Tschechischer Quisling im „Protektorat Böhmen und Mähren“
Als Václav Havel noch Präsident war, hat er sie einmal „blbá naláda“ (blödsinnige Stimmung) genannt: die wuselige Aufgeregtheit, die die tschechische Politik permanent umtreibt, die nahezu manische Fixiertheit auf den großen deutschen Nachbarn, die quälende Vergangenheitsbeschäftigung im Zeichen eines latenten Selbsthasses. Die Tschechen leiden an einem „Hände-hoch-Syndrom“, hat es Havels Kulturberater Pavel Tigrid einmal formuliert: Viermal in jüngster Historie haben Land und Volk widerstandslos kapituliert – 1938 vor dem Münchner Abkommen, 1939 vor Hitler, der die Tschechen im „Protektorat Böhmen und Mähren“ einsperrte, 1948 vor den Kommunisten und ihrer putschartigen Machtübernahme und 1968 vor den Sowjets und ihren Hilfstruppen aus dem „Warschauer Pakt“, die die Tschechoslowakei überfielen und okkupierten.
Es war die spezifische Anpassung an alle diese Umbrüche, die nachträglich bittere Reflexionen und Schuldzuweisungen auslöste. Nach dem Zweiten Weltkrieg kursierte bei Tschechen ein bezeichnender Witz: Ein Tscheche und ein Serbe unterhalten sich. Der Serbe: „Wir haben im Krieg jeden Deutschen, den wir kriegen konnten, sofort erschossen, besser noch erstochen, das sparte Munition“. Der Tscheche: „Das hätten wir auch gern getan, aber leider war es bei uns verboten…“
Die Tschechen haben „es“ nicht getan – wenigstens nicht in einer Intensität, die sich mit dem Widerstand der Slowaken vergleichen ließe, von südslavischen Völkern gar nicht zu reden[1]. Warum nicht? Václav Havel hat 1994, in seiner großen Rede vor dem Deutschen Bundestag, von „schlechten Tschechen und Slowaken, Kollaborateuren und Denunzianten“, gesprochen, die den Widerstand behinderten. Natürlich hatte der Präsident diesen Befund nicht verabsolutiert, aber richtig ist, daß es gerade unter Tschechen solche Typen gab – nicht besonders viele, aber sehr wirkungsmächtige und im Dienst der deutschen Okkupanten übereifrige. Als Prototyp gilt zu Recht der ehemalige Offizier Emanuel Moravec (Bild).
NS-Deutschland und die Tschechoslowakei
Alles begann am 30. September 1938, als die Tschechoslowakei auf kombinierten Druck Deutschlands, Italiens, Frankreichs und Englands hin das Münchner Abkommen akzeptierte, das ihr grenznahes „Sudetenland“ (ca. 33% des Territoriums, 40% der Industriekapazität und eine militärisch maximal befestigte Region) Hitlers „Großdeutschland“ angliederte. Am 5. Oktober 1938 trat Präsident Edvard Beneš zurück und ging drei Wochen später ins Londoner Exil. Am 7. und 11. Oktober bildeten die Landesteile Slowakei und Karpato-Ukraine „autonome“ Regierungen, am 30. November wurde in Prag der ehemalige Präsident des Obersten Verwaltungsgerichts Emil Hácha (1872–1945, Bild) zum Präsidenten der nunmehrigen „Zweiten Republik“ gewählt.
Das Sudetenland sei seine „letzte territoriale Forderung“, hatte Hitler vor München mehrfach erklärt, aber das war, wie immer, eine Lüge. Am 14. März 1939 sagte sich die Slowakei auf seinen Druck hin von Prag los und proklamierte sich als eigener „Staat“, der sich ab Juni „Slowakische Republik“ (Slovenská republika) nannte. Einen Tag später drohte Hitler in Berlin Präsident Hácha und Außenminister Frantisek Chvalkovský mit einem militärischen Einsatz gegen Böhmen und Mähren. Chancenlos legte Hácha „die Geschicke Böhmens und Mährens vertrauensvoll in die Hände des Führers des Deutschen Reichs“ (so seine eigenen Worte). Am 15. März 1939 marschierte die deutsche Armee ein, am 16. März dekretierte Hitler die Bildung des „Protektorats Böhmen und Mähren“. Offiziell war dem Protektorat alles garantiert, was nicht „die Interessen des Reichs bedrohte“, tatsächlich blieb ihm so gut wie nichts: Keine Ministerien für Auswärtiges und Verteidigung, kein Parlament, keine Parteien etc.
Höchste und letzte Instanz war der „Reichsprotektor“, welches Amt ab 5. April der betagte Diplomat Konstantin von Neurath (1873–1956, Bild) ausübte. Er war ein Akteur jenes Teils deutscher Protektoratspolitik, die Böhmen und Mähren als hochwertige Industriegebiete und Heimat einer fleißigen und begabten Bevölkerung nutzen und bewahren wollte. Der „liberale“ v. Neurath betrieb diese Politik extensiv, wie an ungezählten Details ablesbar war: Bis 1941 (als Frankreich und England längst im Krieg mit Deutschland waren) unterhielten die USA noch eine diplomatische Vertretung im Protektorat, Präsident Hácha und die gesamte Protektoratsregierung verweigerten im Herbst 1939 einen Treueeid auf Hitler (mit der interessanten Begründung, daß dieser seine eigenen Bestimmungen zum Protektorat gebrochen habe, da dieses massiv germanisiert würde), die Amtssprache der Regierung blieb Tschechisch, ihre Kontakte zur Londoner Exilregierung waren zwar nicht offiziell, aber doch toleriert, die von den Deutschen im Frühjahr 1939 initiierte „Partei“ Národní souručenství (Nationale Gemeinschaft) erfreute sich für lange Zeit sogar eines gewissen Zulaufs, da sie sich als Wächterin der von Berlin zugesagten Autonomie der Tschechen betätigte. Und wenn es nötig war, half von Neurath den Tschechen: Er instruierte Hácha, wie dieser ein Glückwunsch-Telegramm zu Hitlers 51. Geburtstag formulieren müsse, damit 150 tschechische Studenten aus dem KZ Sachsenhausen entlassen würden. Derartige „ksefty“ (Geschäfte) wurden bis Kriegsende immer wieder mal gemacht: Wann immer deutsche Protektoratsführer tschechische Loyalitätsbeweise benötigten, konnten sie sich diese mit Entlassungen von Tschechen aus KZs „erkaufen“.[2]
Dominierend aber war das Empfinden, daß mit dem Protektorat allen Tschechen eine neokoloniale Herrschaft aufoktroyiert worden war. Der Zorn der Bevölkerung entlud sich schon 1939 in einigen Demonstrationen – am 30. September, dem ersten Jahrestag des Münchner Abkommens, und am 28. Oktober, dem Staatsfeiertag der Ersten Republik. Laut Regierungsverordnung vom 18. September 1939 sollte der kein Feiertag mehr sein, sondern „ein gewöhnlicher Tag“, aber das empfanden die tschechischen Studenten anders. Ihre anfänglich friedlichen Demonstrationen wuchsen sich zu Massenaufmärschen aus, die die SS mit Schüssen auseinander trieb. Dabei verlor u. a. der Medizinstudent Jan Opletal (1915–1939) sein Leben. Von da ab kam mehr und mehr der andere Teil deutscher Politik zur Geltung, der auf Repression, Germanisierung und rassische Verfolgung setzte. Am 16. November 1939 ordnete Hitler eine „Sonderaktion“ an, bei welcher am folgenden Tag alle tschechischen Hochschulen geschlossen und bis Kriegsende nicht wieder eröffnet wurden.
