Am Sonntag, den 2. August 1942, kamen zwei SS-Männer in das Kloster der Karmeliterinnen in der niederländischen Stadt Echt. In befehlsgewohntem Ton fragten sie nach Sr. Teresa Benedicta a Cruce. Ihr Befehl war kurz und präzise: „Innerhalb von fünf Minuten, müssen Sie mit uns gehen.“ Es dauerte jedoch fast fünfzehn Minuten, bevor Sr. Teresa Benedicta und ihre Schwester Rosa, unter lautem Protest der auf der Straße stehenden Menschen, in einem Dienstwagen der SS weggebracht werden konnten. Wer war Schwester Theresa Benedicta a Cruce, mit dem bürgerlichen Namen Edith Stein? Immerhin hielten es die Machthaber des Dritten Reiches für notwendig, ihretwegen zwei SS-Männer und einen Dienstwagen einzusetzen.
„Am 12.Oktober 1891, wurde ich als Tochter des verstorbenen Kaufmanns Siegfried Stein und seiner Frau Auguste, geb. Courant, in Breslau geboren. Ich bin preußische Staatsangehörige und Jüdin“ (1). Diese kurzen Angaben genügten ihr: Ich wurde geboren, ich bin Preußin und Jüdin. Edith war das siebente und letzte Kind von Siegfried und Auguste Stein. Ihre Schwester Rosa Adelheid, geboren 1883, war damals bereits acht Jahre alt, ihr ältester Bruder Paul (1872), neunzehn. Rosa war in ihrer Jugend sehr temperamentvoll und wollte das Leben meistern. Später änderte sich das.
„Es genügt mir im Rückblick festzustellen, dass Tante Rosa in der Zeit, in der ich sie kannte kein glücklicher Mensch war und dass es, aus meiner Sicht, an plausiblen Gründen dafür nicht gefehlt hat. Sie war, was ihrem Temperament gar nicht entsprach, das Aschenbrödel, das zu Hause schuftete, während ihre Geschwister, wenn auch nicht gerade auf dem Ball tanzten, doch draußen in der Welt mehr oder weniger geachtete Berufe ausübten, und, bzw. oder eigenen Familien vorstanden. (2) Obwohl Rosa im Leben der Edith Stein eine wichtige Rolle spielen sollte, war sie nicht ihre Freundin in ihren Kindertagen. Das war zuerst die nur etwa ein Jahr ältere Schwester Erna (geboren 1890), später die etwas phlegmatischere Schwester Elfriede (geboren 1881).
Der Vater entstammte einer mehr liberal, als preußisch-national denkenden Familie. Das hinderte aber damals niemand daran, an seiner Hochzeit 1871 ein Gratulationslied nach der Melodie von „Die Wacht am Rhein“ zu singen, der inoffiziellen Kampfeshymne des Krieges. Siegfried Stein war Holzhändler. Auf einer Handelsreise erlitt er, eineinhalb Jahre nach Ediths Geburt, einen Hitzschlag. In den Erinnerungen Edith Steins, spielte er kaum eine Rolle. Umso mehr jedoch ihre Mutter.
Auguste Stein führte nach dem Tode ihres Mannes den Holzhandel zielstrebig und erfolgreich fort. Ihrer Mutter war die jüdische Religion wichtig. Sie legte besonderen Wert darauf, dass die jüdischen Festtage genauestens eingehalten wurden. Mochte ihr zuletzt geborenes Kind auch nach dem bürgerlichen Kalender am 12. Oktober geboren worden sein – für Auguste Stein war dieser Tag der 10. Tischri des Jahres 5652, Jom Kippur. Ein Kind, das am höchsten jüdischen Feiertag geboren worden wurde, war in ihren Augen für Größeres bestimmt und bedurfte deshalb besonderer Beachtung. „Meine Mutter hat auf diese Tatsache großen Wert gelegt“, sagt Edith Stein in ihrer Autobiographie, „und ich glaube, dass dies mehr als alles andere dazu beitragen hat, ihr jüngstes Kind besonders teuer zu machen.“ ( 1 )
Auguste Stein hatte dann auch die Entwicklung Ediths in besonderer Weise beachtet und begleitet. Das Gefühl, zu Größerem bestimmt zu sein, lebte auch in Edith: „In meinen Träumen sah ich immer eine glänzende Zukunft vor mir. Ich träumte von Glück und von Ruhm, denn ich war überzeugt, dass ich zu etwas Großem bestimmt sei und in die engen bürgerlichen Verhältnisse, in die ich hineingeboren war, gar nicht hineingehörte.“ Edith Stein liebte ihre Mutter, doch öffnen konnte sie sich ihr nicht. „Trotz der engen Verbundenheit, war meine Mutter nie meine Vertraute“ (1). Ihr Weg war innerlicher, es gab dort eine für andere verborgene Welt. Was sie am Tage sah und erlebte, musste sie allein in ihrem Innern verarbeiten. Der Anblick eines Betrunkenen beispielsweise, konnte sie tage- und nächtelang verfolgen. Dies war auch der Anstoß, dass sie nie einen Tropfen Alkohol zu sich nahm. Obwohl ihre Mutter praktizierende Jüdin war, konnte sie Edith dieses religiöse Leben nie vermitteln. Für Edith – wie auch für ihre Geschwister – war das religiöse Leben ihrer Mutter nur Ausdruck einer Treue zum Ritus. Es gab nur einen einzigen Begriff, den Auguste Stein ihren Kindern bleibend vermitteln konnte: den Begriff „Sünde“. Für alle war dies der Inbegriff des Hässlichen und Menschenunwürdigen.
