60 Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen – Anlaß genug für Erinnerungen, Dokumentationen, Publikationen, Konferenzen etc. Das war auch bei früheren „runden“ Jahrestagen so, speziell in Osteuropa, aber momentan tritt ein selbstkritischer, mitunter gar selbstquälerischer Zug auf: Waren in früheren Zeiten die „Rollen“ eindeutig verteilt – deutsche Aggressoren versus osteuropäische Opfer -, so erinnert man sich derzeit an Personen, Ereignisse und Entwicklungen, die sozusagen zwischen diesen Polen angesiedelt waren. Beispielsweise hat die Russische Orthodoxe Kirche im Februar 2005 in einer hochrangig besetzten Konferenz erklärt und dokumentiert, dass die Deutschen in allen sowjetischen Gebieten, die sie erobert hatten, Tausende Kirchen wiedereröffneten, während zahlreiche Priester von „roten Partisanen“ erschossen wurden. In Polen erinnert man erst seit kurzem an die Smalcownicy (sing. Szmalcownik), also an jene nicht wenigen Polen, die im Zweiten Weltkrieg aus der Erpressung und Denunzierung verfolgter Juden ein lukratives Geschäft gemacht hatten.
Ähnliche „Überraschungen“ finden sich auch in anderen Ländern, und gemeinsam ist allen, dass sie jahrzehntelang befestigte Klischees und positive Selbsteinschätzungen nachhaltig erschüttern. Es gab eben nicht nur Martyrium, Widerstand und Heroismus, sondern auch eine breite Palette von Anpassung und Anbiederung, Verrat und Verbrechen. So etwas auszusprechen und im Detail zu belegen, tut natürlich weh, und der schmerzliche „Aha-Effekt“ wird auch nicht durch die Tatsache gemildert, dass alles Negative gewissermaßen sekundär ist, weil primär die Rolle und Anwesenheit deutscher Truppen war, ohne die das alles nicht passiert wäre.
Gross’ „Atombombe mit verspätetem Zünder“
Jan Tomasz Gross wurde 1947 in Warschau geboren und 1969 zur Emigration in die USA gezwungen. Als Historiker und Soziologe lehrt er an der New York University. Im Jahr 2000 publizierte er sein Buch „Neighbors: The Destruction of the Jewish Community in Jedwabne, Poland“, das später in viele Sprachen übersetzt wurde.[1] Das Buch behandelte ein antijüdisches Pogrom, das am 10. Juli 1941 in der nordostpolnischen Stadt Jedwabne begangen wurde: Ohne direkte deutsche Mitwirkung töteten Polen 1.600 Juden.[2] Das Ereignis selber war in Polen zu allen Zeiten bekannt, 1949 hatte es sogar einen Prozeß gegen einige Täter gegeben. Neu war indessen, dass Gross exakte Opferzahlen nannte, die fast dreifach über den bislang offiziellen Angaben lagen, und dass er die alleinige Täterschaft von Polen nachwies.[3] Zwar hat er immer wieder betont, dass die Morde von Jedwabne ohne die deutsche Okkupation Polens nicht möglich gewesen wären, aber dieser wesentliche Einwand bewahrte ihn nicht vor massiver polnischer Kritik.[4]
Gross hat alle diese Stimmen registriert, aber persönlich nicht weiter ernstgenommen. In einem Gespräch mit polnischen Intellektuellen[5] hat er betont, worum es ihm eigentlich ging: Zum ersten um eine „gründliche Revision in der polnischen Historiographie zur Periode der Okkupation“. Zum zweiten um einen Denkanstoß für alle jene Polen, unter ihnen auch Historiker, die noch immer dazu neigen, gewisse Ereignisse oder Tatsachen „schamhaft“ (wstydliwy) zu verdrängen. Und zum dritten um einen Appell an alle, Vorgänge wie die von Jedwabne als etwas zu behandeln, was jeden Polen etwas angeht. Er wolle nicht von „kollektiver Verantwortung“ (odpowiedzialność zbiorowa) sprechen, aber doch die zwei Fragen nahelegen, „geht mich das etwas an?“ und sollen Polen den Juden einmal sagen „bitte verzeiht uns“ (proszę nas przeprosić)?