Repräsentant dieser „harten Welle“ war SS-Obergruppenführer Reinhard Tristan Eugen Heydrich (1904–1942, Bild), der am 27. September 1941 sein Amt als (so der offizielle Titel) „Stellvertretender Reichsprotektor“ antrat. Damit begann die zweite Phase der Protektorats-Entwicklung, die vor allem von dem seit Sommer 1941 laufenden deutschen „Feldzug“ gegen die Sowjetunion geprägt war. Diese Ausweitung des Kriegs verlangte „Ruhe im Hinterland“, und das bedeutete für das Protektorat: maximale Wirtschaftsleistung, intensivste Germanisierung, rücksichtslose Unterdrückung aller Formen von Widerstand und radikale Durchsetzung der NS-„Rassenpolitik“. Für alles das war Heydrich der geeignete Mann, dessen Vorstellung vom Protektorat höchst einfach war: „Letztendlich hat der Tscheche hier nichts zu suchen“.
Offiziell firmierte Heydrichs Politik als „Reform“, was sie zum kleinsten Teil auch war: Er führte sich mit einigen Sozialmaßnahmen ein, die besser aussahen, als sie in Wirklichkeit waren: Erhöhung des Arbeitslosengeldes (bedeutungslos in einer Zeit des harschen Mangels an Arbeitskräften, dem mit „Arbeitsverpflichtungen“ begegnet wurde), Erholungsplätze für Arbeit in Luxushotels (die alle unter deutscher Verwaltung standen) etc. Daneben aber standen konkrete Zwangsmaßnahmen, aus denen Heydrichs Grundüberzeugung sprach: „Ein tschechisches Kabinett, das darüber debattiert, ob es meine Instruktionen erfüllt oder nicht, dulde ich nicht. Tschechische Minister haben nur darüber zu debattieren, wie sie sie durchführen“. Entsprechend sahen Heydrichs erste Schritte aus: Noch am Tag seines Amtsantritts ließ er Ministerpräsident Eliás verhaften, ihn in einem Schauprozeß zum Tode verurteilen und hinrichten. Für das ganze Protektorat verfügte Heydrich ein dreimonatiges „Standrecht“, wobei Hunderte Aktivisten des Widerstands ohne Gerichtsurteil liquidiert wurden, den Schulen verordnete er ein rigoroses Germanisierungsprogramm, er verschärfte die antijüdischen Maßnahmen etc.
Emanuel Moravec und die tschechischen Nationalsozialisten
Zwischen dem 16. März 1939 und dem 5. Mai 1945 erlebte das Protektorat vier Regierungen.[3] Alle waren personell höchst heterogen: Die Spannbreite reichte von ehrenwerten Patrioten, die mit einer „Verzögerungspolitik“ (retardační politika) das Schlimmste verhüten wollten, bis hin zu charakterlosen Kollaborateuren, denen die völlige Auslieferung des Landes an Hitler nicht schnell und nicht radikal genug gehen konnte. Oberster Repräsentant dieser Verräterfraktion war Emanuel Moravec, dessen brutales Lakaientum das seiner Geistesverwandten in anderen Regionen (Quisling, Mussert, Vlasov etc.) um ein Mehrfaches übertraf.
Emanuel Moravec wurde am 17. April 1893 in Prag geboren. Vor dem Ersten Weltkrieg absolvierte er eine Fachschule für Industrie. Bei Kriegsbeginn zog man ihn zur Armee Österreich-Ungarns ein, er desertierte aber bald auf die russische Seite. Aus den vielen Tschechen, die im Kriegsverlauf dasselbe taten, bildete sich auf russischem Boden die „Tschechische Legion“[4], zu der auch Moravec stieß, sich an zahlreichen Kämpfen beteiligte und immer höhere Positionen einnahm. Nach der Rückkehr in die Heimat, die seit Oktober 1918 die souveräne Republik Tschechoslowakei war, besuchte er in den frühen 1920er Jahren die Prager Militärhochschule und arrivierte rasch –1924 war er bereits Chef der Nachrichtenabteilung des „Hauptstabs“ der Tschechoslowakischen Armee. Nach 1931 lehrte er Kriegsgeschichte und Strategie an der Militärhochschule, kommandierte daneben ein Infanterieregiment, war ein vielbeschäftigter Autor für Militär- und Sicherheitsprobleme und politischer Fürsprecher einer engen Anbindung an Frankreich und die Sowjetunion.