Mit sechs Jahren ging Edith in die Viktoria Schule in Breslau. Auf Anhieb wurde sie die Beste ihrer Klasse. Ihre ganze Verwandtschaft nannte sie die „kluge Edith“ und lobte ihren Ehrgeiz und ihre Intelligenz. Das machte sie traurig „Ich wusste von den ersten Lebensjahren an, dass es viel wichtiger sei, gut zu sein, als klug.“ ( 1 ) Später wird sie diesen Satz zu ihrem Lebensprogramm erweitern: „Wir sind auf der Welt, um der Menschheit zu dienen. Das kann man am besten, wenn man das tut, wozu man die geeigneten Anlagen mitbringt.“ ( 1 )
Als sie zehn Jahre alt war, wurde sie zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert. Alles Verschweigen der Mutter half nichts. Sie erfuhr, dass ein Onkel mütterlicherseits Selbstmord begangen hatte. Ein Jahr später beging ein anderer Onkel, der Bruder ihres Vaters, Selbstmord. Als Edith Stein 15 Jahre alt war, hatte sie keine Lust mehr, in die Schule zu gehen. Ihre Mutter entschied, dass sie zu ihrer verheirateten Schwester Else, (geboren 1874), nach Hamburg gehen sollte. Else war mit dem Dermatologen Max Gordon verheiratet. Im Hause Gordon gab es kein religiöses Leben, aber manchmal „Bücher, die nicht gerade für ein Mädchen von 15 Jahren berechnet waren…. Außerdem waren Max und Else völlig ungläubig, Religion gab es in diesem Hause überhaupt nicht. Hier habe ich mir das Beten ganz bewusst und aus freien Stücken abgewöhnt“ (1).
Sechs Monate später, kehrte Edith wieder auf das Gymnasium zurück. Sie lernte voller Eifer, fleißig, diszipliniert und genau. Das Abitur bestand sie 1911 als eine der Besten. In Anspielung auf ihren Namen, meinte der Direktor des Gymnasiums einmal: Schlag an den Stein und Schätze springen hervor“ (1). Edith Stein war neunzehn Jahre alt, als sie mit dem Studium an der Universität Breslau begann. Die Studienfächer waren Deutsch, Geschichte und Philosophie, vor allem Psychologie. Sie war glücklich. In ihren Erinnerungen schreibt sie: „Die ständige Anspannung erweckte das beglückende Gefühl eines hochgesteigerten Lebens. Ich erschien mir als ein reiches und bevorzugtes Geschöpf“ (1). Ihr Leben war reich an Freundschaften, und leidenschaftlich interessierte sie sich für die Rechte der Frau. Dies war eine Entwicklung, die ihrer Mutter Sorgen bereitete. Edith war zwar klug, aber nicht fromm. Sie hatte dem Glauben ihrer Väter abgeschworen und war Atheistin geworden. Nur aus Pietät, begleitete sie ihre Mutter in die Synagoge. Rückblickend schreibt sie: „Meine Suche nach der Wahrheit, war ein einziges Gebet“ (1).
Die Suche nach der Wahrheit, war ihr wichtiger als alles andere. Um die Wahrheit zu finden, musste man sich auf die Grundlagen besinnen. Die Psychologie als Lehre von den Erscheinungen und Zuständen des bewussten und unbewussten Seelenlebens, so wie sie in Breslau damals gelehrt wurde, ließ Edith Stein diese Grundlagen vermissen. Ein Schüler Husserls, Dr. Moskiewicz, reichte ihr ein dickes Buch zum Lesen. Es war der II. Band von Husserls „Logische Untersuchungen“. Im Sommersemester 1913, zog Edith Stein nach Göttingen, wo Husserl lehrte. (3)
In Göttingen studierte sie Philosophie, Geschichte, Germanistik und Psychologie. Im Januar 1915, legte sie ihr Staatsexamen in Philosophie, Geschichte und Deutsch mit der Note Eins ab. Die Psychologie war fast vollständig in den Hintergrund getreten. Nach Edith Steins Meinung, fehlten ihr die klärenden Grundbegriffe. In diese Zeit fielen wichtige Begegnungen. Sie wurde Mitglied der „Philosophischen Gesellschaft“ und schloss dort viele Freundschaften. Sie lernte den Assistenten Husserls, Adolf Reinach (4) kennen. Reinach konvertierte kurze Zeit danach vom Judentum zum Christentum. Besonderen Eindruck auf sie machte Hans Lipps (5), ein junger Mann im Alter von 23.
Edith Stein war einer Heirat nicht abgeneigt. Doch bei dieser Freundschaft begegnete ihr ein Phänomen, dem sie noch oft in ihrem Leben begegnen sollte: Es ist leichter, die Frau eines Doktors zu werden, als selbst Doktor zu sein. Rückerinnernd schrieb sie dazu: „Bei aller Hingabe zur Arbeit, trug ich doch die Hoffnung auf eine große Liebe und glückliche Ehe im Herzen …. Es kam mir vor, dass mir unter den jungen Menschen, mit denen ich zusammenkam, einer mir sehr gut gefiel und dass ich ihn mir als den zukünftigen Lebensgefährten dachte. Aber davon merkte kaum jemand etwas, und so mochte ich den meisten Menschen kühl und unnahbar erscheinen“ (1). Hans Lipps reagierte nicht darauf. Erst viel später, nachdem er Witwer geworden war – bat er Edith Stein um ihre Hand. Sie jedoch sagte zu ihm: „Nun ist es zu spät, denn jetzt hat ein Anderer für immer die Hand auf mich gelegt.“ (1)
Der wichtigste Moment aber in ihrem Göttinger Leben war die Begegnung mit Edmund Husserl, dem Begründer der Phänomenologie. Husserl propagierte eine Rückkehr „zu den Sachen selbst“, wie sie sich dem Menschen ursprünglich darstellen.