Was immer Gross beabsichtigt hatte, „es ist ihm in hohem Maße gelungen“, schrieb Jacek Żakowski in einem klugen Essay über das Buch.[6] Dieses sei eine „Atombombe mit verspätetem Zünder“ (bomba atomowa z opóżnionym zapłonem), das polnischen Lesern einige „Beunruhigung“ verschaffe. Vor allem sei es beunruhigend, dass die Monstrosität des Pogroms im polnischen Jedwabne alle Polen anginge, weil die Juden von Jedwabne „weder von Hitler-Leuten noch von sowjetischen Geheimdienstlern getötet wurden, sondern von der Gesellschaft“. So hatte Gross geschrieben, und Żakowski präzisierte, „von der polnischen Gesellschaft“. Und eben das beunruhige ihn, denn „in gewissem Sinne stimme ich mit Jan Tomasz Gross überein“: „Es gibt keine Verantwortung für Großväter und Urgroßväter“, aber es gibt eine „Landkarte der kollektiven Verantwortung, auf welcher ich meinen Anteil erkenne“.
Von Jedwabne zu den Szmalcownicy
Mit einiger Mühe konnte man das Pogrom von Jedwabne noch als Einzelfall abtun: In einem polnischen Provinzstädtchen haben polnische Verrückte, inspiriert von deutschen Eroberern und verblendet von antisemitischen Gerüchten über die Kollaboration von Juden mit Stalins Geheimdiensten, einige Hundert Juden umgebracht – sehr bedauerlich, aber nicht repräsentativ für Polen und polnisches Leid im Zweiten Weltkrieg, von dem Buchautor Gross auch nicht mit letzter Schlüssigkeit nachgewiesen.
Solche oder ähnliche Exkulpierungen hat es in der polnischen öffentlichen Meinung hundertfach gegeben, und wenn die Debatte um Gross’ Buch langsam abflaut, dann bedeutet das keineswegs, dass das Gros der Polen von Gross’ Darstellung und Interpretation überzeugt wäre.
Insofern ist es interessant, eine neue Debatte zu verfolgen, die im Frühjahr 2005 in Polen geführt wird. Es geht um Szmalcownicy. Dieser Begriff ist von dem deutschen Lehnwort szmalc (Schmalz) abgeleitet, welches im polnischen Ganovenjargon ein Synonym für Geld war. Und um Geld ging es den Szmalcownicy vor allem:
„Szmalcownicy waren im Okkupationsjargon Leute, die sich an der Erpressung und Denunziation von versteckten Juden bereicherten. Als Phänomen gab es sie in allen größeren Städten, wo die Hitler-Leute Ghettos eingerichtet hatten. Sie vermehrten sich und wurden nach der Liquidation der Ghettos eine Plage, als wenige Juden, denen die Flucht vor der Deportation in Vernichtungslager geglückt war, sich auf der »arischen Seite« verstecken wollten. In Warschau existierten spezialisierte Banden, die alle denkbaren Übergänge zwischen dem Ghetto und der »arischen Seite« kontrollierten, etwa das Gerichtsgebäude an der Leszna, das Ausgänge nach beiden Seiten hatte. Wer sich dort versteckt hielt, wurde von ihnen an kleinen Besonderheiten – Redeweise, Gestik, Augenausdruck – erkannt. Die auf diese Weise ausfindig gemachten Opfer wurden in der Regel erpresst, und wenn sie nicht mehr zahlen konnten, auch denunziert. (…) Manche Szmalcownicy boten den Juden ein Versteck an, um sie dann auszurauben, zu denunzieren oder sogar zu ermorden. Die Führung des Staats im Untergrund (państwo podziemnie = organisierter, gesamtpolnischer Widerstand) bemühte sich, diese Plage zu bekämpfen, indem sie Todesurteile fällte und die Namen der Verurteilten auf den Seiten der Untergrundpresse veröffentlichte, aber besonders wirksam war das nicht. Die Verbrechen der Szmalcownicy wurden nach dem Krieg nicht intensiv verfolgt, auch die Historiker haben diesen Aspekt der Okkupationsgeschichte kaum erforscht. Über das Ausmaß dieser Erscheinung geben nur mittelbare Fakten Auskunft, denn die Opfer der Szmalcownicy haben zumeist nicht überlebt“.