Bis 1938 war Moravec ein überzeugter Demokrat, begeisterter Anhänger von Beneš und flammender Tribun einer militärischen Verteidigung der Tschechoslowakei „bis zum letzten Blutstropfen“. Nach dem Münchner Abkommen vollzog er einen radikalen Schwenk: Wenn nicht gegen die Deutschen, dann mit ihnen! Motive und Erwartungen schrieb er in einem 400-Seiten-Buch nieder, das im Juni 1939 abgeschlossen war und bei den deutschen Protektoratsbehörden so gut ankam, daß es schon im Juli 1940 in deutscher Übersetzung erschien und danach zahlreiche Auflagen erlebte.[5]
Heimlicher „Regisseur“ von Moravec‘ Frontwechsel war der Sudetendeutsche Karl Hermann Frank (1898–1946, Bild), ursprünglich Buchhändler in Karlovy Vary, später SS-Obergruppenführer und Staatssekretär beim Reichsprotektor, ab 20. August 1944 „Staatsminister für Böhmen und Mähren“. Frank hatte Moravec interessiert beobachtet und Heydrich auf ihn aufmerksam gemacht – der ihm ein „Generalpardon“ für alles erteilte, was Moravec vor 1938 gesagt und getan hatte. Frank ging es um die Propagierung des „Rechts auf die Wiedereinbeziehung des böhmisch-mährischen Raumes in den ausschließlichen Bereich politischer Verantwortlichkeit des Deutschen Reichs“[6], und dabei war ihm Moravec ein guter Helfer.
uch vor Heydrich konnte Frank jemanden wie Moravec gut gebrauchen – gegen den Reichsprotektor v. Neurath und die von ihm tolerierten Protektoratsregierungen. Die zweite Regierung wurde vom 27. April 1939 bis zum 27. September 1941 von General Alois Eliás (1890–1942, Bild) geführt. In der Ersten Republik war Eliás einer der führenden Militärs gewesen: Vize-Chef des Generalstabs, Militärberater von Präsident Beneš, tschechoslowakischer Repräsentant im Völkerbund etc. 1937 hatte er den Trauerzug beim Begräbnis von Staatsgründer Tomás Masaryk angeführt, in dem sechs Soldaten die Staatsflagge trugen, wobei jeder aus einer der in der Republik ansässigen Nationalitäten stammte, also auch ein Deutscher. Während der München-Krise 1938 befürwortete Moravec, zusammen mit anderen Generälen, die aktive Verteidigung der Tschechoslowakei, später fand er sich zu einer begrenzten Kollaboration bereit, um den Lauf der Dinge nicht den „Lumpen“ (lumpové) der tschechischen Faschistenorganisation „Vlajka“ (Flagge) und Deutschen wie Frank zu überlassen. Als Chef der Protektoratsregierung verfolgte Eliás eine äußerst wagemutige Taktik: Er ließ Beneš in London wissen, daß er ihn nach wie vor als legitimen Staatspräsidenten ansähe und sich ihm völlig „zur Disposition“ stelle; über die ÚVOD (Zentralführung des heimischen Widerstands) hielt er laufend Kontakt nach London, und in Prag betrieb er kunstvoll die „Verzögerungspolitik“, besonders wenn es darum ging, antijüdische und „germanisierende“ Maßnahmen zu stoppen.
Diese „Idylle“ hörte mit Heydrich natürlich auf, dennoch hatten er und vor ihm Frank für Moravec mehr als eine Verwendung. Moravec war die „graue Eminenz“ eines zwar lautstarken, aber mitgliederschwachen NS-Netzwerks unter den Tschechen, das unter seiner (direkten oder indirekten) Leitung zur Pressure group deutscher Protektoratspolitik wurde[7].
Zu diesen Organisationen gehörten die „Nationale Faschisten-Gemeinde“ (Národní Obec Fasistická), gegründet 1925 von General Radola Gajda (Rudolf Geidel, 1892–1948, Bild), die bei den Parlamentswahlen von 1935 immerhin fast 170.000 Stimmen und sechs Sitze gewann; der „Tschechische Kriegerverband“ (Český Svaz Válečníků), ein Traditionsverein von ehemaligen Soldaten Österreich-Ungarns; die „Svatopluk-Garden“ (Svatoplukovy Gardy), eine nach dem großmährischen Fürsten aus dem 9. Jahrhundert benannte uniformierte Vereinigung, die schon 1939 die absolute Kollaboration befürwortete; der „Tschechische Verband für Zusammenarbeit mit den Deutschen“ (Český Svaz pro Spolupráci s Němci), der sich von der Kollaboration Vorteile für Wirtschaft und Handel versprach; die „Tschechoslowakische Handschriften-Gesellschaft“ (Československá Společnost Rukopisná), ein 1931 gegründeter bizarrer Verein, der sich um den Nachweis der Echtheit der „Královédvorská“ und „Zelenohorská“-Handschriften – zwei geniale Fälschungen des Bibliothekars Václav Hanka (1791–1861), von Staatsgründer Tomás Masaryk und anderen längst als solche entlarvt – bemühte. Eine höchst wunderliche Aktivität entwickelten mährische Organisationen wie etwa die Gruppe „Ethnographisches Mähren“ (Národopisná Morava), die unter der Führung von Jan Úprka (1900–1975) einen Anschluß an die „Republik Slowakei“ anstrebte, und das sog. „Grüne Hakenkreuz“ (Zelený hákový kříž), offiziell „Nationalsozialistische Tschechische Arbeiter- und Bauernpartei“ (Národnĕ socialistická česká dĕlnická a rolnická strana), eine ursprünglich „linke“ Partei, die nach 1939 zur rechtsextremen, antisemitischen Organisation mutierte und unter dem Slogan „Blut, Sprache, Boden“ (krev, jazyk, půda) für die „tschechische nationale Revolution“ stritt. 1942 löste sie sich auf, und zahlreiche ihrer Mitglieder verdingten sich bei der deutschen „Organisation Todt“, um in deren Auftrag Arbeitskolonnen im eroberten Osten (Ukraine. Weißrußland) anzuführen.