Edith Stein fasste zusammen: „Der Blick wendet sich vom Subjekt ab und den Sachen zu: Die Erkenntnis scheint ein Empfangen, das von den Dingen sein Gesetz erhält, nicht ein Bestimmen, das den Dingen sein Gesetz aufnötigt.“ (1) Edith Stein hört die Vorlesungen von Husserl und besucht ihn in seinem Haus. Dort, im innersten Kreis, beantwortete Husserl die Fragen junger Philosophen und stellt sich ihrer Kritik. In Göttingen begegnete sie Max Scheler (6). Durch ihn kam sie zum ersten Male mit katholischen Ideen in Berührung. „Die Schranken rationalistischer Vorurteile, in denen ich aufgewachsen war, ohne es zu wissen, fielen, und die Welt des Glaubens, stand plötzlich vor mir“, (1) schrieb sie später. Das Christentum erschien Edith Stein als „ein Bereich von Phänomenen, an denen ich nun nicht mehr blind vorbeigehen konnte“ (1). Hinzu kam ein Erlebnis, das sie beschrieb: „Wir traten für einige Minuten in den Dom, und während wir in ehrfürchtigem Schweigen dort verweilten, kam eine Frau mit einem Marktkorb herein und kniete zu kurzem Gebet in einer Bank nieder. Das war für mich etwas ganz Neues. In die Synagogen und in die protestantischen Kirchen, die ich besucht hatte, ging man nur zum Gottesdienst. Hier aber kam jemand mitten aus den Werktagsgeschäften in die menschenleere Kirche wie zu einem vertrauten Gespräch. Das habe ich nie vergessen können.“ Zu ihren weiteren Bekanntschaften, zählten die beiden Husserlschüler Hedwig Martius und deren Mann Dr. Theodor Conrad. Mit Frau Hedwig Conrad-Martius (7), bleibt sie zeitlebens in tiefer Freundschaft verbunden.
Der erste Weltkrieg brachte entscheidende Veränderungen im Leben Edith Steins: „Den Ausbruch des Krieges habe ich als Durchbrechung meines persönlichen Lebensganges erlebt und zugleich als unser gemeinsames Schicksal“ (1). Rasch besann sie sich auf das, was ihre Überzeugung und die ihrer Familie war: sie war Preußin. Das Vaterland ist in Gefahr. Also würde sie ihre vaterländische Pflicht erfüllen: „Meine ganze Kraft gehört dem großen Geschehen. Wenn der Krieg vorbei ist und wenn ich dann noch lebe, dann darf ich wieder an meine privaten Angelegenheiten denken.“ (1) Dann belegt sie einen Kurs für Hilfsschwestern beim Roten Kreuz.
Im April 1915 bietet ihr das Rote Kreuz an, nach Mährisch-Weißkirchen zu fahren. Ihre Mutter ist strikt dagegen: „Mit meiner Einwilligung wirst du nicht gehen“. (1) Ediths Antwort war klar und eindeutig: Dann muss ich es ohne deine Einwilligung tun“ (1). In dem ihr zugewiesenen Militärkrankenhaus, wurden Soldaten gepflegt, die von der Karpatenfront zurückgekehrt waren. Dort arbeitete sie im Krankensaal der Typhuskranken und im Operationssaal. „Ich war froh über jede Arbeit, die man mir anvertraute und sprang auch gern für die anderen ein, wenn sie etwas vorhatten.“ Und: „Bei weitem am liebsten war mir der Kontakt mit den Patienten … der Nachtdienst war mir besonders lieb“. (1)
Nach fünf Monaten fühlte sie sich ausgelaugt. Sie nahm den Urlaub, der ihr bereits zwei Monate zuvor angeboten worden war. Wieder in Breslau zurück, war sie entschlossen, sobald als möglich wieder in diesem Krankenhaus zu arbeiten. Das Lazarett wurde jedoch wenig später geschlossen. Sie meldete sich erneut beim Roten Kreuz, wurde aber nicht einberufen. Stattdessen erhielt sie den Auftrag, am Breslauer Gymnasium Latein zu unterrichten. Nun saß sie mit ihren früheren Lehrern, soweit sie nicht an der Front waren, an einem Tisch im Lehrerzimmer. Parallel zum Unterricht, schrieb sie an ihrer Dissertation „Das Problem der Einfühlung“.
Im selben Jahr, erhielt Husserl eine Berufung an die Universität Freiburg. Der Übergang nach Freiburg war für Husserl nicht einfach. Sein Göttinger Kreis warf ihm „Verrat der reinen Lehre“ vor, während es ihm darum ging, die Phänomenologie weiter zu entwickeln. Edith Stein stellte sich kompromisslos auf seine Seite und übersandte ihm auch den Entwurf ihrer Dissertation. Dann fuhr sie selbst nach Freiburg und wurde Husserls Assistentin (bis 1918). Am 3. August 1916, legte Edith Stein ihre letzte Prüfung ab und wurde Doktor der Philosophie summa cum laude.