Ghettos gab es nicht nur in den „größeren“ Städten, vielmehr war das gesamte „Generalgouvernement“ von ihnen übersät (wie auf nebenstehender Karte abgebildet ist). Diese Dislozierung der Ghettos könnte schon auf zwei der oben zitierten „mittelbaren Fakten“ verweisen: Man musste die Ghettos so „streuen“, weil über 40 Prozent der polnischen Juden in Landwirtschaft und Gewerbe beschäftigt waren, also meist in ländlichen Gebieten, aber höchstens 5 Prozent in freien Berufen. Nach jüngeren Untersuchungen des Warschauer Forschungszentrums zur Vernichtung der Juden (Centrum Badań nad Zagładą żydów) gab es eine „beunruhigend hohe Rate von Szmalcowniktum in ländlichen Regionen des okkupierten Polens“.
Verbreitungsgrad und Unaufklärbarkeit des Verbrechens sind der „Rahmen“ der erwähnten derzeitigen Debatte, die besonders schmerzliche Umstände und Zusammenhänge aufgreift:
- Am 1. Januar 2005 waren in der ganzen Welt 20.757 Menschen, die in der Vergangenheit Juden vor dem Holocaust gerettet hatten, von Israel mit dem Titel „Righteous among the Nations“ geehrt worden. Über ein Viertel von ihnen, genau 5.874, waren Polen: „Kein anderes Volk hat mehr aufzuweisen“.[8]
- Jeder „Righteous“ darf an der Gedenkstätte Yad Vashem einen Baum pflanzen, und die von Polen gepflanzten Bäume „würden schon einen kleinen Wald bilden“. Aber „wenn man einen Wald anpflanzen würde, der an Polen erinnerte, die Juden dem sicheren Tod auslieferten, dann wäre der genauso dicht“.[9]
- Polen zählte 1931 etwas mehr als 32 Millionen Einwohner, unter diesen rund 3 Millionen Juden. Und „wenn man die Zahl der geretteten Juden mit der Gesamtzahl der Juden vergleicht, die vor dem Krieg in Polen lebten, dann ergibt sich der niedrigste Prozentsatz unter allen Ländern, die von den Deutschen in Europa unterworfen worden waren“.[10]
- Daß die Quote der Geretteten so vergleichsweise niedrig ist, liegt wohl nicht zuletzt an den Szmalcownicy, von denen es nach manchen Berechnungen allein in Warschau 3.-4.000 gab, zu denen noch weitere in anderen Regionen des okkupierten Polens kamen. In jedem Fall „ist das Szmalcowniktum (szmalcownictwo) einer schändlichsten Aspekte unserer neuesten Geschichte“.[11]
- Sind Polen von Natur aus Antisemiten? Es ist richtig, dass es in Polen mehr Juden als in jedem anderen Land Europas gab, aber in Polen war in der Zwischenkriegszeit auch ein rasch eskalierender Antisemitismus zu verspüren, der bei dem deutschen Entschluß mitgewirkt haben dürfte, gerade hier Vernichtungs- und Konzentrationslager zu errichten.[12]
- In Polen leben kaum noch Juden, aber es existiert ein „Antisemitismus ohne Juden“, der unausgesetzt altbekannte „Argumente“ wiederholt: Juden sind destruktiv, staatsfeindlich und antinational, Juden waren vor dem Krieg kapitalistische Ausbeuter und danach kommunistische Unterdrücker, Juden haben im Krieg massenhaft mit den sowjetischen Geheimdiensten kollaboriert etc.[13]
Eine der wenigen Quellen zu den Szmalcownicy sind ausgerechnet deutsche Gerichtsakten aus dem besetzten Warschau.[14] Aus diesen geht hervor, dass etwa 10 Prozent von ihnen Kriminelle mit einem Strafenregister aus der Vorkriegszeit waren, während der Rest „erst in der Besatzungszeit den Weg zum Verbrechen beschritt“. In ethnischer Scheidung bildeten „Polen des römisch-katholischen Bekenntnisses“ die „überwiegende Mehrheit“, den Rest stellten „Volksdeutsche“ und „jüdische Szmalcownicy“. Es handelte sich in der Regel um Männer von 25 bis 40 Jahren, die aus den verschiedensten Berufen kamen: Arbeiter, Bahnangestellte, Händler, Künstler, Theologen – sogar einen jungen Adligen griffen deutsche Ordnungshüter auf, als dieser gerade in brutaler Weise auf zwei Juden losschlug. In Verhören gaben verhaftete Szmalcownicy oft an, sie hätten den Besatzungsbehörden „helfen“ wollen. Manche beschuldigten sogar die deutsche Polizei, sie „verteidige Juden“, wenn sie sie, die Szmalcowniciy, nicht augenblicklich freiließe.
