deportierte, wo ihre Kinder vielleicht eine Chance in irgendwelchen Judenreservaten „im Osten“ bekommen würden, den Krieg zu überleben. Mit solchen Erwarten wurden die Juden in die Deportationszüge hineingelogen und hereingelockt. Als sie in Auschwitz ankamen und erkannten, daß man sie belogen hatte, daß sie nicht in einem Umsiedlungsgebiet sind, sondern in einem Mordlager, meist schon unmittelbar vor den Gaskammern und den Krematorien, da hatten sie nur noch eine Wahl: endlos gequält zu werden oder auf eine weniger komplizierte Art zu sterben. Oft wurden sie umgebracht, ermordet und beraubt, bevor sie Zeit hatten, sich die Alternativen klar zu machen. Denn die Schnelligkeit des ganzen Prozesses, das war ein notwendiger Teil der Technik des Massenmordes, wie sie die Nazis in Auschwitz und anderen Schinderstätten des Dritten Reichs praktizierten.
Damals glaubte ich, es würde einen erheblichen Unterschied machen, wenn es mir gelänge, aus Auschwitz auszubrechen und in der Welt draußen die Wahrheit über das Geschick der potentiellen „Kandidaten für die Umsiedlung“ zu verbreiten. Das Geheimnis wäre gelüftet und damit die entscheidende Voraussetzung des störungsfreien Ablaufs der Massenmorde beseitigt. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel an meiner Fähigkeit, die Außenwelt über die Realitäten von Auschwitz aufzuklären. Wenn die Opfer schon zu Hause wüssten, daß man ihre Kinder ermorden wird, dann würden sie nicht freiwillig in die Züge gehen. Ich sage nicht, daß sie dadurch gerettet wären, aber es ist ein großer Unterschied, ein ahnungsloses Opfer heimtückisch zu ermorden, oder jemanden umzubringen, der weiß, daß man seine Kinder töten wird. Und wenn tote Kinder nicht in Auschwitz insgeheim verbrannt werden, sondern, sagen wir, direkt auf den Straßen von Budapest oder Bratislava, dann wird auch die Bevölkerung aufwachen: Die machen das heute mit den Juden – was werden sie morgen mit uns machen? Das war meine Idee: Das Durchbrechen des Geheimnisses von Auschwitz würde das Morden vielleicht nicht beenden, aber es erheblich erschweren.
Der Vrba-Wetzler-Bericht
Nach unserer Flucht aus Auschwitz konnte der „Judenrat“[25] in der Slowakei unsere Identität sofort überprüfen. Denn er hatte ja die kompletten Statistiken von allen Transporten, die aus der Slowakei abgegangen waren. Dabei war die deutsche Technik des Massenmords sehr raffiniert: Die haben niemals alle Juden aus einem Land zusammen deportiert. In der Slowakei gab es 90.000 Juden, von denen 1942 60.000 deportiert wurden. Für die verbleibenden 30.000 wurde eine „Ausnahme“ gemacht, aber wir wussten aus Auschwitz, daß solche „Ausnahmen“ nur zeitweilig wirkten. Wir kannten die nationale Variabilität der Transporte, die in Auschwitz ständig eintrafen: Kamen sie nicht aus dem einen Land, dann kamen sie aus einem anderen – der Todesbetrieb stockte nicht. Aber in den jeweiligen Ländern glaubte man, die Deportationen hätten aufgehört: Wir sind gerettet!
Ich kam also in eine Slowakei zurück, wo von den früher 90.000 Toten bereits 60.000 tot waren. Die restlichen waren noch in der Slowakei, sie trugen zwar einen Judenstern, aber das Leben ist irgendwie weitergegangen. Die Judenräte waren Geiseln der Deutschen, sie wurden nicht unmittelbar deportiert und vergast. Ich habe niemals während des Krieges einen einzigen Juden getroffen, der nicht daran geglaubt hätte, daß Deutschland, das Naziregime zerschlagen würden. Niemand hat geglaubt, die würden den Krieg gewinnen. Es ging um Zeitgewinn – darum, wer bei Kriegsende noch leben würde. Die Judenräte wollten retten, wen sie retten konnten, hauptsächlich sich selber. So ist der Mensch beschaffen, und das wussten die Nazis sehr gut. Wenn einer im Judenrat war, der nicht ihrem Willen folgte, der wurde in den nächsten Transport gesteckt und nach Auschwitz geschickt.