Im Jahr 1917, holte die grausame Wirklichkeit des Krieges Edith Stein ein. In Frankreich tobte ein erbitterter und aufreibender Kampf deutscher, französischer und englischer Soldaten. Husserl war deprimiert. Sein Sohn war gefallen. Im November 1917 fiel auch Professor Reinach in Flandern. Ein Jahr zuvor waren Herr und Frau Reinach vom Judentum zum Christentum konvertiert und waren evangelisch geworden. Frau Reinach bat Edith Stein, den philosophischen Nachlass ihres Mannes zu ordnen. Dazu war Edith Stein selbstverständlich bereit. Doch dieser Auftrag machte ihr Angst. Wie sollte sie tröstende Worte für die verzweifelte Witwe finden? Ihre Angst war jedoch unbegründet. Sie traf keine verzweifelte Witwe an. Frau Reinach war ein Mensch, der sich am Kreuz Christies festhielt und durch das Kreuz Kraft erhielt. Später schrieb Edith Stein darüber: „Es war dies meine erste Begegnung mit dem Kreuz und der göttlichen Kraft, die es seinen Trägern mitteilt. Ich sah zum ersten Mal die aus dem Erlöserleiden geborene Kirche über den Stachel des Todes handgreiflich vor mir.“
Die Arbeit bei Husserl gefiel ihr. Es galt, eine Unmenge stenografischer Notizen zu sichten und ordnen. Alles sollte übertragen und zur Veröffentlichung vorbereitet werden. Doch es kam anders. Oft war es so, dass Husserl seine früheren Arbeiten kaum beachtete. Edith Stein hatte auf eine fruchtbare philosophische Zusammenarbeit gehofft. Was übrig blieb, war die Arbeit einer Sekretärin, die zwar die Materie kannte, deren Arbeit aber fast nie in die neueren Arbeiten einflossen. 1918 kündigte Edith Stein. Danach schrieb sie eigene Arbeiten und betrieb ihre Habilitation.
Am 6. Februar 1919, schrieb ihr Husserl: „Sollte die akademische Laufbahn für Damen eröffnet werden, so könnte ich sie an allererster Stelle und aufs Wärmste empfehlen.“ Edith Stein verstand den Hinweis „sollte – eröffnet werden“. Sie wollte unter keinen Umständen die Frau sein, die brav hinter dem Stuhl des Herrn Professor steht, Notizen ordnet und sonst nichts. Sie begriff: für Husserl war wissenschaftliche Forschung eine reine Domäne der Männer. Die reine Phänomenologie und nüchterne Analyse, endete beim Unterschied der Geschlechter. Zudem hatte Edith Stein ein Proseminar als „philosophischer Kindergarten“ bezeichnet. Ihre Wege trennten sich endgültig. Martin Heidegger (8) wird Edith Steins Nachfolger und 1928 wird er dank Husserls Förderung, dessen Nachfolger auf dem Lehrstuhl.
Was wir von uns selbst erkennen,
ist nur die Oberfläche
Die Tiefe ist weitgehend
Auch uns selbst verborgen
Gott kennt sie
Edith Stein
Die folgenden zwei Jahre verbrachte Edith Stein in Breslau. Private Vorlesungen und eigene Arbeiten, bestimmen ihr Leben. In Erinnerung an das Jahr 1920 schrieb sie: „Während dieses ganzen Jahres war ich in Breslau. Es brannte mir zwar dort der Boden unter den Füßen. Ich befand mich in einer inneren Krise, die meinen Angehörigen verborgen war und die in unserem Haus nicht gelöst werden konnte. …… „Mir ging es damals gesundheitlich recht schlecht, wohl infolge seelischer Kämpfe, die ich ganz verborgen und ohne menschliche Hilfe durchmachte“. (1)
Im August 1921 war Edith Stein in Bergzabern in der Pfalz mehrere Monate zu Besuch bei Hedwig Conrad-Martius und ihrem Mann Theodor Conrad. Die Gespräche drehten sich um Themen der Philosophie. Eines Abends fuhr das Ehepaar weg und Edith Stein blieb allein zurück. Sie ging zum Bücherschrank. „Ich griff hineine aufs Geratewohl und holte ein umfangreiches Buch hervor. Es trug den Titel „Leben der Heiligen Theresia von Avila – von ihr selbst geschrieben“. Ich begann zu lesen und war sofort gefangen und hörte nicht mehr auf bis zum Ende. Als ich das Buch schloss, sagte ich mir `das ist die Wahrheit`“ (15).
Als Edith Stein das Buch zu Ende gelesen hatte, brach bereits die Morgendämmerung an. Sicher weiß man nur, dass sie an diesem Morgen fest entschlossen war, den christlichen Glauben anzunehmen und Karmelitin zu werden. Denn auf die dahin gehende Fragen von Hedwig Conrad-Martius, antwortete sie nur: „Secretum meum mihi“ = Mein Geheimnis gehört mir.“ (15, 17)
Noch am selben Tag kaufte sie sich einen katholischen Katechismus und ein Messbuch. Dann begann sie, jeden Tag das Stundenbuch zu beten. Edith Stein hat ihr Geheimnis immer bewahrt. Aufschluss über ihre Verwandlung, ergibt sich lediglich aus der Lebensbeschreibung der Teresa von Avila selbst. Teresas Autobiographie spricht von den Erfahrungen aus ihrer eigenen Bekehrung. Darin fand Edith Stein sich wieder.