Moravec und Protektoratspresse
Wichtigste aller dieser Gruppen war die erwähnte „Vlajka“, ursprünglich der Titel einer nationalistischen Zeitschrift, 1928 gegründet von dem Philosophen Frantisek Mares (1857–1941) als „Revue der Bewegung für eine neue Tschechoslowakei“. Mares, der auch als Physiologe international angesehen war, galt als „enfant terrible“ der tschechischen Wissenschaft, Kultur und Politik, war dennoch 1920/21 Rektor der altehrwürdigen Prager Karls-Universität. Durch ihn und Mitarbeiter wie den anarchistischen Dichter Viktor Dyk (1877–1931) und weitere genoß das Blatt einige Reputation. Am 3. April 1930 formierte sich um die Zeitschrift der „Politische Klub Vlajka“, der nach 1939 zur starken Organisation anwuchs, die die radikalste Befürworterin einer rückhaltlosen Kollaboration war. 1940 zählte sie 11.000 Mitglieder, von denen sich viele als eifrige Denunzianten betätigten.[8] Ab dem 21. Juni 1939 gab sie die „Vlajka – Tageszeitung für modernes Nationalbewußtsein“ heraus. 1942 starteten die „Vlajka“ und ihr Führer Jan Rys-Rozsévač (1901–1946) – ein berüchtigter Tribun, dessen antisemitische Kundgebungen in der Prager „Lucerna“ bis zu 6.000 Teilnehmer anzogen – eine eskalierende Kampagne gegen Moravec. Als das Gezeter der „Vlajka“-Führer nicht aufhören wollte, ließ Frank sie kurzerhand verhaften und am Jahresende 1942 ins KZ Dachau bringen – als „Ehrenhäftlinge“.
Noch 1926 hatte Moravec in einem Prozeß gegen R. Gajda als Hauptzeuge ausgesagt und maßgeblich die Degradierung des faschistischen Generals zum einfachen Soldaten bewirkt – nach 1939 schlug er selber radikalste Töne an. Die ersten Protektoratsregierungen waren für ihn nur „bebrillte Mandarine“, unter denen „wir mit tschechischen Händen Ordnung schaffen werden“. Er habe auch nichts dagegen, „wenn 100.000 tschechische Intellektuelle liquidiert würden, denn für das Volk ist ein ehrlicher Arbeiter wichtiger als eine Handvoll Schreiberlinge“. Diese Mischung aus Radikalität und Antiintellektualität qualifizierte Moravec bald für höhere Aufgaben: In der dritten (19. Januar 1942–19. Januar 1945) und vierten Protektoratsregierung (19. Januar–5. Mai 1945) war er Minister – ausgerechnet für Schulwesen und Volksaufklärung. Bei seiner ersten Amtseinführung gelobte er Heydrich unbedingte Loyalität und verbürgte sich dafür, daß die tschechischen Hochschulen – die 1939 offiziell nur für drei Jahre geschlossen wurden – nie wieder geöffnet würden. Als Minister setzte Moravec ab August 1942 exakt die „Reformen“ um, die Heydrich vorgegeben hatte: Verkürzung der Schulzeit, Germanisierung des Unterrichts, völlige Abschaffung des Geschichtsunterrichts, Liquidierung aller Privatschulen etc.
Moravec war ein begabter und vielseitiger Autor, der unter eigenem Namen militär- und außenpolitische Analysen, unter dem Pseudonym Stanislav Yester Reportagen schrieb, die ihm z. B. 1937 den begehrten Bat’a-Preis einbrachten. Als Minister – der auch für „Volksaufklärung“ zuständig war – stand ihm die gesamte Presse zur Verfügung, die er mit direktem Druck (Zensur) oder indirektem (Papierknappheit) nach Belieben manipulieren konnte: Von 1940 bis Mai 1945 sank die Zahl der Printmedien von 1.868 auf 500[9]. Dabei hatte sein Ehrgeiz weit höher gereicht: Nach der Verhaftung von Premier Eliás hatte er sich selber als neuen Regierungschef ins Gespräch gebracht, war von den Deutschen aber nicht akzeptiert worden. Er war’s zufrieden: Bereits kurz nach Einrichtung des Protektorats hatte er sich mit der Broschüre „V úloze mouřenína“ (In der Rolle des Mohren) so nachdrücklich als Allzweck-Kollaborateur empfohlen, daß oppositionelle Journalisten seinen Namen fortan in „deutscher“ Orthographie schrieben: Morawetz.
Sudelblätter wie den „Arijský boj“ (Arischer Kampf), das tschechische Pendant von Streichers „Stürmer“, ließ Moravec ungeschoren und reagierte sogar beifällig, wenn dessen Chefredakteur Rudolf Novák ihm erklärte: „Wir machen für den Rest der Presse die Drecksarbeit“. Für eigene Zwecke gab er sich seriöser: 1942 gründete er auf Weisung Heydrichs ein „Kuratorium für die Jugenderziehung in Böhmen und Mähren“ (Kuratorium pro výchovu mládeže), das die Jugendzeitschriften „Mladý svet“ (Junge Welt) und „Zteč“ (Sturmangriff) edierte. Ein besonders perfides Geschick bewies Moravec darin, altehrwürdige Blätter in seinem Sinne umzufunktionieren. Das berühmteste Blatt der Ersten Republik war die Zeitschrift „Přítomnost“ (Gegenwart), die 1924 entstand und (im Auftrag von Präsident Masaryk) von dem Nestor der modernen tschechischen Journalistik und Historiographie Ferdinand Peroutka (1895–1978) redigiert wurde. Im Herbst 1939 war sie verboten worden – Ende 1942 ließ Moravec sie wiedererstehen, um in ihr Bekenntnisse dieser Art zu verkünden: „Wir Nationalsozialisten des Reichs und Europas wundern uns nicht, wenn wir gegen uns im eigenen Volk eine Handvoll verstockter und erbarmungsloser Feinde haben“.