Vrba und Kasztner
Wir, Wetzler und ich, wussten, daß alles für den Mord an den ungarischen Juden vorbereitet ist. Das war uns schon im Januar 1944 klar, während die Deutschen Ungarn erst im 19. März offiziell besetzt haben. Als ich am 25. April mit dem Judenrat der Slowakei sprach, da waren noch zwei Wochen Zeit bis zum Beginn der Juden-Transporte aus Ungarn. Der Judenrat half mir, einen Bericht[26] zu schreiben, wir bekamen Schreibmaschinen, Stenographen. Der Bericht war am 27. April fertig und war binnen 24 Stunden in den Händen des ungarischen Judenrats. Der Kasztner[27] ist sogar nach Bratislava gekommen, denn als Mitglied des Judenrates, der in Ungarn sozusagen unter dem Schutz der SS war, konnte er reisen. Von Überlebenden des Judenrats in Bratislava wissen wir, daß der Judenrat unseren Bericht ohne Zeitverlust weitergeleitet hatte.
Die Interpretation dessen, was da passierte, ist sehr kompliziert und sehr traurig. Denn der Judenrat unter Kasztners Führung hatte mit der SS irgendwie verhandelt. Kasztner, den ich nicht gewählt hatte, dachte, er könne im Namen der Juden sprechen. Die vornehmlich von Dr. Kasztner und seiner zionistischen Gruppe geführten Verhandlungen mit der SS hatten einen begrenzten Erfolg. Mit beteiligten Offizieren von Eichmanns Stab – SS-Obersturmbannführer Krumme, SS-Hauptsturmführer Huntsche, SS-Standartenführer Kurt Becher – hat Kasztner einen Transport von jüdischen Personen aus Ungarn zusammengestellt, und die wurden von Eichmann nicht nach Auschwitz, sondern auf langen und verschlungenen Wegen in die Schweiz dirigiert. Die SS hatte das natürlich nicht ganz gratis gemacht, vielmehr hat man große Lösegelder vorgetäuscht. So viel wir von Jehuda Bauer wissen, der guten Zugang zu originalen Daten hat, betrug die Abschlagszahlung für den Transport 18 Kilo Gold, 180 Karat Diamanten und 1.000 oder 2.000 Dollar pro Person – was 1944, als der Wert des Dollars in Ungarn astronomische Höhen erreicht hatte, ein unglaubliches Barvermögen darstellte.
Wenn sich die Nazis in Bratislava oder Budapest auf Verhandlungen mit Juden einließen, dann deshalb, weil sie Täuschungsmanöver brauchten, um die Judenräte in den Dienst ihrer Absichten zu stellen. Und die Absichten der Nazis waren ganz einfach: Die Juden rasch ihres persönlichen Eigentums zu berauben, aufgrund von Namenslisten, die von den Judenräten zu liefern waren, Deportationslisten aufzustellen, die Deportationsopfer zum reibungslosen Einsteigen in die Waggons zu kriegen und sie dann in Auschwitz effizient umzubringen – immer unter Wahrung der Geheimhaltung ihres mörderischen Imperiums. Die Tatsache – und es war eine Tatsache! –, daß die Nazis in Budapest und anderswo auch Bestechungsgelder von jüdischen Honoratioren annahmen, hat ihre hingebungsvolle Arbeit für das große Ziel der Endlösung nur wenig beeinträchtigt. Es ist ja bekannt (wenigstens war es mir bekannt und es war ja jeden Tag erkennbar), daß auch in Auschwitz die SS vom Kommandanten Höß bis zum kleinsten SS-Mann im Lager nicht nur aufs Umbringen von Juden erpicht war, sondern auch aufs Plündern und Stehlen. Ohne Ausnahme! Das war sogar ein Teil der inoffiziellen Belohnung für die Mordarbeit.