Teresa von Avila (9) schreibt: „Ich führte ein höchst qualvolles Leben. Auf der einen Seite rief mich Gott, auf der anderen folgte ich der Welt. Während ich große Freude an allen göttlichen Dingen hatte, fesselten mich die weltlichen“ (9)- Und weiter: „Auf diesem ungestümen Meere trieb ich mich fast zwanzig Jahre herum, beständig fallend und mich wieder erhebend – leider aber nur, um danach aufs Neue zu fallen. … Ich verlangte nach Leben, denn ich sah wohl ein, dass ich nicht lebte, sondern mit einer Art Todesschatten rang.“ (9)
In diesem Zusammenhang, bezieht sich Teresa von Avila immer wieder auf die Bekehrung der Maria Magdalena. Ebenso ist die Bekehrung von Augustinus für sie wichtig: „Ich begann also die Bekenntnisse des heiligen Augustinus zu lesen. Dabei kam es mir vor, als sähe ich mich selbst darin geschildert, und fing an, mich diesem glorreichen Heiligen zu empfehlen ….“ (9) Später dann, beim Anblick einer mit Wunden bedeckten Christus Statue: „Bei dem Gedanken an die Undankbarkeit, womit ich Ihm diese Wunden vergolten, war mein Schmerz so groß, dass mir das Herz zu brechen schien. ….Ich meine, damals zu ihm gesagt zu haben, ich würde nicht eher aufstehen, als bis er meine Bitte erhört hätte. Denn ich hatte schon großes Misstrauen auf mich selbst und setzte jetzt mein ganzes Vertrauen auf Gott.“ (9) Edith Stein findet sich in diesen Zeilen nicht nur einfach wieder. Sie ist Phänomenologin und so betrachtet sie diese Texte mit der für sie so wichtigen Einfühlung. Für sie ist Teresa von Avila eine authentische Zeugin dafür, dass ihr jüdischer Bruder Jesus der Auferstandene ist und nicht irgendein Hochstapler. So wird für Edith Stein Teresa von Avila zum Brückenschlag zwischen ihr und Jesus. Als sie das Buch zuschlagen will, findet sie im letzten Kapitel einen Satz, den Teresa von Avila Jesus zuschreibt: „Weißt du, was es heißt, mich in Wahrheit zu lieben? Es heißt erkennen, dass alles, was mir nicht wohlgefällt, Lüge ist.“ (9).
Wer sich
den Händen
des Herrn
ganz übergibt,
kann vertrauen,
dass er sicher
geleitet wird.
Edith Stein
Einige Tage später, nachdem sie zum ersten Male die katholische Messe besucht hatte, bat sie den Priester um die Taufe. Dieser wies sie darauf hin, dass das ohne Vorbereitung nicht ginge. „Prüfen Sie mich“, antwortet sie und besteht die Prüfung, wohlbewandert in katholischer Theologie, ohne Zögern. Die Taufe wird auf den 1. Januar 1922 festgesetzt. Ihre Freundin, Hedwig Martius, obwohl evangelisch, kann die Taufpatin sein.
Doch was wird ihre Mutter dazu sagen? Edith Stein hat Angst. Sie rechnet damit, von ihrer Familie ausgestoßen zu werden. Denn die kann unmöglich Verständnis dafür haben. Sie wählt aber nicht den unverbindlichen Weg eines Briefes, sondern fährt zu ihrer Mutter nach Breslau. Sie kniet vor ihrer Mutter: „Mutter, ich bin katholisch“. Die Mutter weint. Damit hatte Edith nicht gerechnet. Noch nie zuvor, sah sie ihre Mutter weinen. Ein halbes Jahr bleibt sie in Breslau. Sie fastet mit ihrer Mutter und begleitet sie in die Synagoge. Wenn die Worte „Höre Israel, der Ewige, unser Gott, der Ewige ist einzig“, flüstert sie ihrer Mutter zu: Hörst du es? Dein Gott ist ein Einziger“. Ihre Mutter verstand sie nicht. Als Edith Stein nach Freiburg zurückkehrte, brach ihre Mutter den Kontakt zu ihr ab.
Das Leben ging weiter. Zunächst einmal musste die berufliche Frage geklärt werden. Husserl war freundlich, doch was ihre Habilitation betraf, immer noch zurückhaltend. In Speyer traf sie Generalvikar Schwind, der ihr Berater wurde. Das Erste, worüber sie sprachen, war ihr Wunsch, in den Karmel einzutreten. Schwind riet ihr ab. Zuerst sollte sie einmal in der katholischen Kirche heimisch werden. Auf seine Veranlassung hin, wurde sie (bis 1931) Lehrerin am Lehrerinnenseminar in Speyer, das von den Dominikanerinnen zur Hl. Maria Magdalena geführt wurde. Als Lehrerin war sie streng und legte hohe Maßstäbe. Doch bei ihren Schülerinnen war sie trotzdem beliebt. Eine ehemalige Schülerin schrieb: „Fräulein Doktor, hatte auch etwas unnahbares. … Sie war eben zu gescheit und bedeutend. Doch als Schülerin hatten wir großes Vertrauen zu ihr.“ Meine persönlichen Ansichten und innersten Gefühle konnte ich in den Schülerarbeiten, die nur in ihre Hände kamen, rückhaltlos niederlegen ….“ (15) Es war so, dass das, was man nicht in der Beichte zu sagen wagte, mit Edith Stein besprach. Im Jahr 1925 kam es auf Veranlassung von Generalvikar Schwind zu einer Begegnung mit dem Jesuitenpater Erich Przywara (10). Dieser regte sie an, die „Quaestiones disputatae de veritate“ von Thomas von Aquin zu übersetzen. Wieder ging es für Edith Stein um ihr zentrales Thema, die Wahrheit. 1930, während den Hochschulwochen in Salzburg, hielt sie eine Vortragsreihe „Das Ethos der Frauenberufe“. Zur selben Zeit übersetzte sie die Schriften des englischen Kardinals Newman (11).