Freunde fand Moravec bei der deutschen Presse[10], wo man ihn auch persönlich sympathisch fand: „Auch im zivilen Rock eines Ministers der Protektoratsregierung verleugnet Emanuel Moravec nicht den ehemaligen Generalstabsoffizier“. Noch mehr Beifall fand sein „Programm“, das er bei Pressegesprächen so umriß: „Vertiefung des Reichsgedankens“, „Niederreißen der zwischen dem deutschen und dem tschechischen Volk zum Teil noch bestehenden Mauer“, „Erziehung der tschechischen Jugend nach deutschem Vorbild“, „Umschulung der Lehrerschaft und eine entsorechende Sorge um den Lehrernachwuchs“, „harte Abwehr aller in- und ausländischen Zersetzungs- und Zerstörungsversuche“.
Bei seinen heimischen Presseaktivitäten wurde Moravec von Journalisten unterstützt, die wie er ideologische Wandlungen halsbrecherischer Art vollzogen hatten. Das galt besonders für Emanuel Vajtauer. Dieser 1892 geborene Journalist – ein ungewöhnlich gebildeter, ehrgeiziger und begabter Mann – war in seiner Jugend Kommunist gewesen, hatte an KOMINTERN-Kongressen teilgenommen und mit Lenin persönlich verhandelt. Als die Partei 1929 in die Hände der „karlínstí kluci“ (Halbstarke von Karolinental), also die Stalinisten um Klement Gottwald (1896–1953), fiel, verließ Vajtauer sie und schloß sich Beneš‘ „Volkssozialisten“ an. Im Protektorat stieg er rasch zum Starjournalisten auf, der für Moravec nicht nur die neue „Přítomnost“ redigierte, sondern ihn zur radikalsten Kollaboration inspirierte, getreu seinem eigenen Bekenntnis: „Europa gruppiert sich instinktiv um seinen machtvollsten Kern. Diesen bildet das 80-Millionen-Volk der Deutschen, dessen Kraft in der Mitte Europas magisch nach allen Seiten ausstrahlt. Was seid ihr für Patrioten, wenn ihr euch fürchtet, daß ihr verdeutscht werden könntet. Furcht vor der Germanisierung haben gerade die, die niemals gute Tschechen waren und das Wesen des Tschechentums nie begriffen haben“.[11]
Vajtauer war der Kopf einer „aktivistischen“ Journalistengruppe, die sich mit immer neuen Kampagnen bemühte, die tschechischen Protektoratspolitiker gegen die Londoner Exilregierung unter Beneš und gegen die Juden im Lande aufzuhetzen. Er verfaßte ein Buch[12], in welchem er versuchte, die gesamte tschechische Geschichte im nationalsozialistischen Sinne umzudeuten und sich selber als „Bewunderer“ der Deutschen zu präsentieren. Diese bedankten sich damit, daß sie ihn auf zahlreiche „Exkursionen“ in eroberte Länder – Frankreich, Polen, Ukraine etc. – schickten. Dabei wusste er früh, daß seine Herrlichkeit zu Ende ging: Anfang Mai 1945 verschwand er aus Prag, angeblich zu einem „Verwandtenbesuch in Süd-Böhmen“, und von da ab verliert sich jede Spur von ihm. 1947 wurde er in Abwesenheit zum Tod verurteilt.
Ein noch gefährlicherer Typ aus Moravec‘ Garde war Vladimír Krychtálek (1903–1947), ein umtriebiger Journalist mit außenpolitischem Ehrgeiz. In jungen Jahren war er viel gereist und hatte als Korrespondent in Moskau und Belgrad gearbeitet. Krychtálek war ein Gegner von Beneš‘ Außenpolitik, die von Misstrauen gegenüber NS-Deutschland diktiert war, und votierte für eine prodeutsche Ausrichtung. Über eine deutsche Presseagentur in Prag trat er in engste Kontakte zu deutschen Stellen, und im Dezember 1938 und März 1939 schickte Außenminister Frantisek Chvalkovský (1885–1945) ihn mit Geheimbotschaften nach Berlin. Das war doppelt vergeblich, weil Krychtálek keinen Ausgleich mit Hitler wollte und Chvalkovský selber die Absichten Hitlers nie verstanden hatte – obwohl ihn der Nachrichtendienst der Armee mit allen Informationen und exakten Analysen versorgt hatte.
Chef des militärischen Nachrichtendienstes war damals Emanuel Moravec gewesen, wenige Monate später trafen Moravec und Krychtálek sich in der vordersten Front der Kollaborateure wieder. K. H. Frank hatte für Krychtálek ständig Sonderaufträge: Er sollte in der „Nationalen Gemeinschaft“ dafür sorgen, daß die Nürnberger Rassegesetze auch im Protektorat angewendet würden, was zunächst misslang. Er „durfte“ die Verleumdungskampagne gegen Premier Eliás anführen, daß dieser den (Kollaborations-)Journalisten Karel Lažnovský vergiftet habe[13], und im Juni 1942 den „Initiativvorschlag“ machen, daß die im Protektorat verbliebenen Angehörigen der Londoner Exilregierung in „Sippenhaft“ genommen würden. 1947 wurde Krychtálek vor Gericht gestellt, zum Tod verurteilt und hingerichtet.
Mit und über diesen und zahlreichen weiteren wirkte Emanuel Moravec, der keine Schranken in seiner Hingabe an die Deutschen und in seiner Bereitschaft zur Kollaboration kannte. Er verstand sich als tschechisches Pendant von Goebbels und gab dem auch institutionell Ausdruck, z. B. mit der Schaffung eines „Öffentlichen Aufklärungsdienstes“ (Veřejná osvetová služba) und 1944 einer „Liga gegen den Bolschewismus“. Er exekutierte am 15. Januar 1943 die Umbildung der „Nationalen Gemeinschaft“ von einer „Partei“ zur „Kultur- und Erziehungskorporation“. Seinen Sohn Igor ließ er in einer SS-Einheit dienen (wofür die SS eine Ausnahmeregelung treffen musste), und noch im Frühjahr 1945 denunzierte er den Autor einer harmlosen Konzertrezension – es ging um ein paar patriotische Bemerkungen zu Smetanas „Blaník“ –, und der unglückliche Journalist wurde hingerichtet. Für seine Kollegen in der Protektoratsregierung entwarf er eine (der SS abgeguckte) „Uniform“, die diese aber zu tragen ablehnten – wenn überhaupt wer sie anzog, dann Moravec selber (Bild).