So hielt es auch die deutsche Administration in den besetzten Ländern. Die jüdischen Unterhändler zu erpressen und stattliche Bestechungsgelder zu nehmen, verpflichtete die Nazis zu nichts. Das war ein Teil des zynischen Spiels, in dem die Judenräte Geiseln und Werkzeuge waren. Manche waren unwillige, manche waren willige, aber alle erbärmliche Geiseln, die sich davor fürchteten, mit ihren Kindern nach Auschwitz deportiert zu werden. Daß heute manche israelische Historiker wie Jehuda Bauer diese Unterhändler als Helden hinstellen wollen – das ist vielleicht aus zwei Gründen verständlich. Diese Historiker unterscheiden sich gründlich von meiner Interpretation der Tatsachen: Die wollen die „verdienstvolle“ Arbeit von Unterhändlern wie Kasztner und anderen preisen, aber ich sehe mich gezwungen, alle diese Historiker – die nicht damit zufrieden sind, eine bessere Zukunft in Israel mitzugestalten – als „Verschönerer“ der Vergangenheit zu sehen. Die Vergangenheit war überhaupt nicht so schön, wie sie es uns vormachen. Vielleicht liegt das Problem auch anderswo: Das sind Leute, die die Nazis nicht direkt erlebt haben – diese Historiker sind nicht fähig, die in Wahrheit bösartige Natur des Nazismus zu verstehen. Daher wissen sie nicht, wie zwecklos Verhandlungen mit den Nazis sein mussten, wenn man nicht gleichstark oder stärker war. Für diejenigen von uns, die in Auschwitz die Nazis in Aktion erlebten, ist diese grundlegende Wahrheit leichter zu verstehen.
Um die Wirkung des Berichts
Wir können nicht sagen, daß unser Bericht keinen positiven Effekt hatte. Von einer Million Juden wurden „bloß“ 400.000 ermordet. Wir können die Sache betrachten wie ein Wasserglas: Ist es halbvoll oder halbleer? Die Nachricht ging in die Schweiz zur Tschechoslowakischen Gesandtschaft. Und ich habe Möglichkeiten genutzt, die Nachricht in der Slowakei zu vervielfältigen. Das war besonders pikant, denn ich habe dazu das „Institut für Geschlechtskrankheiten“ genutzt. Das war eine sehr geheime Institution, bestens von der Polizei bewacht, und dort konnten wir in Ruhe auf Maschinen schreiben und den Bericht vervielfältigen, damit er durch jüdische Freiwillige nach Ungarn geschmuggelt würde. Dort kam er in die Hände eines gewissen Kraus vom „Palästina-Amt“, der den Bericht in die Schweiz brachte. Dort hatte die Sache sofort große Medienwirkung, 400 oder mehr Artikel darüber, und das alles führte dazu, daß das britische Parlament am 28. Juni 1944 sich dazu äußerte, daß im amerikanischen Kongreß, im Vatikan etc. dazu Äußerungen fielen und am 3. Juli Budapest schwer bombardiert wurde. Danach gab Horthy die Weisung, die Deportationen einzustellen.[28]
Ich möchte eins klar machen: Man hatte insgesamt rund 6 Millionen Juden ermordet und verbrannt, aber deren Vermögen hatte man nicht verbrannt. Die 400.000 aus Ungarn deportierten Juden verfügten über Besitz, nicht nur die paar Sachen, die ihnen in Auschwitz gestohlen wurden, Zahngold inklusive. Zuhause hatten sie Wohnungen, Autos, Gärten, Möbel, Pelze und viele andere Dinge, die in den zerbombten Regionen Deutschlands und Europas knapp und wertvoll waren. Das erklärt zum Teil, warum Horthy und seine Clique in Ungarn mit den Deutschen zusammenarbeitete und so erpicht darauf waren, die unglücklichen Juden sozusagen loszuwerden. Nachdem die ungarischen Juden nach Auschwitz deportiert worden waren, waren Horthy und seine Gendarmerie noch an der Macht, ohne die wäre das alles nicht möglich gewesen. Das eingezogene Vermögen der Juden ging an jene Ungarn, die Horthy Loyalität bezeugten. Da sich damals der Krieg schon unverkennbar zum Schlechten wendete, diente das jüdische Vermögen dazu, erschütterte Loyalitäten wieder zu kräftigen. Und es ging um ein unglaublich großes Vermögen: Wie wir wissen, hatte Becher (= Hitlers Beauftragter für die ungarische Wirtschaft) das jüdische Vermögen in 25.000 Waggons nach Deutschland geschickt. Den Gesamtwert schätzte der israelische Historiker Bauer auf 6 Milliarden Schweizer Franken. Anderes konnte nicht verfrachtet werden – die jüdischen Felder, Häuser, Güter usw., die an Horthys Anhänger verteilt wurden.
Autor: Wolf Oschlies
* Zukunft braucht Erinnerung dankt dem Deutschlandfunk in Köln für die Erlaubnis, das 1996 mit Rudolf Vrba geführte Gespräch im vollen Wortlaut und zusätzlich kommentiert und illustriert veröffentlichen zu dürfen.