Die ganzen Aktivitäten hielten sie nicht davon ab, ihr inneres, eigenes Leben zu führen. Sie lebte wie eine Klosterfrau und legte für sich die drei Gelübde ab. Im Jahr 1927, dem Todestag von Schwind, verbrachte Edith Stein die Ostertage im Benediktinerkloster Beuron und traf Erzabt Raphael Walzer (12). Edith Stein sprach mit ihm über ihren gewünschten Eintritt in den Karmel. Walzer riet ihr von einem sofortigen Eintritt ab. Ihm ging das alles zu schnell. Er sagte später von ihr: „Selten habe ich einen Menschen getroffen, der so viele und hohe Eigenschaften vereint hatte. Sie war schlicht mit einfachen Menschen, gelehrt mit Gelehrten, ohne alle Überhebung, mit Suchenden eine Suchende, beinahe möchte ich hinzufügen, mit den Sündern eine Sünderin“. (15) Edith Stein leistet weitere wissenschaftliche Arbeiten. Von nun an kommt es für sie darauf an, Arbeit als „Dienst für Gott“ zu leben. Leitbild ist ihr hierbei ein Satz von Kardinal Newman: „eine Persönlichkeitsstruktur, die echter Heiligkeit zum Verwechseln aussieht“. Erzabt Walzer verwies sie immer wieder auf die konkrete Arbeit als Lehrerin. Und so nahm sie 1932 den Ruf als Dozentin am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik an. In diesem Haus lebten viele junge Ordensfrauen. Die Regeln dort waren streng. Edith Stein durchbrach gleich zu Anfang eine: Sie aß mit den Studentinnen. Für die anderen Lehrerinnen bedeutete das eine Revolution. Da war eine Lehrerin, die sich mit ihren Schülerinnen auf dieselbe Stufe stellte. Edith Stein lächelte darüber nur. Worüber aber sie nicht lächelte und auch nicht lächeln konnte, war das Geschrei auf der Straße. Das Kreuz des Jesus von Nazareth, des Jeschuah ben Joseph, geboren in Bejit Lechem (Bethlehem = Haus des Brotes) hatte sich auf sein Volk gelegt. Edith Stein wusste, dass sie dieses Kreuz mittragen musste. Edith entschloss sich zu einem Brief an den Papst und um eine Enzyklika wegen der Judenverfolgungen zu veranlassen (13). Auf Grund des heiligen Jahrs 1933, wurde ihr eine Privataudienz verweigert. Allerdings ist die Antwort des Papstes von Edith Stein bezeugt: „Ich habe einige Zeit danach seinen Segen für mich und meine Angehörigen erhalten. Etwas anderes ist nicht erfolgt“ heißt es in ihren Aufzeichnungen (14). Eines der traurigsten Kapitel der katholischen Kirche hat begonnen.
Einige Studentinnen waren mit Edith Stein unzufrieden und wussten, dass sie Jüdin war. Sie erhielt Berufsverbot. Mit einer Freundin ging sie zum Gottesdienst in einer Kapelle der Karmeliterinnen: „…. Ich sprach mit dem Heiland und sagte ihm, ich wüsste, dass es sein Kreuz sei, das jetzt auf das jüdische Volk gelegt würde. Die meisten verstünden es nicht. Aber die es verstünden, die müssten es im Namen aller bereitwillig auf sich nehmen. Ich wollte das tun. Er sollte mir zeigen wie, ……“ (1, 15) Am 14. 10. 1933, trat sie in den Kölner Karmel ein. Am 15. April 1934, dem Sonntag des Guten Hirten, beginnt ihr Noviziat. Erzabt Walzer feierte den Gottesdienst. Ihre Taufpatin Hedwig Conrad-Martius war anwesend. Sie erhielt einen Ordensnamen: „Theresia Benedicta a Cruce“ = „Theresia Benedicta vom Kreuz“. Erzabt Walzer traute der ganzen Sache noch nicht ganz. Deshalb fragte er sie nach der Einkleidung, wie sie sich fühlen würde. „Ganz daheim“, antwortete sie ihm.
Im Kloster veränderte sich Sr. Theresia Benedicta. Sie wurde gelassener, konnte scherzen und lachen, bis ihr die Tränen herunter liefen. Dies ist jedoch nur eine Seite im Leben der Edith Stein. Ihre Novizenmeisterin berichtet: „Tatsächlich war der Eintritt in den Karmel für Edith Stein ein Herabsteigen von der Höhe der Ruhmeslaufbahn in die Tiefe der Bedeutungslosigkeit.“ (15) Trotz ihres Alters (sie war damals 42 Jahre alt) und ihres Ruhmes, gab es für sie keine Sonderregelung. Sie wurde, wie jede andere auch, zu Hausarbeiten und ähnlichen Tätigkeiten eingeteilt. Eine ehemalige Schülerin, die sie einmal besucht hatte, berichtet: „Sie war im Karmel viel mütterlicher geworden. Ich war davon so überrascht, dass ich nicht umhin konnte, ihr das zu sagen. Worauf sie lächelnd erwiderte:‚Ja, man wird nie fertig im Leben. Das muss noch kommen.“ (15)
Nach altem Brauch, durfte Edith Stein jeden Samstag einen Brief an ihre Mutter schreiben. Doch die antwortete zunächst nicht. Erst viel später, etwa 1935, nachdem Edith Stein ihr erstes Gelübde abgelegt hatte, setzte sie einige Worte auf einen Brief. Rosa Stein vermittelte zwischen beiden. Durch Zufall erfuhr Rosa, dass ihre Mutter einen Besuchstag des neuen Karmel Breslau-Pawelwitz wahrgenommen hatte. Auguste Stein starb am 14. September 1936. Es war das christliche Fest „Kreuzerhöhung“. Ihr Tod veränderte auch das Leben von Rosa Stein: “Rosa war, wie ihre Schwester Edith, auf dem Weg, zum katholischen Glauben zu konvertieren, verschob diesen Schritt aber bis nach dem Tod ihrer Mutter. Aber schon vor ihrer Taufe besuchte sie offenkundig die Messe und betete den Rosenkranz. Dies tat sie allerdings „sehr diskret’“ (2). Am 21. April 1938 legte Edith Stein den Ewigen Profess ab.