Juden mussten im „Generalgouvernement“ eine weiße Armbinde mit blauem David-Stern tragen. Taten sie es nicht, drohte ihnen anfänglich nur eine Haft- oder Geldstrafe. Entsprechend niedrig waren die Forderungen der Szmalcownicy, die sich mit einigen Hundert Złoty begnügten. Ein polnischer Złot (sing.) entsprach 0,50 Reichsmark – 60 bis 80 Złoty betrug die Monatsmiete für ein möbliertes Zimmer. Ab Herbst 1941 stand auf die Nichtkennzeichnung von Juden die Todesstrafe, und die Preise der Szmalcownicy „zogen an“: Jetzt verlangten sie Zehn-, ja Hunderttausende Złoty von ihren Opfern.
Für die Juden waren die Szmalcownicy weit gefährlicher als die Deutschen: Deutsche waren keine „Physiognomisten“, d.h. sie erkannten Juden entweder überhaupt nicht oder erst dann, wenn sie ihnen als solche nach einer Verhaftung vorgeführt wurden. Ganz anders verfuhren die Szmalcownicy, deren unheimliche „Fähigkeit“, Juden zu erkennen, von Überlebenden beschrieben wurde: „Sie haben so traurige Augen, Sie sind Jüdin“, „Sie haben es so eilig, Sie sind Jüdin“, „Sie schauen so umher, Sie sind Jüdin“ etc. Im besten Falle kamen die ertappten Juden durch eine größere Zahlung davon – oftmals landeten sie bei der Gestapo, „und das bedeutete zumeist den Tod“. Die erwähnten deutschen Gerichtsakten hoben hervor, dass die meisten Juden außerhalb des Ghettos, also „auf der arischen Seite“, von Polen aufgegriffen worden waren.
Deutsche Polizeibehörden und polnische Szmalcownicy arbeiteten Hand in Hand, sie tauschten Informationen aus, und die Polen erkundeten das Terrain, in welchem die Deutschen Razzien unternahmen. Allerdings lag in dieser Kollaboration auch eins der wenigen „Risiken“ für die Szmalcownicy. Es sind Fälle bekannt, dass Polen, die wegen ihrer Hilfe für Juden von Szmalcownicy erpresst werden sollten, diese einfach bei der deutschen Polizei anzeigten. Die Deutschen prüften die von den Erpressern genannten Umstände, und wenn sie nichts fanden, griffen sie sich die Erpresser und bestraften sie wegen „Korrumpierung deutscher Behörden“. Wenn polnische Historiker Recht haben, dann sollen solche Verurteilungen sogar häufiger vorgefallen sein als Prozesse nach dem Krieg, die von Opfern gegen Szmalcownicy angestrengt worden waren.
Der Kampf gegen die Szmalcownicy
General Stefan Grot-Rowecki (1885-1944) – seit 1942 Führer der polnischen Widerstandsarmee Armia Krajowa, am 30. Juni 1943 von Deutschen verhaftet, nach Berlin und ins KZ Sachsenhausen gebracht, wo er 1944 bei Beginn des Warschauer Aufstands ermordet wurde – schlug bereits im Herbst 1941 Alarm, dass sich im besetzten Polen „Kriminalität verbreitet, ein Denunziantentum um sich greift und sich Fälle einer verbrecherischen Kollaboration mit den Okkupanten zeigen“.
Zur gleichen Zeit vermerkte die Untergrundpresse Polens ein „ständiges Anwachsen von Denunzianten, eine unglaubliche Ausbreitung von Erpresserbanden, die immer mehr Leute bedrohen und denen das Leben unerträglich machen, die von den Okkupanten ohnehin schon wie tollwütige Hunde gejagt werden“. Die Szmalcownicy, und niemand anders war mit diesen Anklagen gemeint, waren längst kein marginales Problem mehr, sondern eine der größten Plagen im besetzten Polen.