Literatur
Lanzmann, Claude: Shoa, Düsseldorf 1986
Smetáček, Zdenĕk: Od Mnichova k válce (Von München zum Krieg), Prag 1945
Tönsmeyer, Tatjana: Kollaboration als handlungsleitendes Motiv? Die slowakische Elite und das NS-Regime, in: Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus Bd. 19, Göttingen 2003
Anmerkungen
[1] Rudolf Vrba: Proč jsem psal svou zprávu (Warum ich meinen Bericht schrieb), www.holocaust.cz
[3] Tatjana Tönsmeyer: Kollaboration als handlungsleitendes Motiv? Die slowakische Elite und das NS-Regime, in: Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus Bd. 19, Göttingen 2003, S. 25-54
[4] Detailliert dazu Michael Schwartz: Die Slowakei – Der jüngste Staat Europas, Leipzig 1939. Ende Juli 1943 wurde gegen dieses (gemäßigt „linientreue“) Buch vom slowakischen Innenministerium ein „Verbot der Einführung und Verbreitung“ verhängt (Meldung in: Grenzbote 27.7.1943).
[5] Jozef Paučo: Politicko-národný program HSL’S (Das politisch-nationale Programm der HSL’S), Bratislava 1944
[8] Miloslav Moulis: Slované v nacistických koncentračních táborech (Slaven in Nazi-Konzentrationslagern), in: Slovanský Přehled Nr. 1/1992, S. 32-40
[10] Rudolf Slánský (1901-1952), Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, war 1951 verhaftet und 1952 hingerichtet worden. Man nimmt an, daß er als Jude für den schlimmsten „Schauprozeß“ des osteuropäischen Stalinismus ausgesucht worden war.
[11] Claude Lanzmann: Shoa, Düsseldorf 1986, S. 61 ff., 67, 164 ff., 200 ff., 206 ff., 212 ff., 221 ff.
[12] KZ und Vernichtungslager am Südostrand Lublins.
[13] Gemeint sind die „Bauabschnitte“ in Birkenau. B II d war das „Männerlager“, B II a die „Quarantäne“.
[14] Ein aus den Rippen und Stengeln von Tabakblättern gefertigter starker Tabak, der von russischen Soldaten meist in Zeitungspapier gewickelt geraucht wurde.
[15] Ungarn war mit Deutschland verbündet, aber den rund 800.000 Juden im Land geschah zunächst nichts. Mitte März 1944 besetzten deutsche Truppen Ungarn und setzten dort eine Kollaborationsregierung ein. Jetzt kam auch dort die „Endlösung der Judenfrage“, koordiniert von Adolf Eichmann, auf Touren. Bis Ende Juni waren rund 440.000 Juden in Ghettos eingeschlossen und wurden danach nach Auschwitz deportiert. Anfang Juli untersagte die Regierung weitere Deportationen, da sie angesichts der immer schlechteren Kriegslage Deutschlands Angst vor alliierter Vergeltung hatte.
[16] „Rampe“ nannte man den Platz an dem Gleisanschluß, der direkt ins Lager Birkenau führte. Hier wurden bei Neuankömmlingen die „Selektionen“ vorgenommen, d.h. die Arbeitsfähigen von denen getrennt, die umgehend vergast wurden.
[17] „Kanada“ war die im Dezember 1943 in Birkenau, in Verlängerung des Bauabschnitts B II, in Betrieb genommene „Effektenkammer“, wo in 30 Baracken die den Gefangenen abgenommenen persönlichen Sachen verwahrt und weitergeleitet wurden. In Kanada waren ständige rund 2.000 Gefangene beschäftigt.
[18] „Begrüßung an der Rampe“ ist die nebenstehende Zeichnung betitelt, die der polnische Maler Władysław Siwek 1944 anfertigte. Siwek (1907-1983) war bis Oktober 1944 in Auschwitz gefangen, dann bis zu seiner Befreiung am 3. Mai 1945 in Sachsenhausen
[19] Gemeint ist das K IV, d.h. die Gaskammer mit Krematorium, die sich neben der oberen Erweiterung von B II, dem erwähnten „Kanada“, befand. Vrba erwähnt, daß sich die Gefangenen vor der Tötung ausziehen mussten, und es ist anzunehmen, daß ihre Kleidung sofort nach „Kanada“ ging. Anderenfalls hätte man sie in die beiden größeren Krematorien, K II und K III, bringen können, die direkt am Ende der Rampe standen.