Doch die Zeiten in Deutschland sind noch schwerer geworden. Vor den Toren des Karmel hörte man den Marschtritt der SA, antisemitische Aufrufe beherrschen die Zeitungen. Edith Stein spürte, dass ihr Volk litt und verband sich noch fester mit ihm. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938, der „Reichskristallnacht“, entlud sich der sorgfältig inszenierte Judenhass. Edith Stein war erschüttert: „Das ist der Schatten des Kreuzes, der auf mein Volk fällt … Wehe, wenn die Rache Gottes für das, was heute an den Juden geschieht, über diese Stadt und über dieses Land kommt.“ (15)
In Köln war Edith Stein offiziell als Jüdin bekannt. Damit gefährdete sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Kommunität. Deshalb konnte sie nicht in Deutschland bleiben. In der Nacht des 31. Dezember 1938, brachte man sie im Auto eines befreundeten Arztes über die niederländische Grenze in den Karmel von Echt. Sie war – gerade noch rechtzeitig – der Gefahr entronnen. In Echt lernte sie niederländisch und sorgte dafür, dass ihre Schwester Rosa ebenfalls kommen konnte, was auch 1940 möglich wurde. Rosa wurde Pförtnerin außerhalb der Klausur
Im Jahr 1940, besetzten die Deutschen die Niederlande. Die Gefahr, der Edith Stein in Köln knapp entronnen war, hatte sie eingeholt. Es liefen zwar Verhandlungen mit dem Karmel Le Paquier in der Schweiz, doch die zunehmenden Kriegsgefahren verhinderte eine rasche Abwicklung. Edith Stein weigerte sich auch, ohne ihre Schwester Rosa nach Le Paquier zu gehen.
Für das Jahr 1942 waren zum 400. Jahrestag des heiligen Johannes vom Kreuz (16) geplant. Von ihrer Priorin erhielt Edith Stein den Auftrag, ein Buch über diesen Heiligen zu schreiben. So entstand ihr letztes – aber unvollendetes – Werk, „Die Kreuzwissenschaft“. Hier verband sich für Edith Stein das Christentum mit dem Judentum. Das Kreuz von Ostern, das Mysterium der Liebe, schmachvolle Vernichtung, untrennbar verbunden mit der glorreichen Auferstehung. Das war für sie das eine. Das Andere: bereits in ihrer Autobiographie, sprach sie von „deutschen Juden“, zu denen sie sich selbst zählt. Jetzt erlebte sie das Drama der Judenverfolgung doppelt: als Deutsche und Jüdin. So entstand ihr letztes Werk „Kreuzwissenschaft“. Ende 1941, schrieb Edith Stein an ihre Priorin: „Eine scienta crucis (Kreuzwissenschaft) kann man nur gewinnen, wenn man das Kreuz gründlich zu spüren bekommt. Davon war ich vom ersten Augenblick überzeugt.“ (15)
In den Niederlanden verschlimmerte sich die Lage immer mehr. Von den Kanzeln predigten die Priester aller christlichen Konfessionen gegen die Judenverfolgung. Anfang 1942 wurde Edith Stein zusammen mit ihrer Schwester Rosa in das Büro der Gestapo in Maastricht beordert. Als Edith das Büro betrat, grüßte sie nicht vorschriftsmäßig mit „Heil Hitler“, sondern mit „Gelobt sei Jesus Christus“. Später erklärte sie ihrer Priorin, dass dieses Verhalten zwar menschlich unklug, trotzdem aber unbedingt gewesen war. Hier ginge es nicht um Politik, sondern um den uralten Kampf zwischen gut und böse. Die Folge war, dass die beiden Schwestern mit sofortiger Wirkung den Judenstern tragen mussten. (15)
Am 11. Juli 1942 hatten die katholischen Bischöfe zusammen mit allen christlichen Kirchengemeinden in Holland ein Telegramm an General Christiansen nach Den Haag geschickt, indem sie nochmals gegen die Judenverfolgung protestierten. Am Sonntag, den 26. Juli, ließen die Bischöfe in allen Kirchen einen Hirtenbrief verlesen, der auch den Text des Telegramms enthielt. Die deutsche Besatzungsmacht versuchte dies zu verhindern. Der Erzbischof von Utrecht, de Jong, wies jede Einmischung zurück.