Heydrichs Ende – Moravec‘ Aufstieg
Die tschechische Kollaboration kann in Art, Intensität und Ausmaß mehrfach verblüffen, und beziehungsreich sprach der Prager Rundfunk am 27. März 2004 (in einer deutschsprachigen Sendung) davon, „daß in den insgesamt vier Protektoratsregierungen viele Vertreter der tschechoslowakischen Legionen zu finden sind, die während des Ersten Weltkriegs für die Selbständigkeit der Tschechoslowakei gekämpft hatten“. Die Kollaboration potenzierte die ohnehin augenfälligen „natürlichen“ Vorteile für die Deutschen: Das Protektorat war von enormer Wichtigkeit für die deutsche Kriegswirtschaft, es „band“ aber kaum deutsche Truppen. Tschechen waren zwar nicht direkt in die deutsche Kriegsführung einbezogen, aber ihr Heimatland lag außerhalb der Reichweite alliierter Bomber, so daß die kriegswichtige Produktion fast ungestört weitergehen konnte. Und Heydrichs „Sozialprogramm“ kam bei der arbeitenden Bevölkerung so gut an, daß von ihr kaum Unruhe ausging. Böhmen und Mähren im Krieg, das war „wie im Märchen“: „Die Männer stehen nicht an der Front und warten nicht darauf, den Waffenrock anzuziehen; das volle Arbeitsausmaß der Bevölkerung kann sich dem inneren Aufbau und Ausbau widmen. (…) Ohne Verpflichtung zum Waffendienst, aber mit dem Recht auf Schutz durch das Reich (…) lebt das Protektorat unter vorteilhaften Erzeugungs- und Verbrauchsbedingungen“.[14]
Mit anderen Worten: Die Londoner Exilregierung musste befürchten, daß Böhmen und Mähren von den Alliierten „abgeschrieben“ wurde, weil es dort eine nahezu allseitige Kollaboration mit den Deutschen, jedoch kaum Widerstand gegen diese gab. Dieser Anschein mochte ganz oder teilweise falsch sein – richtig war, daß das Klima von ziviler Ruhe, werktätigem Fleiß, vollen Läden und geregeltem Alltag so dominierend war, daß dahinter die Deportationen tschechischer Juden fast unbemerkt ablaufen konnten: Aus der ganzen ehemaligen Tschechoslowakei sind rund 260.000 Juden deportiert worden – 89.000 aus dem Protektorat, 73.000 aus der Slowakei und 97.000 aus der Karpato-Ukraine –, von denen 235.000 umkamen.[15]
In dieser Situation entschloß sich die Londoner Exilregierung im Herbst 1941, allem Anschein nach auf persönliche Initiative von Präsident Beneš, zu einem „Befreiungsschlag“ eigener Art: In Prag sollte ein Attentat auf Heydrich verübt werden! Dieser Plan wurde vom heimischen Widerstand entsetzt abgelehnt, denn man fürchtete deutsche Massenrepressalien gegen Tschechen. In diesem Widerstand waren vier Gruppen mehr oder minder aktiv: „Volksverteidigung“ (Obrana národa), eine Organisation ehemaliger Soldaten, „Politisches Zentrum“ (Politické ústředí), eine Organisation ehemaliger Politiker, „Wir bleiben treu“ (Vĕrni zůstaneme), eine Organisation von Intellektuellen, und „Jindra“, eine Organisation, die aus dem ehemaligen nationalen Wehrsportverband „Sokol“ (Falke) hervorgegangen war. Eigentlich war nur noch die Gruppe „Jindra“ aktiv, und die sprach sich für ein Attentat auf Emanuel Moravec aus. Geführt wurde die Gruppe von einem Professor Vaňek, der später von der Gestapo verhaftet wurde und in deren Dienste trat. Das hat ihn freilich nicht gehindert, nach dem Krieg zahlreiche Publikationen zu verfassen, in denen er sich selber eine zentrale Rolle beim Attentat und im Widerstand allgemein zuschrieb.
Das war möglich, weil in der einschlägigen Literatur zu kommunistischen Zeiten eine beträchtliche Verwirrung herrschte: Der relativ geringe Widerstand, der in Böhmen und Mähren im Krieg geleistet wurde, war nahezu zur Gänze von London aus gesteuert, und daran durfte nicht mehr erinnert werden; umgekehrt hatte die angebliche „Widerstandszentrale“ in Moskau, gebildet aus emigrierten KP-Führern, keine reale Bedeutung, da sie zunächst den Krieg gutheißen musste, solange der Hitler-Stalin-Pakt noch in Kraft war, und später nur als „private Organisation“ auftreten durfte, da die offizielle Regierung ja in London saß.
London aber hatte es auf Heydrich abgesehen, und Ende Dezember 1941 wurden per Fallschirm die Gruppen „Silver A“, „Silver B“ und „Anthropoid“ über Böhmen abgesetzt, um das Attentat auszuführen. Über dieses sind ungezählte Bücher und Artikel geschrieben, Filme gedreht worden etc., ohne daß der Eindruck zu beseitigen war, daß es sich um ein bemerkenswert schlecht geplantes und vorbereitetes Unternehmen gehandelt hat, das dennoch ein Erfolg wurde: Die Attentäter landeten am falschen Platz, hatten keine Kontaktadressen, sollten sich von heimischen Widerständlern fernhalten etc., und so dauerte es fünf Monate, bis wenigstens zwei Attentäter, Jan Kubis (1913–1942, Bild links) und Jozef Gabčík (1912–1942, Bild rechts), auch nur in die Nähe von Heydrich gelangten.
Heydrich fühlte sich in Prag absolut sicher und ließ sich jeden Morgen im offenen Auto zu seinem Amtssitz auf dem Prager Hradschin bringen. Der Weg führte über eine scharfe Kurve in Prag-Libeň, an welcher der Wagen langsamer fahren musste. Hier hatten sich am Morgen des 27. Mai 1942 die Attentäter versteckt, und als Heydrich auftauchte, wollte Gabčík aus einer Maschinenpistole auf ihn feuern – die MP hatte Ladehemmung. Geistesgegenwärtig warf Kubis eine Handgranate in den Wagen, die aber keine Wirkung zu haben schien: Heydrich stand auf und feuerte auf die Angreifer. Erst später stellte sich heraus, daß Heydrich schwer verletzt war und zudem aus der Roßhaarpolsterung des Autos so viele Fremdkörper in seine Wunden bekommen hatte, daß ihm eine lange Agonie bevorstand. Am Morgen des 4. Juni starb er.