Dr. Emanuel Ringelblum (1900-1944), der akribische Archivar des Warschauer Ghettos, hatte diese Plage auch vermerkt. Kurz vor seinem gewaltsamen Tod notierte er: „Erpresser und Szmalcownicy sind der ewige Alptraum von Juden auf der arischen Seite. Es gibt buchstäblich keinen Juden, sei es »an der Oberfläche« oder in irgendeinem Versteck, der mit ihnen nicht schon zu tun gehabt hätte“. Das umfangreiche Ringelblum-Archiv wurde in den Jahren 1946-1950 durch mehrere intensive Suchaktionen zum größten Teil sichergestellt, eine vollständige Edition des Materials ist in Vorbereitung. Dadurch wird wohl auch das Phänomen Szmalcownicy in naher Zukunft etwas klarer werden.
Es ist ja nicht so, dass die Szmalcownicy lediglich das Bild des leidenden und heroischen Polens getrübt hätten. Sie waren auch eine doppelte Gefahr. Sie verrieten und erpressten nicht nur Juden, konnten also auch der bewaffneten Widerstandsbewegung gefährlich werden. Und ihr Treiben konnte von den deutschen Besatzern so ausgelegt werden, dass man ja „Schutzbezirke für Juden“, also Ghettos einrichten müsse, um diese vor räuberischen Polen zu schützen… Oder aber (und dafür liegen Aussagen von SS-Führern vor) die Szmalcownicy waren so zahlreich und ihre Verbindungen zu den Deutschen so bekannt, dass „der gute Name der Gestapo-Organe“ darunter litt – wogegen man sich nur „durch außerordentliche harte Strafen wehren kann, damit solche Vorfälle in Zukunft nicht mehr auftreten“.
Eben diese Gefahr der Szmalcownicy wurde in Polen oftmals und bis in die jüngere Vergangenheit bestritten. Beispielsweise stellte der Autor Tadeusz Bednarczyk[15] die bloße Existenz von Szmalcownicy zwar nicht in Abrede, behauptete aber, dass es nicht viele von ihnen gab und dass die meisten von ihnen Volksdeutsche, Litauer, Ukrainer, Weißrussen und Juden waren. Wer etwas anderes erkläre, so Bednarczyk, lasse sich wohl der von der falschen Vorstellung leiten, dass „die Polen im allgemeinen Szmalcownicy“ waren, was genauso irrig sei wie „das allgemeine Bild des Polen als eines Antisemiten“. Besonders zu verurteilen, so Bednarczyk weiter, sei der „Antipolonismus des bekannten Historikers Dr. Emanuel Ringelblum“, der jede Übertreibung und jede Lüge ins Ghetto-Archiv aufnahm, wenn sie bloß den Eindruck verstärkten, dass Polen nur dann Juden schützen, wenn sie aus diesen Geld herauspressen konnten.
Solche Aussagen verwischten nach Auffassung Bednarczyks die Tatsache, dass „in ganz Europa allein die Polen absolut keine Kollaboration mit den Deutschen eingingen, dass Polen keinen Quisling hervorbrachte“. Und man dürfe nicht vergessen, „dass der Widerstand in Polen harte Strafen für Szmalcownicy bereithielt“: Verschiedene Untergrundgerichte hätten allein in und um Warschau 380 Todesurteile ausgesprochen, von denen aber „nur 80 vollstreckt wurden“. Warum so wenige? „Weil statistisch gesehen für die Unschädlichmachung eines Szmalcowniks auch ein Soldat der Armia Krajowa sein Leben ließ“. Kurz: „Szmalcownicy waren in der Regel Agenten der Kripo und der Gestapo, und darum lohnten sich Aktionen gegen sie nicht, da sie mit zu hohen eigenen Verlusten verknüpft waren“.
Alle diese „Argumente“ Bednarczyks sind schwer nachzuvollziehen. Sie sind nicht völlig falsch, gehen aber bewusst an der Wahrheit vorbei. Es ist richtig, dass der direkte Kampf gegen die Szmalcownicy wenig Intensität aufwies und nur geringe Erfolge hatte. Das lag aber keineswegs daran, dass die Armia Krajowa etwa eine Kosten-Nutzen-Rechnung erstellt hätte. Vielmehr war es so, dass sich im polnischen Widerstand mehr und mehr die Erkenntnis durchsetzte, dass Polen und Juden zusammenstehen müssten, weil an Juden heute schon das exekutiert wurde, was den Polen erst morgen bevorstand. Es war nur naheliegend, nicht die Szmalcownicy zu bestrafen, sondern möglichst viele ihrer polnischen Opfer zu retten.