Am 28. Juli, zwei Tage nach Verlesen des Hirtenbriefes, erfuhr Edith Stein, dass ihr Bruder Paul samt seiner Familie nach Theresienstadt gebracht worden war. Die Familie starb dort am 29. April 1943. Die Schwester Elfriede kam auch nach Theresienstadt und starb in einem unbekannten Konzentrationslager. (17)
Am 29. Juli schrieb Edith Stein auf eine Postkarte: „Ich nehme es, wie Gott es fügt.“ (15) Am 2. August 1942, um 5 Uhr nachmittags, war es soweit. Zu der Priorin, die herbei geeilt war, sagten die zwei SS-Männer nur noch: „Wir haben keine Zeit … Gebt ihr eine Decke, einen Becher und einen Löffel mit und Proviant für drei Tage“. Rosa traf dasselbe Schicksal. Edith Stein fasste sie bei der Hand und sagte: „Komm, wir gehen für unser Volk“. (15 und 17)
Über Roermond ging es mit dem Überfallwagen in das Lager Amersfoort, wo sie morgens gegen 3 Uhr ankamen. Einen Tag später wurden sie in das KZ Westerbork gebracht, das als Sammellager diente. Das Lager unterstand der holländischen Polizei. Diese erlaubte den Schwestern (es waren zehn) und zwei Ordenspriestern, Boten Briefe nach draußen mitzugeben. Edith Stein schrieb an ihre Priorin: „Wir vertrauen auf euer Gebet. Es sind hier so viele Menschen, die etwas Trost brauchen, und sie erwarten ihn von den Schwestern.“ (15)
Ein Jude aus Köln, der nicht deportiert wurde, berichtete: „Unter den am 5. August eingelieferten Gefangenen, fiel Sr. Benedicta auf durch ihr große Ruhe und Gelassenheit. Der Jammer im Lager und die Aufregung bei den Neueingetroffenen, waren unbeschreiblich. Sr. Benedicta ging unter den Frauen umher, tröstend, helfend, beruhigend wie ein Engel. Viele Mütter, fast dem Wahnsinn nahe, hatten sich schon tagelang nicht um ihre Kinder gekümmert und brüteten in dumpfer Verzweiflung dahin. Sr. Benedicta nahm sich sofort der armen Kinder an, wusch und kämmte sie, sorgte für Nahrung und Pflege. ,….“ (15) Am 7. August, morgens um 3.30 Uhr, fuhr der Zug mit den Gefangenen nach Schifferstadt bei Speyer. Hier wurde Edith Stein und ihre Schwester Rosa zum letzten Mal gesehen. Am 9. August 1942, kam der Transportzug in Auschwitz-Birkenau an. Es ist bekannt, dass damals die Gefangenen sofort in die Gaskammer geführt wurden. (15)
Autor: Heinrich Y. Werner
Anmerkungen
(1) Aus dem Leben einer jüdischen Familie“ ESW Bde. 7 – 9.
(2) Biberstein, Erinnerungen an meine Tante Rosa. Vrgl. Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon www.bautz.de/bbkl/s/s4/stein_r_a.shtml (Seite nicht mehr abrufbar / 15. November 2014) (Snapshot vom 29. Juni 2007 in der Internet Archive Wayback Machine)
(3) Husserl, Edmund (8. April. 1859 – 27. April 1938) Begründer der Phänomenologie
(4) Reinach, Adolf (23. Dezember. 1883 – 16. November 1917), Philosoph, Phänomenologe und Rechtshistoriker. Fiel 1917 bei Diksmuide, (Belgien).
(5) Lipps, Hans (22. November 1819 – 10. September. 1941) Philosoph. Fiel 1941 in Shabero/Ochwat, Russland
6. Scheler, Max (22. August 1874 – 19. Mai 1928), Philosoph. Konvertierte vom Judentum zum Christentum
(7) Conrad-Martius, Hedwig (27. Februar 1888 – 15. Februar 1966). Phänomenologin, Schülerin Husserls –jedoch vergeblicher Versuch zur Habilitation, Freundin Edith Steins. 1933 wegen ihrer jüdischen Abstammung mit Berufsverbot belegt.
(8) Heidegger, Martin (26. September 1889 – 26. Mai 1976), Philosoph. Wichtigstes Werk: „Sein und Zeit“ (1927)
(9) Teresa von Avila (28. März 1515 – 4. Oktober 1582) Zitate aus „Die Lebensgeschichte“ (orig.: Vida, 1565 vollendet)
(10) Przywara, Erich SJ (12. Oktober 1889 – 28. September 1972), Jesuit, Philosoph und Theologe. Leitete bis zum Verbot 1933 die Zeitschrift „Stimmen der Zeit“. Schrieb 1934 das Buch „Augustinus. Die Gestalt als Gefüge“, das Sophie Scholl im Frühjahr 1941 las, als sie ihren Reichsarbeitsdienst ableisten musste.
(11) Newman, John Henry (21. Februar 1801 – 11. August 1890) Anglikanischer Pfarrer und Theologe. Konversion zum Katholizismus. Wegbereiter eines vom Wissenshorizont der Moderne verantworteten Katholizismus.
(12) Walzer, Raphael, OSB (1888 – 1966), Erzabt Kloster Beuron. Geistlicher Begleiter von Edith Stein und enger Freund von Staatspräsident Eugen Bolz, der 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde. Er wurde 1935 „ausgebürgert und leitete später ein Priesterseminar für Kriegsgefangene in Revet (Algerien), später in Chartres. Der Ordensname Edith Steins „Benedicta“, bezieht sich auf den Orden der Benediktiner bzw. auf Benedikt.
(13) Text des Briefes: siehe Anlage
(14) Antwort des Papstes, von Edith Stein erwähnt. Vrgl. hierzu http://religion.orf.at/projekt02/news/0302/ne030219_stein_fr.htm oder: http://www.jcrelations.net/de/?item=1893
(15) Edith Stein Gesellschaft http://www.karmel.at/edith/esg/wetter.htm
(16) Johannes vom Kreuz (24. Juni 1542 – 15. Dezember 1591) Mitglied des Karmelitenordens, Mystiker und Kirchenlehrer. „Die dunkle Nacht“, worin er Seelenzustände fortgeschrittener Mystiker beschreibt.
(17) Elisabeth Endres, Edith Stein. Serie Piper Bd. 1690