Nach Heydrichs Tod bemühten sich Präsident Hácha und die Protektoratsregierung, den Deutschen Beweise allgemeiner Loyalität zu geben: Sie verdoppelten die von den Deutschen ausgelobte Prämie zur Ergreifung der Täter (10.000.000 Kronen) und veranstalteten in den größeren Städten des Protektorats Massendemonstrationen, bei denen Präsident Beneš als „Feind Nummer eins des tschechischen Volks“ verdammt wurde. Das war auch die Stunde des Emanuel Moravec, der bereits am 31. Mai 1942 im Rundfunk forderte: „Alle zum Kampf gegen die Volksschädlinge!“
Ebenfalls am 31. Mai wurde Kurt Daluege (1897–1946, Bild) zum neuen „Stellvertretenden Reichsprotektor“ bestimmt, aber der eigentliche Hauptakteur war K. H. Frank. Er verhängte erneut das Standrecht, ließ am 27. und 28. Mai nahezu alle Häuser in Prag durchsuchen und im ganzen Land Massenverhaftungen vornehmen. Bei wem auch nur das geringste Indiz für eine Verbindung mit den Attentätern gefunden oder vermutet wurde, der hatte augenblicklich sein Leben verwirkt. In ihrem Zorn kannten die Deutschen kein Maß, Hitler forderte sogar, auf der Stelle 10.000 Tschechen zu erschießen. Das konnte man ihm zwar ausreden, aber am 10. Juni 1942 wurde die Ortschaft Lidice (bei Kladno in West-Böhmen gelegen) zerstört und 173 männliche Einwohner erschossen – Frauen und Kinder kamen ins KZ, von wo die wenigsten zurückkehrten. Der Verdacht, daß die Attentäter in Lidice Unterstützer gehabt hätten, war falsch, aber am 24. Juni entdeckte man in dem südböhmischen Flecken Ležáky einen Agentensender, worauf der Ort ebenfalls zerstört wurde.
Am 16. Juni 1942 stellte sich Karel Čurda (1911–1947, Bild), einer der aus England geschickten Attentäter, der Gestapo, die ihm Straffreiheit und eine Prämie von 5.000.000 Kronen zusicherte. Zwar konnte er nicht den Aufenthaltsort von Kubis und Gabčík angeben, verriet aber deren Kontaktpersonen. Auf diese Weise konnten die beiden in der Prager „Kyrill und Method“-Kapelle gestellt werden, wo sie nach mehrstündigem Kampf Selbstmord begingen. Sie waren auch von anderen verraten worden, und eine Prämie von 10.000.000 Kronen wurde an insgesamt 60 Denunzianten verteilt. Čurda blieb in den Diensten der Gestapo, für die er laufend Widerständler verriet. Dafür wurde er 1947 vor Gericht gestellt, zum Tod verurteilt und am 29. April 1947 hingerichtet. „Leider“ (bohužel) versäumte es das Gericht, bei seinem Verfahren alle Details der damaligen Geschehnisse aufzuklären, und nur das bedauern die Tschechen bis heute. Allerdings war das nach dem Krieg wegen Arbeitsüberlastung nicht realisierbar: Bis zum 4. Mai 1947 waren von „Außerordentlichen Volksgerichten“ 130.114 Gerichtsverfahren wegen Kollaboration abgeschlossen worden, wobei 713 Todesurteile und 741 lebenslange Haftstrafen (davon 475 bzw. 443 gegen Deutsche) ausgesprochen worden.[16]
Kurz nach dem Attentat waren die deutschen Truppen im Protektorat um 10.000 Mann verstärkt worden, aber wenigstens oberflächlich beruhigte sich die Lage bald wieder. Es begann die dritte und letzte Phase deutscher Protektoratspolitik, die von dem rückläufigen Kriegsglück der deutschen Armeen geprägt war. Auf deutscher Seite war man froh, wenn das Protektorat halbwegs so blieb, wie es vorher war: Arbeit und Ruhe bei den Tschechen, geringer Überwachungsaufwand bei den Deutschen.