Irena Sendler (1910-2008) wurde zur größten Heldin des gemeinsamen Kampfs der Polen und der Juden, der Ende 1942 begann. Zuvor hatte es das Provisorische Komitee zur Hilfe für die Juden gegeben, das im September 1942 von der Schriftstellerin Zofia Kossak-Szczucka (1890-1968) und der christlichen Sozialistin Wanda Krahelska-Filipowicz gegründet worden war und das unter dem Tarnnamen „Komitee Konrad Żegota“ aktiv war. Im Dezember 1942 weitete sich die Organisation zum Rat zur Hilfe für Juden (Rada Pomocy Żydom, RPŻ) aus, der von der Landesdelegatur der Regierung der Republik Polen, d.h. von der Außenstelle der Londoner Exilregierung, geleitet und finanziert wurde und in dem sich eine Fülle von Parteien aller Orientierungen, Gewerkschaften und die im Jüdischen Nationalkomitee vereinten jüdischen Organisationen zusammenschlossen. Der RPŻ bemühte sich erfolgreich, Juden aus dem Ghetto zu schleusen und auf der „arischen Seite“ zu verstecken. Dafür war jedes Mittel recht, und die vorbereiteten Verstecke, unter anderem eines im Warschauer Zoo, füllten sich rasch mit über 4.000 geretteten Juden.
Irena Sendler besuchte mit zehn anderen Frauen, alle als Krankenschwestern getarnt, täglich das Ghetto, was von den Deutschen gestattet wurde, da diese eine Ausbreitung der im Ghetto grassierenden Krankheiten befürchteten. Die Frauen nutzten die Chance, jüdische Kinder aus dem Ghetto zu holen – mit Krankenwagen, durch die Türen des Gerichts in Leszno (welcher Weg jedoch bald von Szmalcownicy versperrt wurde), durch Keller in Häusern an der Ghettomauer etc. Auf diese Weise wurden rund 2.500 Kinder gerettet. 1944 verhaftete die Gestapo Irena Sendler, konnte aus ihr aber keine Informationen herauspressen. Nach drei Monaten sollte sie erschossen werden, konnte aber fliehen, da ein Wachmann bestochen war, und fortan in Warschau unter falschem Namen ihrer alten Tätigkeit nachgehen. 1965 ernannte Israel sie zur „Righteous among the Nations“, was sie vermutlich von weiteren Repressalien durch den kommunistischen Geheimdienst, der sie seit Jahren verfolgte, bewahrte.[16]
Was war, was bleibt?
Am 4. Juli 1946, anderthalb Jahre nach Kriegsende, kam es im südostpolnischen Kielce zu einem Pogrom, bei dem 42 Juden getötet wurden. Zwar verurteilte man neun angebliche Täter in einem Schnellverfahren zum Tode, behandelte die Angelegenheit aber als Tabu. Bis heute ist sie noch nicht restlos aufgeklärt, da die Behörden noch darüber rätseln, ob damals nicht eine „jüdische Provokation“ vorlag, um die in Polen verbliebenen 200.000 Juden zur Ausreise nach Palästina zu bewegen.
Antonia Wyrzykowska, eine Bürgerin aus Jedwabne, die während des dortigen Pogroms sieben Juden rettete, musste noch Jahre nach dem Krieg vor der Rache ihrer Mitbürger fliehen. Dazu sagte sie: „Wer Rumänen oder Chinesen rettet, ist ein guter Mensch. Aber Juden zu retten, ist schlimm. So ist Polen eben“.
In den späten 1960-er Jahren startete die kommunistische Führung unter W. Gomułka eine „antizionistische“ Kampagne, die bis auf einen verschwindenden Rest alle Juden aus Polen vertrieb.
1985 war ganz Polen über Claude Lanzmanns Film „Shoa“ erregt, den kaum ein Pole in voller Länge gesehen hatte. Das staatliche Fernsehen zeigte nur böswillig zusammengestellte Ausschnitte, die Polen als „dumm“ und „antisemitisch“ erscheinen ließen. Daß in dem Film auch der Pole Jan Karski zur Wort kam, der im Zweiten Weltkrieg die ersten authentischen Zeugnisse über Ghettos in Polen in den Westen brachte, hat damals in Polen niemand erfahren.