[20] „Im Laufschritt“ war das Kommando, das Gefangene im KZ am häufigsten hörten. Im Krieg wurde es, aufgrund der ab 1938 vorbereiteten „Kriegsstrafrechts-Sonderverordnung“, allgemeine Norm in den KZs.
[21] Białystok, Stadt in Nordost-Polen, heute ca. 260.000 Einwohner. In der Stadt und ihrer Umgebung lebten zu Beginn des II. Weltkriegs zahlreiche Juden, die in drei Etappen liquidiert wurden. Die erste Etappe fiel in die Anfänge der deutschen Okkupation, dabei wurden 31.000 Juden sofort erschossen, viele nach Treblinka und Auschwitz deportiert und 210.000 wurden bis Herbst 1942 in Ghettos konzentriert. Die zweite Etappe begann Mitte Oktober 1942 und sollte zur Auflösung aller Ghettos und zum Abtransport aller Juden führen, was aber zunächst am Einspruch ziviler deutscher Behörden und der Armee scheiterte. Auf Befehl Himmlers wurden die Deportationen Mitte August 1943 wieder aufgenommen und mit großen Transporten nach Treblinka, Majdanek und Auschwitz durchgeführt.
[22] Das „Winterhilfswerk“ (WHW) wurde im September 1933 als Soforthilfe gegen Armut und Arbeitslosigkeit gegründet und am 1. Dezember 1936 per Gesetz bestätigt: Unter Leitung von Goebbels Propagandaministerium brachte es durch Sammlungen, Lotterien, Aktionen („Eintopfsonntag“) etc. gewaltige Mittel zusammen, die später die finanzielle Basis der „NS-Volkswohlfahrt“ bildeten. Während des Kriegs fungierte es als „Kriegswinterhilfswerk“, erlahmte aber ab Frühjahr 1943, nachdem immer mehr Menschen selber bedürftig wurden.
[23] Alle Gefangenen in Auschwitz trugen verschiedenfarbige Aufnäher, die ihre Nationalität, Funktion etc. bezeichneten. Dominierend waren die dreieckigen „Winkel“: rote Winkel bezeichneten politische, grüne kriminelle Gefangene.
[24] Jehuda Bauer, geboren 1926 in Prag, 1996-2000 Leiter von Yad Vashem, heute wissenschaftlicher Berater von dessen „International Center for Holocaust Studies“
[25] Über diese Institution urteilte Yad Vashem: „In every country that the Germans controlled during the war, they established a Jewish leadership organization commonly known as a Judenrat (Jewish Council) or an Aeltestenrat (Council of Elders). Many German allies, such as Slovakia, established similar institutions. The objective in establishing the councils was to have a tool by which to control the Jews, isolate them from the outside world, and implement various decrees. In general, the authorities tried to pack the councils with recognized prewar Jewish leaders and respected public figures. The councils were tragically torn between their desire to meet the Jews‘ needs and the harsh demands of the authorities. Jewish councils attempted to adopt various policies to help their Jews, from active support for underground groups and armed resistance to nearly total cooperation with the authorities in carrying out their policies, in the hope thereby of preventing measures worse than those already applied. With the coming of the mass deportations and the sense among many Jewish leaders that they would be murderous, the issue of obeying or disobeying Nazi commands assumed a much greater significance. The chairman of the Warsaw Judenrat, Adam Czerniakow, committed suicide rather than give into Nazi demands that he provide them with Jews for deportation. In Lodz, the chairman of the Judenrat, Mordechai Haim Rumkowski, chose to continue obeying Nazi demands. Hoping to save at least part of the ghetto population, primarily workers who he believed had a better chance of being spared, he provided lists of Jews for the Nazis and even pleaded with mothers to give up their small children. In contrast to the situation in Lodz, in the small ghetto of Tuchin the Judenrat planned and attempted armed resistance and mass escape – although with little success. Because of their diversity, it is extremely hard to characterize the behavior of Jewish leaders under the Nazis in general terms.
[26] Wortlaut: Zpráva Vrby a Wetzlera o německých vyhlazovacích táborech Osvětim a Brzezinka (Der Bericht von Vrba und Wetzler über die deutschen Vernichtungslager Auschwitz und Birkenau), www.holocaust.cz/cz2/resources/texts/zprava_vrba; (Seite nicht mehr abrufbar / Stand: 7. August 2015) vgl. auch John S. Conway: The First Report about Auschwitz, in: Simon Wiesenthal Center Annual 1