Am 25. August 1943 war der ehemalige deutsche Innenminister Wilhelm Frick (1877–1946, Bild) zum neuen Stellvertretenden Reichsprotektor ernannt worden, nachdem Daluege kurz zuvor einen Herzinfarkt erlitten hatte. Frick beschränkte sich auf mehr oder minder rein repräsentative Auftritte, und die eigentliche Arbeit ging völlig auf Frank über. Nach der deutschen Niederlage in Stalingrad (Februar 1943) konnte von einem „Endsieg“ keine Rede mehr sein, vielmehr breitete sich unter den Deutschen im Protektorat eine defätistische Stimmung aus, während Tschechen eher zu Widerstand geneigt waren. Natürlich reichte dieser nicht annähernd an den Mut der Slowaken heran, die 1944 ihren heroischen Nationalaufstand wagten und davor und danach eine sehr aktive Partisanenbewegung organisierten. Frank war glücklich, daß ihm so etwas bei Tschechen erspart blieb, und kümmerte sich um seine neueste Hauptaufgabe, sie zu Arbeitseinsätzen „im Reich“ zu bewegen. Das war schwieriger als gedacht: Mit „Zwangsarbeit“ durfte hier nicht operiert werden, denn die Tschechen waren zwar „nicht Reichsdeutsche“, aber auch nicht rechtlose Polen aus dem „Generalgouvernement“, dem „Nebenland des Reiches“; als „Prot(ektorats)-Angeh(örige)“ wollten sie höflich und zweisprachig aufgefordert, ausreichend versorgt und versichert und mit zwölf Tagen Heimaturlaub versehen werden. Sofern sie nicht KZ-Gefangene waren, wurden sie das auch – wie sogar die spätere kommunistische Historiographie einräumte.[17]
Unter allen diesen Umständen festigte sich das Bündnis Frank-Moravec noch: Je komplizierter die Lage im Protektorat wurde, desto mehr benötigte dessen faktischer Herrscher Frank den „tschechischen Aktivismus“, also die kollaborationistische Beflissenheit von Moravec und seinen Geistesgenossen, die nie zögerten, jedem neuen Problem mit einer lärmenden Propagandakampagne zu begegnen. Moravec bewies Nibelungentreue bis zuletzt, denn „Kollaborateure vom Typ eines Emanuel Moravec waren mit dem Regime so verbunden, daß sie mit ihm auch fallen mussten“.[18] Noch in den ersten Mai-Tagen 1945 forderte er in der Presse die Tschechen auf, „Mitgefühl“ (soucit) mit den schwer geprüften „deutschen Mitbürgern“ zu bezeugen. Am 5. Mai brach in Prag ein Aufstand aus, der von den Kommunisten inszeniert war, um die in Süd-Böhmen vorrückenden US-Truppen von der Hauptstadt fernzuhalten, die von den Sowjets „befreit“ werden sollte. Moravec flüchtete vor den Aufständischen in einem LKW zum Černín-Palais, dem Sitz des Reichsprotektors. Unterwegs ging dem Wagen der Treibstoff aus, und bevor der nachgefüllt war, hatte sich Moravec mit seinem Revolver in die Schläfe geschossen. Seinen deutschen Chefs ging es kaum besser: Frank wurde im Mai 1946 in Prag hingerichtet, Daluege im Oktober 1946 – nur wenige Tage nach Frick, der am 16. Oktober 1946 in Nürnberg gehenkt wurde.
Was bleibt von Moravec? Vor seinem Wirken galt bei Tschechen der Jesuit Antonín Koniás (1691–1760) – ein fanatischer Verfechter der Gegenreformation, der „ketzerische“ Bücher und Menschen verbrennen ließ – als die widerwärtigste Figur der tschechischen Geschichte. Seit über 60 Jahren nimmt Emanuel Moravec diesen Rang ein.
Autor: Wolf Oschlies
Literatur
Pražák, Albert : Nás odboj proti Nĕmcům (Unser Widerstand gegen die Deutschen), Železný Brod 1946
Pasák, Tomás (Interview): Když človĕk dĕlá víc, než musí (Wenn der Mensch mehr tut, als er muß): In Respekt Nr. 19, 9.-14.5.1995, S. 12
Anmerkungen
[1] Albert Pražák: Nás odboj proti Nĕmcům (Unser Widerstand gegen die Deutschen), Železný Brod 1946
[2] Tomás Pasák (Interview): Když človĕk dĕlá víc, než musí (Wenn der Mensch mehr tut, als er muß): In Respekt Nr. 19, 9.-14.5.1995, S. 12
[3] Zu Namenslisten s. Vlády v období pomnichovského Československa (tzv. Druhé Republiky) a Protektorátiu (Regierungen der Tschechoslowakei nach München /der sog. Zweiten Republik/ und des Protektorats), www.libri.cz/datatbaze/dejiny/vlady-4.htm (Seite nicht mehr abrufbar / 27. Januar 2017)
[4] Die „Legion“ war de facto eine tschechoslowakische Armee, die nicht nur vor der Entstehung des Staates entstand, sondern von Masaryk während seines langen Russlandaufenthalts (Mai 1917 bis März 1918) explizit als Druckmittel für die tschechoslowakische Staatsbildung geschaffen worden war, vg. K. Pichlík et al.: Červenobílá a rudá – Vojáci ve válce a revoluci 1914-1918 (Rotweiß und rot – Soldaten in Krieg und Revolution), Prag 1967
[5] Emanuel Moravec: Das Ende der Benesch-Republik – Die tschechoslowakische Krise 1938, 4.A. Prag 1942
[6] Karl Hermann FranK Böhmen und Mähren im Reich, in: Friedrich Heiss (Hrsg.): Das Böhmen und Mähren-Buch – Volkskampf und Reichsraum, Amsterdam/ Berlin/ Wien 1943, S. 11-12
[7] Detailliert dazu Tomás Pasák: K problematice české kolaborace a fasismu za druhé svĕtové války (Zur Problematik der tschechischen Kollaboration und des Faschismus während des Zweiten Weltkriegs), In: L’udovít Holotík (Hrsg.): Príspevky k dejinám fasizmu v Československu a Maďarsku (Beiträge zur Geschichte des Faschismus in der Tschechoslowakei und Ungarn), Bratislava 1969, S. 129-162
[8] So Tomás Pasák in den zitierten Interview was insofern bedeutsam ist, als der „Vlajka“ in früheren Publikationen höchstens 2.000 Mitglieder zugeschrieben wurden.
[9] Vojtĕch Dolejsí: Noviny a novináři (Zeitungen und Journalisten), Prag 1963, passim, S. 414 ff.
[10] Ein Beispiel für viele: Wandlungen im Protektorat – Ein Gespräch mit dem Erziehungsminister Moravec, in: Ostdeutscher Beobachter (Posen) 21.2.1942
[11] Emanuel Vajtauer: Česi v nové Evropĕ (Die Tschechen im neuen Europa), Prag 1943
[12] Emanuel Vajtauer: Český mythus (Der tschechische Mythos), Prag 1943
[13] Detailliert dazu Dolejsí, Noviny a novináři…aaO, S. 406 ff.
[14] Hans Baumgarten: Land ohne Krieg, in: Der deutsche Volkswirt 29.11.1940
[15] Miloslav Moulis: Slované v nacistických koncentračních táborech (Slaven in Nazi-Konzentrationslagern), in: Slovanský přehled Nr. 1/1992, S. 32-40
[16] Tomás Pasák in dem zitierten Interview
[17] Frantisek Mainus: Totální nasazení – Česi na pracích v Nĕmecku 1939-1945 (Totaleinsatz – Tschechen zur Arbeit in Deutschland), Brno 1970, S. 99 ff.
[18] Tomás Pasák in dem erwähnten Interview.