Am 9. Juli 2002 hat eine polnische Gerichtskommission ihren Abschlußbericht zum Pogrom von Jedwabne vorgelegt: Es war ein rein polnisches Verbrechen – eine „aktive Rolle sei deutschen Einsatztruppen nicht nachzuweisen gewesen“.
Bereits im Jahr zuvor hatte das polnische TVP 1 den Film „Wo ist dein älterer Bruder Kain?“ ausgestrahlt, der sich ebenfalls mit dem Pogrom von Jedwabne beschäftigte und auf dem Buch von Gross fußte. Darin kamen Zeitzeugen zu Wort, die unumwunden erklärten: „Das haben die Unsrigen getan. Wir haben es mit eigenen Augen gesehen“.[17]
Und seit einigen Monaten läuft die Debatte um die Szmalcownicy, die den Polen die Erkenntnis abverlangt, daß sehr viele von ihnen Kollaborateure, Erpresser, Denunzianten und aktive Helfer beim Judenmord waren.
Die faktischen Anlässe dieser und ähnlicher Debatten sind längst bekannt, die Rolle deutscher Okkupanten als Auslöser polnischer Untaten wird nur noch pflichtgemäß erwähnt, da sie wie eine Entschuldigung oder Ausrede klingt. So etwas wollen die Polen nicht mehr. Sie wollen die Wahrheit wissen und sagen, mag sie auch noch so betrüblich für polnisches Image und schmerzliche für polnische Seelen sein.
Autor: Wolf Oschlies
Literatur
Bednarczyk, Tadeusz: Życie codzienne warszawskiego getta (Das alltägliche Leben im Warschauer Ghetto), Warschau 1995.
Gross, Jan T.: Der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001.
Henning, Ruth (Hrsg.): Die “Jedwabne-Debatte” in polnischen Zeitungen und Zeitschriften, in: Transodra Nr. 23 (2001).
Grabowski, Jan: Polowanie na ludzi (Jagd auf Menschen), in: Wprost (Warschau) 10.4.2005.
Szwarcman, Dorota: Na własne oczy (Mit eigenen Augen), in: Wprost 15. 4.2001
Zawłocka, Aleksandra: Dzieci Sendlerowej (Sendlers Kinder), in: Wprost 16.2.2003.
Anmerkungen
[1] Vgl. die deutsche Ausgabe: Jan T. Gross: Der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001
[2] Detailliert dazu: Vor 60 Jahren: Morden unter Nachbarn?, Geschichte – Hintergrund 10.7.2001, in: wissenschaft.de
[3] Vgl. dazu Jan Tomasz Gross (Interview): Befreiende Wahrheit, in: Die Zeit Nr. 17/2001
[4] Ruth Henning (Hrsg.): Die “Jedwabne-Debatte” in polnischen Zeitungen und Zeitschriften, in: Transodra Nr. 23 (2001); die gesamte Dokumentation von knapp 400 Seiten Umfang ist nachzulesen unter: www.dpg-brandenburg.de/text/inhalt23.htm = Archivierte Seite vom 21. Mai 2016 (via Wayback Machine)
[5] Jan Tomasz Gross (Gespräch): Odnaleźć siebie w historii (Sich in der Geschichte wiederfinden), in: Konspekt Nr. 8/2001
[6] In: Gazeta Wyborcza 18.11.2000
[8] Jan Grabowski: Polowanie na ludzi (Jagd auf Menschen), in: Wprost (Warschau) 10.4.2005
[9] ebd.
[10] Andrzej Niziołek: Polskie drzewka, polskie tablicy (Polnische Bäumchen, polnische Tafeln), in: Tygodnik Powszechny 31.10.2004
[11] Grabowski, Polowanie…aaO.
[12] Dawid Warszawski: Wojny pamięci (Krieg um das Gedenken), in: Tygodnik Powszechny 10.10.2004
[13] ebd.
[14] Dazu und zum folgenden Grabowski, Powolanie… aaO.
[15] Tadeusz Bednarczyk: Życie codzienne warszawskiego getta (Das alltägliche Leben im Warschauer Ghetto), Warschau 1995, S. 217 ff.
[16] Aleksandra Zawłocka: Dzieci Sendlerowej (Sendlers Kinder), in: Wprost 16.2.2003
[17] Dorota Szwarcman: Na własne oczy (Mit eigenen Augen), in: Wprost 15. 4.2001